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„Familienbande“ – Der Orden: Buch 5

Kapitel 1

Ein Erbe für Haus Vel’kim

“Warum kann ich die Schmerzen nicht blockieren?”, zischte Eryn mit zusammengebissenen Zähnen, als sich ihre Eingeweide mit einer weiteren Wehe verkrampften.

Valrad stand in der Klinik neben ihrem Bett und ertrug männlich ihren schraubstockartigen Griff um seine Finger. Die Spitzen muteten anhand der reduzierten Durchblutung bereits leicht bläulich an.

“Das sollst du gar nicht, weil dieser Schmerz nicht blockiert werden darf”, erklärte er geduldig. “Er begleitet dich durch die Geburt, gibt dir Signale.”

“Die Signale können mich gernhaben! Diese Qual soll einfach nur aufhören!”, stöhnte sie und blinzelte, als eine junge Frau das Zimmer betrat. In ihren Händen hielt sie etwas Langes und Goldenes. Einen Gürtel.

“Was genau glaubst du, was du damit anstellen kannst?”, schrie Eryn. “Du wirst mir keinesfalls meine Magie nehmen! Fort mit dir! Hinaus!” Das letzte Wort war ein heftiges Blaffen gewesen, das die junge Heilerin überraschenderweise unbeeindruckt ließ. Recht offensichtlich unbeeindruckt, wenn man von ihrer Miene ausging. Das war eindeutig nicht die erste launische Frau kurz vor einer Geburt, mit der sie es zu tun hatte.

“Valrad”, meinte die Frau sanft, “entweder ich überwältige sie, oder du legst ihn ihr an.”

“Das kannst du gern versuchen, meine Liebe”, erwiderte Eryn mit einem finsteren Blick, “aber sofern du nicht immun gegen Magie oder mir an Stärke überlegen bist, würde ich es nicht empfehlen. Die Chancen stehen gut, dass ich stärker bin als ihr beiden zusammen, also würde ich nicht einmal daran denken!”

“Aber nicht stärker als ich”, kam eine bedächtige Stimme von der Tür her. Ram’an trat ein und stellte die Tasche zur Seite, die er von der Aren Residenz für sie mitgebracht hatte.

“Das würdest du nicht!”, schnauzte sie ihn an.

Er nahm den Gürtel an sich, den ihm die Heilerin widerstandslos überließ und trat neben sie. “Eryn, es gibt einen sehr guten Grund dafür, weshalb die Kräfte einer Magierin beschränkt werden, wenn sie kurz vor der Geburt steht. Und nach dem, was gerade in der Senatshalle geschehen ist, würde ich meinen, dass er recht offensichtlich ist.”

“Ihr nehmt mir meine Kräfte weg, damit ich niemandem Schaden zufügen kann? Das werde ich nicht, ich verspreche es! Ich werde mich benehmen!”, flehte sie.

Er nahm ihre Hand in seine und drückte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. “Es tut mir leid, aber das lässt sich nicht vermeiden. Ich habe keinen Zweifel daran, dass du keinerlei Absicht hegst, jemanden zu verletzen oder etwas zu zerstören, doch die hattest du auch bei der Senatsversammlung nicht, wie ich annehme. Große Belastungen durch Gefühle oder Schmerzempfinden können dazu führen, dass Magier die Kontrolle verlieren. Und in deinem Fall, mein gutes Kind, mag das unversehens dazu führen, dass die gesamte Klinik über uns zusammenbricht”, erklärte er besorgt. “Und diesen Schmerz kannst du ohnehin nicht wegheilen. Deine Magie wäre nutzlos, und zusätzlich dazu würde sie für alle um dich herum eine enorme Gefahr darstellen.”

“Eryn”, beschwor Valrad sie, “sie werden dich nicht hierbehalten oder sich auch nur in deine Nähe wagen, solange du den Gürtel nicht trägst. Du bist stark genug, um sämtliche Heiler und Patienten hier zu gefährden. Und Ram’an hat Recht. Die Magie würde dir nicht einmal nützen. Das ist nicht die Art von Schmerz, die du einfach so fortheilen kannst – im nächsten Moment kehrt er erneut zurück, bis seine Ursache verschwindet. In deinem Fall das Kind.”

Eryns wütendes Starren wurde besorgt, als sie sich die Worte durch den Kopf gehen ließ. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass man sie ihrer Magie berauben würde. Das war eine grauenvolle Überraschung. Die Erinnerung daran, wie man sie in der Vergangenheit ihrer Kräfte beraubt hatte, war keine angenehme; sie hatte sich dabei stets entblößt und verwundbar gefühlt. Und doch waren die Argumente der beiden mehr als berechtigt, besonders, wenn man bedachte, dass sie vor wenig mehr als einer Stunde das Dach der Senatshalle zum Einsturz gebracht hatte…

Sie presste ihren Kopf in das Kissen, als eine weitere Wehe ihr den Atem raubte und sie zitternd und immens erleichtert zurückließ, nachdem die Flut an Schmerzen abgeebbt war.

Erschöpft hob sie den Kopf und bemerkte, dass sich Ram’an die momentane Ablenkung zunutze gemacht und den Gürtel um ihren Brustkorb befestigt hatte. Die innere Leere war gar nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen, dieses hohle Gefühl, das die Blockade ihrer Magie für gewöhnlich zurückließ. Offenbar war dieser Raum nun mit Schmerz gefüllt. Wie praktisch.

“Du!”, blitzte sie ihn an und wollte ihm ihren Ärger mit einem Hieb zu spüren geben, doch er wich aus. “Das war gemein! Du siehst besser zu, dass du in meiner Gegenwart nie hilflos bist, weil ich es verflucht noch einmal auf jeden Fall ausnutzen werde!”

“Du hast keine andere Wahl”, sagte er nur und zuckte mit den Schultern.

“Vielleicht nicht. Aber ich hätte es vorgezogen, selbst in ein oder zwei Minuten zu diesem Schluss zu gelangen”, schnappte sie.

“Machst du den Leuten das Leben schon wieder zur Qual?”, meinte Orrin, als er, Junar und Vern das Zimmer betraten. Hinter ihnen folgte Malhora, die eine friedlich schlafende Téa in ihren Armen hielt.

“Ach, halt einfach nur den Mund”, flüsterte sie ausgelaugt. Ihr blieb nicht einmal mehr genug Energie, um ihrer Frustration gehörig Ausdruck zu verleihen. Das verstimmte sie sogar noch mehr.

“Meine Güte”, ertönte eine weitere Stimme von der Türe her, “das ist aber eine beachtliche Versammlung hier drin.” Ein Heiler etwa in Valrads Alter bahnte sich seinen Weg zum Bett. “Ich grüße dich, Maltheá. Ich werde dir beim Entbinden deines Kindes zur Seite stehen. Ich sehe, dass du deinen Gürtel bereits angelegt hast. Gut.”

Sie blickte in sein viel zu heiteres Gesicht. Aber weshalb sollte er auch nicht guter Laune sein? Er war nicht derjenige, der die Krämpfe zu erdulden hatte, und soweit sie wusste, würde sich die Lage zuerst noch beträchtlich verschlimmern, bevor sie sich verbesserte.

Das Gesicht kam ihr bekannt vor – er war einer der vielen Heiler, die sie in der Mitarbeiterkantine gesehen hatte. Und falls ihre Erinnerung sie nicht trog, hatte dieser Mann eine fürstliche Summe für Verns Gemälde geboten.

“Noril”, nickte Valrad. “Ich wünsche dir einen guten Tag.”

“Und auch dir einen guten Tag, Valrad. Also, hier drin halten sich zu viele Leute auf. Das erhöht nur den Stress für Maltheá…”

“Eryn”, unterbrach sie ihn und warf ihm einen warnenden Blick zu. “Auf dieses für mich wichtige Detail solltest du achten, denn ich bin überzeugt, dass ich auch ohne Magie noch eine Menge Schaden anrichten kann.”

Noril nickte langsam. “Weißt du, ich bezweifle nicht, dass du das könntest. Die Drohung einer Aren zu ignorieren endet für gewöhnlich nicht gut für denjenigen, der sie missachtet. Dann also Eryn…”

“Sehr richtig”, lächelte Malhora, eindeutig zufrieden, dass ihr furchteinflößender Ruf sich scheinbar in alle Ecken erstreckte.

“Zurück zu dem, was vor uns liegt”, beharrte der Heiler. “Wer von euch wird an Stelle ihres Gefährten während der Geburt bei… ah… Eryn bleiben?”

Drei Variationen von “ich” kamen beinahe gleichzeitig von den drei Männern um sie herum.

Noril blinzelte. “Nun, das übersteigt die übliche Anzahl ein wenig”, erwiderte er, bedachtsam im Umgang mit zwei Oberhäuptern von Häusern und einem Krieger, der für seinen Mangel an Kontrolle bekannt war, wenn es um den Schutz seiner Lieben ging.

Sie drehten sich um, als sie ein entnervtes Seufzen vernahmen. Junar setzte ihre Ellbogen ein, um sich an Eryns Seite vorzukämpfen, dann zeigte sie auf Orrin.

“Unangemessen. Du bist der Gefährte einer anderen Frau, und auch wenn ich weiß, dass deine Gefühle für sie mehr väterlicher Natur sind, will ich nicht, dass es zwischen euch derart intim wird. Das ist mein Ernst.” Dann wandte sie sich an Valrad. “Ebenfalls unangemessen. Du bist ihr Vater, und das erst seit ein paar Monaten! Wie kommst du auf den Gedanken, ihr wäre wohl dabei, dich bei dieser Angelegenheit dabei zu haben?” Ihr düsterer Blick landete auf Ram’an.

“Unangemessen?”, wagte er sich vor, noch bevor sie den Mund öffnen konnte.

“Darauf kannst du wetten!”, nickte sie. “Du hast sie schonungslos verfolgt und wolltest sie dazu bringen, dass sie Enric für dich verlässt! Eine Geburt ist etwas sehr Intimes, wobei man sowohl innere als auch äußere Seiten von sich zeigen muss, die man normalerweise nur die Person sehen lässt, die einem am nächsten steht.” Sie sah den Heiler an. “Ich werde bei ihr bleiben. Den Rest kannst du rauswerfen.”

* * *

“Was meinst du damit, sie liegt in den Wehen?”, rief Vran’el aus. Er hatte Enric fort von der Straße unter einen Baum geschleift, wo er sich gegen den Stamm lehnen konnte. “Dafür ist es mehrere Wochen zu früh!”

“Danke, dass du mich auf diese Kleinigkeit hinweist”, keuchte Enric, froh darüber, dass der unmittelbare Schmerz für den Moment nachgelassen hatte.

“Bist du sicher?”

“Vran”, seufzte er und zuckte unter einem weiteren Angriff zusammen, “glaube mir – das sind Wehen. Darüber habe ich gelesen. Die Intervalle werden immer kürzer, der Schmerz ist fast unerträglich und ebbt nach ein paar Sekunden wieder ab, nur um dann ein wenig später wiederzukehren. Das ist recht eindeutig, würde ich meinen.”

“Schon gut, schon gut. Vorher sagtest du, sie war zornig, nicht wahr? Ich frage mich, ob das der Auslöser für die verfrühte Geburt sein könnte.”

Enric atmete schwer, während sich winzige Schweißperlen auf seiner Stirn formten. “Das werde ich herausfinden. Verlass dich darauf.”

“Warum errichtest du nicht einfach einen Schild? Sag mir nicht, dass dieses Teilhaben am Schmerz irgendein sentimentaler Liebesbeweis sein soll, den sie nicht einmal mitbekommt, oder eine romantische Idee, die Geburt gemeinsam mit ihr durchzustehen? Eines darfst du nämlich mir glauben – und zwar, dass dabei zu sein etwas vollkommen anderes ist als einfach nur von Wellen des Schmerzes in die Knie gezwungen zu werden”, bedrängte ihn Vran’el.

“Ich kann mich dagegen nicht abschirmen! Ich konnte nicht einmal ihren Ärger abblocken, als er auf seinem Höhepunkt war. Das ist zu intensiv, das übersteigt bei weitem, was die Barriere zurückhalten kann. Besonders, da sie keinen Schild errichtet hat und ihre Gefühle und Eindrücke mit voller Intensität ausschickt.”

Aufgebracht raufte sich der Jurist mit den Fingern beider Hände die Haare. “Du verdammter Narr! Siehst du nun, was dir dein Kontrollzwang eingebracht hat? Was soll ich denn jetzt mit dir tun?” Dann kam ihm ein Gedanke. “Ich kann dich ausschalten! Dann wirst du das alles verschlafen!”

“Du wirst nichts dergleichen tun”, keuchte Enric von Schmerzen gepeinigt und errichtete einen Schild zwischen ihnen. “Ich muss wissen, ob alles in Ordnung ist.”

“Du wirst das wirklich durchleben?” Hilflos rang Vran’el die Hände. “Idiot! Wirklich! Und ich sitze hier mit dir fest! Verdammt!”, fluchte er. Nach ein paar beruhigenden Atemzügen fügte er etwas entspannter hinzu: “In Ordnung, ich werde es nicht tun. Du kannst den Schild auflösen. Ich verspreche es!”, fügte er gereizt hinzu, als Enric ihm einen zweifelnden Blick zuwarf.

Der Rechtsgelehrte schüttelte den Kopf und beobachtete, wie der andere Mann unter einer weiteren Welle des Schmerzes aufstöhnte. “Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich eines Tages ohne die Anwesenheit einer Frau eine Geburt miterleben würde. Aber es ist auf jeden Fall eine saubere Angelegenheit.”

“Ich bin so froh, dass ich dir diesbezüglich entgegenkommen kann”, meinte Enric gequält. “Wie lange hat die Geburt deiner Tochter gedauert?”

“Sechs Stunden. Und das war rasch. Ich habe von Babys gehört, bei denen die Geburt einen ganzen Tag dauerte.”

“Das hilft mir jetzt gerade überhaupt nicht!”, rief der blonde Magier aus, während ihm der Horror ins Gesicht geschrieben stand. “Erzähl mir lieber, wie Intrea damals mit dieser ganzen Sache zurechtgekommen ist.”

“Bewundernswert. Sie ist der gelassene Typ; nichts kann sie aus der Bahn werfen. Sie war ungemein rücksichtsvoll und mehr um mich als um sich selbst besorgt, denke ich. Sie hat die Leute rundherum losgeschickt, um mir Wasser zu bringen, mir immer wieder gesagt, dass alles gut werden würde und dass ich mich wacker schlage.”

Einen Moment lang sahen sie einander an, dann meinte Enric langsam: “So wird Eryn mit den Leuten, die jetzt gerade in ihrer Nähe sind, ganz sicher nicht umgehen.”

Vran’el nickte. “Ich neige dazu, dir hier zuzustimmen.”

Als Enric tapfer die nächste Welle der Agonie ertrug, versuchte er sich vorzustellen, wer jetzt gerade bei ihr war. Er hätte das sein sollen. Er hoffte, Valrad, Junar oder Malhora würden ihr beistehen. Nicht Orrin. Und definitiv nicht Ram’an.

Ram’an mochte akzeptiert haben, dass er sie nicht haben konnte, doch wenn er sie ohne ihren Gefährten in seiner Stadt hatte und ihr durch so etwas Schmerzvolles und Intimes wie eine Geburt half, mochte ihn das auf Ideen bringen. Doch so etwas würden weder Valrad noch Orrin zulassen, hoffte er inständig.

Vran’el verbrachte die nächsten zehn Stunden damit, neben Enric im Gras zu sitzen und ihn mit Geschichten abzulenken – über seine Kindheit mit Pe’tala, die Jahre des Rechtsstudiums, dumme Streiche, die er als Junge gespielt hatte, und über den Tag, an dem er sich entschieden hatte, seiner Familie mitzuteilen, dass er Männer Frauen als Partner vorzog.

Enrics Haut war blass und klamm. Schweiß lief sein Gesicht und den Hals hinab. Vran’el drängte ihn dazu, Wasser zu trinken und vielleicht auch ein paar Bissen zu essen, um bei Kräften zu bleiben. Doch während Enric das Wasser dankbar annahm, lehnte er das Essen ab.

Als die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann, packte der Jurist ihre Habseligkeiten aus und bereitete einen Schlafplatz vor. Ursprünglich hatten sie geplant, diese Nacht bereits in der Stadt Kar zu verbringen, doch in Enrics aktuellem Zustand schafften sie es nicht mehr dorthin. Sie würden ihren Weg in die Stadt fortsetzen, sobald das hier überstanden und beide gut ausgeruht waren.

Gegen Mitternacht stieß Enric einen letzten gepeinigten Schrei aus, dann kippte er langsam nach vorne und zu Boden.

“Enric?”

“Es ist vorbei”, hauchte er, sein Gesicht beseelt von Erleichterung, Euphorie und Erschöpfung. Er konnte nicht einmal sagen, wie viel davon von Eryn ausging und wie viel von ihm selbst.

“Und? Wie fühlt sie sich?”

“Erleichtert. Und Glücklich. Also ist alles in Ordnung.” Damit ergab er sich der friedlichen Dunkelheit, die ihn wie eine warme, betäubende Umarmung umfing.

* * *

Eryn zwang sich, ihre bleiernen Augenlider zu öffnen, als jemand sachte an ihrer Schulter rüttelte. Es war Junar, die ein kleines Bündel in ihren Armen hielt. Es wimmerte leise.

“Dein Sohn ist hungrig”, lächelte sie. “Füttere ihn besser rasch. Bei seinem Duft und den Geräuschen, die er macht, haben meine eigenen Brüste schon auszulaufen begonnen.”

Unbeholfen versuchte sich Eryn das Hemd, das man ihr angelegt hatte, über den Kopf zu ziehen, doch ihre Freundin seufzte und schüttelte den Kopf. “Nein, Eryn, aus diesem Grund haben sie dir etwas zum Anziehen gegeben, das du nur auf einer Seite zu öffnen brauchst. Siehst du? Hier auf der Seite ist ein Knopf, und dann kannst du die Vorderseite aufklappen, ohne dich vollständig auszuziehen.”

Junar wartete geduldig, bis Eryn eine Brust ausgepackt und das Kissen in ihrem Rücken weiter nach oben gezogen hatte, damit sie sitzen konnte. Dann legte sie das Baby vorsichtig in die Arme seiner Mutter.

Eryn war plötzlich hellwach und starrte auf die winzige Kreatur hinab. Ihr Sohn. Nach der Geburt hatte sie ihn ein paar Augenblicke lang gesehen, doch zu diesem Zeitpunkt war er mit Blut und klebrigen Substanzen bedeckt gewesen. Als man ihn gewaschen hatte, war sie schon dabei, in den Schlaf abzudriften. Sie erinnerte sich noch an die letzten Eindrücke, bevor die Erschöpfung sie übermannte: ein warmes Bündel auf ihren Brustkorb und ein überwältigendes Gefühl von Erleichterung, Dankbarkeit und Zufriedenheit.

“Er hat mein dunkles Haar”, murmelte sie und ließ ihren Zeigefinger über die überraschend dichten, flaumigen Strähnen gleiten. Seine Augen waren blau, doch das besagte in den ersten paar Monaten nicht viel.

Sie veränderte ihren Griff, sodass der winzige Kopf in ihrer Armbeuge zum Liegen kam und sich somit in einer idealen Position für den Zugriff zu seiner Nahrungsquelle befand.

“Komm schon, Liebling, die Milchbar ist geöffnet.” Mit ihrer Brustwarze bog sie seine Lippen auf und sah zu, wie sie sich daraufhin um ihre Brustspitze legten. Als er nicht gleich zu saugen begann, runzelte sie die Stirn. “Die bequemen Tage, wo das Essen keinerlei Anstrengung von deiner Seite erfordert hat, sind jetzt vorbei, mein Junge. Mach schon.” Sie sah Junar an. “Und jetzt?”

“Versuch, einen oder zwei Tropfen herauszupressen und in seinen Mund fallen zu lassen. Ihm scheint noch nicht klar zu sein, dass es sich hierbei um sein Mahl und nicht nur um eine nette, bequeme Beruhigungsmethode handelt”, schlug Junar vor.

Eryn befolgte diesen Rat und beobachtete, wie der kleine Mund probierte und schluckte, als die neue Kost den Anforderungen zu genügen schien. Erst dann verspürte sie ein schwaches Saugen, das sich rasch zu etwas Entschlossenerem, Gierigerem wandelte.

Überrascht sah sie auf. “Auf jeden Fall lernt er schnell.” Dann kehrte ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihm zurück, und sie nahm sich Zeit, ihn zum ersten Mal eingehend zu betrachten. Ihn mittels Magie im Inneren ihres Bauches anzusehen war etwas anderes als es wahrhaftig mit ihren Augen zu tun.

Seine Augen waren geschlossen, während er saugte, offenbar zufrieden mit der Welt. Er hatte ihr Haar, doch der Rest von ihm erinnerte eindeutig an seinen Vater.

Sie schluckte bei dem Gedanken an Enric, der davongeeilt war, um Malriel zu retten und dabei seine schwangere Gefährtin auf sich allein gestellt hier zurückgelassen hatte. Komisch, wie begierig er darauf gewesen war, in das große Unbekannte aufzubrechen und sogar ihr Kommitmentband dritten Grades aufzulösen, wo er doch vor kaum mehr als einem Jahr so darauf gedrängt hatte, es mit ihr einzugehen.

Junar drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Mach dir seinetwegen keine Sorgen, Eryn. Er wird schon bald wieder zurückkehren. Dessen bin ich mir sicher.”

“Das kümmert mich nicht”, erwiderte die Magierin ruhig. “Ich brauche ihn nicht. Ich habe das ohne ihn durchgestanden, oder etwa nicht? Zuerst die Enthüllung von Sanafs üblen Machenschaften, und dann die Geburt. Und das werde ich auch weiterhin schaffen.”

“Das meinst du nicht wirklich!” Junar schluckte schwer und zog besorgt die Stirn in Falten.

Eryns Augen verweilten bei dem Gesicht an ihrer Haut, der kleinen Faust, die auf ihrer Brust ruhte. “Er hat seine Wahl getroffen. Und sich für Malriel zu entscheiden bedeutete, unseren Sohn aufzugeben. Und mich.”

“Das kannst du nicht so meinen!”, rief die Schneiderin mit weit aufgerissenen Augen aus. “Er hat deine Mutter nicht dir vorgezogen – er versucht einen Krieg zu verhindern!”

“So hat sich das für mich nicht angefühlt, als er das Band zwangsweise entfernte.”

“Ich werde deswegen nicht mit dir streiten, aber ich sage dir, dass du dich absolut unbedacht verhältst. Ich verstehe deinen Ärger darüber, dass er dich auf diese Weise zurückgelassen hat, aber du verkennst seine Motive dahinter vollkommen. Und ich kann mir seine Reaktion vorstellen, wenn du ihm vorwirfst, er verzehre sich nach Malriel. Also wirklich!”

“Zankt ihr beiden etwa bereits?”, kam Orrins Stimme von der Tür. Einen Arm hatte er um Verns Schultern gelegt, den anderen auf das Tuch, mit dem er seine Tochter um seinen Brustkorb geschlungen hatte.

“Sie denkt, dass Enric Malriel nachgereist ist, weil er Gefallen an ihr gefunden hat”, erklärte Junar vorwurfsvoll.

Beide Männer starrten sie an, dann lächelte Orrin, und Vern verdrehte die Augen.

“Das ist wohl das Lächerlichste, was ich jemals gehört habe”, schmunzelte der Krieger. “Ich freue mich schon darauf zu hören, was Enric darauf antworten wird.”

“Genau das habe ich auch gesagt”, schnaubte Junar.

Vern hob einen Zeichenblock samt Stift hoch. “Macht es dir etwas aus, wenn ich das hier zeichne? Immerhin ist es das erste Mal, dass du ihn fütterst.”

Eryn verzog das Gesicht. “Wenn es sein muss. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass ich im Moment kein allzu reizendes Bild abgebe.”

“Eitles Weibervolk”, seufzte der Junge in gespielter Verzweiflung und lehnte den Block gegen einen Stuhl, vor dem er sich dann hinkniete.

Orrin trat näher an das Bett und sah auf das Baby hinab. “Er ist über seinem Frühstück eingeschlafen. Ich schätze, du wirst dir beim nächsten Mal mehr Mühe geben müssen”, scherzte er.

“Ungemein amüsant”, erwiderte sie trocken und hob ihren Sohn hoch, um ihn Junar zu übergeben, damit sie sich wieder bedecken konnte. Ihre Finger berührten den goldenen Gürtel, der noch immer um ihren Oberkörper befestigt war. “Sie haben vergessen, das verflixte Ding zu entfernen. Orrin, sei so gut und nimm ihn mir ab, ja?”

“Ich fürchte, das kann ich nicht tun”, meinte er und verzog das Gesicht. “Mir wurde erklärt, dass du ihn für die nächsten sechs Wochen tragen musst.”

“Was?”, bellte sie ärgerlich und zuckte zusammen, als beide Babys zu weinen begannen.

“Großartig”, stöhnte Junar und rollte mit den Augen. Entschlossen drückte sie den Jungen in die Arme seiner Mutter und hob ihre Tochter aus dem um Orrins Brust geschlungenen Tuch, um sie sanft zu wiegen.

“Welch eine lautstarke Begrüßung”, bemerkte Valrad, als er den Raum betrat und auf sie zuging. “Wie ergeht es meinem Enkel? Abgesehen davon, dass er seine Lungenkapazität zum Einsatz bringt. Hat er schon etwas getrunken?”

“Es geht ihm fabelhaft. Und mir ebenfalls, danke der Nachfrage”, seufzte sie.

“Das weiß ich, mein Kind. Ich habe dich nach der Geburt selbst untersucht.”

“Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass du ohne meine Zustimmung keine Magie mehr bei mir einsetzt, nachdem du mich damals bei meiner ersten Reise hierher mit künstlicher Glückseligkeit überflutet hast? Wir müssen gewisse Grenzen setzen. Wieder einmal.”

Valrad zuckte unbekümmert mit den Schultern, als er das gurgelnde kleine Bündel aus ihrem Arm hob. “Deine Erlaubnis war aus meiner Sicht stillschweigend erteilt. Wenn du nicht untersucht werden möchtest, solltest du wohl besser von nun an nicht mehr in meiner Gegenwart ohnmächtig werden.”

“Was für ein netter Besuch”, grollte sie. “Und jetzt rede. Orrin erklärte mir gerade, ich müsste diesen Gürtel sechs Wochen lang tragen. Sag mir, dass er hier etwas missverstanden hat und dass wir hier eher von sechs Stunden reden?”

“Ich fürchte, er hat Recht. Das Problem, musst du wissen, liegt darin, dass Magier generell – und Heiler ganz besonders – einer gewissen Versuchung unterliegen, den Heilungsprozess ihres Körpers voranzutreiben, was nicht ratsam ist. Aber es mag auch schon früher vorbei sein. Manche Frauen benötigen nur vier Wochen, ganz wenige sogar nur zwei. Sechs Wochen ist die obere Grenze.”

“Aber dabei geht es doch bloß darum, die offenen inneren Wunden und anfälligen Punkte zu heilen! Ich wage zu behaupten, dass eine Beschleunigung dessen wohl kaum…”

Ihr Vater unterbrach sie. “Du weißt sehr genau, dass magische Heilung unabhängig davon, ob du sie selbst durchführst oder ob das jemand anderer tut, die Ressourcen deines Körpers erheblich rascher abbaut als du sie in deinem gegenwärtigen Zustand wiederaufbauen kannst – selbst wenn du den ganzen Tag mit nichts anderem als schlafen und essen verbrächtest. Was passiert, wenn der menschliche Körper innerhalb kurzer Zeit eine Menge Blut verliert?”

“Schwäche, Schwindel, Kältegefühl und in manchen Fällen sogar Bewusstlosigkeit”, listete Vern hinter seinem Zeichenblock munter auf.

“Warum wollen wir das speziell bei Frauen nach der Geburt vermeiden?”, fuhr Valrad fort.

Vern war erneut bereit. “Weil sie ihre Stärke benötigen, um sich von der Geburt zu erholen. Zusätzlich dazu unterliegt ihr Körper noch der Anstrengung, Milch zu produzieren. Hinzu kommt, dass sie sich aufgrund des Schlafmangels – ausgelöst durch die anfänglichen häufigen Stillzeiten – langsamer erholt. Das bedeutet, dass ihre Fähigkeit, sich um ihr Kind zu kümmern, darunter leiden könnte. Sollte diese Aufgabe daraufhin an eine andere Person übertragen werden, erschwert dies das Formen einer Bindung zwischen Mutter und Kind. Sollte sich die Mutter trotz ihrer verringerten körperlichen Kräfte um das Kind kümmern müssen, könnte dies zu Unfällen führen und somit das Wohlbefinden des Kindes aus medizinischer Sicht gefährden.”

Vier Augenpaare starrten auf ihn hinab. Zuerst bemerkte er es nicht, da er noch immer mit seiner Zeichnung beschäftigt war. Als sich die Stille in die Länge zog, blickte er auf und blinzelte.

“Was?”, fragte er verwirrt. “Das war doch richtig, oder? Wenn ich mich gerade zum Narren gemacht habe, dann gebe ich diesem Buch in der medizinischen Bibliothek die Schuld.”

Valrad, der noch immer seinen Enkel in den Armen wiegte, kam langsam näher, ohne seinen nachdenklichen Blick von Vern zu nehmen.

“Das war eine eindrucksvolle Demonstration von Wissen, besonders während du dich mit deinen Händen auf eine gänzlich andere Aufgabe konzentriert hast”, meinte der Heiler langsam. “Du wärst nicht etwa interessiert daran, hier bei uns zu bleiben und deine Ausbildung in Takhan zu vollenden, oder?”

“Einen Moment mal!”, knurrte Orrin ärgerlich, bevor Vern etwas erwidern konnte. “Er ist noch nicht einmal alt genug, um solch einer Sache zuzustimmen; und selbst wenn er es für eine gute Idee hielte, so tue ich das keineswegs! Du hast kein Recht, ihm so ein Angebot zu unterbreiten. Er ist nicht in der Lage, es anzunehmen, und ich werde es nicht erlauben.”

Eryn entließ einen Stoßseufzer ob des Dramas, das sich vor ihr abspielte. Verns Augen, zuerst groß vor Überraschung, wurden dann schmal vor Ärger und Verbitterung darüber, dass ihm diese Tür geöffnet und einen Moment später wieder vor der Nase zugeschlagen wurde.

“Ich denke”, sagte Junar mit missbilligender Miene und einem tadelnden Blick für beide Männer, “dass ihr diese Diskussion anderswo führen solltet. Das hier ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt oder Ort.”

“Ich entschuldige mich”, sprach Valrad steif. “Es stand mir nicht zu, es anzubieten, du hast Recht. Ich habe mich ein wenig hinreißen lassen. Ich habe vollstes Verständnis für dein Widerstreben, deinen Sohn für so lange Zeit in einem anderen Land zurückzulassen.”

Orrin nickte knapp, blieb aber stumm.

“Ich bin müde. Bitte seid nicht böse, doch ich würde jetzt gerne ein paar Stunden schlafen, wenn es euch nichts ausmacht”, meldete sich Eryn zu Wort. Sie hatte genug von dieser Anspannung und sehnte sich nach ein wenig Ruhe und Frieden.

“Natürlich nicht”, versicherte ihr Junar.

Sie warteten, bis Valrad seiner Tochter das Baby gereicht hatte, dann verabschiedeten sie sich. Orrins verkrampfte Haltung zeugte von seinem schwelenden Ärger, Vern wirkte elend und eingeschnappt, und Valrad erschien ein wenig verdrossen und enttäuscht.

Eryn atmete erleichtert aus, als sie fort waren und ließ sich in ihrem Bett zurücksinken. Das Baby platzierte sie so, dass es zwischen ihrem Arm und ihrem Körper lag. Nun war sie zum ersten Mal allein mit ihrem Sohn.

Ihr Sohn. Damit war sie endgültig und unumkehrbar eine Mutter. Sie hatte einige Monate Zeit gehabt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, doch erst jetzt, wo sie ihn berühren, riechen und sehen konnte, begann das Verständnis dieser ungeheuren Veränderung auf einer tieferen, elementareren Ebene als der oberflächlichen intellektuellen. Sie hatte ein neues Leben erschaffen. Er würde immer ein Teil von ihr sein, sein ganzes Leben lang. Und er war auf sie angewiesen. Wie er sich entwickelte, würde von den Werten abhängen, die sie ihm vermittelte, von dem Vorbild, das sie ihm war.

Welch eine enorme Verantwortung, eine gigantische Herausforderung. Aber Arens scheuten keine Herausforderung, und das war eines der Dinge, die er von ihr lernen würde.

Vedric von Haus Vel’kim, dachte sie. Willkommen in der anstrengenden Familie, in die du geboren wurdest.

 

Kapitel 2

Ankunft in Kar

Enric regte sich, als sein Unterbewusstsein auf den Duft von Essen reagierte. Helles Tageslicht fiel ihm in die Augen. Er öffnete sie und erspähte nicht weit entfernt Vran’el, der vor einer improvisierten Feuerstelle hockte.

“Fisch?”, murmelte er angenehm überrascht.

In den letzten beiden Tagen hatten sie ausschließlich von ihrem getrockneten Reiseproviant gelebt. Der mochte nahrhaft sein und sich unkompliziert aufbewahren lassen, doch aus kulinarischer Sicht war er alles andere als zufriedenstellend. Er war zum Überleben gedacht, und Überleben erforderte nicht, dass man sich für die Kost begeisterte, sondern nur das Wissen darum, dass die Alternative ein leerer Magen war.

“Sieh einer an. Willkommen zurück von deiner kleinen Auszeit. Wie fühlst du dich?”

Enric führte eine rasche Bestandsaufnahme durch, so wie Eryn es ihm gezeigt hatte. Der schwache Magieimpuls, den er durch seinen Körper sandte, informierte ihn über alles, was er wissen musste.

“Etwas ausgetrocknet, hungrig, mein Nacken und die Schultern schmerzen, aber abgesehen davon geht es mir gut.”

“Gegen die ersten beiden kann ich Abhilfe schaffen, und die anderen kannst du heilen. Somit gibt es aus meiner Sicht keine großen Probleme”, schmunzelte Vran’el und drehte vorsichtig den Fisch über dem Feuer. “Das Mittagessen ist in ein paar Minuten fertig, also hast du Zeit, dich zu waschen. In der Nähe ist ein Bach. Dort habe ich die Fische gefangen. Nun, wenn ich gefangen sage, dann meine ich, dass ich sie mit Magie betäubt und dann eingesammelt habe.”

Enric schloss die Augen, heilte den Schmerz weg und lächelte dann. “Davon bin ich ausgegangen. Ich würde meinen, das ist effizienter als sie mit einem Speer zu jagen oder ein Netz für einen einzigen Fang zu knüpfen.” Er kam auf die Beine und streckte sich mit einem lauten Gähnen. “Wie lange habe ich geschlafen?”

“Eine ganze Weile. Etwa zwölf Stunden. Aber eine Geburt ist auch eine ungeheure Anstrengung, könnte ich mir denken, selbst wenn man sie auf die Weise miterlebt, wie es bei dir der Fall war. Kein Wunder, dass du Ruhe gebraucht hast.”

Die Geburt seines Sohnes. Enric schluckte und versuchte, irgendetwas durch das Geistesband zu spüren. Aber da war nichts. Was einerseits gut war, da es bedeutete, dass sie nicht unter Schmerzen, Ängsten oder großen Sorgen litt. Und doch erinnerte er sich an seine letzten Eindrücke vor dem Abdriften. Die waren positiv und mächtig gewesen. Er hätte nichts dagegen gehabt, davon noch ein wenig mehr zu empfangen, um das Bedauern darüber fortzuspülen, dass er nicht bei seiner Gefährtin und ihrem neugeborenen Sohn sein konnte.

Doch der Grund für seinen Aufenthalt weit fort in einem anderen Land, rief er sich in Erinnerung, war der, es den nun zwei wichtigsten Menschen in seinem Leben zu ermöglichen, dass sie ihr Leben in Frieden und Freiheit leben konnten.

Enric fand den Bach ohne Probleme. Er war knietief und frei von Sedimenten und Schlamm, sodass er einen ungetrübten Blick auf die Steine im Bachbett und die Fische hatte, die in vorsichtigem Abstand an ihm vorbeiflitzten.

Er nahm sich Zeit zum Waschen und watete ein wenig im kalten Wasser herum. Die niedrigen Temperaturen regten seinen Kreislauf an, und er fühlte, wie seine Energie zurückkehrte.

Als er wieder zu Vran’el stieß, war der Großteil ihrer Habseligkeiten bereits sorgsam verpackt. Ihm wurde ein metallener Reiseteller mit zwei Fischen darauf, die zum rascheren Auskühlen aufgeschnitten waren, in die Hand gedrückt.

“Danke, Vran. Genau das brauche ich jetzt. Das getrocknete Zeug hätte im Moment einfach nicht gereicht.”

“Das dachte ich mir. Iss auf! Wir sollten bald aufbrechen; ich wage zu behaupten, dass du jetzt sogar noch eifriger darauf bedacht bist, diese Angelegenheit zu erledigen und zurückzukehren.” Der Jurist aß die letzten paar Bissen seines eigenen Mahls, dann stellte er den Teller beiseite. “Hast du schon darüber nachgedacht, wie wir die Sache mit Malriel in Angriff nehmen sollen? Ich weiß, dass Malhora denkt, man hat sie hereingelegt, aber sie würde auch kaum schlecht von ihrer eigenen Tochter denken wollen. Die Anschuldigungen könnten sich als gerechtfertigt erweisen.”

Enric schüttelte den Kopf. “Ich kenne Malriel noch nicht so lange wie du, doch sie scheint mir nicht der Typ, der Männer ins Bett zwingen muss. Soweit ich es beurteilen kann, hat sie es einfach nicht nötig. Oder gab es in all diesen Jahren in Takhan jemals irgendwelche Anschuldigungen dieser Art?”

“Nein, niemals”, gab Vran’el zu. “Doch ich bin lieber auf das Schlimmste vorbereitet. Und wenn sie unschuldig ist, hätte ein Lügenfilter das sehr rasch offenbart, würde ich meinen.”

“Das stimmt. Vorausgesetzt, sie wissen, wie man ihn anwendet. Du sagtest, dass Magier bei denen kein besonders hohes Ansehen genießen. Somit mag es sein, dass sie ihn nicht anwenden dürfen, selbst wenn sie wissen, wie es geht. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Magier die Verhandlungen aufhalten wollen. In diesem Fall wären sie nicht willens, Malriel zu helfen, da die Chance besteht, dass sie diejenigen sind, die sie hereinlegen wollen.”

“Somit wird man uns auch nicht glauben, wenn wir den Filter einsetzen und ihnen sagen, dass sie unschuldig ist. Sie werden uns Befangenheit vorwerfen. Und mit Recht”, fügte der Rechtsgelehrte mit einer Grimasse hinzu. “Worauf wir also grundsätzlich hoffen, ist, dass sie nicht wissen, wie der Filter funktioniert, aber zustimmen, dass wir ihnen zeigen, wie man ihn anwendet. Und natürlich, dass diejenigen, die ihn anwenden können – nämlich die Magier, oder Priester – nicht diejenigen sind, die sie sabotieren.”

“Genau.”

Vran’el runzelte die Stirn. “Was ist, wenn wir es schaffen, dass man sie freilässt? Werden wir sie mit uns zurück nach Takhan nehmen oder sie hierlassen, damit sie versucht, die Verhandlungen fortzusetzen?”

Enric hatte eine recht klare Vorstellung, was sein Ziel betraf – nämlich Malriel zurück nach Takhan zu bringen, damit sie ihr Haus wieder übernehmen konnte und es damit ihm und seiner Familie ermöglichte, nach Anyueel zurückzukehren.

Trotz seiner Motivation, seine Gefährtin vor den Zudringlichkeiten des Königs zu beschützen, zog es ihn doch zurück nach Hause und weckte eine gewisse Wehmut in ihm, wenn er an sein Heimatland dachte. Und sollte der Monarch es jemals wieder wagen, sich ihr erneut auf unangemessene Weise zu nähern, würde er nicht wie beim letzten Mal mit ein klein wenig Würgen davonkommen.

“Wir werden sehen”, meinte er unverbindlich. “Das kommt darauf an, ob man ihr nach dieser ganzen Misere hier noch immer genug Vertrauen oder Respekt entgegenbringt, um mit ihr zu verhandeln – selbst wenn sie freigesprochen werden sollte. Oder ob sie noch bleiben würde wollen.” Er stand auf, nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte. “Ich wasche nur rasch unsere Teller, dann können wir los.”

Enric spürte, wie sein ganzer Körper von einem Drang zum Handeln ergriffen wurde. Er wollte aufbrechen, weiterziehen, erledigen, was zur möglichst raschen Auflösung dieser Situation erforderlich war und dann nach Takhan zurückkehren.

Sie folgten der Straße, die zur Stadt führte und nutzten die zwei Stunden, um noch einmal durchzugehen, welche Informationen ihnen vorlagen, auf welches Vorgehen sie sich geeinigt hatten und zu üben, wie sie sich vorstellen würden. Außerdem kamen sie überein, eine Liste all der Leute anzulegen, denen sie begegneten – mit sämtlichen Namen und Titeln. Auf diese Art konnten sie diese am Abend in der Abgeschiedenheit ihrer Zimmer wiederholen. So wollten sie vermeiden, diese Leute, die solch großen Wert darauf zu legen schienen, dass man ihre Wichtigkeit anerkannte, durch eine achtlose inkorrekte Anrede vor den Kopf zu stoßen.

Sie hatten die Brücke beinahe erreicht, die es ihnen ermöglichen würde, den breiten Fluss zu überqueren und die Stadt zu betreten. Die in blaugraue Uniformen gekleideten Wachen – Soldaten oder was auch immer sonst sie waren – die zur Blockade des Weges stramm in einer Reihe standen, waren bereits erkennbar.

Man erwartete sie also. Mit einem bis an die Zähne bewaffneten Empfangskomitee. Wenn das kein Vertrauen erweckte.

* * *

Eryn blickte auf ihren friedlich schlafenden Sohn in seiner Wiege hinab. Er ruhte in dem Zimmer, das sie selbst als Kind bewohnt hatte. Das Tageslicht schwand langsam dahin, und der Raum wurde mit jeder Minute ein wenig dämmriger.

Heute hatte man sie aus der Klinik entlassen, und darüber war sie immens froh. Normalerweise ließ man neue Mütter nicht dermaßen früh nach Hause gehen, doch Valrad hatte ihnen versichert, dass er ihr und ihrem Sohn seine persönliche Betreuung angedeihen lassen würde. Üblicherweise riet man Heilern davon ab, ihre eigenen Familienmitglieder zu behandeln, wenn es sich vermeiden ließ; doch seine Kollegen in der Klinik hatten davon Abstand genommen, diese Tatsache zur Sprache zu bringen. Mit großer Entschiedenheit.

Valrad war zu einflussreich, als dass man sich ihm auf diese Weise entgegenstellte; und zusätzlich dazu war man dort womöglich erleichtert darüber, die anstrengende Aren in ihrer Mitte loszuwerden. Eryn war durchaus bewusst, dass weder Geduld noch das Leiden in Stille und Würde zu ihren Stärken zählten. Doch das kümmerte sie nicht im Mindesten.

Sie drehte sich um, als Malhora in der Tür erschien und ein gefaltetes Stück Papier für sie hochhielt. Es sah so aus, als wäre es Zeit, wieder zu ihrer Funktion als Oberhaupt des Hauses zurückzukehren. Mit einem letzten Blick auf das schlafende Baby wandte sie sich ab und folgte ihrer Großmutter in den Hauptraum.

“Das ist von der Triarchie. Ich schätze, dass man dich womöglich an das Dach erinnern möchte, für das du zahlen sollst”, grinste Malhora.

Eryn nahm die Nachricht entgegen und studierte die alte Frau. “Über diesen Vorfall hast du dich noch nicht geäußert. Aber wenn ich von deinem Lächeln damals und deiner Reaktion gerade eben ausgehe, bist du wohl zufrieden damit.”

“Ich sagte dir schon, dass ich es als nützliche Erinnerung für die Allgemeinheit betrachte, wie wohlverdient unser Ruf ist, wenn wir gelegentlich ein Gebäude einstürzen lassen. Das Dach der Senatshalle war eine interessante Wahl. Ein wenig theatralisch, aber auf jeden Fall effektiv. Darüber werden die Leute noch in Generationen reden. Das kannst du mir glauben.”

“Du weißt, dass ich das nicht vorsätzlich getan habe, um irgendein Familienansehen aufrecht zu erhalten, oder? Ich hatte an diesem Tag nicht die Absicht, irgendjemanden zu beeindrucken. Es ist einfach passiert. Ich habe wirklich die Kontrolle verloren. Und dabei eine Menge Leute in Gefahr gebracht”, schloss sie verdrießlich.

Malhora schnaubte. “Bei dermaßen vielen anwesenden Magiern, die die Leute vor fallenden Dachstücken beschützen konnten? Wohl kaum.”

Die jüngere Frau öffnete das Siegel und zog überrascht beide Augenbrauen nach oben. “So viel kostet die Reparatur dieser verdammten Konstruktion? Das soll wohl ein Scherz sein!”

Ihre Großmutter lehnte sich vor, um einen Blick auf den Betrag zu werfen, dann zuckte sie mit den Schultern. “Das war zu erwarten. Es war eine recht große Kuppel, die du einstürzen hast lassen. Nicht einfach zu reparieren. Und dann müssen auch noch die Malereien wiederhergestellt werden. Aber das ist kein Anlass zur Sorge, Mädchen. Haus Aren kann sich das spielend leisten. Betrachte es als nützliche Investition. Das wird unsere Verhandlungspartner und politischen Gegner gewiss dazu veranlassen, im Umgang mit uns mehr Vorsicht an den Tag zu legen, was bedeutet, dass es dem Haus langfristig gesehen nützt.”

“Dann sollte ich die Nachricht wohl beantworten und mich demütig bereiterklären, die Kosten zu übernehmen, so wie es korrekt und angemessen ist”, meinte Eryn und verzog das Gesicht.

“Keine Demut!”, beharrte Malhora. “Du sollst dich deswegen nicht zerknirscht zeigen, sondern die Begleichung des Schadens als Preis für deinen Stolz akzeptieren. Zeige keinerlei Bedauern; das würde die Wirkung abschwächen. Schreibe ihnen lediglich, dass du ihre Forderung anerkennst und die Rechnungen für sämtliche Reparaturen begleichen wirst.”

Von der Eingangstür kam ein Klopfen.

“Würdest du dich darum kümmern, Großmutter? Dann schreibe ich die Nachricht an die Triarchie.”

“Das wird ein Besucher für dich sein, Kind. Also bleibst du besser hier und kümmerst dich später um die Antwort. Du willst ohnehin nicht den Eindruck besonderer Beflissenheit erwecken.”

Malhora stieg die Treppe zum Eingang hinab und kehrte kurz darauf mit Ram’an zurück.

“Eryn, meine Liebe”, begrüßte er sie und küsste sie auf die Stirn. “Ich war in der Klinik, doch man sagte mir, dass du bereits entlassen wurdest.” Er grinste. “Ich gehe davon aus, dass dein Vater seinen Einfluss geltend gemacht hat.”

“Ja, ich gebe zu, das hat er. Seine Kollegen waren darüber nicht besonders glücklich, fanden es aber klüger, sich ihm nicht zu widersetzen. Und darüber bin ich froh – ich wäre irre geworden, hätte ich den ganzen Tag in diesem Bett herumliegen müssen. Das Einzige, was mir jetzt noch so richtig auf die Nerven geht, ist dieser verfluchte Gürtel. Ich schätze, es besteht keine Chance…?” Mit einem flehenden Gesichtsausdruck sah sie zu ihm auf.

“Nein, meine Liebe, überhaupt keine”, erwiderte er schlicht.

Malhora rollte mit den Augen. “Ständig versucht sie die Leute mit Bestechung oder Drohungen dazu zu bewegen, ihn ihr abzunehmen. Vor ein paar Stunden hat sie Orrin befohlen, es zu tun. Zum Glück ist seine Herangehensweise an Autorität recht vernünftig, und er hat sie einfach ignoriert.”

Eryn warf ihr einen frostigen Blick zu. “Ich wage zu behaupten, dass du es kaum als vernünftige Herangehensweise bezeichnen würdest, wenn die Leute auf deinem Anwesen deine Befehle ignorierten.”

“Nein, selbstverständlich nicht. Aber ich erteile auch keine törichten Befehle, die mir selbst zum Schaden gereichen würden.”

“Ich bin eine Heilerin! Ich würde mir nicht schaden! Ich weiß, was ich tue.”

“Eryn”, seufzte Ram’an und legte seine beiden Hände an ihre Wangen, “ohne Valrads Einverständnis wird dir niemand von uns den Gürtel abnehmen. Also hör auf damit, die Leute zu schikanieren, in Ordnung? Zeig mir lieber deinen Sohn.”

“Er schläft.”

“Dann sollten wir wohl besser leise sein”, lächelte er, offensichtlich nicht willens, auf den Hinweis zu reagieren, dass nun keine gute Zeit war, um sich das Baby anzusehen.

Besiegt seufzte Eryn und drückte Malhora den Brief der Triarchie in die Hand. “Warum bereitest du nicht die Antwort darauf vor? So kannst du zumindest sicherstellen, dass der Ton passt. Ich werde ihn später unterzeichnen.”

Ram’an folgte ihr und betrat das Zimmer nach ihr. Sie traten an die Wiege und sahen hinab.

Sie wandte sich ihm zu, als sie sein bedauerndes Seufzen vernahm. “Was?”, fragte sie leise murmelnd.

“Er sieht aus wie Enric.”

“Warum klingst du deswegen traurig?”

“Weil, Theá, ich daran denken muss, dass er unser Sohn – deiner und meiner – gewesen wäre, hätten sich die Dinge nur ein wenig anders entwickelt.

Sie schluckte und versuchte, sich einen Schritt von ihm zu entfernen, doch sie spürte, wie er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie bei sich behielt.

“Nein, bitte. Ich wollte dir kein Unbehagen bereiten. Von nun an werde ich solche Gedanken für mich behalten.”

Nun fühlte sie sich schuldig. “Es tut mir leid, dass dich diese Situation noch immer belastet. Und ich will nicht, dass du deine Gedanken zurückhältst. Auch wenn ich nicht immer glücklich mit ihnen bin.”

Seite an Seite standen sie dort und sahen eine Weile schweigend auf das schlafende Kind hinab.

“Theá, Enric bat mich darum, mich um dich zu kümmern, für den Fall, dass er nicht zurückkehrt.”

Langsam drehte Eryn ihren Kopf und sah ihn an. “Hat er das? Darf ich fragen, was dich um mich kümmern beinhaltet?”, fragte sie kühl und spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Hatte Enric ihn etwa zum Nachfolger in ihrem Lebensbund oder etwas in der Art ernannt?

“Er ersuchte mich darum, seinen Sohn wie meinen eigenen aufzuziehen.”

Mit schmalen Augen starrte sie ihn an. “Und was hat er dir im Bezug auf mich aufgetragen? Dass du mich zu deiner Gefährtin machen sollst?”

“Er sprach die Worte nicht aus, doch ich denke, dass er das meinte, ja”, antwortete er vorsichtig.

Eryn drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer, alles andere als erbaut darüber, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte. Sie hörte, wie Ram’an die Tür leise schloss und ihr dann durch den Hauptraum in den Garten hinaus folgte.

“Warum erzählst du mir das?”, schnappte sie. “Hast du eine Nachricht erhalten, dass er nicht zurückkehren wird? Dass er…”

“Nein!”, unterbrach er sie rasch und nahm sie bei den Schultern. “Nichts dergleichen, das verspreche ich. Damit wollte ich dir nur sagen, dass du niemals allein sein wirst, selbst wenn das Schlimmste eintritt. Ich werde für dich da sein. Du wirkst nicht glücklich, Theá, oder nicht so glücklich, wie du sein solltest. Und natürlich verstehe ich, weshalb. Ich möchte dir zumindest eine Last von den Schultern nehmen.”

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. “Du solltest das nicht tun, Ram’an. Dem hättest du nicht zustimmen dürfen. Was ist, wenn er wer weiß wie lange dort feststeckt? Das könnte dich davon abhalten, das alles hinter dir zu lassen und eine Frau zu finden, mit der du glücklich werden könntest, anstatt auf mich zu warten. Wieder einmal. Es war nicht fair von ihm, dich um so etwas zu bitten.”

Sie spürte, wie sich Ram’ans Arme um sie legten und er sie an sich zog.

“Auch wenn er mich nicht darum gebeten hätte, hätte ich dich nicht dir selbst überlassen.”

Kopfschüttelnd sah Eryn zu ihm auf. “Du würdest mich zu deiner Gefährtin nehmen und meinen Sohn mit mir aufziehen, trotz der Tatsache, dass ich einen anderen Mann dir vorgezogen habe? Und dass ich womöglich nur aus Angst vor dem Alleinsein zustimmen würde?”

“Ja, das würde ich.” Dann lächelte er. “Und ich würde dich bald schon zu der Einsicht bekehren, dass ich ohnehin die bessere Wahl bin. Meine Fertigkeiten im Kochen sind Enrics weit überlegen, und auch mein Wein ist besser als seiner.”

Sie lachte, erleichtert, dass dank seines Scherzes die Anspannung fort war. “Es fällt mir schwer, nicht beleidigt zu sein, weil du denkst, ich ließe mich dermaßen einfach herumkriegen.”

“Man sagte mir, dass Selbstvertrauen immer nützlich ist, wenn man es mit einer Aren zu tun hat.” Dann entließ er sie aus seiner Umarmung und ergriff stattdessen ihre Hand, um sie mit sich zu einer niedrigen Steinbank zu ziehen. “Bezüglich deiner kleinen… Demonstration von Ärger vor zwei Tagen im Senat.”

“Ja?” Sie zog eine Grimasse und fragte sich erst jetzt, wie das wohl ihre Pläne für die Eröffnung eines Waisenhauses beeinträchtigten mochte. Der Senat war wohl eher nicht geneigt, sie dabei zu unterstützen, nachdem sie das Dach über ihnen zum Einsturz gebracht hatte.

“Es hat auf jeden Fall einen Eindruck hinterlassen. Golir kam auf mich zu und bat mich, dir bei der Erstellung eines detaillierten Vorschlags mit einer Kostenschätzung, rechtlichen Erwägungen und einem Zeitplan für dein Projekt behilflich zu sein. Er meinte, er hätte keinerlei Zweifel, dass die Idee mit der Steuererleichterung, die du erwähntest, von mir käme, also ging er davon aus, dass ich der ganzen Sache wohlwollend gegenüberstehe.”

Eryn ließ den Atem entweichen. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. “Was ist mit den anderen Senatoren?”

“Ein paar sind verärgert und vielleicht auch ein wenig eingeschüchtert, aber die meisten haben den Wunsch geäußert, dein Vorhaben zu unterstützen. Vielleicht aus Angst davor, dass andernfalls ihre Residenzen über ihnen zusammenfallen könnten”, fügte er trocken hinzu.

“Diese letzte Bemerkung würde ich dir sehr gerne übelnehmen, aber ich habe keine Ahnung, ob es ein Scherz war oder nicht.”

Ram’an schürzte die Lippen. “Sagen wir, es war eine Übertreibung, aber sicher nicht allzu weit hergeholt.”

“Dann wirst du wirklich mit mir daran arbeiten?” Gerührt ergriff sie seine Hand und drückte sie. “Immer wieder gibst du mir das Gefühl, dass ich dich gar nicht verdiene. Wie kann ich mich jemals revanchieren?”

Er lächelte. “Wir werden einen Weg finden. Zum Beispiel in Form von Unterstützung im Senat und Kooperation mit Arbil-Unternehmen bei der Errichtung und beim Betrieb des Waisenhauses.”

Eryn lachte. “Es ist gut zu sehen, dass du nicht in einem Ausmaß Selbstaufopferung betreibst, die an Dummheit grenzt. Können wir morgen damit beginnen? Ich bin immer noch recht erschöpft von der Geburt, und sitzen ist nicht besonders angenehm. Außer, du wärst bereit, mir bei dieser Kleinigkeit zu helfen…”

Er seufzte, stand auf und zog sie ebenfalls auf die Beine. “Nein, ich werde deinen Gürtel nicht entfernen.” Er lauschte für einen Augenblick, dann nickte er zur Terrassentür. “Ich denke, dein Sohn ist soeben erwacht und möchte gestillt werden. Geh schon!”

Sie ging hinein und sah, wie Malhora mit Vedric auf dem Arm auf sie zukam.

Eryn zog die Stirn in Falten, als sie sah, wie Ram’an auf den Sitzkissen Platz nahm. “Du willst bleiben? Ich meine, das ist eher…” Ihre Worte verklangen, nicht wissend, wie sie fortfahren sollte. Sie hatte es schon zuvor getan, während andere zugesehen hatten; erst gestern, als Orrin, Valrad, Junar und Vern im gleichen Zimmer gewesen waren. Aber ihre Brüste vor Ram’an zu entblößen schien irgendwie… falsch. Seltsam. Unangemessen.

“Schüchtern, Theá?”, grinste er und klopfte auf den Platz neben sich. “Ich versichere dir, dass dazu kein Anlass besteht. Eine Mutter beim Stillen ihres Kindes zu beobachten ist ein sehr ansprechendes Bild, doch kaum eines, das unangemessene Gefühle in einem Mann erweckt. Tatsächlich ist es sogar umgekehrt. Es erinnert uns daran, dass eure Brüste sich ursprünglich nicht zu unserem Vergnügen entwickelten, sondern zur Versorgung unseres Nachwuchses gedacht sind.”

Eryn biss sich auf die Lippe, noch immer unsicher, ob sie darauf bestehen sollte, dass er ging oder nicht. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass Enric etwas Ähnliches von sich gab, als er vor einigen Wochen Junar beim Stillen ihrer Tochter zugesehen hatte. Dennoch…

“Setz dich, Eryn”, befahl Malhora. “Er hat Recht. Mit der Zeit wirst du ruhige Orte zum Stillen deines Kindes schätzen lernen, wenn du unterwegs bist. Den Luxus vollkommener Ungestörtheit wirst du dabei nicht allzu oft haben.”

Mit einem tiefen Atemzug nahm sie Platz. “Also gut, dann tun wir es.” Vor den Augen ihres ehemaligen Verehrers, der ihr gerade erklärt hatte, er würde sie zu seiner Gefährtin machen, falls Enric nicht wiederkehrte.

Vern spazierte herein und lächelte, als er sie sah. Er nahm seinen Zeichenblock und Stift, dieser Tage stets einsatzbereit, zur Hand und ließ sich ihr gegenüber nieder.

“Hast du so eine Szene nicht gestern schon gemalt? Wie viele davon brauchst du denn?” Sie kniff die Augen zusammen. “Die wirst du doch wohl nicht verkaufen? Wenn ich irgendwo eingeladen bin und mich dann dort halbnackt an einer Wand wiederfinde, werde ich dir den Kopf abreißen.”

Vern lachte nur und fuhr mit dem Zeichnen fort, zuversichtlich in dem Wissen, dass er in den nächsten Wochen der stärkere Magier war, solange sie den Gürtel trug.

* * *

Enric stieg ab. Nur noch ein paar Schritte trennten ihn von den Wachen. Er ging auf sie zu, in seiner Hand die Nachricht an die Triarchie, mit der sie eingeladen wurden, einen Repräsentanten zu schicken, der Malriel beistand.

Da stand eine Person, eine Frau in ihren späten Dreißigern, gekleidet in etwas, das entweder ein kurzes Kleid oder eine lange Tunika war und das ihr bis zu den Knien reichte, mit hellbraunem Haar, das sie in ihrem Nacken zu einem Knoten gedreht trug.

“Wir grüßen euch”, ergriff sie als Erste das Wort. Sie zeigte ebenfalls die Tendenz, Worte weitgehend mit ihren Zähnen und der Zungenspitze zu formen. Beim Reden schien sie den Mund kaum zu öffnen. “Mein Name ist Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten.”

Sie sah Enric an, den sie offensichtlich als höherrangig identifiziert hatte.

“Und auch wir grüßen dich, Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten. Mein Name ist Lord Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden und Senator in Takhan. Das hier”, er zeigte auf den anderen Mann, “ist Lam Vran’el, Reig von Haus Vel’kim, Jurist und Senator in Takhan.”

“Seid beide willkommen”, erwiderte Lam Ceiga höflich. “Es gibt ein paar Formalitäten, die es zu erledigen gilt, bevor wir euch Zugang zu der Gefangenen Malriel, Holm von Haus Aren, Senatorin in Takhan gewähren können. Wir werden eure Pferde in den Stallungen unterbringen, und eure Habe wird zu eurer Unterkunft gebracht. Wenn ihr mir nun folgen wollt.”

Sie drehte sich um und ging davon, ohne auf irgendeine Zustimmung zu warten. Rasch griffen sie nach den Taschen, in denen sie Dokumente und Gold aufbewahrten, übergaben die Zügel zwei uniformierten Männern, die vorgetreten waren, und eilten dann der Frau hinterher, die sich kein einziges Mal umgedreht hatte um zu sehen, ob die Männer Schritt hielten.

“Das ist nicht gerade ein recht herzlicher Empfang”, flüsterte Vran’el.

“Nicht wirklich, aber in Anbetracht der Umstände hätte ich auch keinen besonderen Enthusiasmus erwartet.”

Sie nahmen die großen, ungewöhnlich gleichmäßigen Pflastersteine auf den Straßen in sich auf, die Häuser mit ihren steil geneigten Dächern und farbenfrohen Fassaden, die sich aus Holz und Verputz zusammensetzten. Vor einigen Fenstern waren Kisten angebracht, in denen Blumen wie in einem winzigen Garten wuchsen. Die farbenfrohen Blüten verstärkten die seltsam heitere Wirkung von bunter Nüchternheit.

Die Leute auf den Straßen jedoch waren weit davon entfernt, solch einen Überfluss an Farben in ihrer Kleidung zur Schau zu stellen. Deren Schattierungen reichten von gebrochenem Weiß zu Braun und hellem Grau zu Schwarz. Nur gelegentliche Schals oder kleine Verzierungen wie Gürtel oder Hüte in fröhlichen Tönen lockerten den Gesamteindruck auf.

Vran’els Aufmachung zog einige Blicke auf sich, einige neugierig, andere kühl und sogar feindselig. Enric selbst war froh über seine eigene Vorliebe für Schwarz.

Interessanterweise schienen Haarfarben und Hauttöne hier ein breites Spektrum abzudecken, das sowohl Enrics blasseres Hautbild und blondes Haar, als auch Vran’els gebräunte Haut und dunkles Haar miteinschloss.

Es gab rothaarige Leute mit Sommersprossen, schwarzhaarige sowohl mit heller als auch dunkler Haut, blondes und braunes Haar in allen möglichen Schattierungen.

Im Allgemeinen schienen hier sowohl Männer als auch Frauen eine Tendenz zum Tragen von Hüten, Kappen oder Schals zu zeigen.

Enric störte es nicht besonders hervorzustechen; das war nun schon seit einigen Monaten Teil seines Alltags. Nach Vran’els angespannter Haltung und verkrampftem Kiefer zu urteilen, war er es allerdings nicht gewohnt, andersartig zu erscheinen.

Nach kaum mehr als ein paar Minuten hielt ihre Führerin vor einem hohen Haus mit mindestens vier Stockwerken. Ein breites steinernes Schild war an der Wand neben der ausladenden Eingangstür angebracht.

Enric betrachtete die Buchstaben, die nur teilweise vertraut erschienen. Er konnte ihre Bedeutung nicht entziffern. Dies mochte ebenso gut ein freundlich wirkendes Gefängnis als auch ein eher trist wirkendes Gästehaus sein. Alles war möglich.

“Hier werden wir eure Daten zwecks Registrierung und Archivierung aufnehmen. Hernach werde ich euch zu eurer Unterkunft geleiten. Sie ist nicht weit von hier, nur ein paar Minuten in Richtung des Stadtzentrums”, erklärte sie, ohne auch nur einen Anflug einer Emotion zu zeigen.

“Wann ist es uns möglich, Malriel, Holm von Haus Aren, Senatorin in Takhan zu besuchen?”, erkundigte sich Enric höflich.

“Sobald eure Pässe ausgestellt wurden. Das wird geschehen, sobald eure Informationen bezüglich Vollständigkeit überprüft und von den zuständigen Beamten genehmigt wurden.”

“Wie lange dauert das in der Regel?”

“Es kann bis zu einer Woche dauern, doch uns ist klar, dass in eurem Fall eine besonders rasche Durchführung angeraten ist”, gestand Lam Ceiga großzügig zu, bevor sie das Gebäude betrat, ohne vorher irgendeinen Hinweis dahingehend anzubieten, wie lange solch eine besonders rasche Handhabung dauern würde.

Enric wechselte einen unbehaglichen Blick mit Vran’el, dann folgte er der Frau durch die Doppeltür.

 

Kapitel 3

Besuch bei Malriel

Eryns Grinsen wuchs in die Breite, als Kilan den Aren Hauptraum betrat. “Ich traue meinen Augen kaum! Sieh an, wer es schließlich doch noch geschafft hat, mich nach all der Zeit zu besuchen! Und alles, was nötig war, um dich zu mir zu locken, war ein Baby zu bekommen!”

Er schmunzelte. “Ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich dich besuchte. Es endete damit, dass ich mich um deine Korrespondenz kümmern musste. Mir hat schlicht vor dem gegraut, was du mir sonst noch aufbürden könntest. Somit hielt ich es für weise, einen Sicherheitsabstand zu dir zu wahren.”

“Feigling”, lachte sie und massierte weiterhin Vedrics Bauch.

“Was machst du da?”

“Seinen Bauch zu reiben ist eine gute Stimulation für seine inneren Organe und soll ihm bei der Verdauung seiner Mahlzeiten helfen”, erklärte sie. “Übrigens trafen heute Morgen einige Kuriervögel aus Anyueel mit Gratulationen ein. Darunter auch vom König. Er schrieb etwas darüber, dass ich bei der Formulierung meiner Ablehnung etwas respektvoller vorgehen soll. Ich schätze, du solltest dich besser für das entschuldigen, von dem er denkt, ich hätte es beim letzten Mal geschrieben. Sieh bloß zu, dass du mir keinen Ärger einhandelst, hörst du?”

Kilan atmete aus und schloss die Augen. “Eryn, ich habe ihm nichts dergleichen in deinem Namen geschrieben. Zu keiner Zeit.”

Sie fluchte. “Das bedeutet, er hat herausgefunden, dass ich nicht diejenige bin, die diese verdammten Nachrichten schreibt.” Sie warf Kilan einen missbilligenden Blick zu. “Das bedeutet dann wohl, dass du viel zu freundlich, höflich und entgegenkommend warst. Womöglich hatte er keine andere Wahl, als entweder die Herkunft der Nachrichten oder meine Geistesverfassung anzuzweifeln.”

“Gut für dich, dass er sich für Ersteres entschieden hat, eh? Jetzt gib mir das Kind, ja? Ich muss sehen, wem er ähnlich sieht.” Er nahm Platz und ließ sich von Eryn sanft das Baby in die Arme legen. “Das ist Enrics Gesicht, daran lässt sich nicht rütteln. Sollten jemals Zweifel daran bestehen, wer seine Eltern sind, wird er wahrscheinlich nach seiner Mutter suchen. Wer sein Vater ist, steht bei dieser Ähnlichkeit außer Frage.”

“Sehr nett”, knurrte Eryn. “Genau das will eine Frau hören, nachdem sie ein menschliches Wesen aus sich herausgepresst hat: wie wenig ähnlich ihr das Kind sieht.”

“Seine Haarfarbe ist die gleiche wie deine, also sind da auch Spuren von dir vorhanden”, räumte er großmütig ein.

“Weißt du was? Ich beginne mich zu fragen, warum ich betrübt darüber war, dass ich dich nicht öfter sehe. Ich habe versäumt, es als den Segen zu betrachten, der es eigentlich ist”, schnaubte sie.

Er grinste und untersuchte eine winzige Hand. “Stets zu Diensten.”

* * *

Enric sah aus dem Fenster in Vran’els Zimmer und beobachtete die Pferdewägen auf der überfüllten Straße und die Menschen, die sich scheinbar ohne jegliche Sorge um ihre eigene Sicherheit zwischen den Gefährten hindurchdrängten.

Die Zimmer, die ihnen vor zwei Tagen kurz nach ihrer Ankunft zugewiesen worden waren, reichten nicht einmal annähernd an die Unterkünfte heran, die man ihm in Takhan bei seiner ersten Reise als Botschafter zur Verfügung stellte. Und zuhause in Anyueel hätte man niemals gewagt, Gäste mit dermaßen bescheidenen Quartiere zu beleidigen. Es war womöglich ein alles andere als subtiler Hinweis darauf, dass sie hier nicht gerade willkommen waren. Oder aber es spiegelte eine Kultur wider, die an einen etwas genügsameren Lebensstil gewohnt war.

Aber zumindest war die Unterkunft sauber und warm, wenn auch nicht besonders bequem. Oder geräumig. Oder hell.

Die letzten beiden Tage hatten sie mehr oder weniger wartend verbracht. Mit dem Warten darauf, dass ihre Dokumente und Informationen genehmigt, an eine Person weiter oben auf der Leiter der Macht zur weiteren Genehmigung übergeben und dann erneut weitergereicht wurden. Lam Ceiga hatte sie angewiesen, im Haus zu bleiben und nicht durch die Stadt zu wandern, da die Papiere, die ihnen diese Erlaubnis gewährten, noch nicht ausgestellt waren. Aber heute waren ihnen die Pässe zugestellt worden, die das Ende ihres rastlosen Hausarrests bedeuteten.

Enric wandte sich vom Fenster ab und sah Vran’el zu, der damit beschäftigt war, all die unterschiedlichen Papiere zusammenzusuchen, die sie benötigen würden, um Zutritt zu dem Gefängnis zu erhalten, in dem Malriel weilte. Dort würden sie sie nun zum ersten Mal sehen.

Sie mussten eine Anzahl an unterschiedlichen Formularen für weiß welchen Zweck ausfüllen und erhielten einen Tag darauf eine Notiz, die auf Verlangen vorgezeigt werden musste. Darauf waren Identität, Zweck der Anwesenheit in der Stadt, die Erlaubnis für den Aufenthalt in der Stadt und die Bereiche vermerkt, in denen es ihnen gestattet war, sich zu bewegen.

Vran’el war von der Menge an Papierkram genervt und hatte dieses ermüdende und seiner Ansicht nach lächerliche Maß an Bürokratie wiederholt verflucht. Doch Enric hatte die Formulare studiert und bewunderte den Grad an Organisation.

Zumindest, bis er bemerkte, dass er die gleiche Information in vier verschiedene Formulare eintrug. Das war nicht organisiert, sondern einfach nur überflüssig und eine Zeitverschwendung. Andererseits war es nicht so, als hätten sie außer zu warten sonst noch etwas zu tun.

Dann endlich, nach zwei Tagen des Herumschiebens von Papier und Wartens, wurde ihnen die Erlaubnis erteilt, Malriel zu besuchen und mit ihr zu reden.

Sobald Vran’el alle nötigen Papiere beisammen hatte, richtete er sich auf.

“In Ordnung – ich bin soweit. Lass uns gehen und Malriel in ihrem Gefängnis besuchen. Ich muss zusehen, dass ich mir jedes Detail einpräge. Es wird Eryn aufheitern, wenn ich ihr davon erzähle”, meinte der Jurist und lächelte. “Ich frage mich, ob wir sie mit dem Titel ansprechen sollen, den Eryn für sie verwendet? Königin der Dunkelheit klingt immerhin recht eindrucksvoll. Vielleicht findet man hier Gefallen daran?”

Enric verdrehte die Augen. “Ich hätte von Anfang an erkennen müssen, dass ihr beiden unmöglich nur Cousins sein könnt. Der gleiche verstörende Sinn für Humor, der so viel tiefer reicht als das, was bloße Erziehung verschulden könnte. Komm. Es wird Zeit, mit unserer Arbeit zu beginnen.”

* * *

Intrea grinste, als Eryn ihr das Baby in die Arme legte. “Sieh dir das an! Er sieht aus wie sein Vater!”

Eryn rollte mit den Augen. “Ja, vielen Dank für diese Anmerkung.”

Die andere Frau ignorierte sie und bedeutete ihrer Tochter näherzukommen. “Obal, ich darf dir deinen Cousin Vedric von Haus Vel’kim vorstellen.”

Das Mädchen kam näher, allerdings vorsichtig, als würde es irgendeine widerliche Attacke befürchten.

“Er beißt nicht, weißt du”, meinte Eryn sanft und fügte hinzu, “Noch nicht.”

Obal warf ihr einen dieser genervten Blicke zu, die ein fünfjähriges Mädchen noch nicht perfektioniert haben sollte, und inspizierte das Kind in den Armen ihrer Mutter eingehend.

“Er ist sehr klein. Mein anderer Cousin war größer”, bemerkte sie sachlich.

“Ja, er wurde um einiges zu früh geboren”, nickte Eryn.

Daraufhin wurde sie mit einem weiteren vernichtenden Blick bedacht.

“Es ist nicht so, als hätte ich das mit Absicht getan”, verteidigte sich Eryn und fragte sie, warum ihr dieses Kind dermaßen an die Nieren ging.

Obal erwiderte nichts darauf und starrte den Jungen noch eine weitere Minute lang an.

“Er macht überhaupt nichts. Langweilig. Wo ist Urban?”

“Im Garten”, informierte Eryn sie rasch, froh über die Aussicht, das Mädchen für eine Weile loszuwerden.

Intrea lächelte wissend. “Sie hat diese Wirkung auf Leute. Ich hoffe, dass sie diese generelle Geringschätzung für ihre Umwelt irgendwann hinter sich lassen wird. Bei den anderen Kindern ihres Alters macht sie sich damit nicht besonders beliebt. Und ebenso wenig bei den Erwachsenen. Mein Vater meint, ich wäre als Kind genauso gewesen, also gibt es noch immer Hoffnung. Das kleine Paket auf dem Tisch ist übrigens für dich. Es ist ein Badeöl, das seine Haut vor der trockenen Hitze schützt. Du kannst es auch verwenden, wenn du auf deiner Haut irgendwelche trockenen Stellen hast.”

Eryn bedankte sich und öffnete die Verpackung aus dünnem Stoff, bevor sie den Korken aus der Glasflasche zog und daran schnupperte. Die klare, gelbe Flüssigkeit roch nach irgendwelchen Blumen und Gewürzen.

Intrea lehnte sich vor um nachzusehen, wohin ihre Tochter entschwunden war und sah dann die frischgebackene Mutter an.

“Wie geht es dir, meine Liebe? Es tut mir leid, dass du die Geburt ohne Enric durchstehen musstest. Aber deine Freundin Junar war bei dir, wie ich hörte. Ich schätze, da sie selbst erst vor wenigen Monaten ein Kind zur Welt brachte, war sie dir eine große Hilfe.”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln. “Mir geht es gut. Und ja, Junar war großartig. Obwohl ihre Hand hinterher geheilt werden musste. Es scheint, als hätte ich auch ohne Magie einen recht beachtlichen Griff.”

Intrea lachte. “Ich muss sagen, dass es jedenfalls von Nerven aus Stahl zeugt, einer Aren freiwillig bei einer Geburt beizustehen.” Sie wurde wieder ernst und sah auf das Baby in ihrem Arm hinab. “Ich bin sicher, dass es keinen Grund gibt, sich um die beiden zu sorgen, weißt du”, meinte sie leise. “Vran mag sorglos, immer zu Scherzen aufgelegt und leichtlebig wirken, doch er ist ein sehr guter Jurist. Seine scheinbar mühelose Wandlung hin zu seinem professionellen Selbst fand ich schon immer befremdlich, als wäre er eine gänzlich andere Person. Plötzlich ist er so ernst, fordernd und analytisch. Und Enric ist so eindrucksvoll, sowohl in seiner Erscheinung als auch in Bezug auf seinen Verstand. Wie könnten diese beiden nicht erfolgreich sein?”

Eryn antwortete nicht darauf, sondern fragte sich nur im Stillen, weshalb Intrea so besorgt klang, wenn es doch so wenig Grund dafür gab.

“Allerdings muss ich dir sagen, dass Neval recht beunruhigt ist”, fuhr sie mit einem Lächeln fort. “Er sagte mir, er sei keineswegs glücklich darüber, dass sein Liebhaber so lange Zeit mit einem Mann wie Enric allein verbringt. Offensichtlich befürchtet er, Vran könnte eine Vorliebe für den blonden, exotischen Typ entwickeln, wenn man kein Auge auf ihn hat.”

Die beiden Frauen sahen einander einen Moment lang an, dann begannen sie zu kichern, froh darüber, dass Obal zu weit weg war, um ihre Augen auf diese abschätzige Weise zu verdrehen, die so typisch für sie war.

* * *

Die beiden Männer folgten der breiten Straße, die sie von ihren Fenstern aus überblicken konnten, sorgsam darauf bedacht, Zusammenstöße mit sich bewegenden Pferdewägen zu vermeiden.

“Ich fühle mich in meiner Aufmachung hier etwas fehl am Platz”, murmelte Vran’el und ließ seinen Blick über die einfärbigen, schnörkellosen Kleidungsstücke der Leute um sie herum wandern.

“Ich hoffe, dass wir nicht lange genug hier sind, damit sich der Besuch eines Schneiders für uns lohnt”, bemerkte Enric und sah sich um. “Siehst du, wie sauber hier alles ist?”

Der Jurist nickte. “Das ist mir aufgefallen, ja. Ich frage mich, wie oft die Straßen hier gekehrt werden. Wahrscheinlich jede Nacht.”

Enric beobachtete die Menschen, die an ihnen vorbeigingen und staunte einmal mehr darüber, dass weder sein eigenes helles, noch Vran’els dunkles Haar hier einzigartig waren. Weder sein derzeitiger Hautton, der aufgrund der allgegenwärtigen Sonne in den Westlichen Territorien dunkler war als sonst, noch sein üblicher blasser Teint fielen hier auf.

Er dachte an Orrins Tochter und deren braunes Haar. Würde Anyueel in ein paar Jahrzehnten so ähnlich aussehen, sobald die Rückkehr der Magie bei Frauen zu mehr Abwechslung im Erscheinungsbild der Leute führte?

“Wie lautete der Name dieser anmutslosen Frau doch gleich noch einmal?”, fragte Vran’el.

Enric zog sein kleines Notizbuch aus einer Innentasche und öffnete die erste Seite. “Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, las er vor.

Sie würden die Frau gleich vor dem Gefängnis treffen, das laut der Erklärung, die man ihnen gegeben hatte, am Ende dieser Straße lag. Es konnte freilich nicht schaden, wenn sie es möglichst vermieden, die einzige Person, der sie bislang offiziell vorgestellt worden waren, mit einer gedankenlosen Anrede zu verärgern.

Ihr Weg führte sie an Geschäften mit großflächigen Schaufenstern vorbei, in denen Waren präsentiert wurden. Die Schilder der Geschäfte konnten sie nicht verstehen, doch wenn man die ausgestellten Güter betrachtete, musste es sich um unterschiedliche Arten von Handwerksleuten handeln. Schneider, Schmuckhändler, Glashersteller, Töpfer, Papierhersteller und so fort.

Enric hielt vor einem Fenster und starrte auf das kleine Spielzeug hinab, das irgendeinem vierbeinigen Tier nachempfunden war und sich aus eigenem Antrieb fortzubewegen schien.

“Wie ist das möglich?”, murmelte er, während er die ruckartigen Bewegungen des bunt bemalten Holzgegenstandes beobachtete.

“Magie?”, schlug Vran’el gleichermaßen fasziniert vor.

“Das bezweifle ich doch sehr, wenn die Informationen darüber, wie gering Magie hier geachtet wird, zutreffen.” Er fragte sich, ob die Möglichkeit bestand, dieses Stück zu erwerben. Würden sie ihm, dem Ausländer aus einem Land, mit dem man vielleicht bald im Krieg lag, etwas verkaufen? Würde man seine Goldstreifen hier überhaupt annehmen?

Ein Mann trat durch die Tür des Geschäfts nach draußen und brachte damit eine kleine Glocke über ihm zum Klingeln, als die Tür daran streifte. In seinem Gesicht prangte ein enormer, gekrümmter Schnurrbart, dessen helles Braun von gelegentlichem Grau durchsetzt war, genau wie seine Schläfen. Um seine recht imposante Leibesmitte trug er eine Schürze mit zwei großen Taschen, und die aufgerollten Ärmel seines Hemds entblößten stämmige, haarige Unterarme.

Ein unverständlicher Strom der einheimischen Sprache mit ihren vielen Zischlauten wurde auf sie losgelassen. Es klang nicht unfreundlich, doch bei dieser Sprache und den betont ausdruckslosen Mienen, die die Leute hier in der Öffentlichkeit aufsetzten, ließ sich das schwer einschätzen.

“Ich fürchte, wir verstehen dich nicht”, sagte Enric langsam.

Der Mann schürzte die Lippen und kniff die Augen zusammen, eindeutig unsicher, wie er mit ihnen verfahren sollte.

Enric wartete geduldig und hegte die Hoffnung, dass ihre unmittelbare Zukunft nicht davon geprägt war, dass der Mann sie davonjagte, sondern sie stattdessen in sein Geschäft einlud.

“Kommt”, forderte er sie schließlich auf, als würde er ihnen ein Privileg gewähren, und führte sie hinein.

Enric fügte sich mit Freude, neugierig darauf, mehr zu sehen. Vran’el war weniger angetan davon, einem Fremden, der nicht allzu enthusiastisch auf ihre Anwesenheit reagiert hatte, in ein Gebäude zu folgen.

Der Mann nahm ein weiteres Spielzeug von der gleichen Machart, das jedoch einem anderen Tier nachempfunden war, von einem Regal und drehte mit einem seltsamen metallischen Schnurren ein kleines Rad, das aus dem hinteren Teil herausragte. Als er das Rädchen losließ und das Spielzeug auf seinem hölzernen Tresen abstellte, begann es sich mit den gleichen abgehackten Bewegungen wie sein Gegenpart im Schaufenster zu bewegen.

Enric betrachtete die fremdartige Vorrichtung wie gebannt. Er verspürte das Verlangen, sie aufzuheben, herumzudrehen und ihre Geheimnisse aufzudecken.

“Wie viel?”

Der Mann deutete auf eine kleine Schiefertafel auf dem Regal, die offenbar den Preis anzeigte. Enric konnte sie nicht lesen und hob fragend eine Braue.

Seufzend hob der Mann drei Finger.

“Hilf mir, Vran”, murmelte Enric. “Wie viele eurer Goldstreifen ergeben eine Einheit der lokalen Währung hier?”

“Etwa zweieinhalb.”

Das bedeutete ungefähr siebeneinhalb Goldstreifen oder beinahe vier Goldstücke aus Anyueel. Das erschien ihm recht kostspielig. Andererseits hatte er keine Ahnung, wie teuer oder aufwändig die Herstellung dieses Spielzeugs war. Er zog in Betracht, einen niedrigeren Preis auszuhandeln, entschied sich dann aber dagegen. Das mochte ihnen mehr schaden als nutzen. Stattdessen griff er in seinen Beutel und zog acht Goldstreifen hervor, die er dem Mann zeigte.

Das löste nicht die Reaktion aus, auf die er gehofft hatte. Mit einem verächtlichen Blick, als würde er etwas ungemein Ekelerregendes betrachten, begann der Ladenbesitzer mit seinen Händen zu wedeln, womit er ihnen signalisierte, dass sie sich entfernen sollten.

Wieder draußen auf der Straße, schüttelte Vran’el verwundert den Kopf. “Meine Güte, das war aber eine recht heftige Reaktion.”

“Soweit ich das gesehen habe, ist man hier sehr auf Regeln bedacht. Nach allem, was wir wissen, könnte es ihm Ärger einbringen, wenn er Geld annimmt, das nicht zugelassen ist. Wir sollten herausfinden, wie wir unser Geld in die hiesige Währung umtauschen können”, sinnierte Enric.

Sie setzten ihren Weg fort in Richtung des mächtigen, grauen Gebäudes am Ende der Straße, das sehr wahrscheinlich ihr Ziel war.

“Du hast noch nicht einmal versucht zu feilschen”, meinte Vran’el mit einem missbilligenden Kopfschütteln.

“Das liegt daran, dass wir nicht wissen, wie man hier auf so etwas reagieren würde. Wenn du den veranschlagten Preis nicht bezahlen willst, solltest du nach Ansicht meiner eigenen Landsleute besser den Leuten aus dem Weg gehen, die dazu bereit sind”, erklärte Enric. “Mich daran anzupassen war zu Beginn eine beträchtliche Herausforderung für mich. Ich kann hier gewisse Parallelen zu meinem Land erkennen. Nun, bis zu einem gewissen Grad. Wir mögen unsere Listen und Berichte ebenfalls recht gern, doch hier hat man das offensichtlich zu einer Kunstform erhoben. Auch, was das Essen betrifft. Es ist weniger stark gewürzt, besteht aber aus mehr Fleisch und Gemüsesorten, die einen für längere Zeit sättigen und warm halten.”

“Also gut, kein Feilschen hier”, seufzte Vran’el.

“Genau. Es ist besser, wenn man uns für ein wenig naiv und leicht auszutricksen hält als dass wir gierig und verschlagen erscheinen. Das verleitet die Leute dazu, uns zu unterschätzen.”

Mittlerweile waren sie nahe genug, um eine vertraute Gestalt zu erkennen. Der Knoten im Nacken war der gleiche, ebenso wie auch der Stil ihrer Aufmachung.

“Grüße, Lord Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden und Senator in Takhan, und Lam Vran’el, Reig von Haus Vel’kim, Jurist und Senator in Takhan”, sprach sie und ließ dabei den Buchstaben S wie ein Zischen und jedes T wie einen rasanten Hammerschlag klingen.

“Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, rezitierten Enric und Vran’el gemeinsam und wechselten einen erleichterten Blick, als die Frau zufrieden nickte und sich dann umdrehte um vorauszugehen. Es war, als wären sie vor einer besonders strengen Lehrerin zum Appell angetreten.

Ihr Weg führte sie durch hohe Korridore mit einer Anzahl an großen, halbkreisförmigen Fenstern, die einen Blick über die Straße gewährten, von der sie gerade gekommen waren.

Sie näherten sich einer Doppeltür, die von vier Männern in dunkelgrauen Uniformen bewacht wurde.

Mit einem Nicken nahmen sie wortlos den Ausweis der Frau entgegen, lasen ihn gewissenhaft durch und reichten ihn wieder zurück. Dann hielten sie den beiden Männern in ihrer Begleitung die Hände entgegen.

Vran’el übergab ihre Dokumente, die daraufhin eingehend geprüft, gegen das Licht gehalten und schließlich nach mehreren Minuten wieder freigegeben wurden. Die Wachen waren in der Tat gründlich.

Man winkte sie durch die Tür, und sie setzten ihren Weg fort, nur um nach kaum einer Minute wieder aufgehalten zu werden. Vier weitere Wachen, die gleiche Vorgangsweise.

Im Weitergehen unterdrückte Enric ein Seufzen. Vor sich erblickte er noch eine Tür mit vier Männern in Dunkelgrau. Er fragte sich, wie viele Türen dieser Art sie noch zu passieren hatten und ob sie Malriel wohl noch vor dem Sonnenuntergang in ein paar Stunden zu Gesicht bekommen würden. Vran’els Miene verriet ihm, dass er ebenso wenig angetan war von dem Ausmaß an Sicherheit, das man hier für erforderlich hielt.

Nachdem man sie schließlich durch die vierte entsprechende Tür treten hatte lassen, wurden sie in einen weiteren Gang geführt, von dem vier wesentlich kleinere Türen ausgingen. Die wirkten massiv und hatten kleine, vergitterte Fenster in Augenhöhe. Es schien sich dabei um die Gefängniszellen zu handeln. Verglichen mit den Kerkern und Gefängnissen in Anyueel wirkte die Umgebung hier wesentlich freundlicher, heller und sauberer.

Eine der Wachen ging an ihnen vorbei, um eine der Türen aufzusperren und nickte daraufhin Lam Ceiga zu, die wiederum den zwei Besuchern bedeutete, sie sollten vorangehen.

Enric betrat etwas, das nach einem kleinen, jedoch sehr ordentlich und keineswegs spärlich eingerichteten Zimmer aussah. Eine Ecke war für persönliche Hygiene gedacht, dann gab es ein Bett mit zwei Decken und zwei Kissen darauf, einen großen Ohrensessel und einen kleinen Tisch mit vier hölzernen Stühlen.

“Enric!”, rief eine vertraute weibliche Stimme überrascht aus. Einen Moment später fand er sich in einer ungestümen Umarmung, noch bevor er Gelegenheit hatte, einen näheren Blick auf Malriel zu werfen. “Ich kann dir nicht sagen, wie immens gut es tut, dich zu sehen! Sie sagten mir, dass jemand eingetroffen wäre, teilten mir aber keine Namen mit.”

Es musste eine volle Minute vergangen sein, in der sie sich an Enric klammerte, bevor sie ihn wieder freigab und dann Vran’el an sich zog, um seine Wangen zu küssen.

“Vran, mein Lieber”, lachte sie, und Enric sah, wie ihre Augenwinkel einen Hauch von Feuchtigkeit zeigten, “mit euch beiden auf meiner Seite weiß ich, dass dieser Fehler bald aufgeklärt sein wird.”

“Ich werde euch nun vorerst allein lassen. Klopft an die Tür, wenn ihr aufzubrechen wünscht”, verkündete Lam Ceiga vom Türrahmen aus, wo sie stehengeblieben war und das herzliche Willkommen ausdruckslos beobachtete.

Enric nickte. “Ich danke dir, Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten.”

Dann ließ er seinen Blick an Malriel hinauf und hinunter wandern, nahm ihr Erscheinungsbild und generell ihren Zustand in sich auf. Sie hatte sich an den hiesigen Kleidungsstil angepasst, und das Fehlen von kräftigen Farben fand er besonders deprimierend, ebenso wie ihr Haar, das sie nicht länger in dunklen, welligen Kaskaden ihren Rücken hinabhängen ließ, sondern zu einem Knoten gebunden hatte. Sie wirkte weder abgezehrt noch ausgelaugt, dennoch vermisste er ein gewisses Strahlen an ihr. Das war nicht ganz unerwartet, wenn man bedachte, dass sie hier im Gefängnis festsaß. Sie wirkte gesund, wenn auch nach den Monaten ohne Wüstensonne etwas blasser als gewohnt.

Sie ergriff die Hände beider Männer und zog sie mit sich zu dem kleinen Tisch, damit sie sich hinsetzen konnten. Sie unterbrach den Kontakt auch nicht, nachdem sie sich so bequem niedergelassen hatten, wie es die harten Holzstühle erlaubten.

“Bevor wir in diese ganze Misere hier eintauchen, möchte ich wissen, wie es meiner Tochter geht”, verlangte sie.

“Es fiel ihr recht schwer, Valrad als ihren Vater zu akzeptieren, doch nach einer Weile hat sie es fertiggebracht. In der Zwischenzeit hat sie ihr Abzeichen erlangt und ist nun eine voll ausgebildete und anerkannte Heilerin”, erklärte Enric in so wenigen Sätzen, wie er es vermochte. Es ließ sich nicht sagen, wie viel Zeit man ihnen hier drin zugestehen würde.

“Was ist mit ihrer Schwangerschaft, verläuft soweit alles gut?”

“Unser Sohn kam gestern zur Welt.”

Malriel blinzelte, dann schüttelte sie den Kopf. “Aber… das ist zu früh!” Sie hielt kurz inne, offensichtlich, um kurz im Kopf nachzurechnen. “Es hätte erst in sechs oder sieben Wochen soweit sein sollen!”

Enric drückte ihre Hand. “Ja. Aber soweit ich das sagen kann, scheint alles in Ordnung zu sein.”

Einen Augenblick lang sah Malriel ihn mit gerunzelter Stirn an, dann wurden ihre Augen groß. “Das Geistesband! Sag mir nicht, dass du das Kommitmentband intakt gelassen hast, obwohl du Maltheá für so lange Zeit allein lässt?” Aufgebracht stand sie auf und starrte wütend auf ihn hinab. “Wie konntest du sie dem aussetzen? Sie wird unter deiner Abwesenheit wesentlich stärker leiden, als es nötig wäre, und jetzt muss sie sich auch noch um ein Kind kümmern! Solch eine Rücksichtslosigkeit hätte ich nicht von dir erwartet!”

“Beruhige dich, Malriel. Ich habe nur meine Seite des Bandes intakt gelassen. Eryns Band wurde entfernt.”

Malriel atmete erleichtert aus und sank wieder auf ihren Stuhl. “Oh, ich verstehe. Verzeih mir. Ich hätte wissen sollen, dass du sie keiner unnötigen Qual aussetzen würdest. Allerdings scheint es, als würdest du dir selbst nicht die gleiche Rücksichtnahme angedeihen lassen.” Sie schnappte nach Luft, als ihr ein Gedanke kam. “Bedeutet das etwa, dass du den Schmerz der Geburt miterlebt hast?”

“Ja, das habe ich”, bestätigte er gelassen, während die Erinnerung daran ihn innerlich erschaudern ließ.

“Somit hast du also deine schwangere Gefährtin zurückgelassen, um herzukommen und mir aus meinen Schwierigkeiten herauszuhelfen, weshalb du nun auch noch die Geburt deines Sohnes versäumt hast”, seufzte sie und schloss einen Moment lang die Augen. “Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals vergelten kann, Enric.” Dann kam ihr noch ein Gedanke. “Wem untersteht Haus Aren derzeit?”

“Eryn ist momentan das Oberhaupt von Haus Aren.”

Malriel sog den Atem ein und wirkte besorgt. “Maltheá trägt die Verantwortung für Haus Aren?”

“Damit wird sie bestimmt fertig. Malhora ist bei ihr und wird ihr bei der Erfüllung dieser Pflicht unter die Arme greifen.”

Erleichtert ließ sie die Anspannung von sich abfallen. “Meine Mutter ist in der Stadt?”

“Ja, Malhora ist in Takhan. Allerdings weigerte sie sich, das Haus in meiner Abwesenheit zu übernehmen und zieht es vor, eine beratende anstatt einer aktiven Rolle auszuüben.”

“Ich war nicht sicher, ob sie kommen würde”, murmelte Malriel. “Es ist die Pflicht einer Mutter, ihrer Tochter beizustehen, wenn sie ihre Kinder bekommt, und nachdem sie einander unter solch ungünstigen Umständen kennenlernten, wusste ich nicht, ob meine Mutter für mich einspringen würde.” Sie atmete zittrig aus. “Ich bin so erleichtert. Und dankbar. Euch allen.”

Interessiert betrachtete Enric seine Adoptivmutter. Das war nicht die starke, unbesiegbare, gnadenlose Malriel, sondern eine Frau, die einige Zeit allein in einem fremden Land verbracht und in ihrer Einsamkeit begonnen hatte, gütige Taten zu schätzen. Ihre Hände lagen noch immer auf seiner eigenen und Vran’els, um den Körperkontakt mit Menschen aufrechtzuhalten, die sie kannte und mit denen sie vertraut war. Die ersten Menschen, die sie nach längerer Zeit traf, bei denen sie sich nicht darum zu sorgen brauchte, was ihre Absichten waren, sondern denen sie bedingungslos vertrauen konnte.

“Vran, wie ergeht es Valrad? Hatte er es sehr schwer damit, Maltheá dazu zu bewegen, dass sie ihn als ihren Vater annimmt?”

Lächelnd nickte er. “Ja, durchaus. Mit dem starrköpfigen Trotz einer wahren Aren ist sie jedem seiner Versuche mit Widerstand begegnet und hat ihn dazu gezwungen, all seinen Einfallsreichtum und seine Geduld aufzuwenden, derer er fähig ist.” Er drückte ihre Hand. “Doch er war unnachgiebig, und sie hatte niemals wirklich eine realistische Chance gegen ihn. Nicht solange sie als Heilerin an einem Ort arbeiten wollte, den die Leute noch immer als seine Klinik betrachten.”

“Und deine eigene Tochter, wie geht es der kleinen Obal?”

“Sie wächst wie Unkraut und hat, wie so viele Kinder, einen unbeirrbaren Instinkt dafür, genau das falsche Wort auszuwählen, um es dann in Situationen zu wiederholen, die ihren armen Eltern ein möglichst großes Maß an Peinlichkeit bescheren.”

Enric lächelte, als Malriel lachte. Es klang ein wenig eingerostet, als hätte sie es schon seit einer Weile nicht mehr benutzt.

Liebend gerne hätte er sie noch weiter aufgeheitert, doch das konnte er sich nicht leisten. Sie wussten nicht, wie lange man ihnen zu bleiben gestattete oder wann man ihnen einen weiteren Besuch ermöglichte.

Er griff in sein Hemd und zog sein Notizbuch hervor. “Malriel, wir müssen dich hier rasch herausholen. Also gehen wir nun besser durch, was genau bisher vorgefallen ist.”

“Ich weiß. Und ich danke euch, dass ihr mir für eine kurze Weile Nachsicht gezeigt habt. Das hat Wunder für meine Seele bewirkt, soviel dürft ihr mir glauben.” Sie straffte ihre Schultern und ließ die Hände der beiden Männer los, bevor sie mit ihrem Bericht begann.

* * *

Eine halbe Stunde später spitzte Vran’el die Lippen und sah auf das kleine Buch hinab, das er Enric vor einer Weile weggenommen hatte, um darin seine eigenen Notizen und Anmerkungen für später festzuhalten.

“Gut, Malriel – nun lass mich das in meinen eigenen Worten wiederholen, damit wir sehen, ob ich alles richtig verstanden habe.” Er räusperte sich. “In Ordnung. Kurz nachdem du es geschafft hast, dass sie mit Gesprächen über vorteilhaftere Handelsvereinbarungen im Austausch für eine Verzichtserklärung für einen Großteil der Schürfrechte beginnen, hast du auf einem dieser gesellschaftlichen Anlässe, zu dem du eingeladen warst, einen jungen Mann kennengelernt. Im Laufe der darauffolgenden zwei Wochen bist du mehrmals mit ihm zusammengetroffen, scheinbar zufällig. Zum Beispiel, als du in ein Restaurant gingst, um dort zu essen, bei anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen oder sogar, als du einfach nur durch die Straßen spaziertest. Habe ich das soweit korrekt wiedergegeben?”

“Ja”, bestätigte sie und wartete darauf, dass er fortfuhr.

“Sein Name ist…” Vran’el blätterte eine Seite um und überflog sie, bevor er fortsetzte, “…Geloin Urnen, Legen der Nords, Aspirant dritter Ebene des Inneren Zirkels. Geloin ist der niedrigere der beiden religiösen Titel, die es hier gibt, und der Innere Zirkel ist die mächtigste der fünf existierenden religiösen Vereinigungen oder Glaubensgruppen. Bei jeder Gelegenheit hat er sich zu dir gesellt und nach und nach Informationen mit dir geteilt. Er erzählte dir von der Diskriminierung, die Magier hier zu erdulden hätten, und wie sehr er dich um die Freiheit beneidete, alles tun zu können, was du willst und sogar eine Position ziviler Macht auszuüben.” Er sah zu Malriel hin, damit sie seine Ausführungen bestätigte. “Noch immer richtig?”

“Ja, Vran”, seufzte sie. “Sprich einfach weiter, und ich unterbreche dich, falls du etwas falsch verstanden hast.”

“Wie du wünschst.” Er blätterte eine Seite um und sprach weiter. “Nach einer weiteren geselligen Zusammenkunft, zu der ihr beide geladen wart, unternahm er einen Spaziergang mit dir und bot dann an, dir den Ausblick über die Stadt von der Spitze des Tempels zu zeigen, in dem er lebte. Du hast ihm gestattet, dich dort hinzubringen. Nachdem du dich von ihm auf der Plattform hast küssen lassen, erklärtest du dich dazu bereit, die Nacht mit ihm in seinem Zimmer im Tempel zu verbringen. Du nahmst ein Getränk zu dir, woraufhin laut deiner Aussage deine Erinnerung verschwimmt. Du erinnerst dich daran, dass du seine Hand genommen und zu seinem Bett gegangen bist. Dann hast du dich hingelegt und kannst dich von da an kaum noch an etwas erinnern. Als du deine Augen wieder aufschlugst, schrie jemand. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um deinen jungen Mann handelte. Er war mit goldenen Ketten an das Bettgestell gefesselt worden und rief um Hilfe. Später behauptete er, dass er von dir ins Bett gezwungen wurde und du über ihn hergefallen wärst, was dazu führte, dass du der Vergewaltigung angeklagt wurdest.”

Sie nickte.

“Du vermutest, dass er dir etwas in das Getränk mischte, dass er dir gab, damit du das Bewusstsein verlierst, wenn ich das richtig verstanden habe. Und des Weiteren folgerst du, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, der den erfolgreichen Abschluss der Handelsgespräche verhindern sollte. Du denkst, dass es eine Gruppierung geben mag, die einen Krieg zwischen unserem Land und Pirinkar ausbrechen sehen oder zumindest den derzeitigen Annäherungsprozess aufhalten möchte.”

“Wie weit ist der Prozess bislang fortgeschritten?”, erkundigte sich Enric, nachdem sie die grundlegenden Fakten im Zusammenhang mit der Anschuldigung dargelegt hatten.

“Sie hörten sich seine Vorwürfe an, schrieben sie nieder und präsentierten Leute, die seinen guten Charakter und sein beispielhaftes Gebaren bei der Ausübung seiner Tempelpflichten bezeugten”, schnaubte sie verärgert. “Dann befragten sie mich. Bedauerlicherweise hatte ich keine ernst wirkenden, aufrechten, grauhaarigen Mitglieder der Gesellschaft zur Verfügung, die darauf schworen, dass mein untadeliger Charakter solch eine Tat vollkommen unmöglich macht.”

Die Andeutung eines Lächelns umspielte Enrics Lippen, als er dachte, dass es wohl weniger ihr untadeliger Charakter war, der ihr solch eine Tat unmöglich machte, sondern eher ihr immenser Stolz.

“Nun zu einer sehr wichtigen Frage, Malriel.” Er beugte sich vor. “Ist man hier mit dem Konzept eines Lügenfilters vertraut?”

“Nein. Ich habe versucht, es ihnen zu zeigen, doch sie weigerten sich schlichtweg aus Angst, ich könnte irgendeinen fremdländischen Gedankenkontrollzauber oder was auch immer auf sie anwenden, um sie dahingehend zu beeinflussen, dass sie mich gehen lassen.” Sie verdrehte die Augen. “Idioten. Wollte ich von hier fort, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen, hätte ich das schon vor mehr als einer Woche getan.” Sie nickte zu dem vergitterten Fenster. “Das ist ein Witz. Jeder Magier könnte hier problemlos hinausspazieren.”

“Was ihnen entweder nicht klar ist”, warf Vran’el ein, “oder sie hoffen, dass du darauf zurückgreifst und ihnen damit sozusagen ein Schuldeingeständnis lieferst.”

“Ich weiß. Aus diesem Grund habe ich mehr oder weniger geduldig auf die Verstärkung gewartet, von der ich wusste, dass die Triarchie sie schicken würde.” Sie lehnte sich vor und legte jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter. “Und wen sie mir schickten übertraf meine kühnsten Erwartungen.”

Enric ergriff ihre Hand und hielt sie zwischen seinen beiden. “Malriel, da gibt es noch etwas, das ich tun muss und das dir womöglich überhaupt nicht gefallen wird.”

Sie lächelte verständnisvoll. “Mach nur, Enric. Selbstverständlich musst du sichergehen. Ich bin bereit, wenn du es bist.”

Er drückte ihre Hand, dann ließ er Magie von seiner Hand in ihre fließen.

“Malriel von Haus Aren, hast du einen Priester gezwungen, mit dir ins Bett zu gehen?”

“Nein, das habe ich nicht.”

“Hast du ihm auf irgendeine andere Weise deinen Willen aufgezwungen?”

“Nein.”

“Gibt es irgendeinen Aspekt dieser Geschichte, die du uns erzählt hast, der sich nicht so zugetragen hat, wie du behauptet hast?”

“Nein.”

Er nickte und gab ihre Hand frei. Ein anderes Ergebnis hatte er nicht wirklich erwartet, doch es war wichtig, es ohne jeden Zweifel bestätigt zu haben.

Sie sahen auf, als die Tür geöffnet wurde und sich Lam Ceiga demonstrativ räusperte.

Malriel erhob sich mit den zwei Männern und umarmte beide. Mit einem Gesichtsausdruck, der unschwer erkennen ließ, wie ungern sie sich von ihnen trennte, der aber auch von vorsichtigem Optimismus zeugte, sah sie ihnen nach.

»Ende der Leseprobe«

 

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Solltest du den Rest des Buches auch unterhaltsam finden, wäre eine Bewertung super! Die sind für Autoren lebenswichtig.

Erotikszene „Der Orden – Buch 1“ in Kapitel 25

Nach zahlreichen Anmerkungen, Anfragen und richtiggehendem Drängen habe ich mich nun dem Wunsch der Menge gebeugt und gewähre einen kleinen Einblick in… traute Zweisamkeit.

Kleine Warnung:

Ganz unerwartet sollte das jetzt nicht kommen, wenn man betrachtet, dass wir hier über Kapitel 25 sprechen, aber ich möchte es nicht unerwähnt lassen, damit hinterher keine Beschwerden kommen:

SPOILERALARM! Wer das Buch noch lesen möchte oder noch nicht bis Kapitel 26 vorgedrungen ist – Finger… nun, Augen weg!

 

Dem Rest: Viel Spaß!

 

Erotikszene Buch 1

ad Kapitel 25 zwischen Szene 6 und 7

 

Enric nahm ihren Geschmack gierig in sich auf. Noch immer konnte er nicht wirklich fassen, dass dies tatsächlich passierte, dass er es wahrhaftig vermocht hatte, zu ihr durchzudringen, dass ihre eigene körperliche Reaktion auf ihn stark genug war, um die Abwehr zu überwinden, die ihr Kopf so hartnäckig aufrecht zu erhalten versuchte.
Er schob den Gedanken beiseite, dass noch immer einiges an Arbeit vor ihm lag, bis sie ihn als mehr als nur ein Werkzeug für ihr eigenes Vergnügen betrachten würde. Für den Moment wollte er ihre Nähe einfach nur genießen und sicherstellen, dass sie dies hier als eine Gelegenheit empfand, die sie nicht nur gerne wiederholen, sondern es sich geradezu begierig herbeiwünschen würde.
Er zwang sich, nicht wie ein unbeherrschter Halbwüchsiger über sie herzufallen und konzentrierte sich darauf, ihren Mund, ihr Kinn und ihren Hals zu küssen. Beherrscht hielt er seine Hände davon ab, sich auf Entdeckungsreise zu begeben oder ihr gar ungeduldig die Kleider vom Leib zu reißen.
Gleichzeitig empfand er wilde Euphorie über seinen Triumph und bittere Frustration über die Gemächlichkeit, die er sich auferlegte. Zu groß war seine Angst davor, sie mit einer plötzlichen Bewegung zu verschrecken oder einem zu kühnen Vorstoß aus dieser genüsslichen Halb-Trance zu befreien. Dann bestand die Gefahr, dass sie sich daran erinnerte, weshalb sie ausgerechnet ihn nicht dermaßen nahe an sich heranlassen wollte.
Einmal mehr trafen ihre Zungen in einem langsamen Tanz aufeinander, und er spürte, wie sich ihre Finger in seinen Haaren vergruben, sich zu Fäusten ballten und ihn näher zogen. Mehr als bereitwillig fügte er sich und genoss, wie sich ihr Brustkorb eng an seinem eigenen schwer atmend hob und senkte.
Er zügelte sich erneut, als er bemerkte, dass seine Hände einmal mehr unter ihre Tunika gewandert waren – dorthin, wo sie vor wenigen Minuten im Salon vorgedrungen waren.
Widerstrebend zog er seine Hände von ihrer bloßen Haut zurück und lenkte sie zu ungefährlichen Stellen wie ihrem Nacken und ihrem Rücken.
Als sie sich zurückzog, hielt er inne, überzeugt davon, dass sich seine Ängste bewahrheitet und sie ihre Meinung geändert hatte.
“Ist alles in Ordnung mit dir?”, fragte sie, ihre Brauen zusammengezogen.
Enric blinzelte verwirrt, während er sie weiterhin umschlungen hielt, noch nicht bereit, den Kontakt zu unterbrechen. “Wie kommst du auf diese Frage?”
“Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass dein Enthusiasmus etwas nachgelassen hat”, warf sie ihm vor.
Für den Verdruss auf ihrem Gesicht, der mit dieser Aussage einherging, wollte er sie küssen. Einen Augenblick später entschied er sich, diesem Impuls zu folgen und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, presste seine Lippen auf ihre, schwindelig vor Dankbarkeit, als sie sich nicht nur auf seinen Druck hin öffneten, sondern mit Leidenschaft und Ungeduld reagierten.
“Ich will dich nicht verschrecken”, flüsterte er an ihrem Mund. “Wir werden uns all die Zeit nehmen, die du brauchst.”
Eryn zog sich zurück und sah mit einer gewölbten Augenbraue zu ihm auf. “Da gibt es tatsächlich das eine oder andere, das ich jetzt brauche; Zeit zählt allerdings nicht dazu. Du scheinst mich als etwas Zerbrechliches, Unschuldiges zu betrachten, doch das bin ich nicht. Du bist nicht der erste Mann, mit dem ich ins Bett gehe, und ich wäre sehr überrascht, wenn du der letzte wärst.”
Ihre abschließende Aussage, dass er sicherlich nicht der letzte Mann sei, mit dem sie zu schlafen beabsichtigte, störte ihn mehr, als er zugeben wollte. So lächelte er nur dünn und hielt sich mit Mühe davon ab, mit den Zähnen zu knirschen. “Ich verstehe. Dann werde ich das als Einladung betrachten, weniger Zurückhaltung zu zeigen.”
Sie fuhr zusammen bei dem Geräusch, als er unvermutet und mit Genuss den Stoff ihrer Tunika in ihrem Rücken zerriss. Dann lächelte sie, nichtsahnend, dass dieser kleine Akt der Zerstörung sowohl als Demonstration seines Begehrens als auch als Ventil für seine Frustration über ihre vorhergehenden Worte diente.
Grinsend streifte sie sich die Tunika von den Armen und ließ die traurigen Überreste auf den Boden fallen. Dann griff sie energisch nach seinem eigenen Hemd.
“Wie schade, dass ich mich aufgrund der Handfesseln nicht revanchieren kann”, schnurrte sie und griff nach dem Saum seines Kleidungsstücks, um es ihm über den Kopf zu ziehen.
In seinen Augen war ein Funkeln, das dort zuvor nicht gewesen war. Zumindest nicht diese Art von Funkeln. Verschwunden waren die Zurückhaltung und die Sorge, sie könnte ihre Zustimmung zu seinen zu Beginn recht nachdrücklichen Überzeugungsversuchen wieder zurückziehen. Seine Augen waren leicht zusammengekniffen, und sie fragte sich, ob sie ihn verstimmt hatte, indem sie eine möglicherweise von ihm geplante zärtliche, liebevolle und ausführliche Verführung unterbrochen hatte. Nun, dafür fehlte es ihr derzeit an Geduld.
Ein warmer Arm legte sich um ihre nackte Taille und hob sie zu seinen Hüften, wo sich ihre Beine ohne Zögern um ihn schlangen. Seine Hände, nun erheblich verwegener, umfassten ihre Gesäßbacken und pressten sie an ihn, sodass sie sich an seiner Erektion rieb.
Beschwingt von seiner nun offenkundigen Ungeduld und seiner unverkennbaren Erregung, lachte Eryn und nahm seinen Mund in Besitz, während sie ihre Hüften mit kreisenden Bewegungen an ihm rieb. Ihre Bemühungen wurden mit einem zittrigen Seufzer aus seinem Mund belohnt.
“Sachte”, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, “oder das wird keine besonders eindrucksvolle Darbietung.”
“Das geht schon in Ordnung, du hast mich bereits beim letzten Mal mit deiner Ausdauer beeindruckt”, flüsterte sie in sein Ohr, zog mit ihren Zähnen an seinem Ohrläppchen und genoss das Gefühl von Macht über ihn.
“Ich will mir Zeit nehmen”, murmelte er, und sein Griff um ihr Hinterteil wurde fester. “Dieses Mal musst du keine Kampfstunden besuchen, und auch sonst wird uns nichts stören. Es gibt kein Entkommen, bis ich mit dir fertig bin. Kein Weglaufen.” Nicht der letzte Mann, mit dem sie ins Bett gehen würde, kehrten ihre Worte zu ihm zurück. Nun, zumindest konnte er den Wunsch in ihr erwecken, dass es so wäre und ihre bisherigen Liebhaber im Vergleich erblassen lassen.
“Ich werde nicht weglaufen”, versprach sie heiser. “Ich mag mir mit meiner Zustimmung Zeit gelassen haben, aber ich werde nicht weglaufen, bis du deinen Zweck erfüllt hast.”
“Charmant”, knurrte er und zog seine Hände fort. Überrumpelt von dem jähen Fall stieß sie einen Aufschrei aus, als sie auf dem Bett landete. “Unter normalen Umständen würde ich mich nach so einer Bemerkung umdrehen und gehen”, meinte er ausdruckslos. “Bedauerlicherweise begehre ich dich dafür zu sehr.”
Sie blinzelte. Irgendwie schienen die Rollen nun vertauscht, als wäre sie diejenige, die darauf erpicht wäre, mit ihm zu schlafen und er derjenige, der sich nur widerwillig darauf einließ – als folgte er nur Trieben, denen zu widerstehen er nicht stark genug war, sich aber wünschte, er wäre es.
Enric bückte sich, um ihr die Stiefel von den Füßen zu ziehen, dann entledigte er sich seiner eigenen. Beide trugen nun nur noch ihre Hosen. Seine Augen wanderten zu ihren vollen Brüsten und verweilten dort, woraufhin seine Hände vor Verlangen sie zu berühren zu kribbeln begannen. Er wollte sie unter seinen Fingern und gegen seinen Brustkorb gepresst spüren.
Eryn bewegte sich auf den Rand des Bettes zu, wo er stand, und hob ihre Hände zu seinem Gürtel. Langsam befreite sie ein Ende aus der Schnalle, während sie in seine unglaublich blauen Augen aufsah, die sie eindringlich beobachteten.
Anstatt seine Hose nach unten zu ziehen, folgte sie mit ihren Fingern dem Umriss der ausgeprägten Form, die sich gegen das dunkle Material abzeichnete, dann übte sie mehr Druck aus und rieb mit ihrer Handfläche über seine gesamte Länge.
Als er den Kopf zurücksinken ließ, schob sie seine Hose nach unten und enthüllte ihn vollständig, seine ästhetische Form mit der leichten Aufwärtskrümmung, genau wie in ihrer Erinnerung. Ihre Finger schlossen sich um die Wurzel seines Schafts, und sie setzte dazu an, ihren geöffneten Mund zu senken, doch seine Finger unter ihrem Kinn hielten sie auf, indem er ihr Gesicht aufwärts und damit fort von ihrem beabsichtigten Ziel bewegte.
Überrascht blickte sie zu ihm auf. Dies war das erste Mal, dass sie auf Widerstand stieß, wenn sie diese spezielle Liebkosung anbot. Es kam sogar noch unerwarteter, wenn man bedachte, wie ungemein großzügig und geschickt er ihr damals während der Nacht der Ungezwungenheit umgekehrt genau diesen Dienst erwiesen hatte.
“Ein anderes Mal”, meinte er leise, die Muskeln in seinen Armen und Schultern angespannt. “Wie ich schon sagte, will ich mir Zeit nehmen. Und das hier würde die Dinge erheblich beschleunigen, fürchte ich.”
Mit einem Schulterzucken stand sie vom Bett auf und ließ ihre Hose zu Boden rutschen. Sie schnappte nach Luft, als einen Augenblick später warme Finger das feuchte, empfindliche Fleisch zwischen ihren Beinen liebkosten.
Mit ihrer Stirn an seine Schulter gelehnt, schloss sie die Augen und verbreiterte ihren Stand, um ihm den Zugriff zu erleichtern. Langsam atmete sie aus, während seine Berührung ihren Unterleib in Brand steckte. Als ihre Knie unter ihr nachzugeben drohten, trat sie besonnen einen Schritt zurück, um die Stimulation zu unterbrechen.
Seine Augen waren halb-geschlossen, weiteten sich aber wie im Protest gegen ihren Rückzug. Eryn bemerkte, dass er ebenso schwer atmete wie sie selbst. Während er ihren Blick festhielt, hob er langsam seine Hand zu seinem Gesicht und leckte bedächtig seinen Finger ab, genoss augenscheinlich ihren Geschmack, der daran hing. Einen Moment lang schloss er die Augen, dann ließ er langsam den Atem entweichen und sah sie an, dieses Mal voller Entschlossenheit und Gier. Das war wohl das Sinnlichste, das sie jemals gesehen hatte – dieser Genuss ihrer Essenz, der ein zutiefst ursprüngliches Kompliment darstellte. Es stieß auf Resonanz an einem Ort tief in ihrem Inneren, an den bewusstes Verständnis nicht vorzudringen vermochte.
Sie fasste nach seinen Schultern und stieß ihn auf das Bett, dann setzte sie sich rittlings auf ihn. Als sie sich zu seinen Lippen hinabbeugte, hing ihr langes, dunkles Haar nach unten und umrahmte ihre beiden Gesichter mit einem Vorhang, der den Blick auf alles andere verdeckte.
“Ich bin bereit für dich”, flüsterte sie und fasste damit das Offensichtliche in Worte, bevor sie seinen Mund leicht mit dem ihren streifte.
“Ja, das bist du”, bestätigte Enric ernst, als hätte sie gerade etwas ungemein Bedeutendes von sich gegeben.
Eryn spürte seine Finger an ihren Hüften, als er ihre Position leicht anpasste, bevor er seine Hüften bog und langsam in sie hineinglitt. Die Empfindung, dieses warme Ausgefülltsein, ließ sie den Kopf in den Nacken werfen. Jetzt gerade war es unerheblich, dass er sie in seinem Quartier einsperrte und sie in Gold fesselte; das Einzige, das zählte, war das Vergnügen, das er ihr verschaffte und eindeutig auch im Gegenzug empfing.
Sie begann sich zu bewegen, ließ ihn beinahe vollständig herausgleiten, bevor sie ihn mit immer mehr Entschlossenheit wieder in sich aufnahm. Kräftige Hände umfassten ihre Brüste, kneteten sie, spielten mit den Spitzen, dann verschränkten sich ihre Finger, festigten die Verbindung noch weiter, als würden sie einen Kreis schließen.
Mit geschlossenen Augen lauschte sie seinem leisen, lustvollen Stöhnen, während sie die Reibung genoss, die seine Länge mit jedem Stoß an ihren empfindlichsten Stellen verursachte und damit langsam Druck aufbaute, dessen Freisetzung sie mit atemloser Vorfreude entgegenblickte.
“Eryn”, hörte sie ihn mit krächzender Stimme flüstern, dann ein zweites Mal, als sie nicht reagierte, sondern lediglich ihren Rhythmus leicht beschleunigte. “Eryn!”, meinte er daraufhin forscher, hob eine Hand zu ihrem Nacken und zog sie näher. “Sieh mich an!”
Sie zog die Stirn in Falten, öffnete die Augen und versuchte dann, zu ihrer aufrechten Position und ihrem Pfad der bevorstehenden Erlösung zurückzukehren.
Mit einer fließenden Bewegung drehte Enric ihre Positionen um, sodass er sie nun mit seinem Körper in die Decken in ihrem Rücken drückte. Einen Moment später war er wieder in ihr und nahm das Recht, das Tempo zu kontrollieren, für sich in Anspruch. Langsam erhöhte er es und beobachtete, wie ihr Atem stoßweise kam, sich ihre Finger um den Stoff unter ihr vergruben und sich ihre Augenlider senkten.
Als sie sich streckte, kurz davor, die Anspannung in ihrem Inneren loszulassen, hielt er erneut inne.
“Eryn, sieh mich an!”, befahl er, sein Ton so barsch, dass sie überrascht gehorchte.
Sobald sich ihre Blicke trafen, stieß er ein paar weitere Male in sie hinein, woraufhin er spürte, wie sie unter ihm erbebte, nach Luft schnappte und ihre Fingerspitzen in seine Schulter grub, während sie von Wellen der Wonne erschüttert wurde. Einige Sekunden später, als sie erschlaffte, lächelte er und senkte seinen Mund für einen Kuss auf ihren. So ist es gut, dachte er selbstzufrieden, erinnere dich sehr genau daran, wem du dieses Gefühl zu verdanken hast.

„Risse“ – Der Orden: Buch 4

Kapitel 1

Eine unangenehme Ankunft

Enric stand an Deck, versunken in die Betrachtung des Sonnenuntergangs. Staunend ließ er die farbenprächtigen Schichten aus Rot, Orange und Gelb, die Eindrücke von Licht und Schatten zwischen den Wolken und die Spiegelungen auf der ruhigen Meeresoberfläche auf sich wirken. Solche Sonnenuntergänge kannte er nicht von zuhause; er überlegte, weshalb sie hier wohl um so vieles spektakulärer erschienen. Vielleicht ließ sich zu diesem Thema irgendwo ein Buch auftreiben.

Es war schon eine Weile her, seit er sich das letzte Mal die Zeit genommen hatte, einen Sonnenuntergang zu beobachten. Sonnenaufgänge, ja. Er war Frühaufsteher, und seine Schlafzimmerfenster waren jahrelang in die entsprechende Richtung ausgerichtet. Aber er hatte kaum jemals Sonnenuntergänge beobachtet. Es gab immer Arbeit zu erledigen, auch wenn er, seit er mit Eryn zusammenlebte, weitgehend aufgehört hatte, bis spät in die Nacht zu arbeiten. Sie war ein besonderer Anreiz für ihn, seine Arbeit pünktlich niederzulegen, ein Grund, nach Hause zu kommen.

Jetzt gerade schlief sie in ihrer Kabine. Pe’tala hatte mehrmals dabei zugesehen, wie sie sich übergeben musste, und sie dann mit ein wenig Magie schlafen geschickt – und ihre Proteste dabei mitten im Satz zum Verstummen gebracht. Eryn war zu überrascht gewesen, um sich rechtzeitig zur Wehr zu setzen, und einfach schlaff in sich zusammengesunken. Zumindest würde er nicht derjenige sein, der später dafür bezahlen musste.

Die Aussicht darauf, zwei schwangere Frauen auf die lange Reise nach Takhan mitzunehmen, hatte ihm Sorgen bereitet, auch wenn bislang alles gut gelaufen war.

Das war eine Erleichterung, da die Reise nicht besonders vielversprechend begonnen hatte. Während Junar froh gewesen war, in der bereitgestellten Kutsche Platz nehmen zu können, hatte sich Eryn wenig erbaut darüber gezeigt, dass man von ihr erwartete, ebenfalls darin zu reisen. Sie hatte zu argumentieren versucht, dass die frische Luft gut für sie und das Kind sei, doch Pe’tala hatte erklärt, dass ein mehrstündiger Ritt durch eine fremde Umgebung auf einem Pferd, mit dem sie nicht vertraut war, in ihrem derzeitigen Zustand keine besonders schlaue Idee war. Ein unkonzentrierter Augenblick konnte zu einem kleinen Fehler führen oder das Pferd mochte aufschrecken – realistische Möglichkeiten, wenn eine Bergkatze daneben herlief – und einen Sturz und eine Verletzung zur Folge haben. Ein paar Minuten lang hatte er sich die Diskussion angehört, dann entschied er einzugreifen. Keine von den zwei Möglichkeiten, die er Eryn für ihre Reise nach Bonhet angeboten hatte, beinhaltete die Option von ihr auf einem Pferderücken: entweder wach oder schlafend.

Mit einem bösen Blick war sie schließlich wenig erfreut in die Kutsche gestiegen. Junar hatte sich irritiert gezeigt, weil Eryn nicht mit ihr in der Kutsche fahren wollte, und so hatte die Reise dann also begonnen: mit drei beunruhigten Männern, einer genervten Heilerin und zwei mürrischen schwangeren Frauen.

Vern hatte ursprünglich ebenfalls geplant, in der Kutsche zu reisen und die Zeit zum Lesen zu nutzen, hatte sich jedoch eines Besseren besonnen, als das Gezanke der beiden Frauen begann. Enric konnte ihm das kaum zum Vorwurf machen. Er selbst hätte sich dem ebenfalls nicht zwei Tage lang freiwillig ausgesetzt.

Irgendwann hatte Junar zu weinen begonnen, wozu sie in letzter Zeit verstärkt neigte, und Orrin hatte darum gebeten, die Abreise um ein paar Minuten zu verschieben, damit er sie trösten konnte. Eryn bedachte er währenddessen mit verärgerten Blicken.

Es war auch nicht eben hilfreich, dass Eryn es für nötig befand, den anderen zu erklären, genau dies sei der Grund, weshalb sie nicht zwei Tage lang mit dieser Frau auf begrenztem Raum festsitzen wollte.

An diesem Punkt hatte Vern Enric einen flehenden Blick zugeworfen und sich erkundigt, ob es noch zur Diskussion stand, Eryn schlafen zu schicken. Enric hatte ihm erklärt, dass er dies gerne jederzeit versuchen könnte. Er selbst war absolut nicht willens, nach ihrem Erwachen ihren Zorn zu erdulden.

Daraufhin war Eryn natürlich wütend auf Vern. Somit war die Gruppe recht verstimmt aus der Stadt abgereist.

Mehrere Male mussten sie anhalten, damit Junar sich immer wieder ihres Frühstücks entledigen konnte. Dies hatte ihre geplante Ankunft an ihrem Ziel am Abend um etwa eine Stunde verzögert.

Der zweite Tag war unkomplizierter verlaufen. Junar hatte entschieden, sich tagsüber mit ein paar Scheiben Brot zufriedenzugeben, um ihren Magen vom Rebellieren abzuhalten. Am Abend hatte sie dann drei Portionen des Eintopfs, den der Wirt in Bonhet serviert hatte, verschlungen, um die magere Kost während des Tages wieder wettzumachen.

Eryn hatte sich immens überrascht gezeigt, wie sehr sich Bonhet seit ihrem letzten Zwischenstopp während ihrer ersten Reise nach Takhan vor etwa neun Monaten verändert hatte. Mehr Menschen, mehr Gebäude und eine allgemeine Geschäftigkeit, die es vor einigen Monaten noch nicht gegeben hatte.

Enric hatte sie mit auf einen Spaziergang durch das Dorf genommen, ihr die Gebäude gezeigt, die er errichten hatte lassen, und war mit ihr zum Zählhaus sowie den Anlegestegen spaziert.

Sie war erfreut, wie die Arbeiter mit ihm umgegangen waren: mit Respekt, aber ohne die automatische Ehrerbietung und Bewunderung, die sein Rang bei den meisten Menschen zuhause in der Stadt Anyueel auszulösen pflegte. Dass sie nicht ständig an die Wichtigkeit und den Reichtum von Magiern erinnert wurden, hatte zur Folge, dass die Leute auf dem Land einen etwas nüchterneren Umgang mit ihnen pflegten. Es half womöglich auch, dass ihre Reisekleidung nicht so elegant und prächtig war wie ihre übliche Aufmachung. Das, was sie derzeit trugen, wirkte praktisch und war staubig nach einem langen Tag auf der Straße. Sie waren also nicht auf den ersten Blick als reiche Magier zu erkennen.

Nach dem Abendessen bestiegen sie das Schiff, da es wenig Sinn ergab, im Wirtshaus zu übernachten. Das würde sie nur eine ganze Nacht an Reisezeit kosten. Sie konnten sich ebenso gut in den Kabinen an Bord zur Ruhe begeben.

Eryn hatte bereits vor dem Betreten des Schiffes etwas blass gewirkt. Offensichtlich war ihr der letzte Aufenthalt auf einem Schiff noch gut in Erinnerung. Enric hatte ihr erklärt, dass es sich diesmal um ein größeres Exemplar handelte als beim letzten Mal. Das bedeutete, dass es nicht ganz so anfällig für leichten Wellengang war und somit weniger schaukeln würde.

Es dauerte weniger als eine Stunde, bis Eryn ihr Abendessen wieder hervorgewürgt hatte.

Junar schien erstaunlicherweise nicht einmal ansatzweise unter Seekrankheit zu leiden – eine eher unerwartete Entwicklung, da sich ihr Magen in den letzten paar Monaten nicht eben kooperativ gezeigt hatte. Vern schien ebenfalls immun zu sein gegen das Schaukeln und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, Bilder anzufertigen von allem, was er sah, die Besatzungsmitglieder zu ersuchen, ihm Dinge zu zeigen und zu erklären, und zu lesen.

Ganz anders war es um Orrin bestellt. Seine Haut hatte eine leicht grüne Färbung angenommen. Doch da weder Enric, Pe’tala, Vern, noch Junar irgendwelche Anzeichen von Unwohlsein ob des ständigen Auf und Ab des Schiffes zeigten, war er fest entschlossen, nicht als Einziger – abgesehen von Eryn – Schwäche zu zeigen. Wenn man ihn darauf ansprach, erwiderte er, alles sei prima. Pe’tala und Vern hatten beide angeboten, ihn bis zur Ankunft in Takhan schlafen zu schicken, doch davon wollte er nichts hören und bestand weiterhin darauf, dass alles in Ordnung sei.

Der Wind war günstig, also sollten sie die Stadt am nächsten Tag in den frühen Morgenstunden erreichen.

Enric drehte sich um, als er bemerkte, wie Pe’tala an Deck kletterte. Sie nickte ihm zu, als sie ihn erblickte und trat neben ihn, um sich an die Reling zu lehnen.

“Eryn schläft noch. Ich werde sie bis zum Morgen in diesem Zustand halten, dann haben wir das Meer hinter uns gelassen und sind auf dem Fluss.”

Er nickte. “Danke. Ich gebe zu, dass ich froh bin, dass du diejenige bist, die es tut. Sonst wäre ich derjenige, der ihren Ärger abbekommt.”

Sie lächelte. “Heiler sind daran gewöhnt, sich um solche unbeliebten Dinge zu kümmern. Anderen zu helfen ist nichts, das uns immer nur Dankbarkeit einbringt.”

“Nicht einmal von anderen Heilern?”

Sie schnaubte. “Besonders nicht von anderen Heilern. Heiler sind die schlimmsten Patienten, die du dir vorstellen kannst. Sie denken, sie wüssten alles besser und bräuchten keine Hilfe. Und wenn sie doch bereit sind zuzugeben, dass ein wenig Hilfe eine gute Idee wäre, versuchen sie dir zu erklären, was die richtige Herangehensweise ist.”

Er lachte leise. “Dann ist es ja gut, dass Heiler nicht so oft Hilfe benötigen.”

Sie nickte. “Das ist in der Tat ein Glück. Andernfalls müssten wir den Preis für ihre Behandlung erhöhen, da sie besonders anstrengend sind.”

“Gilt das auch für dich, oder bist du dir dieser Sache besser bewusst?”

Pe’tala grinste. “Natürlich gilt das auch für mich. Ich bin schlimmer als die meisten. Kannst du dir vorstellen, ich müsste zugeben, dass ich auf Hilfe in einem Bereich angewiesen bin, in dem ich als sehr fähig gelte? Ich habe Mitleid mit jedem Heiler, der mich behandeln muss.”

Enric betrachtete sie nachdenklich. “Es ist gut, dich lächeln zu sehen, Tala”, sagte er sanft. “Das ist schon seit einer Weile nicht mehr vorgekommen. Ich werde den Eindruck nicht los, dass du besorgt und rastlos bist. Das ist aber nicht deine übliche Ungeduld mit der Welt im Allgemeinen, sondern etwas anderes. Und du hältst Abstand zu Eryn, obwohl du sie beobachtest, wenn du denkst, niemand bemerkt es. Was ist los?”

Sie biss sich auf die Lippe und ließ den Kopf hängen. “Es scheint, als müsste ich in deiner Nähe etwas vorsichtiger sein. Ich bin nicht daran gewöhnt, dass Menschen ihrem Umfeld so viel Aufmerksamkeit schenken.”

“Rede mit mir”, beharrte er. “Es hat mit Eryn zu tun, dessen bin ich mir fast sicher. Ist mit ihr und dem Kind alles in Ordnung?” Seine Stimme klang leicht besorgt.

Mit einem Kopfschütteln streckte sie ihre Hand aus und drückte seine, als er sie ergriff. “Nein, Enric, ich verspreche dir, dass mit den beiden alles in Ordnung ist. Und lass mich dir sagen, wie sehr es mich berührt, dass du und Lord Orrin so besorgt seid um das Wohlergehen eurer Gefährtinnen. Von Kriegern hätte ich das nicht wirklich erwartet. Es scheint, als wäre ich dem gängigen Vorurteil zum Opfer gefallen, dass Kämpfer nichts als unsensible Barbaren sind. Ich hätte es besser wissen müssen.”

Erleichtert atmete er aus. “Gut. Worum sorgst du dich denn nun?”

Pe’tala zog ihre Hand zurück und wandte sich von ihm ab, um ihren Blick in die Dunkelheit zu richten. “Es gibt da etwas, das Eryn nach unserer Ankunft in Takhan erfahren wird. Es wird eine Überraschung werden, aber keine angenehme, wie ich vermute. Bereite dich darauf vor, dass ihr diese Neuigkeiten, die sie erfahren wird, beträchtlichen Kummer bereiten werden.”

“Welche Neuigkeiten?”, verlangte er stirnrunzelnd zu wissen.

“Es steht mir nicht zu, dir das zu sagen. Ich kann sehen, dass du dich sorgst, aber bitte bedränge mich nicht. Du wirst es in weniger als einem Tag erfahren. Das verspreche ich.”

Enric nickte langsam. “In Ordnung, ich werde deinen Wunsch respektieren. Nur noch eine Frage, dann werde ich damit aufhören: Hat es etwas mit ihrem Vater zu tun?”

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. “Du bist gefährlich scharfsinnig, Enric. Es wäre wirklich beruhigend, wenn du hin und wieder einmal Unrecht hättest, weißt du.”

Er lächelte freudlos. “Das ist zuweilen eine Bürde. Aber ich danke dir für die Warnung. Und auch dafür, dass du dich um sie kümmerst. Ich werde nun versuchen, etwas zu schlafen; anscheinend sollte ich morgen gut ausgeruht und wachsam sein.”

“Gute Nacht, Enric. Schlaf gut.”

Er kletterte die Stufen hinab und öffnete die erste Tür rechts, hinter der Eryn friedlich, wenn auch nicht ganz freiwillig, schlummerte. Neuigkeiten über ihren Vater. Und keine, die sie schätzen würde. Wie bedauerlich, dass ihre zweite Ankunft in Takhan wohl nicht viel angenehmer verlaufen würde als ihre erste.

* * *

Langsam öffnete Eryn die Augen und starrte in zwei Gesichter, die auf sie hinabblickten. Enric und Pe’tala. Beide traten einen Schritt zurück, als sie sich langsam aufsetzte. Die Erinnerung kehrte zurück, und sie warf Pe’tala einen erzürnten Blick zu.

“Du hast mich schlafen geschickt, einfach so!”

Mit einem Schulterzucken lehnte sich die andere Frau gegen die Tür. “Ja, das habe ich. Du warst zu stolz, um dem zuzustimmen, und ich hatte nicht die Absicht, mir die ganze Nacht hindurch von deinem Würgen den Schlaf rauben zu lassen. Somit habe ich uns beiden einen Gefallen getan. Du brauchst mir nicht zu danken.”

“Ja, sicher. Dir zu danken war genau das, was mir durch den Kopf ging…”, murmelte sie und stand vorsichtig von der Pritsche auf, um sich zu strecken.

“Sieh zu, dass du dich anziehst und wäschst, Liebste”, warf Enric ein. “Wir sollten in kaum mehr als zwei Stunden in Takhan eintreffen, also möchtest du zuvor vielleicht noch etwas essen.”

“Zwei Stunden? Das bedeutet, dass wir nicht länger auf dem Meer sind”, sagte sie erleichtert.

Er nickte. “So ist es. Der letzte Teil der Reise sollte recht entspannt verlaufen.”

“Wie geht es den anderen?”

“Gut soweit. Orrin weigert sich noch immer zuzugeben, dass er seekrank war. Junar geht es nicht schlimmer als sonst, und ich glaube, Vern hat mittlerweile so ziemlich alles gezeichnet, was er an Bord gefunden hat.”

Eryn nickte und sah die beiden dann abwechselnd an. “Warum geht ihr nicht schon rauf an Deck? Hier drin ist es ein wenig eng, wenn ich mich waschen und anziehen soll, während ihr zwei mir im Weg steht. Hinaus mit euch.”

Sie sahen einander an, dann öffnete Enric die Tür und ließ Pe’tala als Erste hinausgehen.

Sobald sie allein war, setzte sich Eryn wieder auf das Bett und atmete langsam aus. Nur noch zwei Stunden, bis sie wieder zurück in Takhan war. Zwei Stunden, bis sie Malriel gegenübertreten musste. Der Frau, die dafür gesorgt hatte, dass Eryn gegen ihren Willen schwanger wurde. Der Frau, die vor neunundzwanzig Jahren ihren Gefährten betrogen hatte und unvorsichtig genug gewesen war, sich von einem anderen Mann schwängern zu lassen. Von einem Mann, wo Eryn nicht einmal wusste, ob sie mehr über ihn wissen wollte. Es zählte nur, dass sie ihr etwas genommen hatte, das für Eryn immens kostbar gewesen war: die Familie, die sie in Haus Vel’kim gefunden hatte. Rechtlich gesprochen war sie noch immer ein Mitglied des Hauses. Aber da Ved’al nun nicht ihr Vater war, entstammte sie nicht deren Linie und hatte damit nicht mehr das Recht, zur Familie zu gehören.

Der Gedanke an Malriel ließ ihr Herz schneller schlagen. Um sich wieder zu beruhigen, zwang sie sich, die Augen zu schließen und gleichmäßig zu atmen. Stress war nicht gut, weder für sie noch für das Kind.

Als sie wenige Minuten später an Deck ging, gekleidet in die dünnere Kleidung, die sie hier während ihres ersten Besuchs erstanden hatte, fand sie Vern vor, wie er auf den Stufen saß und etwas zeichnete.

“Laut Enric hat du bereits alles gezeichnet, was es auf dem Schiff gibt. Fängst du jetzt wieder von vorne an?”, scherzte sie.

Er blickte auf und grinste sie an. “Glücklicherweise muss ich das nicht. Anders als auf See, gibt es hier Landschaft, also bin ich nicht länger auf die Gegenstände an Bord beschränkt.”

“Hast du schon gefrühstückt?”

Er nickte. “Ja. Vor zwei Stunden. Nicht jeder verschläft den halben Tag.”

“Ich wurde von einer Magierin schlafen geschickt! Das war nicht meine Schuld!”, protestierte sie.

“Oh, ich verstehe – unter normalen Umständen stehst du ja so früh wie nur möglich auf”, schnaubte er und setzte seine Arbeit fort.

“Warum rede ich überhaupt mit dir?”, murmelte sie und ging weiter zu Enric und Orrin, die im Stehen die weiten, felsigen Kämme betrachteten. Das waren die Ausläufer der Berge, die sie vor kurzem passiert hatten. Es gab kaum Vegetation, da der langsame Übergang in die Wüste bereits begonnen hatte.

Orrin drehte sich um und nickte ihr zu, als sie neben ihn trat. Er hatte ebenfalls leichtere Gewänder angelegt. Junar hatte ihnen allen ein paar Garnituren angefertigt, damit sie etwas für die ersten Tage in Takhan hatten, bevor sie einen hiesigen Schneider aufsuchen konnten. Den Stil der Kleidung hatte sie nicht angepasst, nur die Dicke des Stoffs. Somit würde er also noch immer fremdartig erscheinen, selbst wenn man die blonden Haare außer Acht ließ.

“Wo ist Junar?”, fragte sie und sah sich um.

“Unter Deck”, antwortete der Krieger. “Sie ist erst vor ein paar Minuten aufgewacht und macht sich fertig.” Er betrachtete sie. “Du wirkst angespannt.”

Ihr Gesicht verdüsterte sich. “Ich bin nicht besonders angetan von der Aussicht, schon so bald wieder auf die Königin der Dunkelheit zu treffen.”

Orrin zog die Stirn in Falten. “Die was?”

“Königin der Dunkelheit. Malriel”, erklärte sie.

“Charmant”, murmelte er und schüttelte den Kopf über sie.

“Warum sollte ich auch? Sie ist es auch nicht. Ich hoffe nur, sie taucht nicht am Hafen auf”, knurrte sie.

Enric dachte, dass die Chancen dafür eher schlecht standen, sprach es aber nicht aus. Sie war sich dessen wahrscheinlich ohnehin ebenso bewusst wie er.

Vern trat neben sie. “Können wir die Sache mit der Begrüßung noch einmal durchgehen? Ich verwechsle das ständig.”

Enric nickte und streckte seine Hand aus, um es vorzuzeigen. “Zwei Männer, die einander formell grüßen, verschränken ihre Finger. Das gilt auch für Frauen.”

Vern verschränkte seine Finger wie angeleitet mit Enrics und nickte dann. “In Ordnung. Und dann gibt es da noch die informellen Begrüßungen. Männer haben keine spezielle Begrüßung vertrauter Art, sondern drücken ihre Zuneigung mit irgendwelchen Gesten aus, nach denen ihnen gerade der Sinn steht. Das kann ein Schulterdrücken, ein Schlag auf den Rücken oder was auch immer sein. Mit gemischten Geschlechtern ist es aber anders, nicht wahr?”

Enric stimmte zu. “Ja. Wenn Männer und Frauen einander formell grüßen, küsst der Mann die Hand der Frau, und zwar so.” Er ergriff Eryns linke Hand und drückte seine Lippen auf ihre Knöchel. “Pass aber auf, dass es nicht zu lange dauert, oder es könnte als zudringlich aufgefasst werden. Die informelle Begrüßung zwischen Männern und Frauen besteht in einem Kuss auf beide Wangen. Bei zwei Frauen wird es ebenso gemacht.”

Vern nickte. “Danke, Lord Enric.”

Er hob beide Augenbrauen. “Wie war das?”

Der Junge schloss für einen Moment die Augen, dann seufzte er. “Danke… Enric.”

Eryn grinste. “Ah ja, es scheint, als hättest du die Zeit, die ich mehr oder weniger im Winterschlaf verbracht habe, darauf verwendet, dich an den Umgang ohne Titel anzupassen.”

Enric seufzte. “Ja, allerdings scheint unser junger Freund hier das als beträchtliche Bürde zu empfinden. Er zuckt jedes Mal zusammen, wenn ich ihn auffordere, mich ohne den Titel anzusprechen.”

Sie sah den Jungen an. “Denk einfach daran, dass er nicht länger ein Mitglied des Ordens ist und es ihm somit nicht mehr zusteht, so angesprochen zu werden. Er ist nicht mehr dein Vorgesetzter, bloß ein Magier, den du zufällig kennst.”

Er schnaubte. “Ja, sicher. Ein Magier, in dessen Fall mir beigebracht wurde, ich solle ihm aus dem Weg gehen, ihm nicht direkt in die Augen sehen, ihn nicht ohne Aufforderung ansprechen und besonders darauf achten, ihm stets mit dem Respekt zu begegnen, der ihm zusteht.”

Enric wirkte bestürzt. “Das hat man dir beigebracht?” Er wandte sich zu Orrin um und zog eine Augenbraue hoch.

“Mich brauchst du nicht anzusehen”, meinte der Krieger und zuckte die Schultern. “Ich sage den Leuten nicht, sie sollen dir nicht in die Augen sehen oder ihren Mund halten, wenn sie etwas Sinnvolles zu sagen haben, egal, wie wichtig du bist. Das muss er wohl von seinen Lehrern haben.”

“Kindern wird beigebracht, sie sollen mir aus dem Weg gehen und den Augenkontakt mit mir vermeiden?”, fragte er mit einem verstörten Gesichtsausdruck. Das war wahrlich eine unangenehme Enthüllung. Verwirrt schüttelte er den Kopf. “Warum?”

Orrin dachte kurz nach, dann sagte er vorsichtig: “Es gibt Geschichten darüber, wie du deine Schulkollegen verprügelt und ihnen recht grausame Streiche gespielt hast.”

“Damals war ich jünger als Vern!”, protestierte er verärgert. “Die Kinder, denen man jetzt beibringt, sie sollen gefügig vor mir kauern, waren damals noch nicht einmal geboren!”

“Diese Art von Junge warst du? Wirklich?” Eryn runzelte die Stirn. “Warum habe ich von all den Geschichten, die ich bisher gehört habe, einen ganz anderen Eindruck gewonnen? Darin geht es um einen faulen, respektlosen, missverstandenen Jungen mit einer Tendenz, seine Frustration durch Poesie zum Ausdruck zu bringen, nicht mit seinen Fäusten. Wie ist es möglich, dass dieser zerstörerische Aspekt, dass du andere Kinder verprügelt hast, dabei verlorengegangen ist?”

Er sah sie verlegen an. “Das ist alles eine Frage der Präsentation, Liebste. Ich musste schon hart genug daran arbeiten, dass du mich magst und akzeptierst, auch ohne dass du über meine dunkle Vergangenheit Bescheid weißt.”

Orrin grinste. “Keine Sorge, Eryn, das war nur während der ersten ein oder zwei Jahre, nachdem er zum Orden kam. Lass es uns als Anpassungsprobleme betrachten.”

“Ja”, schnaubte Enric. “Nachdem du mich zwischen die Finger bekommen hast, hatte ich kaum noch Kraft übrig, um sie an meine Kollegen zu verschwenden. Du hast mich nach dem Unterricht so viele zusätzliche Trainingsstunden absolvieren lassen, dass ich am Ende des Tages mehr oder weniger ins Bett gefallen bin.”

“Das hat doch gut funktioniert, oder etwa nicht? Aus dir ist ein außerordentlich guter Kämpfer geworden, und du hast gelernt, deine Frustration mit Worten anstatt Gewalt auszudrücken”, grinste der Krieger.

Enric sah Vern an. “Wer hat dir gesagt, du sollst den Blick abwenden?”

Der Junge dachte einen Augenblick nach, bevor er sagte: “Mein Lehrer in Politischer Strategie, Avlin.”

“Avlin…” Enric überlegte, weshalb ihm dieser Name vertraut vorkam, dann verzog er das Gesicht. “Ah…”

Orrin nickte. “Ja, er. Als ihr Kinder wart, hast du ihn mehrere Stunden lang in einer Truhe eingeschlossen. Zweimal.”

Eryn schüttelte den Kopf über ihren Gefährten. “Während ich also im Alter von… was? – dreizehn? – zur Heilerin ausgebildet wurde, warst du die Geißel deiner Kollegen? Und die sinnvollste Idee, damit umzugehen, war, dir noch mehr Kampffertigkeiten beizubringen?” Sie seufzte und sah ihren vormaligen Kampftrainer an. “Warum hast du ihn nicht ein paar Stunden lang in eine Truhe gesperrt, um ihm eine Lektion zu erteilen?”

“Ich sehe, dass wir sehr unterschiedliche Ansätze bei der Kindererziehung verfolgen”, erwiderte der Krieger vorwurfsvoll. “Es einem Kind mit gleicher Münze heimzuzahlen, bringt nicht viel. Ihn auf diese Weise zu bestrafen hätte ihn nur noch mehr verärgert und außerdem das Problem mit seiner überschüssigen Energie nicht gelöst. Kämpfen erfordert Disziplin, also diente es mehr als einem Zweck, dass er viel Zeit dafür aufwenden musste. Damit blieb ihm kaum noch Zeit oder Energie, um andere zu quälen, und er war gezwungen, Kontrolle und Zurückhaltung zu erlernen.”

Eryn nickte und grinste Vern an. “Nun, du siehst, es ist also heutzutage sicher genug, ihm in die Augen zu sehen und ihn ohne Titel anzusprechen. Es scheint, dein Vater hat ihn für uns gezähmt.”

“Ich schätze es nicht, wie du das ausdrückst”, seufzte ihr Gefährte. “Sagen wir eher, er hat mir dabei geholfen, weniger destruktive Ventile für meine Energie und Frustration zu finden.”

Sie nickte. “Wenn dich diese Formulierung glücklicher macht, wer bin ich, um sie dir zu verwehren?”

“Schade nur, dass dieser Ansatz bei dir nicht funktioniert hat”, bemerkte Orrin. “Dich zum Kämpfen zu veranlassen hat deine Frustration nur verstärkt.”

“Ja”, knurrte sie. “Und es musste mir ein Kind einpflanzt werden, damit man mir gestattet, diese Zeitverschwendung zumindest für eine Weile zu unterbrechen.”

“Wir könnten hinterher immer noch ein weiteres bekommen. Daraufhin würde man dich sogar noch länger verschonen”, warf Enric beiläufig ein.

“Kaum”, schnappte sie. “Mir ein paar Monate ohne Kampftraining zu erkaufen würde mir ein paar weitere Jahre einer anderen Art von Belastung einbringen. Stell dir vor, wir stehen mit einem Unruhestifter wie Vern da, der Gefangenen magische Kampfkunst beibringt und antike Stadtpläne mit Zeichnungen von nackten Frauen verunstaltet!”

“Ich dachte, ich sei harmlos?”, lachte besagter Unruhestifter.

“Ich habe meine Meinung geändert. Du bist nun offiziell ein schlechter Einfluss. Sieh einfach nur zu, dass du nichts anstellst, für das ich als höchstrangige Ordensmagierin verantwortlich gemacht werde, solange wir in Takhan sind. Und du gewöhnst dich besser daran, Enric ohne seinen Titel anzusprechen. Das würde sonst wirklich seltsam wirken”, warnte sie ihn.

Pe’tala trat neben sie und deutete zum Horizont. “Seht, das dort ist meine Heimatstadt”, sagte sie mit einem Anflug von Stolz in der Stimme.

Vern warf einen kurzen Blick auf die Aussicht vor ihm, bevor er zurück zu den Stufen rannte, wo er seinen Zeichenblock samt Stift liegen hatte. Hektisch begann er zu zeichnen, während die anderen einfach nur in die Betrachtung der Silhouette der fernen Stadt versunken waren.

Enric bemerkte Pe’talas angespannte Haltung. Der bevorstehenden Ankunft blickte sie eindeutig nicht mit Freude entgegen.

* * *

Sie standen nebeneinander an der Reling und sahen zu, wie die Landungsstege vorbeidrifteten. Dieses Mal war ihnen aufgrund der Größe ihres Schiffs ein anderer Platz zugewiesen worden.

Ein langsames Lächeln breitete sich auf Eryns Gesicht aus, als sie die kleine Gruppe von Leuten an der Anlegestelle warten sah. Valrad, Vran’el und Kilan. Erleichtert sah sie, dass Malriel nicht unter ihnen weilte. Sie war erfreut, dass keine größere Menge an Menschen versammelt war, die zu begrüßen eine Ewigkeit gedauert hätte. Und doch verspürte sie einen kleinen Stich der Enttäuschung darüber, dass sich Ram’an nicht unter den Anwesenden befand.

Sie beobachtete ihre Reisegefährten und lächelte über deren Erstaunen, als sie die fremde Stadt zum ersten Mal erblickten, die ungewöhnlichen Eindrücke rundherum in sich aufnahmen.

Als das Schiff endlich vorn und achtern mit schweren Tauen gesichert war, wurde die Landungsbrücke angelegt, damit die Passagiere von Bord gehen konnten. Beinahe im Laufschritt ging sie voraus und zog beide Vel’kim-Männer gleichzeitig in eine stürmische Umarmung. Für einige Augenblicke hielt sie sie fest an sich gedrückt, bevor sie zur Seite trat. Sie war nicht die Einzige, die es eilig hatte, sie zu begrüßen.

Pe’tala näherte sich gemäßigteren Schrittes und lächelte ihre Familie an. Zuerst umarmte sie ihren Vater, dann ihren Bruder.

“Tala, mein Kind”, sagte Valrad zärtlich und strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. “Es ist gut, dich wieder hierzuhaben, wenn auch nur für kurze Zeit.”

“Es ist gut, zurück zu sein”, lächelte sie und lehnte sich in die Berührung. “Du würdest nicht glauben, wie kalt es dort ist.”

“Das kann ich durchaus, wenn ich mir ansehe, wie blass du geworden bist”, erwiderte ihr Vater mit einem Nicken. “Ganz eindeutig gibt es dort nicht genug Sonnenschein.”

“Die Vel’kim-Mädchen sind zurück in der Stadt”, grinste Vran’el und zwinkerte Eryn zu. “Die Leute sollten sich besser gut verstecken.”

Eryn wandte sich sodann Kilan zu und lachte, als er sie an sich zog, um ihre Wangen zu küssen. “Wie ich sehe, passt du dich den hiesigen Gebräuchen an, Botschafter.”

“Das sollte ich auch; man erwartet immerhin von mir, auf diese Weise meinen Respekt für mein Gastgeberland zu zeigen”, grinste er.

Enric, Orrin, Junar und Vern waren in der Zwischenzeit ebenfalls dazugestoßen, und nachdem Enric die drei Männer begrüßt hatte, stellte er ihre Reisegefährten vor.

“Orrin”, sinnierte Valrad und musterte den Kämpfer von oben bis unten. “Der Mann, der Eryn zum Kämpfen gezwungen hat – trotz ihrer Abneigung dagegen.”

Der Krieger, dem der kühle Ton eindeutig nicht entgangen war, nickte. “Ja, das wäre dann wohl ich”, antwortete er langsam. “Aber ich hoffe, dass du mich nicht allein darauf reduzieren wirst.”

Eryn schluckte und trat neben Orrin, um seinen Arm zu ergreifen und beschwichtigend zu drücken, während sie den Mann ansah, den sie bis vor kurzem für ihren Onkel gehalten hatte.

“Er ist seitdem zu einem engen Freund geworden, Valrad. Jemand, der mich nie im Stich gelassen hat, wenn ich einen Rückzugsort oder eine Stimme der Vernunft brauchte.” Sie grinste und gab ihm einen freundlichen Schubs. “Sozusagen der Vater, den ich nie wollte.”

Sie sah, wie sich Valrads Augen bei ihrer letzten Bemerkung verengten und fragte sich, weshalb diese Begrüßung so unerwartet angespannt verlief. Eilig konzentrierte sie sich nun anstatt auf Orrin auf seine Gefährtin und stellte Junar vor, die daraufhin mit mehr Wärme willkommen geheißen wurde.

Als Vern vortrat, grinste Valrad breit.

“Und das muss Vern sein, der junge Mann mit diesem unglaublichen Talent in Kombination mit einer Neigung zum Heilen. Ich habe das Buch gesehen, das du illustriert hast, und ich kann es kaum erwarten, dich meinen Kollegen vorzustellen. Sie waren begeistert, als sie erfuhren, dass du ebenfalls herkommen würdest.”

Vern war offensichtlich überwältigt von der herzlichen Begrüßung, die sich so maßgeblich von der unterschied, die seinem Vater gerade zuteilgeworden war. Er benötigte ein paar Augenblicke, um seine Stimme wiederzufinden.

“Danke, ich bin sehr froh, dass ich die Chance zu diesem Besuch habe. Und ich freue mich, dich kennenzulernen. Ich habe viel von dir gehört”, sagte er schließlich und hob seine Hand für die formelle Begrüßung.

Enric legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Man wartet üblicherweise darauf, dass die andere Person ihre Hand zuerst anbietet, sofern er oder sie älter ist als du oder einen höheren Status bekleidet.”

Der Junge schluckte und lächelte den älteren Mann nervös an. “Es tut mir leid, es scheint, dass es noch einiges gibt, was ich zu lernen habe.”

Valrad lachte und verschränkte ihre Finger. “Keine Sorge, mein junger Freund. An Kleinigkeiten wie diesen stoße ich mich nicht.”

Eryn zog die Stirn in Falten, als sie sah, wie Vran’el einen Blick über ihre Schulter warf und plötzlich angespannt wirkte. Langsam drehte sie sich um und hielt an der unwirklichen Hoffnung fest, dass sie sich nicht gleich Malriel gegenüberfinden würde.

Das Glück war ihr nicht hold.

Das Oberhaupt von Haus Aren kam näher. Ihr Gesicht wirkte selbstsicher, obgleich ihre Bewegungen einen Hauch von Vorsicht verrieten. Enric war der Erste, den sie erreichte, und sie zog ihn an sich, um ihn mit einem Kuss auf jede Wange zu begrüßen.

“Enric, mein Lieber. Ich bin so froh, dass du hier bist. Ich schätze es wirklich sehr, was du tust”, lächelte sie.

Er nickte ihr kurz zu. “Das glaube ich gerne. Und doch sollst du wissen, dass ich mit deinen Methoden keineswegs einverstanden bin”, sagte er milde. “Aber das ist ein Gespräch für einen anderen Zeitpunkt.”

Malriels Gesichtsausdruck wirkte leicht angestrengt, und sie begrüßte nun Orrin, Junar und Vern. Schließlich wandte sie sich Eryn zu, die sich vollkommen versteift hatte.

“Theá”, sagte die ältere Frau sachte. “Willkommen zurück in Takhan.”

Eryn spürte, wie Zorn sie gleich einem heißen Speer durchzuckte. Das Lächeln, der Name, mit dem sie nicht angesprochen werden wollte, diese Beiläufigkeit trotz der Dinge, die sie getan hatte.

Als Malriel nähertrat, um ihre Wangen zu küssen, reagierte Eryn reflexartig auf diesen Annäherungsversuch. Ihre Faust schoss hervor und traf mit einem dumpfen Geräusch auf dem Kinn der älteren Frau auf. Malriels Kopf wurde von dem Aufprall gewaltsam zur Seite geschleudert. Sie stolperte mehrere Schritte rückwärts, und der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.

“Du niederträchtige, hinterlistige, böswillige Kreatur!”, schrie sie.

Um sie herum war es still geworden. Alle Leute in Sichtweite schienen mitten in ihrer Tätigkeit innezuhalten, um zu der unglaublichen Szene hinzustarren, in der das mächtige Oberhaupt von Haus Aren von einer Frau geschlagen wurde, die wie eine etwas jüngere Version ihrer selbst aussah.

Eryn verspürte eine Welle aus Vergnügen, Erleichterung und Schwindel darüber, Malriel einmal ihrer Überlegenheit beraubt zu sehen. Diese Situation hatte sie nicht unter Kontrolle.

“Meine Güte”, seufzte Vran’el und sah zu Enric auf. “Du solltest wohl besser eingreifen, würde ich sagen.”

Der blonde Magier schüttelte langsam den Kopf und murmelte: “Nein. Malriel hat das herausgefordert. Ich habe keinerlei Absicht, ihr zu helfen. Sie hat das durchaus verdient.” Und es war eine prima Gelegenheit für Eryn, ihren Ärger herauszulassen anstatt ihn in ihrem Inneren einzusperren. Dass sie dabei auch ihre neu erworbenen Fertigkeiten in unbewaffnetem Kampf zum Einsatz bringen konnte, war ein willkommener Nebeneffekt.

Sie sahen zu, wie sich Eryn ihrer Mutter erneut näherte. Malriel hob abwehrend die Hände.

“Maltheá, das ist nicht die richtige Art und Weise, mit unseren Problemen umzugehen!”

“Für mich funktioniert das momentan ganz fantastisch”, zischte Eryn und verpasste ihr einen harten Tritt in den Magen, der sie über den Rand des Stegs und mit einem lauten Platschen in den Fluss beförderte.

Sie beobachtete, wie sich das Wasser über Malriels Kopf schloss und sie verschluckte. Dann atmete sie aus und kehrte zu ihrem hingerissenen Publikum zurück, ohne sich umzublicken.

“Ich gehe davon aus, dass sie schwimmen kann? Nicht, dass ich die Absicht hätte, sie zu retten, falls sie es nicht kann”, kommentierte sie trocken.

Valrad schloss seine Augen und schüttelte langsam den Kopf. “Kein guter Start”, murmelte er.

Vran’el nickte. “Nein, aber nicht gänzlich unerwartet, würde ich sagen. Wenngleich ich diesen… körperlichen Aspekt nicht kommen sah, muss ich zugeben.” Dann wandte er sich an Kilan. “Würdest du wohl Orrin, Junar und den jungen Vern zu deiner Residenz begleiten, Kilan?”

“Was ist mit Eryn und Enric?”, fragte Junar und legte ihrer Freundin schützend den Arm um die Schultern.

“Sie werden mit uns nach Hause kommen. Es gibt da etwas, das wir besprechen müssen”, antwortete Valrad anstelle seines Sohnes. “Ich möchte euch alle gerne einladen, euren ersten Abend in Takhan mit uns zu verbringen und mit meiner Familie und mir zu Abend zu essen. Ich bin sicher, ich muss euch nicht sagen, dass ihr bis dahin bei Kilan in fähigen Händen seid”, schloss er mit einem unbehaglichen Lächeln.

Sie sahen zu, wie sich Malriel aus dem Wasser zog. Als sie stromabwärts des Schiffes eine eiserne Leiter emporkletterte, klebten ihre nassen Kleider an ihrem schlanken Körper, und ihr langes, dunkles Haar war an ihren Kopf geklatscht. Zurück an Land, schloss sie die Augen, und einen Moment später begann Dampf aufzusteigen, als sie sich mit Magie trocknete. Eine Minute später war kein Anzeichen mehr von ihrem Sturz in den Fluss sichtbar, und sie kehrte zurück, ihr warnender Blick auf ihrer Tochter.

Orrin ergriff Eryns Oberarm und knurrte: “Das ist kein verantwortungsbewusster Einsatz der Dinge, die ich dir beigebracht habe. Jemanden zu attackieren, der aufgrund deines Zustands Skrupel hat, zurückzuschlagen, ist keine besonders noble Herangehensweise an die Kunst des Kämpfens.”

Sie fletschte die Zähne, als sie zurückfauchte: “Dazu kann ich dir nur sagen, dass mir das vollkommen gleichgültig ist. So richtig gleichgültig.”

Sie sah, wie Valrad ob dieses Austauschs die Stirn runzelte und befreite ihren Arm aus Orrins Griff.

“Warum sollen wir mit euch kommen? Ich würde lieber ein kühles Bad nehmen und mich dann irgendwo hinsetzen und für eine Weile entspannen”, meinte sie dann, während sie Malriel im Blickfeld behielt, falls sich eine weitere Gelegenheit für einen gut gezielten Tritt ergab.

“Das werde ich euch sagen, wenn wir zuhause sind”, sprach Valrad ruhig und griff nach ihrer Hand. “Das ist nichts, was ich in der Öffentlichkeit besprechen möchte.”

“Wird diese scheußliche Person auch kommen? Falls ja, brauchst du mit mir nicht zu rechnen”, knurrte sie.

Er seufzte. “Ja, Malriel wird uns begleiten. Und nein, du kannst dich nicht weigern mitzukommen.” In seinem Ton schwang unmissverständlich eine Warnung mit. “Enric, ich würde deine Unterstützung schätzen.”

Enric nickte langsam. Es schien, als hätten sie nun gerade einmal den harmlosen Teil hinter sich und würden sich nun dem stellen müssen, wovor Pe’tala gegraut hatte.

* * *

Eryn wartete, bis Malriel auf einem der Kissen im Vel’kim Hauptraum Platz genommen hatte und ließ sich dann dort nieder, wo sie am weitesten davon entfernt war, während sie ihr giftige Blick zuwarf. Enric glitt auf den Sitz neben ihr, und Valrad setzte sich auf das Kissen auf ihrer anderen Seite. Vran’el stellte auf dem niedrigen Tisch vor ihnen ein Tablett mit Gläsern, Wasser und Saft ab, dann ließ er sich zwischen seinem Vater und Malriel nieder. Pe’tala hatte sich dagegen entschieden, sich der Gruppe anzuschließen und lehnte stattdessen an einer Wand in der Nähe des Ausgangs.

Enric hob fragend eine Augenbraue, während er sie ansah. Fluchtgedanken? Sie warf ihm ein müdes Lächeln zu.

Valrad ergriff Eryns Hände und nahm sie zwischen seine eigenen, größeren. Er wartete, bis sie ihren Blick von Malriel abwandte und ihn ansah, bevor er das Wort an sie richtete.

“Eryn, mein Mädchen, Pe’tala hat mich informiert, dass du dir mittlerweile im Klaren bist über die Bedeutung der Krankheit, die dein Sohn geerbt hat.”

“Ja.” Sie schluckte hart und warf der Frau ihr gegenüber einen weiteren hasserfüllten Blick zu. “Es bedeutet, dass Malriel von Haus Aren in ihrem Lebensbund kaum mehr Rücksicht gezeigt hat als bei allem sonst, was sie tut. Sie war nicht nur untreu, sondern auch noch leichtsinnig genug, sich im Zuge dieser Affäre, betrunkenen Begegnung oder was immer es sonst war, schwängern zu lassen.”

Malriel öffnete ihren Mund, um etwas darauf zu entgegen, schloss ihn aber wieder, als Valrads Blick sie zum Umdenken veranlasste.

Eryn runzelte die Stirn. “Ich sehe nicht wirklich, warum du derjenige bist, der mit mir über ihren Fehltritt redet. Das an den Bruder des Mannes zu delegieren, dem sie das angetan hat, ist wirklich ein Tiefpunkt, sogar für sie. Aber ich schätze, das was sie tut, sollte mich nicht länger überraschen.”

“Eryn”, sagte Valrad eindringlich, “bitte hör mir einen Augenblick zu! Das ist wichtig. Du hast Recht. Es war nicht richtig, dass sie dies hinter Ved’als Rücken getan hat, aber sie war nicht die Einzige, die Schuld daran trägt.”

Sie versuchte ihre Hand zurückzuziehen, doch der ältere Mann hielt sie fest. “Wenn du mir jetzt den Namen ihres Bettpartners sagen willst, damit ich meinen Ärger gleichmäßiger verteile anstatt ihr allein die Schuld zu geben, dann bin ich sehr enttäuscht von dir. Es kümmert mich nicht, mit wem sie ins Bett gegangen ist. Er hat keinerlei Bedeutung für mich.”

Valrad schloss die Augen und drehte seinen Kopf für einen Moment zur Seite.

Der Gedanke traf Enric wie eine Faust in den Magen, und mit einem scharfen Atemzug sog er die Luft ein. Sein Blick sprang zu Pe’tala, die ihm einmal zunickte; sie hatte erraten, dass es ihm klargeworden war.

Eryn drehte sich zu ihm, als sie seinen Schock durch das Geistesband wahrnahm. “Was?”

Er schüttelte nur den Kopf und errichtete rasch eine Barriere, damit er sie nicht länger ablenkte und beunruhigte.

“Eryn”, sagte Valrad sodann, sein Gesicht ernst, seine Kiefer aufeinandergepresst. “Das ist von erheblicher Bedeutung für dich. Für uns alle. Ich war der Mann, mit dem sie ins Bett ging, als du gezeugt wurdest.”

Sie erstarrte, ihr Blick verständnislos auf ihn gerichtet. Da waren… Worte. Sie verstand die Bedeutung jedes einzelnen davon, aber zusammen ergaben sie keinerlei Sinn.

“Verzeihung?”, fragte sie höflich.

“Diese Knochenkrankheit, die dein Sohn geerbt hat”, erklärte er mit bekümmerter Miene, “wurde innerhalb unserer Familie schon seit vielen Generationen weitergegeben. Sie wird allerdings nicht an alle Männer vererbt – nur an einen von vier. Nicht an Ved’al. Aber an mich. Und ebenso an deinen Sohn.” Er suchte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, dass sie begriffen hatte, nach irgendeiner Gefühlsregung. “Eryn? Verstehst du, was ich dir sage? Ich bin dein Vater, und zwar nicht nur rechtlich gesprochen. Du bist von meinem Blut, meine Tochter.”

Ihr Kopf sank vorwärts, bis ihr Kinn auf ihrer Brust ruhte. Ihr Atem beschleunigte sich. “Nein. Das bist du nicht. Ich weigere mich zu glauben, dass du deinem eigenen Bruder so etwas angetan hättest. Nicht du. Du bist anständig. Das würdest du nicht tun.”

Sie sah auf seinem Gesicht den Schmerz, den ihre Worte ausgelöst hatten, und erst da wurde ihr eindeutig klar, dass er die Wahrheit gesprochen hatte. Die Pein, die diese Erkenntnis mit sich brachte, raubte ihr beinahe den Atem, und einen Moment lang bekam sie keine Luft. Enrics Arm um ihre Schultern presste sie an ihn, und sie spürte seine Lippen auf ihrer Schläfe. Sie benötigte einige Sekunden, um zu erkennen, dass seine Stimme Worte formulierte.

“Es tut mir so leid, Liebste.”

Sie schluchzte leise und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

Nach mehr als einer Minute flüsterte sie: “Ausgerechnet! Mir ist klar, wie sie so etwas tun konnte, aber du?” Ihre Stimme wurde schriller. “Er war dein Bruder, verdammt! Wie konntest du nur? Dabei hast du die Rolle des freundlichen Onkels so gut gespielt, als ich zum ersten Mal herkam”, rief sie aus, während eine Träne ihre Wange hinabrollte. “Ein Pech für dich, dass Malriel mir diesen Fruchtbarkeitstrank verabreicht hat, oder ich hätte das niemals erfahren!”

Valrads Kopf zuckte zu Malriel, und er starrte sie an. Seine Stimme donnerte durch das Haus, als er wütend knurrte: “Du hast was getan?”

Malriel zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden und presste ihre Lippen aufeinander. Weder bestätigte, noch bestritt sie es.

Enric sah Pe’tala überrascht an. “Du hast ihm nichts davon erzählt?”

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. Das ist nichts, was man mit einem Vogel schickt. Man weiß nie, wer diese Nachrichten abfängt und liest.”

“Ich schwöre dir, Eryn, dass ich davon nichts wusste. Und auch, dass ich keinen Verdacht hegte, ich könnte dein Vater sein. Es wurde mir erst klar, als Pe’tala mir die Ergebnisse ihrer Untersuchung übermittelte.”

Eryn schüttelte den Kopf und stand auf. “Ich muss hier raus”, murmelte sie und stolperte beinahe, als sie hastig über die großen Kissen kletterte, hin zu den Stufen, die zum Ausgang führten. Valrad versuchte ihr Halt zu geben, aber sie wich vor ihm zurück. “Fass mich nicht an!”, schnauzte sie ihn an und rannte auf die Treppe zu.

Enric sprang auf und versuchte ihr zu folgen, doch Pe’tala versperrte ihm den Weg und schüttelte den Kopf.

“Nein. Lass mich.”

Widerstreitende Gefühle huschten über sein Gesicht. Als sie hörten, wie die Tür unten geöffnet und kurz darauf zugeschlagen wurde, umfasste Pe’tala seinen Arm und fügte eindringlich hinzu, “Bitte?”

Schließlich nickte er und zwang sich dazu, zu bleiben wo er war.

“Vran’el?”, rief sie. “Bels Teehaus in einer halben Stunde.”

Als ihr Bruder wortlos nickte, rannte sie los, um Eryn einzuholen.

* * *

Plötzlich geblendet vom hellen Sonnenlicht taumelte sie kurz, bevor sie ihre Augen mit ihrer Hand beschattete und den Weg hinunterzulaufen begann, der von der Straße zum Gebäude hin anstieg.

Sie hielt kurz inne, als sie die Straße erreichte, die entlang des Vel’kim-Anwesens verlief. Dann entschied sie, sich keine Sorgen darüber zu machen, wohin sie ging, solange es nur weit genug fort war.

Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie aufschreien und herumwirbeln, bereit, einen weiteren Schlag auszuteilen, falls es sich um Malriel oder Valrad handelte. Aber es war Pe’tala, die vor ihr stand, ihr Gesicht grimmig und entschlossen.

“Komm”, befahl sie nur und umfasste Eryns Oberarm, um sie in eine Richtung zu drängen, die gemäß Eryns vager Erinnerung ins Stadtzentrum führte.

“Lass mich los”, befahl sie und versuchte ihren Arm zu befreien, doch die jüngere Frau hielt daran fest und zog sie mit sich.

“Nein. Du hörst jetzt damit auf und kommst mit mir. Ich kann dich wohl kaum allein, ohne einen einzigen Goldstreifen und mit kaum mehr als lückenhaftem Wissen über die Stadt herumlaufen lassen. Wer weiß, wo du landen würdest.”

Eryn lachte etwas zu laut, ihre Stimme bitter, als sie sagte: “Meine besorgte kleine Schwester, wie immens rücksichtsvoll von dir, dass du dich um mich sorgst.”

Pe’tala hielt an und drehte sich zu ihr, starrte ihr in die Augen und trat so nahe an sie heran, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.

“Da hast du verdammt Recht, du Idiotin! Ein Monat war eine lange Zeit, um die Bürde dieses Wissens allein zu tragen. Ich sorge mich sehr wohl, und das habe ich getan, seit ich diese Erkrankung bei deinem Kind gefunden habe. Oder dachtest du, es wäre ein Zufall, dass ich gerade eben beim Ausgang Stellung bezogen habe, als du davon erfahren hast?” sagte sie streng. “Jetzt hör auf, Schwierigkeiten zu machen. Zumindest bis ich dich an einen Ort gebracht habe, wo wir reden können. Da du beträchtlich stärker bist als ich, bin ich auf deine Kooperation angewiesen. Hörst du?”

“Reden – mit dir?”

“Ja, mit mir. Glaub mir, jetzt gerade bin ich genau die Person, mit der du reden willst. Wie ich Vran’el kenne, ist er mit den jüngsten Entwicklungen sehr wahrscheinlich zufrieden, also würdest du ihn nur erwürgen wollen, wäre er hier. Dabei zählt es nicht, dass du ihn im Allgemeinen lieber magst als mich. Und Enric würde dich nur im Arm halten und sich dein Gejammer anhören, bevor er dir erklärt, wie sich die Situation auf eine Weise analysieren lässt, damit alles vorteilhaft erscheint.”

Eryn blinzelte und starrte sie nur an.

“Kommst du nun?”

Pe’tala wartete einen Moment lang, und als keine Antwort kam, setzte sie ihren Weg flotten Schrittes fort, ohne den Arm der anderen Frau loszulassen.

Eryn wusste nicht, wie lange sie so marschiert waren, bevor Pe’tala neben einem Teehaus anhielt, dessen weiße Zelte die Kissen auf dem Boden vor der Sonne schützten.

“Hinsetzen”, befahl sie und hob eine Hand, um einen Servierer herbeizurufen. Sie wies ihn an, die Tische um sie herum zwecks Privatsphäre freizuhalten und bestellte eine Kanne Tee mit dem Hinweis, sie so lange aufzufüllen, bis er das Gegenteil gesagt bekam. Dann sank sie neben Eryn nieder, streckte ihre Beine aus und seufzte erschöpft. “Es sieht so aus, als wäre deine Ankunft in Takhan nie eine erfreuliche Angelegenheit, was?”

Eryn atmete aus, lehnte sich zurück und schloss die Augen. “Nein, ich will mich nur irgendwo im Dunkeln verkriechen…” Ihre Stimme verstummte. Sie öffnete die Augen wieder, als sie Pe’talas Hand auf ihrer spürte.

“Deine Hand ist kalt, und dein Herz schlägt schneller als es unser kurzer Weg hierher rechtfertigen würde. Du stehst unter Schock. Ich werde etwas dagegen tun, da dies sonst für dich und das Kind gefährlich werden könnte. Hörst du?” Ihre Stimme klang ruhig, doch dahinter war Entschlossenheit.

“Warum fragst du mich das immer wieder?”

“Weil Verwirrung ein Schocksymptom ist. Entspann dich jetzt. Und errichte bloß keinen Schild oder etwas in der Art, oder ich werde den nächsten Magier, den ich des Weges kommen sehe, packen und ihn dazu veranlassen, dass er mir hilft, dich zu überwältigen, einfach nur, damit ich dir eins überbraten kann.”

Langsam schüttelte Eryn den Kopf und spürte, wie angenehme Wärme ihre Haut durchdrang, als Pe’tala Magie durch ihre Handfläche sandte. “Du hast wirklich ein Händchen für Patienten. Kein Wunder, dass sie sich ständig über dich beschweren.”

Pe’tala öffnete ihre Augen wieder und lächelte müde. “Unsinn. Sie beschweren sich zwar, doch in Wahrheit sind sie insgeheim entzückt. Wenn sie einander treffen, tauschen sie Schauergeschichten über meine Behandlungen aus. Ich leiste praktisch einen zusätzlichen Dienst an der Gemeinschaft, indem ich für Gesprächsthemen sorge.”

Eryn atmete aus und bemerkte, dass ihr das Denken nun wesentlich leichter fiel. “Was nun? Rede ich mir nun all meinen Gram und Kummer über meinen letzten Schicksalsschlag von der Seele, damit du meinen Schmerz mit dem Balsam schwesterlichen Mitgefühls lindern kannst, oder wie läuft das?”

“Ein interessantes Bild”, meinte die jüngere Frau mit einem schwachen Lächeln, “aber keines, das wirklich mit unseren Vorlieben übereinstimmt, nicht wahr? Lass uns stattdessen versuchen, gemeinsam verärgert zu sein.”

Eryn seufzte und nickte. “Sicher, warum nicht? Ich verstehe wohl, weshalb du verärgert bist.”

“Nein”, erwiderte Pe’tala scharf. “Das kannst du nicht. Noch nicht. Aber das wirst du vielleicht, wenn du einmal für eine Minute den Mund hältst und mich dir ein wenig über mich erzählen lässt.” Sie hielt inne, als der Diener eine Kanne aus Metall mit dampfend heißem Tee und zwei Gläsern brachte. Die Griffe wirkten so zerbrechlich, als würden sie jeden Moment abfallen, wenn man sie nur falsch ansah. Als er sich wieder zurückgezogen hatte, lehnte sie sich vor, um ihnen beiden Tee einzugießen und lehnte sich dann mit dem Glas in einer Hand wieder zurück, um fortzusetzen. “Ich war sehr jung, als meine Mutter mit einem Händler davonlief. Vier Jahre alt, um genau zu sein. Ich weiß, dass der Lebensbund zwischen ihr und meinem Vater kein besonders liebevoller war, aber ich habe ihr dennoch niemals verziehen, dass sie mich auf diese Weise zurückließ. Es gibt Möglichkeiten für eine Frau, sich von einem Mann zu trennen, ohne daraufhin jeglichen Kontakt zu ihren Kindern abzubrechen. Jedenfalls scheint es, als waren wir nichts anderes als eine Bürde für sie – es gab für uns keinen Platz in ihrem neuen Leben.” Sie legte eine kurze Pause ein und starrte in ihr Glas, bevor sie fortfuhr. “Im vergangenen Monat habe ich zu überlegen begonnen. Ich hätte meinen Vater niemals für den Typ Mann gehalten, der eine Affäre mit einer Frau beginnt, die mit einem anderen Mann verbunden ist. Besonders nicht mit der Gefährtin seines Bruders, und nicht während er selbst an eine Frau gebunden war. Aber nachdem ich hiervon erfahren habe… Ich habe begonnen, mich zu fragen, ob meine Mutter ebenfalls davon wusste und daraufhin beschloss, ihn zu verlassen.”

Eryn schluckte. Das also waren die Gedanken gewesen, die Pe’tala im letzten Monat beschäftigt hatten, während sie in einem fremden Land weit weg von ihrer Familie und ihren Freunden festgesessen hatte, ohne mit jemandem reden zu können.

“Ich wünschte, du hättest mir davon erzählt. Das war eine lange Zeit, in der du damit allein warst.”

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. Es stand mir nicht zu, das mit dir zu teilen. Und ich war verärgert mit Vater und wollte, dass er mit eigenen Augen sieht, welchen Schmerz dir seine Taten vor so vielen Jahren bereiten würden.” Sie sah auf und in Eryns Augen. “Es war seine Strafe. Und Malriels. Obwohl ich erwähnen sollte, dass er mich darum gebeten hat, dir nichts davon zu sagen. Er hat niemals von mir erwartet, dass ich seine Drecksarbeit erledige.”

“Sag für den Augenblick besser nichts Nettes über ihn”, meinte Eryn und zog eine Grimasse.

Pe’tala lächelte. “Also gut, ich werde das für den Moment vermeiden. Es gibt noch ein paar andere Gründe für mich, um böse auf ihn zu sein, also lass uns zuerst darüber sprechen. Eine Sache ist die Wahl seiner Liebhaberin. Ich meine, wie konnte er sich jemals zu so einer Frau hingezogen fühlen?” Ihr Gesicht verzog sich missbilligend. “Sie ist selbstsüchtig, rücksichtslos und nicht gerade zimperlich, wenn es um die Methoden geht, derer sie sich bedient. Welche Art von Mann findet solche Qualitäten anziehend? Ich gebe zu, dass sie sehr hübsch ist. Aber ich hätte niemals gedacht, dass mein Vater oberflächliche Reize ansprechend genug fände, um über das hinwegzusehen, was darunterliegt. Ich möchte ihm gerne zugutehalten, dass er jung war, aber das fällt mir sehr schwer. Dann frage ich mich immer wieder, wie gut ich meinen Vater wirklich kenne. Wie du bereits sagtest, ist es kalt und herzlos, seinem Bruder so etwas anzutun. Niemals hätte ich ihn als diese Art von Mensch eingeschätzt. Und schlussendlich ist da der absolut lächerliche Gedanke, dass ein vollständig ausgebildeter Heiler es nicht zuwege bringt, einem ungeplanten Kind vorzubeugen. Also bitte. Wie dumm kann man sein? Das passiert Halbwüchsigen, die entweder zu sehr im Moment gefangen sind, um einen klaren Gedanken zu fassen, oder die nicht verstanden haben, wie man eine Schwangerschaft vermeidet. Aber doch keinem erwachsenen Mann. Immerhin hatte er sich zu dieser Zeit bereits einen Namen als Heiler gemacht!”

Eryn wartete auf einen weiteren Grund, den sie als maßgeblich betrachtet hätte, aber er war nicht unter den angeführten gewesen.

“Und dann bin da noch ich”, wagte sie sich vor.

Pe’tala rieb sich über das Gesicht und schüttelte den Kopf. “Nein, Eryn. Du wirst das womöglich nicht glauben, aber du warst keiner der Gründe für meinen Ärger. Du hast das ebenso wenig verschuldet wie ich. Und weißt du, nachdem ich dich besser kennenlernen und diesen Schlamassel mit Ram’an hinter mir lassen konnte, habe ich mich entschieden, dass du keine dermaßen große Plage bist. Ich war überrascht von der Arbeit, die du in deinem Königreich geleistet hast. Und wie du dem Orden weiterhin entgegentrittst und ihn drangsalierst anstatt einfach das zu tun, was sie wollen, dich zurücklehnst und an der Seite deines mächtigen und reichen Gefährten ein Leben ohne Sorgen führst. Und ich gebe zu, dass deine Probleme mit Malriel es mir wesentlich erleichtert haben, dir zu verzeihen, dass du wie sie aussiehst.”

“Wie ungemein großzügig von dir”, murmelte Eryn.

“Was soll ich sagen? Für diesen Charakterzug bin ich bekannt”, sagte sie, bevor sie wieder ernst wurde. “Es macht mir nichts aus, dich als meine Schwester zu haben. Ich hatte Spaß in Anyueel, und du hast dafür gesorgt, dass ich problemlos akzeptiert wurde. Obwohl es einiges an Entschlossenheit von meiner Seite erforderte, dass Rolan nicht mehr vor mir zurückscheute aufgrund meiner mächtigen Familienbande, nämlich du und Enric.” Sie lachte vor sich hin, als sie sich daran erinnerte. “Ich schwöre dir, er hat Blut geschwitzt, als wir zum ersten Mal bei euch zuhause zum Abendessen eingeladen waren.”

Eryn lächelte leicht bei der Erinnerung an den Abend. “Ja, er wirkte, als wäre ihm unbehaglich zumute.”

Beide leerten ihre Gläser, und Pe’tala füllte sie wieder auf.

“Die Zeit, die du mit Ved’al verbracht hast, deine Erinnerungen an ihn, das ist etwas, das dir keine unangenehme Enthüllung wegnehmen kann, weißt du”, sagte sie dann. “Er war ebenso sehr dein Vater wie… nun, wie es unser Vater nun ist. Er hat dich großgezogen und dich zu der Person gemacht, die du heute bist.”

“Ich weiß”, seufzte Eryn. “Aber der Gedanke, dass all das eine Lüge war… Das mag recht grausam klingen, aber ich bin froh, dass er all das nie herausgefunden hat, dass er diesen Tag nicht erleben musste. Wie soll ein Mann darauf reagieren, wenn er erfährt, dass sein einziges Kind nicht von ihm, sondern von seinem Bruder ist?” Ausdruckslos starrte sie in ihre Tasse.

Sie sahen auf, als eine Gestalt neben ihrem Tisch stehenblieb. Eryns Augen wurden schmal, als sie ihn nach ein paar Augenblicken erkannte. Ram’an. Er wirkte überrascht, sie zu sehen, fing sich aber rasch wieder.

“Eryn. Pe’tala”, sagte er langsam. “Das kommt… unerwartet.”

Eryn antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an. Er sah verändert aus. Dünner, mit mehr Linien um seinen Mund und auf seiner Stirn. Es schien, als bliebe ihm in seiner Position als Oberhaupt eines Hauses nicht viel Zeit für sich selbst. Oder zum Schlafen.

“Ram’an”, antwortete Pe’tala höflich, ohne aufzustehen. “Auf die Gefahr hin, unfreundlich zu wirken – würde es dir etwas ausmachen, uns für den Moment alleinzulassen? Wir führen hier ein sehr persönliches Gespräch und würden etwas Ungestörtheit schätzen. Ich bin sicher, wir werden einander bald wiedersehen. Entweder Malriel oder mein Vater werden sehr wahrscheinlich ein Willkommensessen veranstalten.”

Er blinzelte, dann nickte er. “Aber natürlich. Und ja, die Einladungen wurden bereits verschickt. Dann sehe ich euch also in zwei Tagen.” Eryn bemerkte seinen raschen Blick auf ihren Bauch, bevor er sich abwandte und auf eine Gruppe aus Kissen am anderen Ende des Teehauses zuging. Also hatte er offensichtlich von ihrer Schwangerschaft gehört. Gut so.

“Und ich dachte schon, dieser Tag könnte nicht noch unangenehmer werden”, murmelte sie und versuchte zu ignorieren, dass er noch immer nahe genug war, dass eine Drehung ihres Kopfes reichte, um ihn zu sehen.

Pe’tala blickte gezielt auf das Armkettchen an ihrem Handgelenk. “Ich hatte den Eindruck, dass ihr als Freunde voneinander geschieden seid?”

Eryn nickte und spielte mit dem Schmuckstück. “Das hatte ich auch gedacht. Aber unsere Korrespondenz war am Anfang frostig und ist nach einer Weile vollkommen abgebrochen.” Sie zuckte mit den Schultern. “Allerdings bereitet mir das nach dem, was ich heute erfahren habe, keine großen Sorgen mehr.”

“Ladies”, erklang Vran’els Stimme hinter ihnen.

Pe’tala seufzte und drehte sich um. “Das war keine halbe Stunde, Vran.”

Er zuckte die Achseln und quetschte sich zwischen sie. “Das macht nichts. Ich dachte mir, dass es besser wäre, euch durch mein verfrühtes Auftauchen zu verstimmen als voller Sorge zuhause zu warten.” Er hob einen Finger, um dem Servierer zu signalisieren, er möge eine weitere Tasse bringen. Dann sah er sie beide abwechselnd an. “So. Tala, mein Schatz, ich weiß, dass du schon eine Weile davon gewusst haben musst. Und Eryn, meine Liebe, ich verstehe, weshalb das für dich nicht eben ein tröstlicher Beginn für deinen Aufenthalt hier war. Aber ich muss sagen, dass ich sehr erfreut bin, dass ihr beide es offenkundig geschafft habt, gut genug miteinander auszukommen, um füreinander da zu sein, wenn es Probleme gibt.” Er griff nach Pe’talas Glas und leerte es. “Und wenngleich diese Sache im Moment wie schlechte Nachrichten und ein Schock erscheinen mögen, so…”

“Vran?”, unterbrach ihn Pe’tala, “Halt einfach die Klappe, ja?”

Eryn verdrehte die Augen. “Du hattest Recht. Viel zu heiter. Entsetzlich.”

“Was?”, fragte er verdutzt.

“Wir sind noch immer beim schmerzhaften Teil, wo wir unsere Gedanken austauschen, weshalb wir über Valrad verärgert sind”, erklärte Eryn.

“Verärgert?” Seine Verwirrung verstärkte sich. “Weshalb solltet ihr verärgert über ihn sein? Was würde das ändern?”

“Meine Güte”, seufzte Pe’tala. “Kannst du nicht einfach wieder gehen? Dieses Gespräch verlief wesentlich sinnvoller vor deiner Ankunft.”

Vran’el nahm ein Glas vom Servierer entgegen und schüttelte den Kopf. “Sicher nicht! Mir scheint, als benötigt ihr hier dringend ein wenig positiven Einfluss.”

“Versuch jetzt bloß nicht, mir gegenüber positiv zu sein”, knurrte Eryn. “Wenn du mir etwas Nettes mitteilen willst, dann sag mir, dass niemand außer uns jemals von diesem jüngsten Familiendrama erfahren wird.” Sie beobachtete, wie Vran’els Miene plötzlich betont ausdruckslos wurde. “Vran’el? Warum habe ich das Gefühl, dass du mir gleich etwas sagst, das mir überhaupt nicht gefallen wird?”

Er räusperte sich, dann füllte er mit übertriebener Sorgfalt sein Glas aus der Kanne auf dem Tisch nach, eindeutig, um Zeit zu schinden.

“Vran’el!”, bellte sie. “Hör auf herumzuspielen und sprich mit mir! Wer außer uns weiß sonst noch davon?”

“Bislang niemand”, sagte er langsam. “Aber du erinnerst dich sicherlich, dass Männer, die in Haus Vel’kim hineingeboren werden, für ihre Hingabe und Zuneigung, was ihre Nachkommen betrifft, bekannt sind?”

Sie nickte und bedeutete ihm fortzufahren.

“Vater plant, dich bei der nächsten Senatsversammlung als seine leibliche Tochter anzuerkennen, zusätzlich zu seinem Status als dein rechtlicher Elternteil.”

“Was?” Eryn starrte ihn an, ihr Mund sperrangelweit offen. “Du musst ihn aufhalten! Das wird für keinen von uns gut aussehen!”

Vran’el bedachte sie mit einer Miene, die sie als sein Juristengesicht kennengelernt hatte: geringfügig nachsichtig mit einem Hauch von ehrwürdiger Überlegenheit. “Ich fürchte, ich kann deinem Wunsch in dieser Angelegenheit nicht entsprechen. Er nähme es nicht gut auf, würde ich mich in dieser Sache ungebeten einmischen. Und er hat Recht, es ist nur korrekt und angemessen, dass er für seine Taten öffentlich Verantwortung übernimmt.”

“Ihr seid beide irre geworden!”, rief sie aus. “Ich bin dagegen!”

“Siehst du, er ist das Oberhaupt deines Hauses. Wenn er also entschlossen ist, das zu tun, sind deine Einwände eher nutzlos, fürchte ich”, meinte er schulterzuckend.

“Was ist mit Malriel? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so einer Sache zustimmt”, wandte Eryn eindringlich ein. “Sie kann und wird ihn aufhalten, oder etwa nicht?”

“Nein, Herzblatt, sie wird es nicht einmal versuchen”, seufzte er. “Aren Frauen sind ein streitsüchtiger Haufen, aber sie sind nicht dumm und vermeiden es, sich auf einen Kampf einzulassen, wenn sie wissen, dass sie ihn nicht gewinnen können. Lehn dich also wieder zurück und trink noch ein Glas Tee; du kannst nicht verhindern, was in zwei Tagen passieren wird. Du kannst dir das Ganze allerdings ansehen. Senatsversammlungen sind die meiste Zeit über öffentlich zugänglich, wie du dich sicher erinnerst.”

“Ich will nicht, dass irgendjemand davon erfährt! Warum ist er so begierig darauf, seine Schande mit der Welt zu teilen? Welcher Mann tut so etwas?”, stöhnte sie.

“Einer, der es nicht als Schande, sondern als Privileg betrachtet, mit einer weiteren Tochter beschenkt zu werden, würde ich meinen”, erwiderte er milde. “Eine Haltung, die ich teile.” Er ergriff Pe’talas Hand und drückte sie. “Eine Schwester war bisher ein Segen, und eine zweite ist nun sogar ein noch größerer.” Er setzte dazu an, auch ihre Hand zu ergreifen, aber sie wich ihm aus.

“Nicht”, zischte sie, “hör auf! Du verstehst wirklich nicht, weshalb mich das aufregt, oder? Für dich sind wir einfach nur eine große, glückliche Familie, wo sich nichts verändert hat, da ich ohnehin in euer Haus adoptiert wurde?”

“Eryn”, beschwor er sie, “wir haben dich geliebt, bevor wir davon erfuhren, und das tun wir noch immer. Du hast einen Vater verloren, als du noch ein Kind warst – warum siehst du nicht, welch ein Wunder es ist, dass du einen anderen gefunden hast und akzeptierst es einfach?”

“Weil diese Situation das Ergebnis aus Untreue, Lügen und Betrug ist! Wie würdest du reagieren, wenn du herausfändest, dass Obal nicht deine Tochter ist? Sag mir bloß nicht, du würdest das für gut befinden, weil deine Tochter mit einem weiteren Vater gesegnet wäre!”

Er zog eine Braue hoch. “Das ist wohl kaum ein angemessener Vergleich. Ich bin immerhin noch am Leben. Natürlich wäre ich darüber nicht erfreut. Aber Ved’al ist bereits seit langer Zeit tot, und somit ist niemand mehr da, der darunter leiden könnte.”

“Ich leide darunter, verdammt!”, fauchte sie. “Ich will einfach nur etwas Zeit, um mich an diesen Alptraum zu gewöhnen, bevor jeder darüber redet.” Sie zwang sich, ruhig zu atmen und sich wieder zurückzulehnen. “Ich habe mich darauf gefreut, dich und deinen Vater wiederzusehen, das habe ich wirklich. Die Aussicht darauf war mehr oder weniger das einzig Positive daran, dass ich schon so bald wieder hierher herkommen musste. Und jetzt würde ich dich am liebsten erwürgen, weil du dermaßen starrköpfig in deinen Ansichten bist. Ich wünschte, ich könnte mich einen Monat lang vor Valrad verstecken! Beim bloßen Gedanken an das Abendessen, zu dem er uns heute Abend eingeladen hat, dreht sich mir der Magen um!”

“Eryn, bitte”, versuchte er es erneut, “das soll keine Bürde für dich sein. Alles, was er sich wünscht, ist die Chance, auch dir ein Vater zu sein.”

“Ich brauche keinen Vater”, schnappte sie. “Ist das so schwer zu verstehen? Ich hatte einen Vater, und der ist tot! Was ich brauche und was ich letztes Mal, als ich hier war, sehr geschätzt habe, ist ein Freund, ein Onkel, jemand, dem ich vertrauen kann! Aber das ist er nicht länger! Wie kann ich ihm jemals wieder vertrauen, nachdem ich herausgefunden habe, wie er nicht nur seinen Bruder, sondern auch seine eigene Gefährtin behandelt hat?” Sie stand auf und warf ihm einen finsteren Blick zu. “Ich habe nicht die Absicht, ihm als seine große Chance zur Wiedergutmachung seiner Taten von damals zu dienen. Ich brauche ihn nicht – ich will einfach nur meine Ruhe.”

Ihr Blick landete auf Ram’an, der sie von seiner entfernten Ecke des großen Zelts aus interessiert beobachtete. Ihre Augen verengten sich. Diese Gelegenheit war so gut wie jede andere. Sie nestelte an ihrem Armband herum, bis sie es geöffnet hatte, marschierte auf ihn zu und schleuderte es in seinen Schoß.

“Hier. Ich will es nicht mehr. Es sieht so aus, als hätten du und ich sehr unterschiedliche Vorstellungen von Freundschaft. Du hast deine Seite nicht erfüllt, und ich habe es satt, darauf zu warten, dass du zur Besinnung kommst. Hören wir doch damit auf, uns zu verstellen. Enric ist bestrebt, deinem Haus wieder auf die Beine zu helfen; du brauchst mich nicht dafür, um öffentlich zu demonstrieren, welch dicke Freunde unsere Häuser sind.”

Er blinzelte und schickte sich an aufzustehen, hielt aber inne, als sie herumwirbelte und davonstapfte.

Vran’el setzte ebenfalls dazu an, sich zu erheben und ihr zu folgen, aber Pe’tala seufzte und hielt seinen Ärmel fest, um ihn zurückzuziehen. “Lass sie gehen. Du hast gerade all meine Bemühungen zunichtegemacht, und zwar so richtig. Überdies muss ich sagen, dass ich manchen Dingen, die du von dir gegeben hast, nicht zustimme. Das ist kein Anlass zur Freude, sondern ein mächtiger Schock. Und anders als wir beide hatte sie noch keine Zeit, sich daran zu gewöhnen. Versuch beim nächsten Mal, etwas rücksichtsvoller zu sein.”

Er starrte seine Schwester an. Von ihr anlässlich eines Mangels an Mitgefühls gescholten zu werden passierte nicht oft. Üblicherweise war es umgekehrt. Er hob seine Hände und ließ sie dann hilflos wieder sinken.

“Ich wollte ihr nur zeigen, dass sie willkommen ist, dass sie bei uns ein Zuhause hat. Dass sie eine von uns ist”, sagte er, seine Miene verblüfft. “Es scheint, als hätte ich das ziemlich vermasselt.”

“Wenn man bedenkt, dass sie gerade aufgesprungen und davongelaufen ist, dann kann man das wohl behaupten, ja”, bemerkte sie mit scharfer Zunge.

“Wo bleibt die Rücksichtnahme, wegen der du mich gerade gemaßregelt hast?”, knurrte er.

Sie wollte soeben darauf antworten, schloss aber ihren Mund wieder, als sie sah, dass Ram’an langsam auf sie zukam. Sein Blick war auf das silberne Armband in seiner Hand, das Eryn ihm gerade entgegengeworfen hatte, gerichtet. Mit gerunzelter Stirn blieb er vor ihnen stehen.

“Was ist los?”, fragte er schlicht.

“Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr derzeit miteinander redet, also bin ich nicht der Ansicht, dass dir eine Antwort zusteht”, antwortete Pe’tala kühl, seufzte aber, als sie die Sorge auf seinem Gesicht sah. “Sieh einfach nur zu, dass du die nächste Senatsversammlung nicht versäumst. Das sollte deine Frage ausreichend beantworten.” Sie ließ ihren Blick an ihm auf- und abwandern. “Und du solltest hin und wieder auch einmal schlafen und deine Ernährungsgewohnheiten überdenken. Du siehst furchtbar aus. Das war ein professioneller, kostenloser Rat von deiner freundlichen Heilerin aus der Nachbarschaft.” Dann erhob sie sich und ließ einen halben Goldstreifen auf den Tisch fallen, um den Tee zu bezahlen. “Wenn ihr mich nun entschuldigt, ich muss sicherstellen, dass Eryn unbeschadet bei der Botschafterresidenz ankommt, oder Enric wird mir das Fell über die Ohren ziehen. Dass er nicht länger an die Einschränkungen gebunden ist, die der Orden seinen Magiern auferlegt, macht ihn nicht gerade weniger gefährlich.”

Ram’an blickte ihr nach, als sie davonging, dann sah er auf Vran’el hinab, der ebenfalls nicht besonders glücklich wirkte.

“Weißt du”, sagte er langsam, “die beiden friedlich beieinander sitzen zu sehen war kein Anblick, den ich in naher Zukunft erwartet hätte. Dass deine Ankunft zu irgendeiner Art von Eskalation führen könnte, war der nächste Schock. Aber dass Eryn wütend auf mich ist, während Pe’tala mich wie ein menschliches Wesen behandelt, wirft mich komplett aus der Bahn. Ich weiß nicht, was in Haus Vel’kim vor sich geht, aber ich bin fest entschlossen, die Senatsversammlung in zwei Tagen zu besuchen. Außer du verspürst den Wunsch, dich mir mitzuteilen?”, fügte er beiläufig hinzu.

Vran’el schüttelte den Kopf. “Nein. Ich kann nicht. Du wirst warten müssen, so wie auch alle anderen.”

Ram’an nickte langsam. “Also gut – das respektiere ich selbstverständlich. Solltest du deine Meinung ändern, wartet bei mir zuhause stets eine Flasche Wein.”

Vran’el lächelte dünn. “Du bist schamlos.”

“Und du bist besorgt, und das ist etwas, das ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Lass mir eine Nachricht zukommen, wenn ich etwas tun kann.”

“Danke. Ich schätze das Angebot, auch wenn ich es derzeit nicht annehmen kann.” Er stand auf. “Schönen Tag noch, Ram’an.”

Ram’an sah zu, wie der Erbe von Haus Vel’kim in Richtung seiner Residenz davonging. Das war interessant. Pe’tala war Eryn gefolgt, er aber nicht. In welchen Schwierigkeiten sie auch immer steckten, es schien sich dabei um etwas Gröberes zu handeln.

 

Kapitel 2

Konfrontation mit Valrad

Enric kämpfte gegen den Drang an, im Hauptraum der Botschafterresidenz auf und ab zu schreiten. Stattdessen stand er vor einem der großen Fenster und sah hinaus. Unglücklicherweise gewährte es ihm keinen Ausblick auf die Straße, sondern auf den begrünten Innenhof mit seinen Obstbäumen und dekorativen Sträuchern. Der Anblick war erheblich angenehmer als die staubigen Straßen, besonders während des Tages, doch seine Bedenken waren im Augenblick kaum ästhetischer Natur.

Er wusste, dass Eryn bei Pe’tala und Vran’el war, also gab es keinen Grund zur Sorge. Theoretisch. Sie würde sich wohl kaum irgendwelchen Ärger einhandeln. Doch der Gedanke, sie so unglücklich ganz ohne ihn irgendwo dort draußen zu wissen, beunruhigte ihn.

Kilan und Orrin saßen beide auf den Kissen auf dem Boden in der Mitte des Raumes und beobachteten ihn. Er hatte ihnen allen die Nachricht nach seiner Ankunft vor weniger als einer halben Stunde mitgeteilt. Junar hatte sich sofort zu sorgen begonnen und war drauf und dran gewesen, sich auf die Suche nach Eryn zu machen, ungeachtet dessen, dass sie die Stadt nicht kannte und es die heißeste Zeit des Tages war. Vern hatte es geschafft, sie zu überzeugen, dass Eryn in guten Händen war und sie dann in ihr Schlafzimmer begleitet, damit sie sich ausruhen konnte. Womöglich mit einem sanften Magieschub, um ihre Anspannung zu lösen.

Enric sah auf sein Handgelenk hinab und bemerkte erleichtert, dass sich die Symbole darauf zu verdunkeln begannen. Das bedeutete, dass sie sich der Residenz näherte. Endlich.

Nur Minuten später hörte er, wie die Tür im unteren Stockwerk geöffnet. Er eilte zu den Stufen und sah Eryn und Pe’tala eintreten. Er ermahnte sich, dass es wenig hilfreich wäre, wenn er nervös und besorgt wirkte. Daher wartete er oben an der Treppe auf sie anstatt ihnen einem ersten Impuls folgend entgegenzustürmen.

Als beide Frauen bei ihm angekommen waren, zog er seine Gefährtin in eine zärtliche Umarmung, küsste sie auf die Schläfe und hielt sie fest, bis sie sich kurz darauf befreite.

“Wein”, murmelte sie. Enric sah Pe’tala fragend an, und sie nickte.

“Ein Glas. Nicht mehr”, stimmte sie zu, bevor sie sich zu den beiden Männern setzte. “Und etwas Gehaltvolleres für mich, wenn du so gut wärst.”

Kilan setzte dazu an aufzustehen, aber sie rollte mit den Augen. “Bleib sitzen, Kilan. Der große und mächtige Lord wird es sicher hinbekommen, mir ohne deine Hilfe etwas zu trinken zu servieren. Ich habe ihn schon dabei beobachtet. Er ist recht gut darin, wenn man bedenkt, dass er ein reicher Barbar ist, der es nicht einmal vermochte, sich selbst zu verköstigen, als er das erste Mal hierherkam.”

Enric schenkte ihr ein Glas ein und lächelte in sich hinein. Diese Frau hatte ein Talent dafür, angespannte Situationen aufzulockern, indem sie sich über jemanden lustig machte. Oder solche Situationen auszulösen, indem sie genau das tat – wie auch immer man es betrachten wollte.

Er drückte Eryn ein Glas süßen Weins in eine Hand und ergriff ihre andere, um sie mit sich zu den Sitzkissen zu ziehen. Jetzt, wo sie wieder an seiner Seite war, war ihm wesentlich wohler zumute.

“Hat er euch schon über das neueste Drama informiert?”, fragte Pe’tala die Männer, während sie das Glas von Enric entgegennahm.

Orrin nickte und klopfte auf den Platz neben sich, damit Eryn sich zu ihm setzte. Er legte ihr einen starken Arm um die Schultern und zog sie an sich, um ihr einen Kuss auf die Schläfe zu drücken, genau wie ihr Gefährte es davor getan hatte.

Pe’tala seufzte. “Weißt du, ich vermute stark, dass dies der Grund ist, weshalb mein Vater vorher etwas gefühllos mit dir umgegangen ist, Orrin.”

Der Krieger runzelte die Stirn. “Verzeihung?”

“Diese unkomplizierte Wärme zwischen euch, die mehr nach väterlicher Zuneigung als nach normaler Freundschaft aussieht. Du musst wissen, dass Gastfreundschaft in meiner Kultur ein ungeschriebenes Gesetz ist, eine Lebensweise. Die Art und Weise, wie er dich heute behandelt hat, war ein Bruch damit, und ich möchte dir verständlich machen, weshalb er sich so verhalten hat.”

“Das ist nicht nötig”, versicherte ihr Orrin.

Sie nahm einen großzügigen Schluck von der klaren Flüssigkeit und verzog einen Moment lang das Gesicht, während sich der Alkohol seinen Weg den Hals entlang brannte. “Oh, glaube mir, das ist es doch. Von einem Mann in seiner Stellung wird erwartet, dass er als Vorbild dient. Wenn diejenigen mit den entsprechenden Mitteln zu ihrer Verfügung keine Gastfreundlichkeit zeigen, von wem können wir es dann erwarten?”

“Was genau willst du mir damit sagen?”, erkundigte sich der Krieger mit missmutiger Miene. “Dass er eifersüchtig auf mich ist?”

“So etwas in der Art vermute ich, ja”, stimmte sie zu. “Siehst du, Kinder werden in meinem Haus als etwas ungemein Wertvolles erachtet. Vel’kim Männer sind gefragt als Väter, weil sie ihren Kindern sehr ergeben sind, auch wenn das nicht immer unbedingt auch für ihre Gefährtinnen gilt”, fügte sie düster hinzu. “Der Gedanke an eine Tochter, die ihm nicht nahe steht – die sich sogar weigert, ihn als ihren Vater anzunehmen – ist zweifellos eine immense Bürde für ihn. Und dann dich mit ihr zu sehen, wie du sie maßregelst, als ob es das Natürlichste der Welt wäre, und zu beobachten, wie sie genau wie eine starrköpfige Tochter darauf reagiert, war wahrscheinlich ein wenig zu viel für ihn.”

“Dann ersuchst du mich also darum, Abstand zu Eryn zu halten, solange dein Vater in der Nähe ist?”, fragte er ruhig, sein Blick ausdruckslos.

“Nein, das ist es nicht, worum ich dich ersuche. Ich würde es nicht wagen, so etwas Dämliches vorzuschlagen. Ich sehe nicht, weshalb auch nur einer von euch vorgeben sollte, dass ihr einander weniger wichtig seid als es der Fall ist. Und das nur, weil mein Vater eine unrealistische Vorstellung davon hat, dass seine lang verschollene Tochter sich ihm einfach so in seine Arme werfen würde.”

Orrin entspannte sich sichtlich. “Gut. Das hätte ich nämlich nicht gut aufgenommen.”

Pe’tala lachte leise. “Ja, den Eindruck hatte ich auch. Ich bin nicht in den Kampfkünsten ausgebildet, und ich denke, dass du mir an Stärke erheblich überlegen bist. Ich versuche möglichst, dich nicht zu verärgern, wenn es sich vermeiden lässt.”

Kilan grinste. “Kluges Mädchen.”

“Ich weiß”, grinste sie zurück.

“Solche Überlegungen haben dich aber nicht davon abgehalten, Lord Tyront zu provozieren”, betonte Orrin.

“Wie ich schon sagte, ich tue es nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. An diesem Tag bei der Ratsversammlung gab es keine Möglichkeit, es zu vermeiden. Ich bin ein Verfechter des Ansatzes, Dummheit mit Missbilligung zu begegnen. Wie sonst sollen sie von ihren Fehlern lernen?”, meinte sie achselzuckend.

Enric beobachtete Eryn, wie sie in ihr Glas starrte. Abgesehen von der Bestellung ihres Getränks hatte sie kein einziges Wort geäußert. Pe’tala folgte seinem Blick, dann räusperte sie sich.

“Nun, Eryn, ich schätze, du und ich werden uns nun daran gewöhnen müssen, einander als Schwestern zu bezeichnen, ohne es wie eine Farce oder eine Beleidigung klingen zu lassen. Obwohl ich natürlich sehen kann, warum dir das schwerfallen wird. Ich bin die Jüngere, Hübschere und sehr wahrscheinlich auch die Talentiertere von uns beiden.”

Eryn blinzelte und sah auf. “Eines von drei. Nicht schlecht für den Anfang”, murmelte sie. “Aber zumindest hast du jetzt ein weibliches Vorbild, zu dem du aufblicken kannst. Womöglich schaffen wir es sogar, gemeinsam an ein paar deiner charakterlichen Defizite zu arbeiten, die hängengeblieben sind.”

Enric bedachte Pe’tala mit einem dankbaren Blick dafür, dass sie Eryn neckte, um sie aus ihrer Lethargie herauszuholen. Sie zwinkerte ihm zu.

Vern betrat den Raum, in seinen Armen seine Katze.

“Ram’an ist aufgewacht”, presste er zwischen zusammengebissenen Lippen hervor. Sein Gesicht war eine Maske des Schmerzes dank der Katzenkrallen, die sich in seine Schulter gruben. “Er ist nicht glücklich.”

Kilan schüttelte den Kopf. “Noch eine Katze. Zumindest ist die von der Größe her etwas kompakter, obwohl sie nicht gerade von der anschmiegsamen Sorte zu sein scheint.”

“Ram’an ist normalerweise sehr wohlerzogen und manierlich”, betonte Vern empört und sog scharf den Atem ein, als die Katze ihren schmerzhaften Griff verstärkte. “Jetzt gerade ist er einfach nur desorientiert und verängstigt.”

“Er ist nicht desorientiert oder verängstigt, wenn er auf meine Schuhe pinkelt”, knurrte Orrin.

“Das hat er schon seit Wochen nicht mehr getan!”, protestierte Vern. Erst jetzt schien er die beiden Frauen zu bemerken. “Oh, ihr seid zurück.” Sein Blick fiel auf das Weinglas in Eryns Hand. Entschlossen setzte er die protestierende Katze ab und ging zu ihr, um es ihrem Griff zu entziehen.

“Bist du verrückt geworden? Das ist nicht gut für dein Kind!” Er wandte sich Pe’tala zu. “Und du siehst einfach nur zu anstatt einzugreifen!”, rief er vorwurfsvoll aus.

Eryns Blick wurde streng. “Gib das zurück! Und zwar auf der Stelle! Pe’tala hat mir ein Glas gestattet, und das brauche ich wirklich dringend. Bring mich nicht dazu, es mir zurückzuholen. Das würde dir nicht gefallen.”

Wortlos griff Vern nach einem Wasserkrug vom Tisch und verdünnte den Wein, bevor er ihn zurückreichte.

“Nervensäge”, murmelte sie, nahm das Glas aber entgegen.

Vern nahm neben Pe’tala Platz. “So, dann seid ihr zwei also wirklich Schwestern. Das ist keine besonders große Überraschung, wenn ihr mich fragt. Fieses Temperament, sarkastisch…” Er schwieg, als ihm beide Frauen böse Blicke zuwarfen.

Sie wandten sich um, als sie das plötzliche Fauchen der Katze vernahmen.

“Ah ja”, seufzte Enric und erhob sich. “Urban ist endlich erwacht. Jetzt werden wir also sehen, wie sich die beiden vertragen. “Versucht euch nicht zu viel zu bewegen, das könnte sie erschrecken. Ich werde Urban lähmen, falls sie zu dem Schluss gelangt, dass Ram’an gerade die richtige Größe für ein Häppchen zwischendurch hat.”

Die Bergkatze schlich in den Hauptraum, beschwerte sich lauthals und ignorierte den kleinen roten Kater vollständig, obwohl er weiterhin fauchte und knurrte.

“Deine Katze ist nicht besonders angetan davon, wieder zurück in Takhan zu sein, was?”, kommentierte Kilan.

Enric schüttelte den Kopf. “So scheint es wohl. Wahrscheinlich erinnert sie sich daran, wie heiß es hier ist. Ihr üblicher Lebensraum besteht immerhin aus schattigen Wäldern. Aber zumindest zeigt sie soweit keinerlei räuberische Absichten gegenüber Verns kleinem Freund. Noch nicht.”

Laut maulend zog Urban zwei Kreise um die Kissen, bevor sie hinter Pe’tala stehenblieb, um an ihren Haaren zu schnuppern.

“Ja, mein Mädchen”, gurrte die Frau und kraulte die haarige Wange, die sich ihr entgegenstreckte. “Ja, ich bin auch hier. Keine Sorge, Kätzchen, heute Abend kannst du durch die Gärten der Vel’kim-Residenz streichen. Und in einer Woche wirst du über die der Aren Residenz herrschen.”

“Kätzchen”, murmelte Kilan mit einem Seitenblick. “Ihre Schultern sind so hoch wie meine Knie, und sie sagt Kätzchen.”

“Du bist so schlimm wie mein Bruder Vran’el”, kicherte sie. “Seine vierjährige Tochter zeigt keinerlei Angst, während er auf Zehenspitzen herumgeht, solange die Katze in der Nähe ist.

“Das Abendessen heute”, sagte Eryn ruhig. “Ich würde lieber nicht hingehen.”

“Aber natürlich wirst du hingehen”, warf Pe’tala ein, bevor Enric antworten konnte. “Eine Aren zeigt keine Angst, und eine Vel’kim weicht keiner unangenehmen Pflicht aus. Dazwischen bleibt nicht viel Raum zum Verstecken. Besonders nicht vor meinem… unserem Vater. Er mag meist nicht danach aussehen, weil er so freundlich und harmlos wirkt, aber behalte im Hinterkopf, dass er immer noch zu den fünfzehn wichtigsten Männern in diesem Land gehört. Sollte er zu dem Schluss gelangen, dass die einzige Möglichkeit, dich zu sehen, darin besteht, dass du aus der Botschafterresidenz aus- und in sein Haus einziehst, dann liegt das durchaus in seiner Macht.”

Eryn starrte sie an. “Das würde er nicht tun!”

“Darauf würde ich mich nicht verlassen. Er ist bekannt dafür, dass er auf gewisse Maßnahmen zurückgreift, wenn er sie als angemessen erachtet. Einmal bestrafte er mich für Ungehorsam, indem er dafür sorgte, dass einen ganzen Monat lang jedes einzelne kränkliche Kind jünger als zwei Jahre, das einen Heiler benötigte, zu mir geschickt wurde. Hinterher wollte ich meinen Kopf nur noch in einem Loch im Boden vergraben und nie wieder herausziehen. Zu diesem Zeitpunkt war ich fünfzehn, und damals war es mit meiner Geduld noch nicht so weit her wie heute.”

“Ja, genau”, murmelte Vern. “Geduld ist auf jeden Fall deine am stärksten ausgeprägte Tugend…” Er zuckte zusammen, als sie ihn am Ohrläppchen zog.

“Keine Achtung für ältere Leute, mein Junge. Und das, obwohl du in diesem spießigen Orden aufgewachsen bist.”

Er hob die Schultern. “Das sei Eryns schlechter Einfluss, wurde mir gesagt.”

“Unsinn. Für diese Ausrede bist du etwas zu alt. Du bist dabei, ein Mann zu werden, also stehst du besser dazu, dass du frech und schwierig bist. Das ist besser als zu sagen, dass dein Charakter aus dem Einfluss einer älteren Frau resultiert. Zumindest, soweit es Mädchen betrifft.” Sie sah ihn nachdenklich an. “Du bist doch an Mädchen interessiert, oder?”

Schockiert starrte er sie an. “Was? Aber natürlich bin ich an Mädchen interessiert! Ich fühle mich definitiv nicht zu Jungs hingezogen!”, rief er entsetzt aus.

Ihre Augenbraue wanderte nach oben. “Du kannst dich wieder beruhigen. Ich wollte nichts in dieser Richtung andeuten, ich habe nur gefragt. Und mit deiner Reaktion auf diese Frage solltest du etwas sorgsamer sein. Mein Bruder fühlt sich zu Männern hingezogen, und im Gegensatz zu deinem Heimatland akzeptieren wir hier diese Art der persönlichen Vorliebe.”

Vern erstarrte. “Vran’el? Zu Männern?”

Enric atmete hörbar aus. “Ich sehe schon, dass wir uns mit dieser Sache etwas früher befassen hätten sollen, um dir Gelegenheit zu geben, dich an den Gedanken zu gewöhnen. Vern?” Er wartete, bis der Junge sich ihm zuwandte. “Ich betrachte Vran’el mittlerweile als Freund. Er war eine große Hilfe, als wir ihn brauchten und ist ein intelligenter und warmherziger Mann. Ich würde es nicht gut aufnehmen, wenn ich sähe, dass du ihn aufgrund seiner persönlichen Neigungen bezüglich seiner Partnerwahl respektlos behandelst. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?”

Vern nickte langsam und schluckte. “Ja, L…Enric.”

“Lenric?”, gluckste Kilan. “Es scheint, als hättest du Schwierigkeiten damit, seinen Titel wegzulassen, junger Mann.”

“Das scheinen nicht die einzigen Schwierigkeiten zu sein, in denen ich derzeit stecke”, seufzte er und beobachtete, wie seine Katze dem größeren Tier nachstellte, eindeutig verdrossen darüber, ignoriert zu werden.

* * *

Eryn atmete tief ein, als Enric an die Tür der Vel’kim Residenz klopfte. Die Sonne war am Untergehen und badete die helle Fassade in warmes, oranges Licht. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis Valrad die Tür öffnete.

Seine Augen wanderten über die Gruppe, und seine Schultern schienen sich zu entspannen, sobald er Eryn erblickte. Offensichtlich hatte er befürchtet, sie würde nicht kommen.

Sein Lächeln wuchs in die Breite, und er trat beiseite, um seine Gäste eintreten zu lassen. Fröhlich bot er ihnen eine große Schüssel mit kühlen, feuchten Handtüchern an und erkundigte sich, ob Kilan ihnen den Brauch erklärt hatte, nachdem sie in der Botschafterresidenz eingetroffen waren. Junar bestätigte es und nahm das feuchte Tuch dankbar entgegen, um sich damit über Stirn und Hals zu wischen.

Als Valrad sich Eryn zuwandte, um ihr das nächste anzubieten, wurde seine Miene besorgt.

“Guten Abend, Kind”, sagte er sanft. “Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest. Trotz des aufreibenden Tages, den du hattest.”

“Ja, sicher”, sagte sie ruhig und rieb über ihr eigenes Gesicht, ohne ihn anzusehen. Sie hielt inne, als sie seine Finger an ihrem Kinn spürte, die ihr Gesicht zu ihm anhoben.

“Du siehst blass aus, mein Mädchen”, sagte er, nachdem seine Augen über ihr Gesicht gewandert waren. “Pe’tala sagte mir, dass sie heute eine Schockreaktion bei dir heilen musste. Du wirkst noch immer nicht, als hättest du dich vollständig erholt. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich einen Blick auf dich werfe?”

Eryn zwang sich dazu, nicht vor seiner Berührung zurückzuweichen. “Ja, um ehrlich zu sein, würde es das. Da du der Grund für meine derzeitige Stimmung bist, wäre es mir lieber, wenn du nichts tätest, dass irgendeine körperliche Nähe erfordert, wenn es dir nichts ausmacht.”

Valrad presste die Lippen aufeinander und ließ seine Hand von ihrem Gesicht sinken. “Ich verstehe, dass du kaum Zeit hattest, um mit dieser neuen Situation zurechtzukommen. Ich kann warten.”

Er bot Enric, Orrin und Vern jeweils ein Handtuch und sah dann auf Urban hinab, die begonnen hatte, seine Beine zu beschnuppern.

“Sieh an, sieh an, euer Biest ist noch beträchtlich gewachsen, seit ich sie das letzte Mal sah”, bemerkte er. “Vran’el wird darüber nicht besonders erfreut sein.”

Als sich alle erfrischt hatten, erklomm er ihnen voran die Treppe und begann eine zwanglose Unterhaltung. “Das ist die typische Anordnung einer Residenz in Takhan”, erklärte er den Neuankömmlingen. “Der Eingangsbereich und die Lagerräume sind alle unten, da es dort während des Tages kühler ist. Wir sind sehr darauf bedacht, unsere Wände zu isolieren, um so viel Hitze wie nur möglich abzuhalten. Der Hauptraum befindet sich im ersten Stock, ein großes, mittig gelegenes Zimmer, das als Zentrum des Familienlebens und für soziale Zusammenkünfte dient. Die Anzahl der Korridore und Zimmer hängt vom Reichtum und den Vorlieben des Hauses ab. Unsere sind etwas weitläufiger als die meisten, da mein Großvater vor zwei Generationen einen ganzen Flügel hinzugefügt hat. Zu dieser Zeit war es noch immer üblich, dass der Großteil der Familie unter einem Dach lebt. Vom Hauptraum aus kann man die Terrasse betreten. Aufgrund der Lage im ersten Stock ist sie üblicherweise höher ausgerichtet, sodass man über Stufen in die Gärten gelangt.”

Sie erreichten die oberste Stufe, und Vern bemerkte: “Dieser kleine Tisch zwischen den Kissen ist der einzige?”

Valrad nickte. “Das ist er in der Tat. Der in Kilans Gebäude wurde speziell angefertigt gemäß Ram’ans Anweisungen, als Eryn und Enric das erste Mal hier waren. Allerdings wurde mir gesagt, dass der aktuelle Botschafter ihn heutzutage kaum noch nutzt.”

Enric nickte. “Das sagte er mir ebenfalls. Er überlegt sogar, ihn irgendwo einlagern zu lassen.”

Vran’el kam aus der Küche, in seinen Händen eine große, dampfende Schüssel. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er sie erblickte, verwandelte sich aber rasch zu einem schockierten Ausdruck.

“Eure Katze! Bitte sag mir, dass sie jetzt vollständig ausgewachsen ist?” Seine Stimme war am Rande der Panik. Urban stellte die Ohren auf und trottete auf ihn zu, woraufhin er einen Schritt nach hinten wich.

“Bleib, wo du bist, du Monster!”, befahl er und schloss die Augen, als sie seine Anweisung ignorierte und ihn stattdessen zweimal umrundete, um zuerst an seinen Beinen zu schnüffeln und dann liebevoll ihre Seite an ihm zu reiben.

Pe’tala lachte, als sie das Zimmer von der angrenzenden Küche her betrat und nahm ihm die Schüssel aus den Händen. “Gib mir das, du armseliges Exemplar von einem Mann, bevor du unser Essen auf den Boden fallen lässt und wir uns mit kalter Verpflegung zufriedengeben müssen. Geh besser und hol Eryns Gericht.”

Eryn blinzelte bei dieser Szene, die so viele vertraute Elemente enthielt, die aber in der aktuellen Kombination so seltsam erschienen. Vran’el, der sich vor Urban fürchtete, Vern, der Fragen stellte, Valrad, der die Rolle des gutmütigen Führers übernahm, Pe’talas amüsante Sticheleien. Pe’tala und Vran’el hatte sie in der Vergangenheit nicht oft gemeinsam gesehen, besonders nicht in solch entspannter Stimmung. Solange Eryn hier war, hatte sich Pe’tala von ihrem Heim ferngehalten. Sie erkannte, dass die beiden miteinander auf die gleiche Weise umgingen, wie jeder von ihnen mit ihr selbst. Wie mit Geschwistern. Sie schob den Gedanken zur Seite und sah in Valrads Richtung. Es schien, als hätte er sie gerade angesprochen.

“Ich habe gefragt, ob ich dir etwas zu trinken bringen kann, Eryn.”

“Saft, danke”, antwortete sie und folgte Enric zu den Kissen, um sich hinzusetzen.

Orrin half Junar, sich neben ihr niederzulassen.

“Also, das ist ja alles recht gemütlich und so”, seufzte Junar, “aber das Hinsetzen und Aufstehen ist mit meinem Umfang doch eine Herausforderung.”

Eryn lächelte, fest entschlossen, den anderen den Abend nicht zu verderben. “Aber zumindest sieht es drollig aus, falls dich das tröstet.”

“Das tut es nicht, und ich freue mich schon darauf, dich in ein paar Monaten auszulachen”, erwiderte ihre Freundin.

Vran’el kehrte mit einer kleineren Schüssel aus der Küche zurück und platzierte sie in der Mitte des Tisches neben der größeren. Dann bedeutete er Enric, zur Seite zu rutschen, damit er neben Eryn sitzen konnte.

“Herzblatt, ich möchte mich für heute entschuldigen. Ich scheine es fertiggebracht zu haben, dir eine schwierige Situation noch weiter zu verschlimmern. Es tut mir leid. Wirst du einem Narren verzeihen, der zu sehr in seiner eigenen Welt gefangen war, um Rücksicht auf deine Gefühle zu nehmen?”

Sie lächelte, als er seine Stirn gegen ihre lehnte. “Das werde ich. Vorausgesetzt, dass du uns ein halbwegs anständiges Mal bereitet hast, versteht sich. Essen ist bei mir in letzter Zeit ein großes Thema.”

Er lachte. “Dann habe ich nichts zu befürchten. Du weißt, wie selbstbewusst ich bin, wenn es um das Kochen geht. Ich war besonders vorsichtig beim Würzen der Gerichte. Ich erinnere mich noch von Intreas Schwangerschaft her, dass ihr Magen empfindlicher war als vorher.”

Als sich Vran’el wieder zurücklehnte, um ihre Schüssel zu füllen, bemerkte sie, wie Vern sie mit einem ungehaltenen Stirnrunzeln betrachtete. Fragend zog sie eine Augenbraue hoch und seufzte, als er rasch wegsah. Sie war nicht in der Stimmung, sich mit irgendwelchen anderen Sorgen als ihren eigenen zu befassen. Das musste bis später warten.

Sie lehnte sich vor, um die Wasserschüssel zum Händewaschen zu benutzen, dann schob sie sie weiter zu Junar.

Sobald alle bereit waren, ihr Mal zu beginnen, beobachtete Vran’el, wie sie ihre Schüsseln aufhoben und wartete, bis der letzte von ihnen den ersten Bissen geschluckt hatte, so wie es von einem guten Gastgeber erwartet wurde. Dann begann er ebenfalls zu essen.

“Was sagst du, kleine Schwester? Habe ich zu viel versprochen?”, erkundigte er sich dann und seufzte, als sie bei der Anrede zusammenzuckte. “Daran solltest du dich besser rasch gewöhnen, Eryn. Ich habe die Absicht, dich regelmäßig so anzusprechen.”

Ihr Lächeln wirkte etwas angestrengt, als sie antwortete: “Ich würde Pe’tala nicht ihres Kosenamens berauben wollen, also warum benutzt du nicht einfach meinen Namen?”

Pe’tala schnaubte. “Keine Sorge meinetwegen. Er hat damit begonnen, mich Baby-Schwester zu nennen. Ist das zu fassen? Ich musste fünfundzwanzig Jahre alt werden um herauszufinden, dass ich nicht nur die Jüngere von zwei, sondern die Jüngste von drei bin, und das erste, was diesem Unmenschen von einem Bruder einfällt, ist, mich als Baby zu bezeichnen.”

“Weshalb beschwerst du dich?”, grinste Vran’el. “Immerhin passt es endlich zu deinem Benehmen.”

“Großartig”, seufzte Eryn und verspürte Unbehagen ob dieser natürlichen Akzeptanz der Tatsache, dass sie einfach so ein weiteres Familienmitglied dazubekommen hatten. “Wie nett von euch, euren Gästen eine Vorstellung der Vel’kim Geschwister des Verderbens angedeihen zu lassen.”

Die Bezeichnung brachte Pe’tala zum Lachen, und Vran’el grinste. “Vel’kim Geschwister des Verderbens. Gefällt mir. Du weißt aber, dass dich das ebenfalls miteinschließt?”

“Kinder”, schalt Valrad, “versucht euch zu benehmen. Wir haben Gäste, und ich fürchte, ihr vermittelt ihnen keinen besonders guten Eindruck.”

Enric lächelte. “Keine Sorge, sie kennen Eryn nun schon seit einer Weile und sind einiges gewohnt.”

Orrin nickte. “Ja. Vor nicht allzu langer Zeit verspeiste sie ihr Frühstück in meinem Bett und verteilte überall Krümel.”

Enric sah, wie sich Valrads Lippen leicht verspannten. Das war das einzige äußerliche Anzeichen seiner Betroffenheit über dieses weitere Beispiel darüber, wie nahe dieser Mann seiner Tochter stand.

“Nun, dann iss doch einfach als Gegenleistung dein Frühstück in ihrem Bett”, meinte Pe’tala mit einem Schulterzucken.

“Das gestaltet sich etwas schwierig”, scherzte er. “Ihr Bett ist immerhin auch das Bett meines Vorgesetzten.”

Eryn lächelte. “So ein Pech aber auch, was, Orrin?”

“Du warte nur. Wenn deine Schonzeit in ein paar Monaten vorbei ist, bist du mir wieder für dein Kampftraining ausgeliefert”, erwiderte er.

Pe’tala kaute nachdenklich, dann sagte sie: “Ich habe überlegt, ebenfalls Kampfstunden zu nehmen.”

Mehrere erstaunte Augenpaare konzentrierten sich auf sie.

“Was ist? An einem Ort, wo jeder sonst mit dem Schwert umgehen kann, bin ich die einzige Magierin, die es nicht kann”, erklärte sie und grinste, als sie hinzufügte: “Und mir hat sehr gut gefallen, wie Eryn heute mit der Königin der Dunkelheit verfahren ist. Ich habe es genossen, als sie in den Fluss getreten wurde. Das war sozusagen ein künstlerischer Akt. Das hat mich sehr beeindruckt.”

“Ein künstlerischer Akt?”, meinte Valrad mit einem missbilligenden Stirnrunzeln. “Ich denke nicht, dass eine derartige Glorifizierung von Gewalt eine angemessene Haltung für eine Heilerin ist, Tala. Und ich bin nicht damit einverstanden, dass du dies erlernen möchtest.” Sein Blick ruhte kurz auf Eryn, um eindeutig zu vermitteln, dass er alles andere als glücklich damit war, dass ihr dies aufgebürdet wurde und sie ihr Training fortsetzen würde müssen.

Orrin wechselte einen wissenden Blick mit Enric und setzte sein Mahl fort.

Pe’tala stellte ihre leere Schüssel sorgsam auf dem Tisch ab und sagte sanft: “Ich bin eine erwachsene Frau, Vater. Wenn ich mich entschließe, mir eine Fertigkeit anzueignen, die mir ermöglicht, mich besser an die Gebräuche des Ortes anzupassen, an dem ich mich eine Zeit lang aufhalte, dann werde ich genau das tun. Unabhängig davon, ob du zustimmst. Ich würde Orrin fragen, ob er willens wäre, mich zu unterrichten, doch da du ihn bislang nicht besonders freundlich behandelt hast, werde ich das wohl nicht in deiner Gegenwart tun.” Zum Ende hin war ihre Stimme merklich abgekühlt.

Valrad schloss einen Moment lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, war seine Miene zu der üblichen Ruhe und Gelassenheit zurückgekehrt.

“Lass uns dies zu einem anderen Zeitpunkt besprechen, Tala”, sagte er milde. Er wandte sich Vern zu. “Möchtest du mich morgen in die Klinik begleiten, junger Mann? Es gibt da ein paar Leute, denen ich dich gerne vorstellen würde, darunter auch der Mann, der dich ersucht hat, die Illustrationen für sein Buch anzufertigen.”

Vern lächelte und nickte eifrig. “Das wäre fabelhaft, gerne!”

Dann sah er Eryn an. “Und du, Eryn? Wirst du uns begleiten? Iklan und Sarol fragen mich immer wieder, wann du vorbeikommen wirst”, fragte er vorsichtig.

Eryn schüttelte den Kopf. “Nicht morgen, nein. Es gibt da die eine oder andere Sache, um die ich mich morgen kümmern möchte.” Sich zum Beispiel an einem ruhigen Ort einzuschließen, ohne irgendjemanden von ihnen sehen zu müssen. “Ich werde später vorbeikommen. Ich kenne mich dort ja aus. Aber danke der Nachfrage”, fügte sie höflich hinzu. In seinen Augen konnte sie sehen, dass dies den Stich nicht linderte, dass sie ihm gesagt hatte, sie würde die Klinik bald genug aufsuchen, aber nicht mit ihm.

Vern stellte seine Schüssel sorgsam auf dem Tisch ab, sein Gebaren seltsam unbeholfen.

Enric sah ihn an und musste ein Grinsen unterdrücken. Er wartete darauf, dass man ihn fragte, ob er noch einen Nachschlag wollte, bestrebt allerdings, genau diesen Eindruck zu vermeiden.

Glücklicherweise war Vran’el ein rücksichtsvoller Gastgeber. “Darf ich dir noch eine Portion anbieten, Vern?”

Der Junge gab vor, über die Frage nachzudenken, bevor er langsam nickte. “Danke, das wäre nett.”

Vran’el füllte die Schüssel erneut und reichte sie Vern. Leichte Falten bildeten sich zwischen seinen Augen, als der Junge den Blickkontakt mit ihm vermied.

Als Vern fertig war, richtete sich Eryn auf. Jetzt, wo das Essen vorbei war, konnte sie weniger angenehme Angelegenheiten zur Sprache bringen. Nun, noch weniger angenehme. Der Abend war schon bislang nicht eben glatt verlaufen.

“Ich habe von deiner Absicht erfahren, in zwei Tagen vor dem Senat eine offizielle Erklärung abzugeben”, wandte sie sich an Valrad.

Er wappnete sich sichtlich und nickte. “Ja?”

Sie ermahnte sich zur Achtsamkeit. Es wie eine Forderung zu formulieren würde ihn kaum dazu bewegen, in ihrem Sinne zu reagieren. Es musste eine Bitte sein.

“Ich fühle mich damit nicht wohl. Ich würde dich ersuchen, diese Sache vorläufig für dich zu behalten.”

Valrads Augen wanderten über ihr Gesicht, dann schüttelte er langsam den Kopf. “Nein, Eryn. Ich fürchte, das kann ich nicht tun. Ich werde diese Angelegenheit bei der nächsten Senatsversammlung öffentlich bekannt machen. Von da an wirst du nicht nur im rechtlichen Sinn, sondern auch als meine leibliche Tochter anerkannt werden. Das ist die richtige Vorgehensweise.”

Eryn atmete aus. Sie hatte wirklich gehofft, dass er ihrer Bitte Folge leisten würde, also lösten seine Worte Ärger und Frustration in ihr aus. Sie fing Enrics warnenden Blick auf. Offenbar spürte er dies durch das Geistesband.

“Valrad”, sprach sie in ihrem vernünftigsten Tonfall. “Ich schätze deine sehr verantwortungsbewusste und ehrliche Herangehensweise im Umgang mit dem, was sich ergeben hat, doch es gibt ein paar Erwägungen, die Haus Vel’kim zum Schaden gereichen könnten.”

“Und welche wären das?”, fragte er sanft.

“Das würde ein schlechtes Licht auf dich als gegenwärtiges Oberhaupt des Hauses werfen, auf deinen Bruder, der damit als nichtsahnender, betrogener Gefährte dasteht, und schlussendlich auch auf mich als meines eigenen Onkels…” Sie brach rechtzeitig ab, bevor sie etwas von sich gegeben hätte, das auf jeden Fall als Beleidigung aufgefasst worden wäre.

“Deines eigenen Onkels was?”, fragte Valrad leise, aber sein Blick war stechend geworden.

Sie starrte in seine braunen Augen. Braun. Wie die von Ved’al. Der Bruder, den er so kaltherzig betrogen hatte, indem er sich einer körperlichen Beziehung mit seiner Gefährtin hingegeben hatte.

“Bastard”, sagte sie langsam und verspürte dunkle Genugtuung über den aufflackernden Schmerz in seinen Augen. “Meines eigenen Onkels Bastard. Ist es das, was du der Welt mitteilen willst, Valrad? Dass du nicht nur ein fürchterlicher Bruder und untreuer Gefährte warst, sondern auch ein nachlässiger Heiler, der es nicht geschafft hat, eine ungeplante Schwangerschaft zu verhindern?” Sie sah, wie Pe’tala kurz ihre Augen schloss und sie dann wieder öffnete, um ihr einen finsteren Blick zuzuwerfen. Ganz eindeutig schätzte sie es überhaupt nicht, dass ihre eigenen Worte dazu verwendet wurden, ihrem Vater auf diese Weise Schmerz zuzufügen.

“Achte auf deine Worte, mein Mädchen”, knurrte Valrad.

Eryn sprang von ihrem Platz auf, ihre Hände zu Fäusten geballt. “Ich bin nicht dein Mädchen! Von dir brauche ich mir nichts vorschreiben zu lassen!”

Valrad stand ebenfalls auf. “Damit liegst du falsch”, erwiderte er streng. “Ich bin das Oberhaupt deines Hauses, das allein verpflichtet dich, auf mich zu hören. Und ich bin dein Vater, ganz egal, wie ungehalten du darüber momentan sein magst.”

“Du bist nicht mein Vater”, zischte sie. “Ved’al war mein Vater! Dein Abenteuer zwischen den Laken mit Malriel macht keinerlei Unterschied für mich! Deine Schuldgefühle und fehlgeleiteten Wiedergutmachungsversuche kümmern mich nicht! Wenn du etwas Gutes tun willst, behalte diese ganze Sache für dich, anstatt uns alle der Lächerlichkeit preiszugeben!”

“Wenn das Bekanntwerden der Tatsache, dass du meine Tochter bist, für dich eine Frage der Lächerlichkeit ist, dann fürchte ich, wirst du lernen müssen, damit zu leben”, entgegnete Valrad verärgert. Seine Stimme war ruhig, doch das pulsierende Blutgefäß an seinem Hals zeugte von dem Aufruhr in seinem Inneren.

Pe’tala und Enric sprangen gleichzeitig auf.

“Eryn und ich werden einen Spaziergang im Garten unternehmen”, verkündete Enric und zog sie mit sich, zerrte sie halb zur Terrassentür hinaus und weit genug fort, damit sie außer Hörweite waren.

Er wollte sie zurechtweisen, doch als sie schwer atmend vor ihm stand und aussah, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, seufzte er einfach nur resigniert und zog sie an sich.

Ihr Gesicht in seiner Schulter vergraben, atmete sie seinen Duft ein, spürte, wie die Nähe zu ihm sie tröstete und beruhigte.

“Ich will nach Hause”, flüsterte sie.

“Ich weiß”, antwortete er, während er Malriel und den König im Stillen verfluchte, weil er ihrem Wunsch nicht nachkommen konnte.

“Ich will dort nicht wieder hinein”, sagte sie daraufhin und sah zu ihm auf.

Er seufzte. “Ich fürchte, wir müssen. Wir können jetzt schlecht gehen. Das alles ist schon unangenehm genug für Junar, Orrin und Vern. Wir sollten sie an ihrem ersten Abend in einem fremden Land nicht einfach sitzenlassen.”

Müde nickte sie. “Also gut. Dann bringen wir das hinter uns. Lass uns nicht länger als nötig bleiben, in Ordnung?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, nur noch eine Stunde, dann können wir uns verabschieden, ohne Anlass zur Verärgerung zu geben.”

Sie lachte, ihr Ton leicht hysterisch, als sie erwiderte: “Ja, verärgern wollen wir definitiv niemanden, nicht wahr?”

Als sie zum Hauptraum zurückkehrten, waren Valrad und Vern verschwunden.

“Vater zeigt Vern gerade seine Bibliothek”, erklärte Vran’el.

“Ja”, fügte Pe’tala hinzu, “um euch beiden Gelegenheit zu geben, euch zu beruhigen.”

“Ich bin ruhig”, sagte Eryn kalt.

“Sicher, das kann ich sehen”, bemerkte ihre Schwester säuerlich. “Ruhe geht in sanften, beruhigenden Wogen von dir aus.”

“Ach, halt die Klappe.”

Enric drängte sie dazu, sich wieder hinzusetzen und ein paar Schlucke von ihrem Saft zu nehmen.

“Vran’el?”, fragte sie dann.

“Ja, Herzblatt?”, fragte er vorsichtig.

“Ich habe eine Frage bezüglich einer rechtlichen Angelegenheit.”

“In Ordnung. Heraus damit. Aber ich muss dich warnen: Falls du meine Hilfe in Anspruch zu nehmen gedenkst, um Vater einsperren zu lassen, muss ich ablehnen”, lächelte er nur halb im Scherz.

“Jemandem einen Schwangerschafts- oder Fruchtbarkeitstrank, oder wie auch immer sonst sich das nennt, zu verabreichen, ist illegal, nehme ich an?”

Er nickte langsam. “Ja, das ist es.”

“Welche Bestrafung zieht das im Allgemeinen nach sich?”

Zweifelnd sah er sie an, während er langsam den Atem entweichen ließ. “Zum einen müssen die Kosten ersetzt werden, die das Aufziehen des Kindes mit sich bringt, sofern es jemand anderer als dein Gefährte war, der diese ohnehin tragen müsste. Dann muss üblicherweise noch eine zusätzliche Schadenersatzzahlung an die Mutter des ungeplanten Kindes geleistet werden.”

“Nur monetäre Strafen?” Eryn zog die Stirn in Falten. “Das kann sie sich problemlos leisten. Und Enric ist reich genug, somit würde es keinerlei Unterschied für uns machen, egal, wie viel sie zahlen müsste. Wie sieht es mit persönlichen Einschränkungen wie Arrest, Ausgangssperre oder Blockade ihrer Magie für eine gewisse Zeit aus?”

“Eryn”, seufzte Vran’el, “du hast so gut wie keine Chance, dass sie verurteilt wird. Du würdest beweisen müssen, dass sie es getan hat. Nach all der Zeit, die vergangen ist, ist das unmöglich.”

Sie schüttelte den Kopf. “Na gut, dann wird die Anschuldigung einfach nur dazu dienen, ihren Ruf zu schädigen. Auch wenn ich es nicht fertigbringe, dass sie verurteilt wird, werden die Leute doch sehr wohl wissen, dass sie es getan hat. Sie werden in Zukunft wahrscheinlich zweimal überlegen, ob sie mit ihr irgendwelche Geschäfte abschließen. Mein Entschluss, keine Kinder zu haben, war immerhin bekannt. Und dass ich so kurz nach ihrer Abreise aus Takhan schwanger geworden bin, ist ein recht offensichtlicher Hinweis auf ihre Schuld.”

Sie drehte ihren Kopf, als sie Enrics Stimme vernahm.

“Nein.”

“Nein? Es ist nicht offensichtlich?”, fragte sie nach, ihre Brauen verwirrt zusammengezogen.

“Nein, du wirst das nicht tun. Du wirst Malriel nicht beschuldigen, dass sie dir ein Kind eingepflanzt hat”, stellte er klar.

Sie blinzelte. “Warum nicht?” Dann verfinsterte sich ihr Blick. “Sag mir nicht, dass du dein Haus beschützt?”

“Das nicht.” Seine Miene war ernst. “Nicht mein Haus, sondern meinen Sohn. Ich will nicht, dass er mit dem Eindruck heranwächst, dass er uns von seiner Großmutter aufgezwungen wurde.” Er sah ihr in die Augen, und sie konnte die Entschlossenheit dahinter erkennen. “Du magst noch immer nicht besonders glücklich darüber sein, aber ich bin es schon. Und ich werde nicht zulassen, dass er glaubt, er wäre für uns irgendetwas anderes als ein Geschenk, ein Segen. Das steht nicht zur Diskussion.”

“Ich stimme zu, Herzblatt”, fügte Vran’el leise hinzu. “Er hat Recht. Deinen Sohn damit aufwachsen zu lassen, ist die Rache an Malriel nicht wert. Nicht auf diese Weise. Finde einen anderen Weg, es ihr heimzuzahlen.”

Sie sah zu Junar hin, die schützend eine Hand auf ihren Bauch gelegt hatte. Ihr Gesichtsausdruck war besorgt und eindringlich. Somit stand sie also ebenfalls auf Enrics Seite.

Orrin seufzte. “Das Kind kommt zuerst, Eryn. Das muss es. Wirklich, du würdest das bereuen.”

Eryn rieb sich mit beiden Handflächen über ihr Gesicht und ließ sich besiegt in die Kissen sinken. “Irgendwelche anderen Vorschläge, wie ich mich an ihr rächen kann?”

Junar lächelte. “Wie wäre es, wenn du sie noch einmal in den Fluss beförderst? Oder in etwas, wo sie nicht nur nass, sondern auch schmutzig wird? Wie einen Misthaufen oder so etwas in der Art?”

Eryn starrte sie kurz an, dann grinste sie. “Netter Anfang, aber nicht widerwärtig genug. Allerdings könnte ich mich mit einer Grube voll mit giftigen, stechenden Kreaturen anfreunden.” Dann wurde sie wieder ernst und sah Pe’tala an.

“Wie halte ich mir Valrad vom Leib?”

Pe’tala betrachtete sie nachsichtig. “Gar nicht. Er wird dich mürbe machen. Ein Grund, weshalb Vel’kim Männer gute Väter sind, ist ihre Entschlossenheit in Kombination mit ihrer Geduld. Er wird dir ein wenig Zeit gewähren, um dich an die neue Situation zu gewöhnen und dir die Chance geben, zu ihm zu kommen. Solltest du das nicht tun, wird er an dich herantreten.”

Eryn starrte sie an. “Dann sitze ich also in der Falle? Willst du mir damit etwa sagen, es gibt keinen Ausweg?”

“Doch, Schwester, den gibt es: Gib auf und lass zu, dass er dir ein Vater ist. Nichts weniger als das wird er akzeptieren.”

Sie schluckte hart und schüttelte den Kopf. “Es kümmert mich nicht, was er akzeptiert. Ich werde mich von ihm zu nichts drängen lassen.” Sie warf Pe’tala und Vran’el einen skeptischen Blick zu. “Warum akzeptiert ihr all das einfach so? Warum seid ihr nicht verärgert? Warum seid ihr nicht auf meiner Seite?”

“Das sind wir, Herzblatt”, sagte Vran’el traurig. “Bedauerlicherweise bist du es nicht.”

Eryn knirschte mit den Zähnen und sah Pe’tala an. “Also gut, er ist sentimental und nicht ganz klar im Kopf. Was ist mit dir? Warum diese Bereitwilligkeit, mich als deine Schwester zu akzeptieren? Du warst immerhin kurz davor, dieses Haus dem Erdboden gleichzumachen, als mich dein Vater damals adoptiert hat. Und damals dachtest du noch, ich wäre bloß deine Cousine.”

Pe’tala zuckte mit den Schultern. “Nun, was kann ich sagen? Vielleicht wollte ich ja tief in meinem Inneren immer eine Schwester, wer weiß? Und vielleicht, aber nur vielleicht, denke ich, dass du nach deinem Ärger mit der Königin der Dunkelheit einen richtigen Elternteil verdienst, einen, dem du wichtiger bist als seine eigenen Interessen. Habe ich erwähnt, dass ich die Bezeichnung wirklich toll finde? Es ist eine so zielgenaue Beschreibung.”

Eryn schüttelte den Kopf. “Es ist also kein Einziger von euch bereit, in dieser Sache meine Wünsche zu respektieren? Wirklich?”

Vran’els Augen wurden eng. “Du wirst dich doch jetzt nicht von uns ebenfalls zurückziehen?”

Sie sah ihn an. Hier sprach der Jurist, bemerkte sie, nicht der Cousin oder Bruder.

“Nein, selbstverständlich nicht”, lächelte sie und spürte, wie ihr Herz ein wenig brach bei dem Gedanken, dass sie zu ihm von nun an ebenfalls eine gewisse Distanz würde aufrechterhalten müssen.

Er studierte sie. “Tu das nicht, Eryn”, beschwor er sie, sein Blick stechend. “Das ist keine Fehde.”

Sie wandte den Blick ab. Nein, das war es nicht. Aber es würde Diplomatie daraus werden, die Kunst, Dinge anders erscheinen zu lassen, um alle Beteiligten ausreichend hinters Licht zu führen, damit ein Krieg verhindert werden konnte.

“Natürlich nicht, Vran”, murmelte sie, “Was für ein Gedanke.”

Ihr Blick fiel auf Junar, und das stille Verständnis in den Augen ihrer Freundin veranlasste sie, wieder wegzusehen. Das erschwerte ihr sonst nur, sich zu verstellen.

 

Kapitel 3

Schulden begleichen

Enric überprüfte ein weiteres Mal die Transportpapiere für die Güter, die mit ihnen auf dem Schiff eingetroffen waren, um sicherzugehen, dass die Listen alles enthielten, was er bestellt hatte. Ein Ballen violetter Seide war bislang das Einzige, was verlorengegangen war.

Kilan hatte ihm für den Morgen sein Arbeitszimmer angeboten, da es eine Sache gab, um die sich Enric kümmern wollte. Eine, die aufgrund ihrer eher delikaten Natur etwas Ungestörtheit erforderte.

Er hatte von dem kurzen Zusammentreffen am Vortag zwischen Eryn, Pe’tala und Ram’an im Teehaus erfahren, und auch von Eryns spontaner Entscheidung, ihm sein Armband zurückzuwerfen. Eine harsche Geste, und wohl keine, über die er besonders erfreut war, sinnierte Enric.

Ram’an war der Besucher, den er nun jeden Moment erwartete. Enric hatte ihm gestern Nachmittag eine kurze Nachricht zukommen lassen und kurz darauf eine Bestätigung für das Treffen heute erhalten. Die Residenz war im Moment still, wenn man bedachte, wie viele Menschen derzeit darin wohnten. Junar und Orrin waren bei einem Schneider, Vern war mit Valrad in der Klinik, und Kilan war mit jemandem in einem Teehaus verabredet. Außer ihm selbst befand sich nur Eryn in der Residenz.

Nach dem aufreibenden Tag, den sie hinter sich hatte, war Eryns Nacht ebenfalls nicht gerade friedvoll verlaufen. Stundenlang hatte sie wachgelegen, und die kurze Zeit, in der sie in einen unruhigen Schlaf abgedriftet war, hatte sie sich hin und her gewälzt. Erst in den frühen Morgenstunden, als sich der Tag bereits ankündigte, war sie schließlich von etwas übermannt worden, das eher einer Ohnmacht als Schlaf nahekam.

Er vernahm das Klopfen und bewegte sich rasch in Richtung der Eingangstür, um Ram’an Zutritt zu gewähren. Er wollte nicht, dass Eryn aufwachte und sich nur wenige Augenblicke nach dem Aufstehen unvermutet seinem Besucher gegenüberfand. Kurz hatte er überlegt, das Treffen in die Arbil Residenz zu verlegen, die Idee dann aber wieder verworfen, da er Eryn derzeit nicht alleinlassen wollte.

Nach dem Öffnen der Tür benötigte er einen Augenblick, um den Mann wiederzuerkennen, den er eingeladen hatte. Ram’an sah verändert aus, und nicht zu seinem Vorteil. Er hatte an Gewicht verloren, und in seinem Gesicht zeigten sich Furchen, die vor ein paar Monaten noch nicht vorhanden gewesen waren. Es schien, als hätten der Tod seines Vaters und die Anstrengung, die die Übernahme seines Hauses mit sich brachte, ihren Tribut gefordert.

“Ram’an”, nickte er und streckte seine Hand für die formelle Begrüßung aus. “Danke, dass du gekommen bist. Bitte tritt ein.”

“Enric”, nickte der andere Mann. “Deine Nachricht war ziemlich kurz gefasst, aber ich gehe davon aus, dass du mich nicht so kurz nach eurer Ankunft hier treffen würdest wollen, wenn es nicht wichtig wäre.”

Enric reichte seinem Gast ein feuchtes Handtuch und wartete, bis er Gesicht und Hände abgewischt hatte, bevor er ihm voran die Stufen emporstieg.

Nachdem Ram’an das Arbeitszimmer betreten hatte, schloss er die Tür und bedeutete ihm, sich zu setzen.

“Was kann ich dir zu trinken anbieten, Ram’an?”

“Wasser wäre angenehm, danke.”

Enric schenkte ihnen beiden ein Glas ein und stellte eines davon vor seinem Besucher ab, bevor er hinter Kilans Schreibtisch Platz nahm.

“Bevor wir zu dem kommen, weswegen du mich sehen wolltest, lass mich dir zu dem Kind gratulieren, dass ihr erwartet. Ich gebe zu, dass ich etwas überrascht war, dass du es fertiggebracht hast, ihre Meinung über das Kinderkriegen so rasch zu ändern.” Sein Blick enthielt eine Spur von Argwohn. “Zumindest gehe ich davon aus, dass du in der Lage warst, ihre Meinung zu ändern?”

“Der Gegensatz dazu wäre, dass ich sie gezwungen habe, schwanger zu werden?”, fragte Enric geradeheraus.

“Ich gebe zu, dass mir dieser Gedanke kam, ja”, gab Ram’an ruhig zu.

“Ich bin nicht so tief gesunken, nein.”

“Bedeutet das, sie wollte Kinder haben?”, erkundigte sich der Rechtsgelehrte erneut.

Enric spitzte die Lippen. Ein Mann des Gesetzes war also offenkundig nicht willens, sich mit ausweichenden Antworten zufriedenzugeben. Zumindest dieser hier nicht.

“Diese Behauptung ginge wohl ein wenig zu weit”, sagte er achtsam.

“Ach ja?” Ram’an verengte seine Augen. “Sagst du mir damit, dass sie dieses Kind nicht wollte, aber dass du nicht derjenige bist, der für seine Empfängnis verantwortlich ist?” Er dachte kurz nach, dann versteifte er sich und atmete tief ein. “Malriel.”

“Ich würde gerne betonen, dass ich keinerlei Anschuldigung dieser Art ausgesprochen habe”, stellte Enric teilnahmslos klar.

“Aber natürlich nicht. Sag mir, weshalb ich hier bin.”

Enric schob die Transportpapiere in seine Richtung.

Ram’an sah darauf hinab und runzelte die Stirn über die Liste, die verschiedene Arten von Wein, Stoffen, Gewürzen, Kräutern, Holz und Erz beinhaltete.

“Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.”

“Eine Schuld zwischen uns, die noch nicht beglichen wurde. Das erledige ich hiermit.”

Er beobachtete, wie sich auf dem Gesicht des anderen Mannes zuerst Verständnis und dann Schock ausbreiteten. “Eine Schiffsladung von Gütern… Oh nein. Das ist doch wohl nicht dein Ernst?”

“Doch. Eine Ladung meiner Güter im Austausch für eine Umarmung”, bestätigte Enric und zog seine Brauen hoch, als die Liste zu ihm zurückgeschoben wurde.

“Ich sagte dir schon, dass ich nicht erwarte, dass du diese Bedingung erfüllst. Ich wollte nur sehen, wie verzweifelt du damals wirklich warst und hoffte, dich als knauserig hinzustellen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du diese Bedingung tatsächlich ehrst.” Er kam auf die Beine und wandte sich zur Tür. “Und ich werde diese Waren nicht von dir annehmen. Ich verlange von einem Mann keine unanständig hohe Summe, damit er der Frau, die er liebt, beistehen kann. Guten Tag, Enric. Ich gehe davon aus, dass ich dich morgen im Senat sehen werde”, sagte er kühl.

“Ram’an, warte bitte”, seufzte Enric.

Der dunkelhaarige Mann atmete geduldig aus und drehte sich sichtlich widerwillig um.

“Wir wissen beide, dass du derzeit nicht in einer Position bist, wo du dir leisten kannst, eine Warenladung Güter von dir zu weisen, die einen sehr guten Preis erzielen wird. Mir wurde gestattet, sie zusätzlich zu dem bereits ausgeschöpften Handelskontingent zwischen unseren Ländern herzubringen, da die Waren nicht dafür gedacht sind, Gewinn für mich zu lukrieren. Ich könnte sie hier nicht einmal verkaufen, selbst wenn ich wollte. Damit würde ich die Bedingungen verletzen, unter denen ich sie hergebracht habe. Du nimmst sie also entweder an, oder ich kann sie ebenso gut auf der Straße verschenken.”

“Ich kann sie nicht annehmen. Deine Geste mag nobel sein, aber es wäre eine Schmach für mich, sie zu akzeptieren”, sagte Ram’an leise. “Du hast Recht, momentan bleibt mir nicht viel, mein Haus steht am Rande des Ruins. Aber ich habe immer noch meinen Stolz. Ich werde einen anderen Weg finden, um mein Haus wieder auf Kurs zu bringen.”

Enric seufzte. Stolz. Natürlich. Das war kaum eine große Überraschung. Er selbst hätte sehr wahrscheinlich ähnlich reagiert.

“Dann lass mich dir stattdessen ein Angebot unterbreiten. Du wirst die Waren von mir annehmen und sie als Darlehen betrachten, das dir ermöglichen wird, deinen derzeitigen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.” Mit einem dünnen Lächeln fuhr er dann fort mit etwas, wovon er wusste, dass er dem Mann ihm gegenüber damit ermöglichte zuzustimmen. “Ich tue das nicht aus reiner Herzensgüte. Ich werde Haus Aren für einige Zeit übernehmen, und Haus Vel’kim ist im Moment der einzige Verbündete, bei dem ich sicher sein kann, dass er mir erhalten bleibt. Deinem Haus dabei zu helfen, dass es sich wieder erholt, wird mir deine Gunst einbringen. Und für Haus Aren ist ein starker Verbündeter wesentlich nützlicher als ein schwacher. Sehen wir zu, dass du zu beiderseitigem Nutzen wieder auf die Beine kommst.”

Ram’an starrte ihn an, eindeutig hin- und hergerissen. Enric wartete geduldig, bis er zustimmend nickte.

“Gut. Dann wirst du die Rückzahlung in Angriff nehmen, sobald du es dir leisten kannst. Lass dir damit ruhig Zeit. Wie ich schon sagte, meine Interessen sind in deinem Fall nicht finanzieller Natur.”

“Ich werde eine formelle Vereinbarung vorbereiten, damit wir die Bedingungen unserer Abmachung in schriftlicher Form haben”, seufzte das Oberhaupt von Haus Arbil. “Ich werde einen Boten schicken, sobald ich fertig bin, damit du den Inhalt genehmigen kannst.”

“Nicht nötig. Da ich willens war, dir die Waren unentgeltlich zu überlassen, werde ich mit jeglichen Bedingungen zufrieden sein, die du als angemessen erachtest.”

“Dann schätze ich, dass alles, was für mich noch zu tun bleibt, ist, dir zu danken.”

Enric schüttelte den Kopf. “Dazu besteht kein Anlass. Ich denke, ich habe klargestellt, dass ich es nicht aus reiner Wohltätigkeit tue.”

Ram’an brachte schließlich ein Lächeln zustande. “Natürlich nicht. Einen Moment lang entfiel mir, dass du ein harter, nüchterner Geschäftsmann bist, auf nichts anderes als seinen eigenen Vorteil bedacht.”

“Gib dich nicht dem Irrtum hin, ich wäre nachgiebig, weil ich dich nicht trete, während du auf dem Boden liegst”, erwiderte Enric milde. “Auch ich habe meinen Stolz.”

“Diesen Fehler würde ich nicht machen. Eryn hätte keinen schwachen Mann akzeptiert.”

Gut, dachte Enric. Er hatte schon überlegt, wie er dieses Thema zur Sprache bringen konnte.

“Wegen Eryn. Ich gehe davon aus, dass du keine Hoffnungen mehr hegst, sie für dich zu gewinnen, jetzt wo wir nicht nur in ein Band dritten Grades eingetreten sind, sondern auch ein gemeinsames Kind haben werden.”

Ram’an funkelte ihn an. “Nein, Ich bin kein Narr. Ich weiß, wann ich besiegt bin.”

“Vortrefflich. Dann kann ich dich ja bedenkenlos darum ersuchen, die Dinge zwischen euch wieder in Ordnung zu bringen. Nach dem gestrigen Tag könnte sie einen weiteren Freund hier gut gebrauchen.”

“Gestern, ja…” Ram’an nickte langsam. “Ein ziemliches Chaos, wie es scheint. Ein heikles Thema für Haus Vel’kim, das ihnen erhebliche Sorgen bereitet. Ich kann mir vorstellen, dass Eryn mit dieser ganzen Sache alles andere als glücklich ist. Besonders, da die gesamte Angelegenheit morgen im Senat enthüllt werden wird.”

Enric kniff die Augen zusammen. “Du weißt darüber Bescheid?”

“Aber natürlich. Diese Art von Neuigkeit lässt sich in einer Stadt wie dieser kaum geheim halten.”

Beide Männer betrachteten einander einige Augenblicke lang, bevor Enric langsam den Kopf schüttelte. “Moment mal; ich denke, du versuchst mich dahingehend auszutricksen, dass ich dir davon erzähle! Pe’tala sagte mir, dass sie gestern im Teehaus auf dich getroffen sind. Clever.”

“Nicht clever genug, wie es aussieht”, seufzte Ram’an. “Dann werde ich wohl doch bis morgen warten müssen. Kannst du mir zumindest sagen, ob es schlechte Neuigkeiten sind? Die drei erschienen gestern im Teehaus reichlich aufgewühlt.”

Enric verzog das Gesicht. “Die Schwierigkeit dabei ist, dass es davon abhängt, wen du fragst, ob die Antwort darauf ja oder nein lautet.”

Ram’an öffnete die Tür des Arbeitszimmers und trat hinaus in den Korridor, der zum Hauptraum führte. “Nun gut, dann werde ich bis zur Senatsversammlung warten.”

Enric verspürte eine Welle von Verdruss und Panik durch das Geistesband. Das konnte nur bedeuten, dass Eryn aufgestanden war und Ram’ans Stimme vernommen hatte. Sie wusste nichts davon, dass er das Oberhaupt von Haus Arbil gebeten hatte, heute herzukommen. Und soweit er das beurteilen konnte, war sie nicht eben angetan davon.

Langsam ging er auf den Hauptraum zu und gab ihr so genug Zeit, dass sie sich zurückziehen konnte, falls das ihr Wunsch war.

Im Hauptraum angekommen, war er überrascht, sie ruhig auf den Kissen sitzen zu sehen, in ihrer Hand ein Glas mit Tee. Ihre äußere Erscheinung verriet nichts von dem Aufruhr, den er in ihrem Inneren wahrnahm. Er war beeindruckt.

Sie gab vor, die beiden erst jetzt zu bemerken und stellte ihren Tee auf dem niedrigen Tisch ab, bevor sie sich mit einem höflichen Lächeln erhob. Enric kam nicht umhin zu bemerken, um wie vieles eleganter die Aufwärtsbewegung von den Kissen nun aussah verglichen mit vor ein paar Monaten. Er fragte sich, ob sie heimlich geübt hatte.

“Ram’an”, nickte sie und ging auf ihn zu, während sie ihm ihre Hand für die formelle Begrüßung entgegenstreckte.

Sein Gast wirkte etwas verwirrt, erholte sich aber rasch, lächelte sie an und ergriff ihre Hand, um einen Kuss darauf zu drücken.

“Eryn. Es freut mich zu sehen, dass deine Stimmung heute besser ist”, sagte er mit einem beiläufigen Lächeln.

Sie nickte. “Das ist die Schwangerschaft, weißt du. Ich bin deswegen noch anfälliger für extreme Stimmungsschwankungen als zuvor. Zumindest wurde mir das gesagt”, erwiderte sie leichthin.

Enric beobachtete sie eingehend. Sie hielt Ram’an mit kühler Höflichkeit und belanglosem Geschwätz auf Distanz. Ungewöhnlich. Das war nicht ihre bevorzugte Vorgehensweise, um ihr Missfallen zum Ausdruck zu bringen, wenngleich kaum weniger effektiv, wenn man nach Ram’ans unbehaglichem Stirnrunzeln urteilte.

“Dann wird es ein noch größeres Abenteuer als bisher werden, dich um mich zu haben, meine Liebe”, lächelte er und zwinkerte ihr zu.

Sie ignorierte die vertrauliche Geste vollkommen und wirkte einen Moment lang nachdenklich, bevor sie antwortete: “Das hoffe ich wohl nicht. Ich versuche, die Leute um mich herum dem so wenig wie möglich auszusetzen. Wenn du mich jetzt entschuldigst, Ram’an, ich muss mich für eine Verabredung fertigmachen. Es war nett, dich zu sehen.”

“Ja”, sagte er, leicht verdutzt, “das war es. Ich freue mich darauf, dich morgen zu treffen. Ich bin sicher, dass wir uns vor dem Dinner noch im Senat sehen.”

Ihr Lächeln war kühl. “Natürlich.” Damit drehte sich sie um und ging zurück zum Tisch, um ihre Teetasse aufzuheben, bevor sie sich in den Korridor zurückzog, der zu ihrem Schlafzimmer führte.

Ram’an starrte ihr nach, dann wandte er sich langsam zu Enric um. “Entweder ist sie wesentlich geschickter im Täuschen geworden, oder sie hat es irgendwie geschafft, ihren gestrigen Ärger auf mich innerhalb eines einzigen Tages in Gleichgültigkeit umzuwandeln.” Er schüttelte den Kopf. “Ich hoffe sehr, dass ersteres zutrifft. Die andere Möglichkeit würde mich wahrhaft verstören.”

Enric nickte. Er wusste sehr wohl, dass sie alles andere als ungerührt war. Aber vielleicht würde dieser Eindruck Ram’an dazu bewegen, sich mehr Mühe zu geben, die Dinge mit ihr wieder ins Lot zu bringen. Er begleitete seinen Gast nach unten zur Tür, um ihn zu verabschieden und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück.

Er lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme. Sie stand mit ihrem Tee vor dem Fenster und starrte blicklos in den kleinen Garten hinaus.

“Das war interessant. Deine kleine Darbietung hat Ram’an ziemlich beeindruckt und verunsichert. Ohne das Geistesband wäre womöglich sogar ich darauf hereingefallen”, kommentierte er.

Sie drehte sich um und seufzte, als die kühle Fassade von ihr abfiel. “Ich habe beschlossen, dass ich nicht mehr länger ständig all die Leute anschnauzen und mit Gift bespucken kann, auf die ich gerade schlecht zu sprechen bin. Davon gibt es hier einfach zu viele, und alle von ihnen sind zufällig Oberhäupter von Häusern.”

Er lachte vor sich hin. “Ja, du tendierst dazu, eine Abneigung gegen wichtige Leute zu hegen. Deine neue Herangehensweise besteht also in kühler und unnahbarer Höflichkeit? Ich gebe zu, dass dies gerade eben recht wirksam war, doch ich frage mich, ob das für dich der richtige Weg ist. Es erscheint mir nicht charakteristisch.” Und zwar auf verstörende Weise, fügte er in Gedanken hinzu. Es fühlte sich falsch an, und er überlegte, wie verletzt sie wohl sein musste, um die Impulse, die die Interaktionen mit ihr so stimulierend, wenn auch nicht ganz gefahrlos machten, in ihrem Inneren einzuschließen.

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und setzte sich auf die niedrige Fensterbank. “Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Malriel am Abend vor ihrer Abreise, als sie mir den Trank eingeflößt haben muss. Ich sagte ihr, dass ich keine Absicht mehr hätte, sie weiterhin zu hassen, weil ich mir damit nur selbst Schmerzen zufüge, und dass ich daran arbeiten würde, ihr gegenüber gleichgültig zu werden. Sie sagte, das sei sogar noch schlimmer als Hass, und ich beginne zu glauben, dass sie Recht hat. Nicht schlimmer, wohlgemerkt, das ist nur ihr Standpunkt. Ich denke, es ist endgültiger, mächtiger. Und es wird mir Frieden bringen.”

Er schluckte. “Und diese Strategie beabsichtigst du nun sowohl bei Valrad und Ram’an, als auch bei ihr zu verfolgen?”

“Ja, das tue ich”, bestätigte sie. “Vielleicht wird es Zeit, sich von dem legendären Aren Temperament zu verabschieden. Es ist nichts weiter als eine Bürde, eine Charakterschwäche.” Sie ging auf ihn zu und lehnte ihre Stirn gegen seine Schulter. Als seine Arme sie umfingen, lächelte sie. “Es wird Zeit, erwachsen zu werden.”

Seinen beunruhigten Gesichtsausdruck sah sie nicht. Das fühlte sich falsch an – als hätte sie sich entschieden, nicht länger sie selbst zu sein.

“Schade”, murmelte er, “das war es, was mich zuerst an dir fasziniert hat. Ich würde es sehr vermissen.”

Sie lachte leise. “Dann werde ich dir hin und wieder eine private Vorführung angedeihen lassen, wenn du den Eindruck hast, dass dein Leben sonst zu eintönig oder zu friedlich wird.”

“Darauf werde ich zurückkommen”, bemerkte er leichthin und fragte sich, wie gut es ihr wohl gelingen mochte, ihren Vorsatz umzusetzen. Nicht in dem Ausmaß, wie sie es erst vor wenigen Minuten demonstriert hatte, hoffte er.

* * *

Vern stürmte in den Hauptraum und ließ sich direkt neben Eryn auf die Kissen fallen. Er war gerade von seinem Besuch in der Klinik zurückgekehrt. Einem ausgedehnten Besuch; er war am Morgen aufgebrochen, und nun war die Sonne gerade am Untergehen.

“Du scheinst auf Wolken zu schweben”, kommentierte sie und konnte nicht anders als zu lächeln, als er sie mit einem breiten Grinsen bedachte. “Ich gehe davon aus, dass du einen zufriedenstellenden Tag hattest?”

“Es war unglaublich”, seufzte er, eindeutig müde, aber selig. “Das Gebäude ist so riesig! So viele Heiler! Und sie waren erfreut, ausgerechnet mich kennenzulernen! Kannst du dir das vorstellen? Sie alle haben das Buch gesehen, das ich Ram’an damals gab, und betonten, was für eine außergewöhnliche Arbeit es sei. Dann haben sie mir Fragen über das Heilen zuhause in Anyueel gestellt und mir eine Führung durch die gesamte Klinik gegeben! Sie haben dort so viele verschiedene Fachbereiche, dass ich mich gar nicht an alle erinnern kann! Ich habe sogar den Leiter der Klinik getroffen, habe aber seinen Namen vergessen. Er sagte, es wäre ihm ein Vergnügen, mich für die Dauer meines Aufenthalts hier dort arbeiten und lernen zu lassen! Ist das zu glauben? Ich werde dort arbeiten!”

Eryn lächelte ihn zustimmend an.

“Was ist das für ein Tumult hier draußen?” fragte Orrin, als er den Raum betrat. “Junar hat sich hingelegt, also seht besser zu, dass ihr etwas leiser seid.”

“Entschuldige, Vater”, meinte Vern mit einer Grimasse. “Ich habe mich wohl etwas hinreißen lassen.”

Der Krieger lächelte und kam näher, um sich zu ihnen zu gesellen. “Ich schätze, du hattest einen erfolgreichen Tag mit Valrad?”

Das Gesicht des Jungen leuchtete erneut auf, und er setzte seine Schwärmerei fort. “Absolut! Ich schwöre dir, sie haben mich wie einen König behandelt! Dort gibt es eine enorme Bibliothek, und sie sagten, ich könne dort hingehen und sie nutzen, so oft ich will. Und sie haben dort ein Gasthaus, direkt in der Klinik, wo alle Leute, die in der Klinik arbeiten, kostenlos essen können, wenn sie dieses kleine, silberne Abzeichen haben. Sie nennen das Kantine, glaube ich. Das Gasthaus, nicht das Abzeichen. Und sie haben nach dir gefragt, Eryn”, fuhr er fort. “Besonders ein recht unfreundlicher Heiler, dieser eine ohne Magie.”

“Sarol”, ergänzte sie mit einem Grinsen.

“Ja, genau, der. Und noch einer, eher jung, aber recht bedeutend. Ein Experte für Kopf-Sachen, glaube ich.”

“Iklan womöglich?”

Er dachte kurz nach, dann nickte er. “Ja, das klingt vertraut. Sie wollten wissen, wann du vorbeikommst und warum du heute nicht dabei warst und was du gerade machst und…”

“Vern? Vergiss nicht, hin und wieder auch mal zu atmen”, lachte sie.

“Pe’tala war auch dort”, redete er weiter, nachdem er nach Luft geschnappt hatte. “Der unfreundliche Heiler war erfreut, sie zu sehen, glaube ich, wollte es aber nicht zugeben. Ram’ans Cousin, der Heiler, der die Zeichnungen wollte, war auch dort. Ich habe ihm meine Bilder gezeigt, und ich schwöre euch, er war beinahe eine ganze Minute lang sprachlos! Dann hat er die Bilder herumgezeigt, und alle waren mächtig beeindruckt und sagten immer wieder, sie hätten noch nie etwas Vergleichbares gesehen!”

Eryn lachte. “Gut, dass du Ohren hast, mein Junge, oder dein Grinsen würde rund um deinen ganzen Kopf verlaufen und die obere Hälfte einfach abfallen lassen.” Seine gute Laune war ansteckend.

“Sie denken, ich sei brillant und ein Genie!”, kicherte er, schwindelig vor Freude.

Sie zerzauste sein Haar. “Das bist du, Vern. Und es scheint, als wärst du genau an den richtigen Ort gekommen, wo die Leute das schätzen.”

“Das haben sie! Und dein Vat… Valrad”, korrigierte er sich hastig, “musste die Leute fortschicken und ihnen versprechen, dass er mich ein anderes Mal zu ihnen bringt, weil sie alle mit mir reden wollten! Wusstest du, dass er dort wirklich wichtig ist? Er hat den Laden früher geführt, ist aber freiwillig zurückgetreten, damit er sich mehr auf die Führung seines Hauses und die Arbeit mit Patienten konzentrieren konnte.”

“Ja, davon habe ich gehört”, erwiderte Eryn trocken. “Ich war schon einmal hier, wenn du dich erinnerst.”

“Ja, genau. Natürlich”, nickte er und schüttelte den Kopf über sich selbst. “Weißt du was? Sie haben mir einen Platz im Unterricht mit den Heilerlehrlingen angeboten!” Er fummelte ein Blatt Papier hervor. “Das ist eine Liste der Themen, die die Studenten im zweiten Jahr in den nächsten zehn Tagen durchnehmen, und ich kann einfach hingehen und mir anhören, was ihnen beigebracht wird! Wie erstaunlich ist das denn bitte?”

“Ziemlich erstaunlich”, nickte sie. “Ich schwöre dir, wenn du es schaffst, hier vor mir als Heiler zertifiziert zu werden, werde ich dich erwürgen. Und du kannst dich nicht einmal verteidigen, weil die schwangere Lady nicht geschlagen werden darf”, seufzte sie.

Er sprang auf. “Das erinnert mich an etwas!” Er rannte nach unten und kehrte kurz darauf mit einem schweren Buch unter dem Arm zurück. “Dieser Sarol-Typ hat das für dich mitgeschickt. Er sagte, da du jetzt ja zurück bist und Zeit hast, kannst du genauso gut etwas Nützliches damit anfangen. Er will, dass du das hier liest. Es geht um nicht-magische Diagnosen, glaube ich.”

Eryn griff eifrig nach dem Buch. “Danke! Das ist großartig; es bedeutet, er will, dass ich mit den Vorbereitungen für die letzte fehlende Prüfung beginne!” Das würde ihr eine Beschäftigung verschaffen, endlich!

“Er ist wirklich unfreundlich, weißt du”, kommentierte der Junge. “Ich frage mich, warum sich das alle gefallen lassen, sogar dein… Valrad.”

Sie schluckte ihre Verärgerung über seinen erneuten Versprecher hinunter. “Weil er wirklich, wirklich, wirklich gut in dem ist, was er tut. Er hat nicht-magisches Heilen revolutioniert, hat es hier in eine echte Disziplin verwandelt, die mittlerweile so weit anerkannt ist, dass sogar Magier-Heiler darüber lernen müssen”, erklärte sie. “Er ist auch ein Genie.” Sie sah von ihrem Buch auf in sein skeptisches Gesicht. “Und genau wie dir werden deshalb auch ihm gewisse Eigenheiten zugestanden. Wenn er unfreundlich zu dir ist, bedeutet das, dass er dich mag. Wenn er dich nicht mag, macht er sich nicht einmal die Mühe, dich zu beachten.”

Das brachte ihn zum Nachdenken. “Ich verstehe.” Dann grinste er. “Das bedeutet dann womöglich, dass er mich mag. Er hat mich zweimal angeschnauzt!”

Sie kicherte. “Ein untrügliches Zeichen.”

“Du siehst staubig, verschwitzt und erschöpft aus”, meldete sich Orrin zu Wort. “Ich denke, du solltest ein Bad nehmen und dich dann für das Abendessen umziehen. Enric ist gerade in der Küche und bereitet es zu, also wird es bald fertig sein. Fort mit dir.”

Vern gehorchte widerwillig und schlurfte davon.

“Wie geht es dir, mein Mädchen?”, fragte er, als sie allein waren. “Du siehst noch immer nicht wie du selbst aus, obwohl ich sehen kann, dass dich Verns Enthusiasmus gerade eben aufleben hat lassen.”

“Mir geht es soweit gut, Orrin. Danke der Nachfrage”, lächelte sie. “Ich bin nur müde. Ich habe letzte Nacht weder besonders gut noch lange geschlafen. Vielleicht bitte ich Vern, dass er mir dieses Mal einen kleinen magischen Schubs gibt. Ich will morgen gut ausgeruht sein für diese verdammte Senatsversammlung.” Ihre Miene verdüsterte sich.

“Bist du sicher, dass du dort hingehen willst? Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich von dir davon abhalten lassen wird, dem Senat seine Neuigkeiten mitzuteilen.”

Sie schüttelte den Kopf. “Nein, das wird er nicht. Dessen bin ich mir bewusst. Aber es gibt das eine oder andere, das ich dort sagen möchte.”

“Ach ja?”, meinte er stirnrunzelnd.

“Ja.” Erleichtert blickte sie auf, als Kilan den Hauptraum betrat. “Wo warst du den ganzen Tag über? Ich dachte, du wolltest nur jemanden zum Tee treffen?”

“Ursprünglich wollte ich das. Aber dann bin ich bei ihm zuhause gelandet und habe jede Menge Fragen beantwortet über die Neuankömmlinge, die bei mir wohnen.”

Sie grinste. “Das hast du davon, wenn du Gäste aufnimmst. Nächstes Mal überlegst du besser zweimal, bevor du einwilligst.”

“Ich konnte euch armen, gestrandeten Reisenden doch wohl kaum zumuten, auf der Straße zu schlafen, oder?”, grinste er. “Stell dir nur die politischen Konsequenzen vor, hätte eines eurer beiden Monster einen Bürger aus Takhan als Imbiss verspeist.”

“Dann lass mich dir zu deiner weisen Voraussicht gratulieren. Ich hätte gedacht, dass deine Gastfreundschaft eher etwas mit der Tatsache zu tun hat, dass Orrin und ich zufällig deine Vorgesetzten sind und du aus diesem Grund nicht gewagt hättest, unsere Anfrage abzulehnen. Aber offensichtlich lag ich damit falsch.”

Kilan griff nach einem sauberen Glas und schenkte sich dunklen Fruchtsaft ein. “Zumindest bist du dir deines Fehlers bewusst. Enric kocht das Abendessen, nehme ich an?”

“Ja, das tut er”, bestätigte sie. “Wie sieht es mit deinen eigenen Kochkünsten aus? Hast du die in den letzten Monaten verbessert?”

Er nickte. “Ich hatte keine andere Wahl. Erwachsene, die kein ordentliches Mahl bereiten können, werden hier ausgelacht. Frag mich, wie viel Spaß es macht, ganz allein ein formelles Dinner für dreißig oder vierzig Leute zuzubereiten. Ich habe beinahe den ganzen Tag in der Küche verbracht. Zusätzlich dazu, dass ich vorher jagen gehen musste, versteht sich.” Dann lächelte er. “Aber zumindest wird das morgen kein Problem sein, da ich eine Anzahl an Helfern hier habe.”

“Morgen?” Sie zog die Stirn in Falten. “Aber morgen ist doch das Willkommens… Oh nein. Nein! Bitte nicht.”

“Nein was?”, erkundigte sich Orrin.

“Das verfluchte Willkommensdinner”, seufzte sie. “Es wird hier in der Botschafterresidenz stattfinden, so ist es doch?”

Der Botschafter nickte. “Ja. Sowohl Malriel als auch Valrad haben darum gebeten.” Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. “Sehr wahrscheinlich, weil sie sichergehen wollten, dass du keine andere Möglichkeit hast, als daran teilzunehmen, weil es an dem Ort stattfindet, an dem du wohnst.”

Sie stöhnte. “Aber das bedeutet, dass ich bis zum Ende dabeibleiben muss! Komm schon, warum hast du dich nicht geweigert?”

Er sah sie nachsichtig an. “Eine höfliche Anfrage von den mächtigen Oberhäuptern zweier Häuser verweigern? Ist das eine ernstgemeinte Frage?”

“Ich werde dir nicht beim Kochen helfen!”

“Das geht schon in Ordnung. Nach deiner Reaktion gerade eben hätte ich eher Angst, dass du den ganzen Haufen vergiftest”, schnaubte er. “Aber da ich hier immer noch drei Männer zur Verfügung habe, zusätzlich zu Vran’el, der seine Hilfe angeboten hat, werden wir es irgendwie ohne dich schaffen.”

Ihre Miene wurde bitter, und sie seufzte. All diese Leute hier an diesem Ort, ohne dass sie die Möglichkeit hatte, früh zu gehen. Es war ihr nicht einmal möglich, eine Unpässlichkeit als Anlass für einen frühen Rückzug vorzuschieben. Es waren einfach zu viele Heiler hier, die sich um alles kümmern würden, was auch immer sie als Vorwand benutzte. Und die würden natürlich sehr rasch herausfinden, dass es eine Ausrede war und sie vor den anderen bloßstellen. Wer hätte jemals gedacht, dass sich der Aufenthalt an einem Ort mit so vielen gut ausgebildeten, sachkundigen Heilern als dermaßen lästig erweisen würde?

»Ende der Leseprobe«

 

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„Intrigen“ – Der Orden: Buch 3

Kapitel 1

Rückkehr nach Hause

Enric starrte grimmig auf das Meer hinaus. Nichts unterbrach die endlose, gerade Linie des Horizonts, der das hellere Blau des Himmels vom dunkleren des Wassers trennte. Es war keine Abwechslung in Sicht, die baldige Erleichterung in Form von Land versprach.

Bei seiner letzten Überquerung des Meers hatte er keine der Auswirkungen verspürt, unter denen die meisten anderen in seiner Gruppe, Eryn eingeschlossen, gelitten hatten. Seekrankheit wurde es genannt, erinnerte er sich. Aber es schien, als wäre sein Magen dieses Mal nicht immun gegen das ständige Schaukeln des Schiffes. Man hatte ihm mitgeteilt, dass der Körper sich nach ein paar Tagen daran gewöhnte, also erschien es ihm seltsam, dass er jetzt darunter litt, wo es ihm zuvor keinerlei Unannehmlichkeiten bereitet hatte.

Seine eigenen Beschwerden waren allerdings wesentlich weniger stark ausgeprägt als Eryns. Sie lag bewegungslos auf der Pritsche in ihrer Kabine, ihr Magen von allem befreit, was sich darin befunden hatte. Es war Pech, dass es keine Erleichterung brachte, die Symptome wegzuheilen. Solange sie auf See waren, würden sie immer wiederkehren.

Aber zumindest hatten sie bereits die Hälfte der Schiffsreise hinter sich; es dauerte nur noch einen weiteren Tag, bis sie das kleine Dorf Bonhet erreichten. Dort hatten sie damals das Schiff bestiegen, das sie in die Westlichen Territorien gebracht hatte. Das schien nun schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Er hatte große Pläne bezüglich des Dorfes und fragte sich, wie die Leute wohl darauf reagieren würden. In einer Hinsicht hatte Eryn vollkommen Recht: Die Bereitwilligkeit, sich Neuerungen zu öffnen, wurde nicht eben als Tugend erachtet – nicht in der Stadt Anyueel, und noch weniger an abgeschiedenen Orten wie diesem Fischerdorf.

Er spürte, wie sich die Spannung in seinem Magen legte und entschloss sich, nach Eryn zu sehen. Vielleicht konnte er sie überreden, sich von ihm für ein paar Stunden schlafen schicken zu lassen. Jetzt, wo Kilan und Grend nicht hier waren, die sie damit aufziehen konnten, dass sie den einfacheren Weg wählte. Der Unwille, sich den Sticheleien ihrer Mitreisenden auszusetzen, war der Grund, weshalb sie sein Angebot beim letzten Mal, als sie auf dem Weg nach Takhan gewesen waren, abgelehnt hatte.

Nachdem er allerdings die Tür zu ihrer kleinen Kabine geöffnet hatte, sah er, dass sie bereits, einen Arm schlaff nach unten hängend, eingenickt war. Sie konnte noch nicht lange schlafen. Der Tee, den er für sie zubereitet hatte, war noch immer warm. Vielleicht nicht länger als eine Minute oder zwei, in etwa so lange, wie es her war, dass sein Magen aufgehört hatte, sich zu beschweren.

Ein Gedanke durchzuckte ihn, und er sah mit gerunzelter Stirn auf sie hinab. Nein, das konnte nicht sein. Das wäre höchst unwahrscheinlich, sinnierte er. Und sicherlich war es nicht mehr als Zufall, nichts, das es rechtfertigte, irgendwelche voreiligen Schlüsse zu ziehen, ermahnte er sich. Aber er würde die Augen offenhalten, entschied er. Es war womöglich nicht mehr als ein Verdacht, aber es lohnte sich zweifellos, auf Nummer sicher zu gehen.

Er drehte sich um, verließ die Kabine und schloss die Tür vorsichtig hinter sich. Bald mussten sie die Barriere erreichen, und man hatte ihm gesagt, der Kapitän würde ihm zeigen, wie man sie überquerte. Damit wäre ein für alle Mal das Hindernis überwunden, welches das Königreich davon abhielt, zur See zu fahren.

* * *

Eryn erwachte, als eine warme Hand an ihrer Schulter rüttelte.

“Sind wir noch immer auf dem verdammten Schiff?”, murmelte sie mit geschlossenen Augen. “Falls ja, hast du hoffentlich eine gute Erklärung dafür, warum du mich geweckt hast.”

Enric lächelte zu ihr hinab. “Das Dorf ist bereits in Sicht, also liegt noch eine Stunde der Qual vor dir.” Eine Stunde, die ihm sicherlich ein paar interessante Einsichten bescheren würde.

“Das ist eine Stunde, die du mir ersparen hättest können!”, stöhnte sie. “Das machst du mit Absicht! Habe ich dir in letzter Zeit irgendetwas getan, das es rechtfertigen würde, dass du mich dermaßen quälst?”

Er gab vor, kurz nachzudenken. “Nein, nicht dass ich mich erinnern könnte. Aber es ist immerhin allgemein bekannt, dass ich eine Vorliebe dafür habe, hilflosen Frauen Agonien zu bereiten. Und jetzt steh auf, komm an Deck und schnappe ein wenig frische Luft. Das wird dir guttun.”

“Das soll wohl ein Scherz sein? Du weißt ganz genau, was passiert, wenn ich an Deck gehe! Warum tust du mir das an?”, klagte sie und spürte, wie sie auf die Füße gezogen und mehr oder weniger die Stufen hinauf und nach draußen gezerrt wurde. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit des Sonnenlichts, hob sie rasch eine Hand, um ihre Augen zu beschatten. Die steife Brise ließ sie frösteln, aber Enrics Arm um ihre Schultern zog sie an seinen warmen Körper.

“Wir müssen uns umziehen. Diese Kleidung ist für das Klima zuhause nicht wirklich geeignet”, murmelte er und beobachtete, wie sie die Wellen anstarrte, auf denen das Schiff auf und nieder schaukelte.

Sie schloss ihre Augen, und erneut wich ihr die Farbe aus dem Gesicht. Auch er spürte, wie das Gefühl von zuvor zurückkehrte und in ihm den Drang auslöste, sich an irgendetwas Festem anzuhalten, um seinen Magen davon zu überzeugen, dass diese Empfindung, nach oben und unten geschleudert zu werden, nichts anderes als eine ungerechtfertigte Überreaktion war.

Trotz der unangenehmen Empfindung lächelte er. Es schien, als stünde Eryn eine kleine Überraschung bevor, wenn auch keine, von der sie besonders angetan sein würde. Er war gespannt, wie lange es dauerte, bis sie es selbst herausfand.

* * *

“Da ist sie! Ich kann sie sehen!”, rief sie begeistert aus. “Niemals hätte ich gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem ich mich freue, sie zu erblicken!”

Enric blickte ebenfalls auf, als die verschwommenen Umrisse der Stadt Anyueel am Horizont auftauchten. “Es wärmt mein Herz, dass du so glücklich darüber bist, zurückzukehren, meine Liebste”, lächelte er und ergriff ihre Hand, um einen Kuss darauf zu drücken. Und das tat es tatsächlich. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie kein einziges Mal davon gesprochen, dass sie ihr kleines Haus in dem Dorf, in dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte, vermisste. Das musste bedeuten, dass sie ihr gemeinsames Haus hier in der Stadt als ihr Heim betrachtete. Zumindest hoffte er das.

Urban trottete neben den Pferden her und hob ihren Kopf, um zu Eryn aufzusehen, nachdem sie ihrer Freude darüber, Anyueel in der Ferne zu erkennen, Ausdruck verliehen hatte.

“Der Innenhof für sie sollte mittlerweile fertig sein”, bemerkte Enric mit einem kurzen Blick auf die Katze. “Bäume, Felsen, alles. Mit ein wenig Glück sind die Arbeiten am Durchgang zwischen den Gebäuden ebenfalls beendet. Andernfalls werden die Diener wohl ein wenig… nervös sein.”

Eryn zuckte mit den Schultern. “Warum sollten sie? Bislang hat sie noch nie jemandem etwas getan.”

“Trotzdem. Wir sprechen hier über ein wildes Tier. Und wenn sie auch noch nicht ganz ausgewachsen ist, so hat sie dennoch einen erheblichen Vorteil eingebüßt: Sie ist mittlerweile eher furchterregend als niedlich.”

“Wenn ein vierjähriges Mädchen keine Angst vor ihr hat, sollte man meinen, dass auch Erwachsene irgendwie mit Urban zurechtkommen werden”, strich sie hervor.

“Kinder in diesem Alter haben noch kein angemessenes Verständnis für Gefahr, Eryn. Obal hätte wohl ebenfalls versucht, ein komplett wildes Tier zu streicheln, wenn eines in der Nähe gewesen wäre. Vran’els Reaktion war wesentlich natürlicher. Und du musst auch bedenken, dass ein Teil meines Rufs in Takhan darauf basiert, dass ich die Straßen der Stadt mit einem recht imposant wirkenden wilden Tier durchstreift habe”, erklärte er.

Sie seufzte. “Na gut, ich beuge mich deiner überlegenen Weisheit. Wieder einmal. Hoffen wir also, dass der Durchgang fertig ist, oder wir werden uns für eine Weile selbst um das Kochen und Putzen kümmern müssen. Nicht, dass mich das allzu sehr stören würde – ich musste es immerhin für lange Zeit selbst tun, als ich noch allein lebte. Aber ich fürchte, dass uns dafür nicht allzu viel Zeit bleibt. Ich frage mich, wie es im Heilergebäude aussieht. Vollkommenes Chaos? Oder ist überhaupt niemandem aufgefallen, dass ich weg war? Ich weiß nicht, was schlimmer wäre.”

“Für dich? Letzteres wahrscheinlich”, lächelte er. “Ich werde langsam hungrig. Wir sollten die Stadt in ungefähr eineinhalb Stunden erreichen. Also am frühen Abend. Dann haben wir noch Zeit, heimzugehen, eine Kleinigkeit zu essen, uns zu waschen und in saubere Kleidung zu schlüpfen, aber mehr nicht.”

Sie zog die Stirn in Falten. “Dann besteht also überhaupt keine Chance, dass wir dem König morgen anstatt heute Abend unsere Aufwartung machen?”

“Nein. Er hat bereits länger als geplant auf uns gewartet – etwa zwei Wochen länger. Er will sichergehen, dass wir tatsächlich zurückgekehrt sind. Und so schnell wie möglich von den neuesten Ereignissen erfahren. Die letzte Nachricht, die er von mir erhalten hat, ist bereits einige Tage alt. Danach müssen wir noch zu Tyront. Er wird alles erfahren wollen, was ihm der König nicht mitgeteilt hat. Kilan war immerhin nur dazu angewiesen, den König zu informieren. Die Informationen, über die Tyront verfügt, sind also gefiltert.”

“Das wird also noch ein sehr langer Tag”, stöhnte sie. “Und ich wollte einfach nur in mein Bett fallen und den Schlaf nachholen, den ich in den letzten Nächten versäumt habe.”

“Ich bedaure, meine Liebste. Dafür stehen die Chancen in den nächsten paar Stunden eher schlecht.”

* * *

Die vier Wachen am Westtor verbeugten sich, als die zwei hochrangigen Magier an ihnen vorbeiritten. Seltsam, dachte Eryn, wie befremdlich dieses formelle Verhalten nach nur wenigen Wochen in Takhan nun auf sie wirkte.

Sie ritten durch die Stadt zu ihrem Haus, und Enric pfiff durch die Zähne, als er die Leute sah, die sich davor versammelt hatten.

“Sieh an. Es scheint, als hätte sich die Kunde unserer Ankunft verbreitet, nachdem man uns erspäht hat”, murmelte er.

Eryn trieb ihr Pferd an, bis sie nahe genug war, um abzusteigen. Sobald ihre Füße den Boden berührten, fand sie sich auch schon in einer festen Umarmung mit einem gewissen sechzehnjährigen Jungen.

“Endlich!”, flüsterte er. “Ich hatte solche Angst, dass sie dich nicht wieder fortlassen!”

Sie drückte ihn ebenfalls und bemerkte, dass seine Wangen nicht länger auf gleicher Höhe mit ihren eigenen waren. War es möglich, dass er in dieser kurzen Zeit ihrer Abwesenheit so in die Höhe geschossen war?

“Mir ging es genauso”, erwiderte sie. “Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, wieder hier zu sein.”

“Lass sie los, Vern”, tadelte Orrin milde, als er keinerlei Anstalten machte, sie wieder freizugeben. “Ein paar andere wollen sie auch gerne begrüßen.”

Mit offenkundigem Widerwillen löste Vern seine Arme von ihr, und kurz darauf presste ihr Orrin mit einer wesentlich festeren Umarmung die Luft aus den Lungen. Sie lächelte über diese für ihn ungewohnte körperliche Zurschaustellung von Zuneigung.

“Sieh dich an, du alter Weichling! In meiner Abwesenheit bist du ganz sanft geworden, weil du niemanden mehr zum Foltern und Antreiben hattest! Oder ist das Junars Einfluss?”, lachte sie und drückte ihn ebenfalls.

“Halt die Klappe”, knurrte er. “Wir waren krank vor Sorge um dich, nachdem wir erfuhren, dass man dich dort drüben irgendeines Verbrechens bezichtigt hatte. Das nächste Mal, wenn du dorthin gehst, werde ich dich ebenfalls begleiten. Ein Mann allein reicht eindeutig nicht aus, um dich im Auge zu behalten.”

“Das reicht, jetzt bin ich dran”, beschwerte sich Junar hinter ihnen, und Orrin trat zur Seite, damit sich die beiden Frauen als nächstes umarmen konnten.

Enric beobachtete die Szene, verblüfft von diesem Gefühl von Bedauern und Verlust, das er verspürte. Anders als in Takhan, wo er von einigen Leuten – sowohl Männern als auch Frauen – gedrückt und geküsst worden war, wagte es hier niemand, ihn zu umarmen. Zum ersten Mal in mehr als zehn Jahren fragte er sich, ob dieser Ruf, den er sich so sorgsam erarbeitet hatte, die Einsamkeit wert war, die damit einherging. Sein Aufenthalt in den Westlichen Territorien hatte ihn mit einer ganz anderen Art von sozialen Beziehungen vertraut gemacht. Einerseits gab es diejenigen, die mit Ehrfurcht zu ihm aufblickten – vorwiegend Leute, die er bei Verhandlungen kennengelernt hatte – und solche, die zwar angemessen beeindruckt von ihm waren, aber eher in privater Funktion mit ihm zu tun hatten und somit hinter diese offizielle Maske blicken konnten. Hier in Anyueel gab es kaum jemanden, der das wagte. Abgesehen von Tyront und dem König. Die beiden taten es allerdings nicht aus bloßer Geselligkeit, sondern weil er, genau wie die beiden, ein Teilnehmer an dem politischen Spiel war; und seine Mitspieler zu kennen war maßgeblich, um sowohl Überleben als auch Erfolg sicherzustellen.

Er blickte überrascht auf, als ihm jemand einen herzhaften Schlag auf die Schulter verpasste. Orrin nickte ihm zu.

“Es ist gut, euch beide wieder hier zu haben”, war alles, was er sagte, aber es klang aufrichtig.

“Es ist gut, wieder zurück zu sein. Endlich”, erwiderte Enric und lächelte dem Krieger zu. Wer hätte gedacht, dass Orrin der Einzige sein würde, der ihm zumindest ein wenig das Gefühl von Willkommensein vermittelte?

Im Hinterkopf überlegte er, ob er Anstrengungen unternehmen wollte, etwas daran zu ändern, ob er daran arbeiten wollte, hier in Anyueel Freundschaften zu etablieren. Konnte das überhaupt funktionieren? Die Leute hier waren weniger aufgeschlossen, weniger zwanglos, leichter eingeschüchtert von Rang und Macht. Er stellte sich vor, dass Eryn den Kontrast, hier wieder mit Lady angesprochen zu werden, jetzt noch stärker wahrnehmen würde. Aber sie hatte immerhin einige Menschen um sich, die davon ohnehin Abstand nahmen, da sie diese Leute nahe genug an sich herangelassen hatte, damit sie den Titel beiseite ließen.

In der gesamten Stadt gab es nicht mehr als vier Menschen, die davon absahen, Enric mit Lord anzusprechen. Tyront, dessen Gefährtin Vyril, Kilan und Eryn. Vor Eryn waren es nur zwei gewesen, da er in den letzten zehn Jahren keinen Kontakt mit Kilan gepflegt hatte.

Er bemerkte, wie Eryn verwirrt die Stirn runzelte, während sie mit Plia sprach und fragte sich, ob sie etwas von seinen Gefühlen aufgefangen hatte und sich nun wunderte, woher diese Melancholie kam, wenn sie selbst doch Freude und Erleichterung über ihre Rückkehr verspürte.

“Ist alles in Ordnung, Liebste?”, erkundigte er sich und legte einen Arm um ihre Schultern.

Sie nickte und pflasterte ein Lächeln auf ihr Gesicht, um ihre Verwirrung zu verbergen. “Ja, ich bin nur ein wenig erschöpft, das ist alles.”

Enric fiel auf, wie Junar, Vern und Plia um sie herum bei seinem Näherkommen einen kleinen Schritt zurücktraten.

Junars Augen wurden groß, als sich Urban einen Weg bahnte und ihren Kopf an Enrics Beinen rieb. “Seht euch die Katze an! In den letzten Wochen ist sie ordentlich gewachsen. Wenn sie noch größer wird, könnt ihr das nächste Mal auf ihr anstatt einem Pferd reiten.”

“Sie wird in den nächsten zwei oder drei Monaten womöglich noch ein wenig wachsen, aber das sollte es dann gewesen sein”, erklärte Enric und bückte sich, um die Wangen der Katze zu kraulen.

“Sieh mal einer an! Ihr habt es also geschafft, den Klauen des fremden Senats zu entkommen!”, rief eine amüsierte Stimme hinter ihnen.

Sie sahen, wie Kilan sich näherte. Die wenigen Leute um sie herum drehten ihre Köpfe, und Münder standen vor Staunen offen, als sich die beiden Männer herzlich umarmten. Lord Enric jemanden umarmen zu sen, war nicht gerade ein alltäglicher Anblick.

Kilan wandte sich daraufhin an Eryn. “Man warnte mich, dass du Ärger bedeutest. Aber ich wollte es nicht glauben. Das war wohl ein Fehler.”

Sie verdrehte die Augen. “Das sagt mir der Mann, der in meiner Stunde der Not auf das nächste Schiff gesprungen und davongesegelt ist.”

Seine Miene wurde ernst. “Glaub mir, das war eines der schwersten Dinge, die ich jemals in meinem Leben zu tun hatte. Ich hoffe, dass ich mich nicht so schnell wieder in so einer Situation finde. Aber ich hatte meine Befehle.”

“Das war nicht so gemeint, Kilan”, seufzte sie. “Dass du zurückgekehrt bist, war die einzig sinnvolle Option. Besonders, da der König über diese ganze Misere natürlich Informationen aus erster Hand benötigte.”

Er lächelte erleichtert und drückte ihre Hand. “Das ist wohl wahr. Aber beim nächsten Mal werden wir es einfach anstreben, dass dich niemand anklagt, was meinst du?”

“Ich tue mein Bestes, nur damit du glücklich bist”, grinste sie. “Aber ich hoffe, dass es so bald keine weitere Gelegenheit für uns geben wird, gemeinsam nach Takhan zu reisen, also musst du dich deswegen nicht sorgen.”

“Darauf würde ich nicht wetten, Eryn”, meinte er kopfschüttelnd.

“Warum nicht?”, fragte sie, dann runzelte sie die Stirn. “Du sagst mir doch nicht etwa, dass sie dich dorthin zurückschicken?”

“Nun, da gibt es eine offene Stelle als ständiger Botschafter in Takhan, da der Mann, der sich ursprünglich für den Posten beworben hat, sich anders entschied, nachdem seine Gefährtin aus dem Gewahrsam entlassen wurde”, lächelte er.

Das führte zu Erstaunen bei den Leuten um sie herum, und Eryn erinnerte sich daran, dass sie wahrscheinlich über die wichtigen Dinge, die vorgefallen waren, nicht Bescheid wussten. Da gab es einiges zu erklären, dachte sie und seufzte innerlich. Und das bedeutete, dass sie die Geschichte vom Tod ihres Vaters erneut würde erzählen müssen. Aber nicht heute.

“Was sind die Pläne für die nächsten paar Tage?”, warf Vern ein. “Auspacken? Geschenke unter deinen engsten Freunden verteilen?”, fügte er mit einem hoffnungsvollen Schimmer in den Augen hinzu.

Das brachte sie zum Lachen. “Nun, letzteres offensichtlich.” Ihre Miene wurde wieder ernst. “Heute Abend müssen wir an die oberen Ränge berichten, und morgen will ich mir ansehen, wie die Dinge im Heilergebäude stehen.”

“Der Rat der Magier will dich morgen womöglich ebenfalls sehen”, rief Enric ihr ins Gedächtnis.

“Ich habe darauf gezählt, dass du sie mit all den pikanten Details versorgst. Ich möchte wirklich, wirklich gerne zu meiner Arbeit zurückkehren”, sagte sie und hoffte, dass er ihr in dieser Sache entgegenkommen würde. Als er zustimmend nickte, lächelte sie.

“Ich werde versuchen, sie zu überzeugen, dass sie dich morgen nicht unbedingt zu sehen brauchen. Aber früher oder später wirst du dort auftauchen müssen.”

Sie nickte. “Fein, solange es nicht in den nächsten ein oder zwei Tagen ist. Da habe ich Wichtigeres zu tun.”

Orrin schnaubte. “Der Rat der Magier wird immens erfreut sein, wenn er erfährt, dass du ihn nicht als wichtig genug erachtest, um ihm eine oder zwei Stunden deiner wertvollen Zeit zu opfern.”

“Nun, von mir werden sie es nicht erfahren”, meinte sie schulterzuckend.

“Dir ist schon klar, dass ich selbst und Lord Orrin Mitglieder des Rats sind?”, fragte Enric. “Streng genommen hat der Rat somit also bereits davon erfahren.”

Sie lachte. “Aber ich vertraue darauf, dass meine zwei Lieblingsmitglieder mir deswegen keinen Ärger verursachen werden.”

Orrin grinste breit und legte einen Arm um ihre Schultern. “Vertrauen, mein Mädchen, ist ein Luxus, der dich verwundbar macht.”

Eryns Gesicht verfinsterte sich. “Ja, diese Lektion habe ich in der Fremde verinnerlicht”, sagte sie leise.

Orrin zog die Stirn in Falten. “Hm, es scheint, als hätte ich genau das Falsche gesagt. Es tut mir leid. Du wirst mir davon erzählen müssen. Bald.” Es war nicht direkt ein Befehl, aber auf jeden Fall mehr als eine höfliche Anfrage. Sie lächelte ihm zu und nickte. Es tat gut zu sehen, dass sich manche Dinge wohl niemals ändern würden. Ganz egal, wie weit ihr Rang sie emporhob, bei diesem Mann konnte sie sich stets darauf verlassen, dass er ihr sagte, was sie zu tun hatte.

“So, und jetzt gehen wir besser aus dem Weg und lassen sie nach ihrer Reise zu ihrem Heim zurückkehren. Sie haben noch Arbeit vor sich”, rief Orrin aus, woraufhin die beiden endlich die letzten paar Schritte zu ihrem Haus zurücklegen konnten.

* * *

Eryn runzelte verwirrt die Stirn, als eine der Palastwachen vor den Türen des Thronsaals ihnen bedeutete, ihm zu folgen, anstatt sie eintreten zu lassen.

“Nach der Richtung zu urteilen, wird uns der König in seinem Arbeitszimmer empfangen”, murmelte Enric. “Womöglich ein Zugeständnis daran, dass wir den ganzen Tag auf Reisen waren. Vorausgesetzt, er bietet uns einen Sitzplatz an”, fügte er trocken hinzu.

Sie nickte langsam. In einem Arbeitszimmer zu sitzen war definitiv ein ansprechenderer Gedanke als auf müden Beinen vor ihm stehen zu müssen. Sie war noch nie zuvor in seinem Arbeitszimmer gewesen und fragte sich, ob es aufgrund der Wichtigkeit des Mannes irgendwie besonders aussehen würde.

Die Wache verbeugte sich vor ihnen und entfernte sich, nachdem sie eine unauffällig aussehende Tür erreicht hatten.

“Das ist die richtige Tür? Bist du sicher? Sie wirkt unerwartet bescheiden”, kommentierte sie.

“Das ist schon der richtige Ort”, nickte Enric und klopfte an die Tür.

“Herein”, rief eine dumpfe Stimme dahinter. Sie traten ein und sahen sich Marrin gegenüber, der von seinem Platz hinter seinem Schreibtisch aufstand und zu Enrics Überraschung bei ihrem Anblick wahrlich erfreut wirkte.

“Lady Eryn, Lord Enric. Welch eine Erleichterung, Euch sicher zurück zu haben. Seine Majestät erwartet Euch”, lächelte er und zeigte auf eine Tür zu seiner Rechten.

“Danke, Marrin”, erwiderte Enric. “Wir sind froh, zurück zu sein.” Dann öffnete er die Tür und ließ Eryn zuerst eintreten. Marrin folgte ihnen in den Raum und schloss die Tür hinter sich, bevor er wie üblich zur Seite trat und mehr oder weniger mit seiner Umgebung zu verschmelzen schien – wie ein unauffälliges Möbelstück.

Eryn sah sich um und war beinahe ein wenig enttäuscht darüber, wie durchschnittlich das Zimmer wirkte mit seinen Büchern, Papieren und Schreibutensilien. Elegant, aber nicht aufwändiger als ihr eigenes Arbeitszimmer. Anders als der Thronsaal war das hier ein Arbeitszimmer und kein Ort für kühne Machtdemonstrationen.

Der König stand hinter seinem Schreibtisch und blickte, seinen Rücken ihnen zugewandt, zum Fenster hinaus. Er drehte sich um, als sie eintraten und sich verbeugten.

Eine Weile sah er sie an, bevor er nickte, offenkundig zufrieden mit dem, was er erblickte. “Die Delegation ist schlussendlich doch vollständig zurückgekehrt. Wir hatten schon begonnen, uns etwas zu sorgen.”

Eryn unterdrückte ein Schnauben. Er hatte sich gesorgt? Nicht halb so viel wie sie selbst, als sie sich mit der Bedrohung konfrontiert sah, zwei Jahre lang an diesem Ort festgehalten zu werden, dachte sie.

“Ich bedaure zu hören, dass meine Schwierigkeiten Euch Sorge bereitet haben, Eure Majestät”, erwiderte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ich versichere Euch, dass es nicht mit Absicht geschah.”

Der Monarch zog eine Braue hoch. “Ich sehe, dass Euer Aufenthalt in Takhan Eure Einstellung Autorität gegenüber kein bisschen verändert hat, Lady Eryn. Ich denke, wir können uns glücklich schätzen, dass Euer Gefährte an Eurer Seite war, oder das Ergebnis der Verhandlung wäre wohl weniger günstig ausgefallen.”

Der warnende Unterton in seiner Stimme ließ sie die Weisheit überdenken, ohne ausdrückliche Aufforderung zu sprechen. Also gut, dann also zurück zu dem, was sie vor ihrer Abreise praktiziert hatten: Enric würde das Reden übernehmen.

Sie wunderte sich über dieses leichte Gefühl von Missfallen, das sie verspürte und sah Enric an. Bildete sie sich das nur ein? Sie suchte in seinem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen, aber fand nichts – nur die übliche Gelassenheit und Kontrolle, die er in der Öffentlichkeit an den Tag legte. Also hatte wohl ihre Vorstellungskraft dieses Gefühl heraufbeschworen. Immerhin hatte sie ihn mittlerweile ziemlich gut kennengelernt. Natürlich würde er nicht gutheißen, wie sie gerade mit dem König gesprochen hatte. Interessant war allerdings, dass sie offenbar dazu übergegangen war, seine Gefühle nicht nur zu erahnen, sondern sich auch einredete, ein Echo davon zu verspüren.

“Ist alles in Ordnung, Lady Eryn? Ihr wirkt ein klein wenig abgelenkt”, bemerkte der König.

“Verzeiht, ich bin nur ein wenig müde. Es war eine lange Reise.”

“Dann darf ich Euch beide ersuchen, Platz zu nehmen und Eure müden Glieder auszuruhen”, lächelte er. “Ich muss sagen, dass Euer Anblick, ebenso wie Kilans nach seiner Rückkehr, etwas exotisch anmutet mit Eurer gebräunten Haut und Lord Enrics ausgebleichten Haaren. Wie seid Ihr mit dem Klima zurechtgekommen?”

Eryn lächelte höflich und wartete darauf, dass Enric antwortete. Er wollte jetzt tatsächlich über das Wetter reden? Wirklich?

“Für unsere Verhältnisse war es ungewöhnlich warm, aber nachdem wir unsere Garderobe den Bedingungen vor Ort anpassten, war es weitgehend angenehm. Die Einheimischen haben ihren Tagesablauf an das Klima angepasst und vermeiden es, zur heißesten Tageszeit draußen unterwegs zu sein. Das bedeutet, dass sie am Abend im Allgemeinen später zu Bett gehen”, erklärte Enric.

Oh, dachte sie. Die Wetter-Frage war also offensichtlich eine Einladung gewesen, über die Gebräuche zu sprechen anstatt nur bedeutungsloses Gerede von sich zu geben. Andeutungen, dachte sie müde. Warum konnten die Leute nicht einfach sagen, was sie wollten anstatt darauf zu bauen, dass ihr Gegenüber es erriet?

Sie spürte, wie Enrics Hand ihre ergriff und drückte. Ihr drängte sich der Gedanke auf, dass es als Warnung gemeint war. Aber weshalb? Sie zeigte keinerlei äußere Anzeichen ihrer Ungeduld, dessen war sie sich vollkommen sicher.

“Über die allgemeinen Entwicklungen bin ich mir natürlich dank Kilans Bericht nach seiner Rückkehr und auch der Nachricht, die Ihr mir nach der Entscheidung des Senats zukommen habt lassen, informiert. Aber da gibt es sicher noch einiges mehr. Eure Nachricht, die uns darüber in Kenntnis setzte, dass die Verhandlung zu Euren Gunsten endete und dass Ihr erst ein paar Tage später zurückkehren würdet, war recht knapp gehalten”, hörte sie ihn sagen, in seiner Stimme ein Anflug eines Tadels erkennbar.

Enric nickte. “Ihr vermutet richtig, Eure Majestät. Erlaubt mir, Euch detaillierter über die Vorkommnisse zu informieren. Ihr wisst über die Situation zwischen Ram’an und Lady Eryn Bescheid, nehme ich an?”

Der König nickte. “Falls Ihr seinen Anspruch auf sie aufgrund einer Vereinbarung zwischen ihren beiden Familien, als beide noch Kinder waren, meint, dann ja. Soweit ich das verstehe, wurde Lady Eryn für die Dauer des Verfahrens seiner Aufsicht unterstellt.”

Gut, dachte Eryn mürrisch, zumindest mussten sie hier nicht mehr in die Tiefe gehen, als absolut nötig war. Kilan hatte offensichtlich einen gründlichen Bericht abgeliefert.

“Ja”, bestätigte Enric. “Wenngleich der Senat so rücksichtsvoll war, dieses Arrangement in die Residenz der Familie von Lady Eryns Vater anstatt die von Ram’an zu verlegen.”

“Dies aufgrund einer recht eindrucksvollen Demonstration Eures Missfallens, sofern meine Informationen der Realität entsprechen?”, wollte der König mit einer hochgezogenen Augenbraue wissen.

“Das wurde wohl in die Überlegungen miteinbezogen, ja”, gab Enric unumwunden zu. “Ich selbst wurde beim stärksten der drei Triarchen untergebracht. Es scheint, als läge meine Stärke in den Westlichen Territorien ebenfalls ein wenig über dem Durchschnitt. Daher erachtete man es als weise, mich für die Dauer meines freiwilligen Aufenthalts ebenfalls unter Beobachtung zu stellen.”

“Man hätte Euch jederzeit abreisen lassen, wenn das Euer Wunsch gewesen wäre?”, erkundigte sich der König.

“Ich vertraue darauf, dass das der Fall gewesen wäre, ja”, nickte der Magier. “Schlussendlich denke ich, dass man es womöglich sogar vorgezogen hätte, wenn ich abgereist wäre. Man wusste nicht so recht, was man von mir zu erwarten hatte.”

“Soweit ich das verstanden habe, war es Lady Eryns eigene Mutter, die die Anschuldigungen vorbrachte. Ich gehe davon aus, dass dies die politische Landschaft maßgeblich verändert hat. Nach meinen Informationen hat sich Lady Eryn als die alleinige Erbin einer mächtigen Familie herausgestellt. Eine unbequeme Entwicklung, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt.”

Eryn lächelte grimmig. “Keine, die Euch irgendwelche weiteren Sorgen bereiten wird, Eure Majestät. Ich habe diesen Umstand nach der Verhandlung korrigiert, indem ich mich von Haus Aren lossagte und damit sämtliche Bande durchtrennte.” Sie warf ihrem Gefährten einen verärgerten Blick zu. “Oder zumindest dachte ich das zu diesem Zeitpunkt.”

Sie bewunderte die eiserne Kontrolle, mit der der König seine Gesichtszüge im Zaum hielt. Der einzige Hinweis auf seine Überraschung waren gespitzte Lippen.

“Ihr habt Euch also von einem mächtigen Haus losgesagt? Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr damit einen beträchtlichen persönlichen Vorteil aufgegeben habt, wenn ich mich nicht irre. Der Status der Zugehörigkeit zu einem Haus reflektiert auch den sozialen Status einer Person, wie man mir zu verstehen gab. Besonders wenn es sich um einen Magier in den Westlichen Territorien handelt.”

“Das ist tatsächlich der Fall. Allerdings habe ich diesen Vorteil nicht wirklich aufgegeben, da ich anschließend in ein anderes Haus adoptiert wurde”, erklärte sie. So viel dazu, Enric das Reden zu überlassen.

Der König schwieg einige Augenblicke lang, dann lächelte er kaum wahrnehmbar. “Haus… Vel’kim, vermute ich? Die Familie Eures Vaters?”

“Ja”, bestätigte sie, etwas verdrossen über seine schnelle Auffassungsgabe. Warum war es nur dermaßen schwierig, ihn unvorbereitet zu erwischen? Nun, es blieb abzuwarten, wie sehr ihm Enrics kleines Spiel zusagen würde.

“Ich hätte gedacht, dass Ihr weniger willig sein würdet, Euch an eine andere Familie zu binden, wenn man bedenkt, was zwischen Euch und Eurer Mutter vorgefallen ist. Liege ich richtig, wenn ich davon ausgehe, dass es einen Grund für diesen raschen Anschluss an ein anderes Haus gab?”, fragte er.

Verdammt sollte er sein, dachte sie. Wie machte er das nur? Gab es da kein einziges Detail, das sie für sich behalten konnte? Diese Sache war zu eng verknüpft mit ihrer eigenen, persönlichen Geschichte mit Ram’an. Zu privat, als dass er es wissen sollte. Aber es ihm zu verschweigen, wenn er sie direkt danach fragte, kam einer Befehlsverweigerung gleich.

Sie atmete gleichmäßig aus. “Den gab es tatsächlich. Mein Cousin ist ein Rechtsgelehrter und vermutete, dass Ram’an plante, mich aufgrund eines altertümlichen aber noch immer rechtskräftigen Gesetzes als Mitglied seines Hauses zu beanspruchen. Die noch immer gültige Kommitment-Vereinbarung, die unsere Mütter abgeschlossen hatten, hätte ihm das ermöglicht.”

“Aber nur, sofern Ihr nicht bereits ein Mitglied eines anderen Hauses seid?”, fragte der König.

“So ist es”, nickte sie.

“Ihr erwähntet, dass Ihr dachtet, Eure Bindung an das Haus Eurer Mutter sei beendet. Dies vermittelt mir den Eindruck, dass dem nicht so ist?”

“Mit Eurer Erlaubnis würde ich vorschlagen, dass mein Gefährte dies näher ausführt. Ich denke, dass er die dahinterliegenden Motive… überzeugender darlegen kann als ich es vermag.”

Der fragende Blick des Königs wanderte zu Enric.

“Lady Eryn bezieht sich auf meine Zustimmung zu Malriels Begehren, mich als ihren Sohn in Haus Aren zu adoptieren”, sagte er langsam.

Eryn verspürte Triumph in sich aufwallen, als sich die Augen des Königs weiteten. “Wie bitte?”

Endlich! Es war also doch möglich, sogar diesen scheinbar kaltblütigen Kerl zu überraschen.

Der Monarch bedeckte einen Moment lang seine Augen mit einer Hand, bevor er seine Kontrolle wiedererlangt hatte. “Was Ihr mir also sagt, Lord Enric, ist, dass Ihr Euch in ein mächtiges Haus adoptieren habt lassen, um Lady Eryns Platz als Erbe auf den Titel des Oberhaupts einzunehmen? Dies bedeutet natürlich, dass Ihr Euch in der Folge freiwillig der dortigen Rechtsprechung unterworfen habt.”

“In der Tat”, bestätigte Enric. Eryn warf ihm einen kurzen Blick zu. Er wirkte vollkommen entspannt, weder seine Gesichtszüge, noch seine Haltung zeugten von irgendetwas anderem als Gelassenheit. Warum hatte sie dann den Eindruck, dass er angespannt war und sogar scheute, was auf ihn zukam?

“Lord Enric”, sagte der König langsam und sorgfältig, während er seine Finger miteinander verschränkte. “Das bedeutet, dass Ihr Euch nun sozusagen zum Diener zweier Herren gemacht habt. Soweit ich das verstehe, sind die Häuser in Takhan auch ein integraler Bestandteil des lokalen politischen Systems. Ihr seid hier bereits politisch involviert und werdet dies früher oder später nun auch in den Westlichen Territorien sein. Das bringt uns hier in eine sehr schwierige Situation, da wir wohl irgendwann zu einem Punkt gelangen werden, wo wir uns fragen müssen, wo Eure wahre Loyalität liegt.”

Oh nein, dachte Eryn, das klang, als wäre Enric in Schwierigkeiten. Das war kein gutes Vorzeichen.

“Wie steht es um Eure Absicht, die Position des Oberhaupts von Haus Aren zu übernehmen, Lord Enric? Habt Ihr irgendwelche Ambitionen in diese Richtung? Ich würde annehmen, dass dies eine maßgebliche Überlegung bei Eurer Adoption gewesen sein muss. Ich kann verstehen, weshalb Ihr für Malriel eine wünschenswerte Wahl wart. Ihr seid sowohl ein erfahrener Anführer mit beträchtlichem Einfluss und auch der Gefährte ihrer abtrünnigen Tochter. Damit wart Ihr für diese Position der offensichtliche Kandidat. Dennoch komme ich nicht umhin, mir die Frage nach Euren eigenen Beweggründen für diesen Schritt zu stellen.”

Enric tat einen tiefen Atemzug, bevor er antwortete: “Lasst mich Euch versichern, Eure Majestät, dass meine Loyalität beim Königreich und dem Orden liegt, genau wie zuvor. Mein Hauptgrund dafür, Malriels Bitte bezüglich der Adoption nachzukommen, war der, Lady Eryns neues Haus vor Schaden zu bewahren. Wie Ihr Euch aufgrund der Geschichte der beiden Häuser sicher vorstellen könnt, war Malriel recht ungehalten über die anstehende Adoption ihrer Tochter in das Haus des Mannes, der sie ihr vor so vielen Jahren gestohlen hatte. Malriels Bedingung dafür, ihnen nicht erheblichen Schaden zuzufügen, war meine Zustimmung, als eine Art… Entschädigung für ihren Verlust zu dienen.”

Der König betrachtete ihn einige Sekunden lang eingehend, bevor er lächelte. “Das scheint mir eine noble, selbstlose Geste, die der starken Bindung zu Eurer Gefährtin entspringt. Und dennoch drängt sich mir der Verdacht auf, dass Ihr selbst davon ebenfalls profitieren werdet.”

“Nicht nur ich selbst, Eure Majestät”, erwiderte er milde, “sondern wir alle. Der ständige Kontakt mit jemandem, der nicht nur ein hochrangiges Mitglied der Gesellschaft in Takhan, sondern auch des Senates ist, wird unsere politischen Verbindungen erheblich stärken.”

König Folrin nickte. “Richtig. Und dennoch hätte ich es vorgezogen, wenn Ihr diese Entscheidung nicht ohne meine Zustimmung getroffen hättet.”

“Ich verstehe, Eure Majestät”, nickte Enric.

Der Monarch hob eine Braue. “Keine Entschuldigungen, dass die Zeit drängte, Lord Enric?”

Enric lächelte schwach. “Ich hatte den Eindruck, dass Ihr das nicht besonders schätzen würdet, Eure Majestät.”

Der König lehnte sich zurück und seufzte ausgiebig. “Das würde ich nicht, nein. Allerdings hält das die Leute im Allgemeinen nicht davon ab, mich damit zu ermüden. Gibt es sonst noch etwas, über das Ihr mich zu informieren wünscht? Vielleicht weshalb Eure Abreise um einige Tage verschoben wurde, nachdem das Verfahren zu Euren Gunsten ausging?”

“Der Grund dafür, Eure Majestät, war, dass Lady Eryn und ich in etwas eingetreten sind, das in den Westlichen Territorien als Kommitmentband dritten Grades bekannt ist”, erklärte Enric.

“Ihr seid heute voll von erstaunlichen Neuigkeiten”, kommentierte der König mit scharfer Zunge. “Ich bin über deren Natur informiert. Eine magische Bindung, die nur denen empfohlen wird, die einander wahrlich in großer Hingebung zugetan sind.” Sein Blick ruhte auf Eryn. “Ein Band, das freiwillig eingegangen werden muss, soweit ich das verstanden habe.”

Sie lächelte. “Ich versichere Euch, Eure Majestät, dass Lord Enrics Entscheidung, das Band auf meinen Antrag hin mit mir einzugehen, vollkommen freiwillig war. Ich habe auf keinerlei Nötigung zurückgegriffen.”

Der König betrachtete sie eindringlich, während er langsam nickte. “Ihr wart also diejenige, die den Wunsch äußerte, eine magische Bindung einzugehen?” Er bemerkte das kurze Aufflackern in ihren Augen und lächelte. “Dennoch komme ich nicht umhin zu denken, dass an der Sache mehr dran ist, habe ich Recht? Ihr wart es, die letztlich die Frage stellte, aber nicht diejenige, die zuerst fragte, nicht wahr?”

Sein Lächeln wuchs in die Breite, als sie verstimmt die Lippen zusammenpresste. “Ihr braucht darauf nicht zu antworten, Lady Eryn. Eure Reaktion ist aufschlussreich genug. Ich gebe zu, dass ich erfreut darüber bin, dass aus diesem Kommitment, in das ich Euch so eilig drängte, in nur wenigen Monaten so etwas Bedeutendes erwachsen ist. Auf beiden Seiten.” Er erhob sich von seinem Stuhl, woraufhin beide seinem Beispiel folgten. “Ich erwarte einen detaillierten Bericht von Euch, Lord Enric. Ich habe wenig Hoffnung, einen von Lady Eryn zu erhalten, nachdem ich von ihrer Abneigung gegen schriftliche Meldungen an ihre Vorgesetzten gehört habe”, fügte er spitz hinzu. “Fügt auch Informationen über die rechtliche Lage der neuen Familiensituationen von Euch beiden sowie über das magische Kommitment hinzu. Ich gehe davon aus, dass Ihr Euch damit vertraut gemacht habt, anstatt Euch einfach blind darauf einzulassen. Und nun dürft Ihr Euch zurückziehen. Lord Tyront ist zweifellos begierig darauf, von diesen höchst interessanten Entwicklungen zu erfahren.”

Eryn verbeugte sich, froh darüber, das erste der beiden Treffen hinter sich zu haben. Allerdings hatte sie wenig Hoffnung, dass die Zusammenkunft mit Lord Tyront sich als angenehmer erweisen würde.

* * *

König Folrin presste Daumen und Zeigefinger einer Hand auf seine Augen.

“Ich bin ratlos, ob ich Lord Enric bewundern oder verfluchen soll. Öffentlich muss ich ihn natürlich für seine Verdienste loben. Wir können unseren neuen Freunden jenseits des Meeres nicht den Eindruck vermitteln, ich würde seine Verbindung mit ihrer Gesellschaft nicht gutheißen, nicht wahr?”, seufzte er müde. “Ich brauche Informationen, Marrin. Wir haben die formelle Einladung erhalten, einen ständigen Botschafter in Takhan zu stationieren, und ich empfehle, dass dein Sohn so bald wie möglich von hier abreist und seine neue Position übernimmt. Wenngleich ich fürchte, dass die Art von Information, die ich von ihm brauche, seine eigene Loyalität auf die Probe stellen wird.”

Marrin hob fragend eine Augenbraue.

“Die Kommitmentbindungen. Dir ist natürlich klar, dass das Band, das wir unseren eigenen Magiern nach Beendigung ihres Trainings auferlegen, das ist, was dort als sogenanntes Kommitmentband zweiten Grades betrachtet wird. Ich könnte mir denken, dass man auch herausgefunden hat, wie sich dieser bindende Effekt aufheben lässt. Früher oder später wird das auch hier öffentlich bekannt werden und die Art der Bindung zwischen der Krone und dem Orden verändern. Bislang haben wir die Magier mehr oder weniger dazu gezwungen, sich an uns zu binden. Sollte sich die Bindung mühelos auflösen lassen, würde sich das zu einem freiwilligen Band wandeln”, erklärte der König mit einem düsteren Gesichtsausdruck.

“Ihr geht also davon aus, dass der Orden selbst nicht darüber im Bilde ist, wie sich die Bindung an die Krone aufheben lässt?”, erkundigte sich Marrin.

Der König lächelte seinen Berater an. “Du kennst mich zu gut, Marrin. Du hast natürlich Recht. Ich bin sicher, dass zumindest Lord Tyront in der Lage wäre, die Wirkung des Eids jederzeit aufzulösen. Womöglich sogar Lord Enric, besonders nach seiner Reise nach Takhan.”

“Falls Eure Annahmen also zutreffen, Eure Majestät, dann hätte der Orden das Band in der Vergangenheit ohnehin freiwillig aufrechterhalten”, strich der ältere Mann hervor.

“Das stimmt. Aber dessen wären sich nur die Anführer des Ordens bewusst, nicht aber die anderen Magier. Es scheint, als ob ein ausführliches Gespräch mit Lord Tyront längst überfällig ist. Aber zuvor werde ich ihm noch einen Tag oder auch zwei gönnen, um sich von den Neuigkeiten zu erholen, die er gleich von unseren beiden Reisenden erhalten wird”, meinte der König mit einem resignierten Lächeln.

* * *

Eryn ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett fallen und gab etwas nur gedämpft Vernehmbares von sich, das von der Matratze verschluckt wurde.

“Das war nicht unbedingt eine verständliche Aussage, meine Liebste. Versuch es noch einmal, ohne dass dein Mund in Stoffe eingegraben ist”, riet ihr Enric.

Sie hob den Kopf. “Ich sagte, dass diese zwei Vorladungen meine Freude über unsere Rückkehr beträchtlich vermindert haben. Ich fühle mich matt und erschöpft. Entkräftet. Wir hätten vorgeben sollen, dass wir erst morgen ankommen und den Abend stattdessen im Geheimen mit Orrin, Junar, Vern und Plia verbringen.”

Die Belustigung, die sie unerwartet überkam, ließ sie die Stirn runzeln, und sie hob ihren Blick zu seinem schiefen Grinsen.

“Weißt du”, sagte sie bedächtig, “irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.”

Sie bemerkte, wie der Ausdruck in seinen Augen aufmerksamer wurde.

“Tatsächlich?”

Ihre Augen verengten sich. “Ja, tatsächlich. Und ich habe den Verdacht, dass du dir dessen sehr wohl bewusst bist. Was ist das hier? Ein kleines Spielchen, um zu sehen, wie lange ich brauche, um es herauszufinden?”

“Was denkst du denn, das nicht stimmen könnte, mein Schatz?”, fragte er sanft und lehnte sich mit verschränkten Armen an eine Kommode in seinem Rücken. “Was hast du denn herausgefunden?”

“Dass sich offenbar meine Wahrnehmung etwas verschärft hat, wenn es darum geht, deine Stimmungen einzuschätzen, denke ich”, sagte sie vorsichtig. “Ich frage mich, ob das daran liegen kann, dass ich mir endlich das ganze Ausmaß meiner Zuneigung zu dir eingestanden habe, oder ob das ein Nebeneffekt unseres Bandes ist.”

“Dann lass mich meine Eindrücke deinen hinzufügen”, bot Enric an. Das würde den Abend wohl noch weniger erfreulich machen für sie, dachte er. “Ich denke nicht, dass deine erste Vermutung der wahre Grund ist. Ich bin mir meiner Gefühle für dich schon seit einer Weile bewusst, habe aber erst kürzlich zum ersten Mal erlebt, was du gerade beschrieben hast.”

Sie nickte. “Dann ist es also das Band. Eine engere Verbindung als zuvor, das Bedürfnis, mehr miteinander zu teilen. Das könnte eine erhöhte Sensibilität für die Stimmungen des anderen mit sich bringen, vermute ich.”

Er seufzte. “Eryn, ich denke, es ist etwas mehr als das. Dieses Mal habe ich unter der Seekrankheit gelitten.”

“Ach ja?”, fragte sie.

“Nur solange du wach warst. Sobald du geschlafen hast, war sie weg”, fügte er leise hinzu.

“Nun, das ist bedauerlich für dich, aber ich sehe nicht…” Ihre Worte verstummten, als ihr die volle Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, klar wurde. Sie sprang vom Bett auf und schüttelte vehement den Kopf. “Nein! Sag mir, dass das nicht wahr ist!”

Er atmete langsam aus. “Wenn ich von dem Ausmaß an Panik in mir ausgehe, die ganz klar nicht meine eigene ist, würde ich sagen, dass es wenig Sinn macht, es abzustreiten.”

Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. “Aber Vran’el sagte, dass das kaum jemals vorkäme! Dass ich mir deswegen keine Sorgen machen müsste!”, klagte sie. “Warum? Warum ist da immer irgendetwas, das mir eine Ohrfeige verpasst, wenn ich mich entschließe, mich jemandem zu öffnen?” Die Flut an Ärger, die sie wie ein heißer Speer durchdrang, ließ sie nach Luft schnappen. Sie starrte zu Enric, der abgesehen von zusammengekniffenen Augen keinerlei Anzeichen von Aufruhr zeigte, während er noch immer vermeintlich gelassen an die Kommode gelehnt stand.

“Wie kannst du das in dir drin halten, ohne dass man etwas sehen kann?”, stöhnte sie und griff auf das zurück, was in der Vergangenheit halbwegs gut funktioniert hatte, wenn sie mit starken Gefühlen umgehen musste: Atmen.

Ein dünnes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. “Gut. Ein sehr effektiver und direkter Weg, um dir meine Ansichten mitzuteilen. Du hast gerade einen kleinen Eindruck davon erhalten, was in mir vorgeht, wenn du davon sprichst, dass du es bedauerst, dich an mich gebunden zu haben.”

“Das wollte ich damit nicht sagen! Ich bedaure es nicht, ich verspreche es!”, rief sie aus, erleichtert, als der Ärger, den er aussandte, merklich abflaute.

“Wir brauchen Hilfe in dieser Sache”, sagte er. “Wenn wir streiten, hat keiner von uns eine Chance, ruhig und vernünftig zu bleiben, wenn wir zusätzlich zu unseren eigenen Gefühlen auch noch die des anderen erfahren. Ich werde Valrad morgen eine Nachricht schicken und ihn ersuchen, uns sämtliche Information zukommen zu lassen, die er über diese geistige Bindung hat. Erwarte aber nicht zu viel. Du hast Vran’el gehört; da es nicht oft vorkommt, wurde auf diesem Gebiet nicht besonders viel geforscht.”

Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck entlockte ihm ein Seufzen, und er stieß sich von der Kommode ab, um sich zu ihr aufs Bett zu setzen. “Das muss nicht unbedingt eine Bürde sein, Liebste. Wir können Dinge auf eine Art und Weise miteinander teilen, die andere Menschen so nie erleben können. Die Schwierigkeit liegt einfach darin, dass wir erst lernen müssen, wie wir damit umgehen. Der Vorteil ist allerdings, dass es scheint, als würden nur starke Gefühle übertragen werden. Das ist eine ziemliche Erleichterung. Wir werden herausfinden müssen, ob Entfernung irgendeine Auswirkung auf die Stärke der Empfindungen hat. Vielleicht gibt es sogar eine Möglichkeit, ihre Wirkung zu reduzieren.”

Sie hob ihr Gesicht und nickte unglücklich. “Das wäre gut, ja. Dein Ärger gerade eben hätte mich beinahe in die Knie gezwungen. Meine Güte, ich hoffe, dass das auch mit positiven Gefühlen funktioniert.”

“Das tut es”, nickte er. “Ich habe deine Schadenfreue über die Überraschung des Königs gespürt, als ich ihm von meiner Adoption durch Haus Aren erzählte.”

Sie lachte zittrig. “Wenn man das als positives Gefühl bezeichnen möchte…”

Er lächelte. “Ich habe auch deine Freude darüber wahrgenommen, als deine Freunde bei unserer Rückkehr auf dich gewartet haben.”

Als sie zurückdachte, weiteten sich ihre Augen. “Dieses Gefühl von Bedauern, das ich nicht so richtig einordnen konnte… das warst du, nicht wahr? Warum?”

Es schien also, als würde das Band ihn ebenfalls dazu bringen, mehr von sich preiszugeben, als er es sonst getan hätte, sinnierte er. “Als ich sah, wie du empfangen wurdest, und das nachdem wir von einem Ort zurückkehrten, wo ich zum ersten Mal seit langer Zeit freundschaftlichen Umgang mit anderen Menschen gepflegt habe, wurde mir klar, dass ich hier nicht gerade als besonders gesellig bekannt bin.”

Sie blinzelte und dachte kurz nach. “Die Menschen hier sind zum Großteil entweder eingeschüchtert oder haben Angst vor dir. Genau wie ich selbst vor nicht allzu langer Zeit. Ich schätze, dass es hier nicht gerade einfach für dich sein kann, Kontakte zu pflegen”, räumte sie ein. “Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass dich dieser Umstand besonders kümmert.”

Er schüttelte den Kopf. “Interessanterweise dachte ich das auch nicht.” Er ergriff ihre Hand und drückte sie. “Siehst du? Der intime Aspekt des Bandes funktioniert bereits.”

“Ja”, lächelte sie, “und ich bin froh zu sehen, dass es zur Abwechslung einmal nicht nur mich allein betrifft. Unsere üblichen Diskussionen über persönliche Dinge sind in der Regel eher einseitig und enden damit, dass du mich analysierst. Vielleicht wird es eine Erleichterung für mich sein, dass das von nun an in beide Richtungen geht.” Dann fügte sie zögernd hinzu: “Es wird also ab jetzt wirklich unmöglich sein, Geheimnisse vor dir zu bewahren, nicht wahr? Wenn ich mich schuldig fühle, weil ich dir etwas verheimliche, dann wirst du das sofort bemerken.”

“Darauf zähle ich”, sagte er mit einer hochgezogenen Braue. “Das ist eine Sache, die ich dir nun schon seit einiger Zeit abzugewöhnen versuche. Obwohl ich zugeben muss, dass du in Takhan bereits erste Anzeichen der Besserung gezeigt hast.”

“Welch hohes Lob”, murmelte sie. Dann kam ihr ein Gedanke, und sie kniff die Augen zusammen. “Du hast mich auf dem Schiff eine Stunde zu früh geweckt, um damit zu experimentieren, habe ich Recht? Du hast mich absichtlich leiden lassen, damit du deinen Verdacht bestätigen konntest! Du wusstest es zu diesem Zeitpunkt bereits!”

Er lächelte entschuldigend. “Würde es dich trösten, wenn ich dir sage, dass ich mit dir leiden musste?”

“Nein”, knurrte sie, dann zuckte sie die Achseln. “Nun, ein wenig. Wie sehr musstest du leiden?”

“Schrecklich”, erwiderte er aufrichtig. “Als ob mein leerer Magen drauf und dran war, sich ständig zu übergeben, ohne dass etwas anderes als bittere Flüssigkeiten da waren, die in meinem Hals brannten.”

Nachdenklich betrachtete sie ihn, dann nickte sie. “In Ordnung, das ist angemessen. Wie gehen wir mit diesem Geistesband nun um? Starke Gefühle zu vermeiden wird sich wohl etwas schwierig gestalten.”

“Ich bin es gewohnt, damit umzugehen, aber wie ich gesehen habe, musst du dich daran erst gewöhnen. Du hast schon Schwierigkeiten damit, deine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten, also könnte es sich als große Belastung für dich erweisen, dass du nun auch meine wahrnimmst.”

Sie schluckte. “Was ist, wenn es keine hilfreichen Bücher darüber gibt, wie man damit umgeht?”

“Dann, meine Liebste”, meinte er und küsste ihre Hand, “wird sich deine enorme Begabung in der Kategorie der Entdecker zweifellos als nützlich erweisen. Du wirst die einzigartige Gelegenheit haben, zu experimentieren und damit Fachwissen zu einem Gebiet zu schaffen, das dir in beiden Ländern zu Ruhm und Ehre verhelfen wird.”

Er lächelte, als er einen Funken Interesse in ihren Augen aufblitzen sah.

 

Kapitel 2

Zurück an die Arbeit

Enric hielt ihre Hand in seiner, während sie auf ihrem Weg zum Heilergebäude durch die Straßen von Anyueel spazierten. Er war erleichtert, dass sie die für sie zweifellos erschütternden Neuigkeiten verhältnismäßig gut aufgenommen hatte. Er hatte über seinen eigenen Standpunkt zu dieser unerwarteten Entwicklung nachgedacht und war etwas besorgt, wie sie beide damit umgehen konnten, ohne sich mit unzumutbaren Nachteilen herumplagen zu müssen. Aber alles in allem betrachtete er es keinesfalls als den Fluch, für den Eryn es zu halten schien.

“Müssen wir Lord Tyront davon erzählen?”, unterbrach sie mit ihrer Frage seinen Gedankengang. Ihr Verstand befasste sich also ebenfalls mit dieser Angelegenheit. “Er war über deine Adoption ebenso unerfreut wie der König. Und anders als der König, hat ihm die Sache mit dem Kommitmentband überhaupt nicht gefallen. Wie nannte er es? Mit Magie herumspielen, für die uns das Verständnis fehlt?” Bei der Erinnerung an die üble Laune ihres Vorgesetzten verzog sie das Gesicht. Sie beneidete Enric nicht um die Pflicht, ihm heute bei der Ratsversammlung erneut zu begegnen.

“Damit sollten wir wohl noch eine Weile warten”, seufzte er. “Er muss erst einmal mit den Neuigkeiten klarkommen, die wir ihm bisher offenbart haben. Wir vermeiden es im Moment wohl besser, seine angeschlagenen Nerven zu überfordern.”

“Gut. Ich glaube nicht, dass ich in nächster Zeit noch einmal mit ihm zu tun haben will.”

“Gib ihm etwas Zeit, um sich mit der neuen Situation abzufinden. Obwohl er kein großer Freund von Überraschungen ist, braucht er nicht lange, um sich an sie anzupassen. Seine schlechte Laune dauert in der Regel nur kurz an.” Er hielt an, als sie das Heilergebäude erreichten. “Wir sind da. Willst du schon voller Ungeduld zurückkehren und deinen Kollegen zeigen, welche erstaunlichen neuen Dinge du gelernt hast?”, lächelte er und küsste sie auf die Stirn.

“Das wäre fabelhaft”, nickte sie. “Aber ich befürchte, dass es vorher noch einiges an Arbeit zu erledigen geben wird. Zum Glück ist heute kein Behandlungstag. Nicht, dass ich mit besonders viel Ruhe und Frieden rechne. Ich sorge mich ein wenig wegen der Dinge, die Plia gestern angedeutet hat, bevor wir zum Treffen mit dem König aufgebrochen sind.”

“Wie schlimm kann es sein? Das Gebäude steht immerhin noch. Kein verärgerter Mob hat es geplündert oder niedergebrannt.

“Sehr witzig”, knurrte sie und wollte gerade einen der beiden großen Türflügel aufziehen, als sie sich sanft zurück und in eine warme Umarmung gezogen fühlte.

“Sieh zu, dass du heute nicht zu lange arbeitest. Du sollst fit genug sein, um an einem Experiment teilzunehmen.”

Sie hob beide Augenbrauen. “Welches Experiment?”

“Mit dem Geistesband. Es geht darum, wie intensivere positive Gefühle übertragen werden.”

Ihre Augen verengten sich. “Drückst du dich so kunstvoll aus, um die Tatsache zu verbergen, dass es hier um Sex geht?”

Mit einem leisen Lachen schüttelte er den Kopf. “Ich wundere mich, dass du überhaupt fragen musst. Natürlich geht es darum.” Er beugte sich zu ihr hinab, um ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen zu drücken und wandte sich dann ab, um seinen Weg zum Palast fortzusetzen. Nach ein paar Schritten drehte er sich halb um und hob einen Finger. “Komm zu einer zivilisierten Zeit nach Hause, hörst du?”

Sie verdrehte die Augen und sah dann auf die Symbole auf ihrem Handgelenk hinab, die alle paar Schritte, die er sich von ihr entfernte, immer weiter verblassten. Als er um die nächste Ecke bog, verschwanden sie vollkommen.

Als sie ihre Hand hob, um die Tür aufzuschieben, wurde sie von innen geöffnet, und sie sah ein vertrautes Gesicht vor sich. Rolan.

“Lady Eryn”, seufzte er, und sie blinzelte bei der Erleichterung in seiner Stimme. “Ich bin so froh, dass Ihr zurück seid. Wirklich froh.”

“Rolan”, meinte sie mit einem unsicheren Lächeln. “Es ist gut, zurück zu sein.” Rolan war glücklich darüber, sie zu sehen? Das war ziemlich sicher kein gutes Zeichen. “Möchtest du mir sagen, was das Problem ist oder sollte ich mich dafür hinsetzen?”, sagte sie mit einem leicht ironischen Lächeln.

Er errötete. “Hinsetzen wäre wohl besser. Mit einem netten, warmen Getränk.”

“So schlimm?”, seufzte sie.

Darüber schien er ein paar Augenblicke lang nachzudenken, bevor er mit den Schultern zuckte. “Wisst Ihr, jetzt wo Ihr zurück seid, bin ich mir da nicht mehr so sicher.” Seine Stimme klang überrascht. “Interessant.”

In der Tat, dachte sie, sagte es aber nicht laut. Es schien als ob seine Zuversicht, dass sie eine Lösung parat hatte für welche Katastrophen auch immer eingetreten waren, für ihn ebenso überraschend kam wie für sie. Das musste ein Zeichen für Vertrauen sein, nicht wahr? Oder vielleicht einfach nur Verzweiflung. Nun, das würde sie bald genug herausfinden.

Sie sah sich unauffällig um, während sie Rolan zu der kleinen Küche folgte, um sich ein Getränk zu holen. Alles wirkte sauber, unbeschädigt und so, wie es sein sollte. Ihr Assistent wartete, bis sie eine Tasse mit Wasser gefüllt, einen Löffel mit fein gemahlenen Kräutern eingerührt und die Mischung mit einer Berührung ihres Fingers und ein wenig Magie erhitzt hatte, bevor er ihr voran die Treppen hinauf und zu ihrem Arbeitszimmer ging, um ihr die Tür aufzuhalten.

Wiedersehensfreude in Kombination mit beinahe erdrückender Zuvorkommenheit? Jetzt wurde es langsam so richtig schaurig, dachte sie.

Ihr Arbeitszimmer sah nicht besonders chaotisch aus, entschied sie. Nach einer Abwesenheit von mehr als sechs Wochen war es etwas unaufgeräumter – mit Papieren, die herumlagen – als sie es hinterlassen hatte, aber nichts, das ihr einen Schock versetzte oder sie zurückschrecken ließ.

Sie ging zu ihrem Tisch und stellte die Tasse darauf ab, bevor sie sich in den Sessel sinken ließ, ausatmete und zufrieden lächelte.

“Jetzt bin ich zurück. So richtig.” Sie bedeutete Rolan, sich ebenfalls zu setzen. “Also gut – schockiere mich. Was ist alles schiefgelaufen?”

“Vern”, sagte ihr Assistent bedächtig.

“Vern ist schiefgelaufen?”, fragte sie sanft nach.

Rolan dachte kurz nach, dann kam er offenkundig zu dem Schluss, dass der Ausdruck passend war. “Ja, ich denke, so könnten wir es nennen.”

“Also gut”, sagte sie langsam, “könntest du hierzu ein wenig mehr sagen? Ein paar mehr Details wären hilfreich.”

“Er kam mit den anderen Heilern nicht besonders gut zurecht”, erklärte ihr Assistent.

“Was meinst du damit? Heraus damit, Rolan! Das ist richtig mühsam!”, rief sie ungeduldig aus.

Unglücklich verzog er das Gesicht. “Vern scheint gewisse tyrannische Qualitäten entwickelt zu haben. Die Heiler waren kurz davor, offen gegen ihn aufzubegehren. Ich hatte schon Angst, dass ich hier bald allein mit einem Haus voller Patienten dastehen würde und die Heiler die Arbeit verweigern.”

Ein Tyrann? Vern? Nun, sinnierte sie, wenn sie davon ausging, wie er sich bei den Verhandlungen verhalten hatte, war das womöglich nicht so unwahrscheinlich. Da gab es definitiv eine diesbezügliche Neigung diese Richtung.

“Ich verstehe. Was war deiner Ansicht nach der Grund für solch ein Verhalten?”

“Jugend. Mangel an Erfahrung. Idiotie.” Rolan rang die Hände. “Ich weiß es nicht!”

“Denk nach”, sagte sie sanft. “Ich brauche einen neutralen Standpunkt. Sag mir, was du denkst.”

“Eine Stimme der Vernunft”, murmelte er und schüttelte den Kopf. “Das scheint mir Luxus bei all dem Durcheinander, das wir hier in den letzten Wochen hatten.” Er räusperte sich und blickte wieder auf. Mit Erleichterung sah sie, dass in seinen Augen nun weniger Verzweiflung und mehr Fokus erkennbar waren.

“Er war mit der Doppelbelastung überfordert, einerseits eine Gruppe mit Leuten anzuführen, die wesentlich älter waren als er selbst und bei denen er darum kämpfen musste, ernstgenommen zu werden, und andererseits in seiner anderen Funktion noch zu heilen und zu unterrichten. Er hat lange Nächte hier verbracht und sich um den Papierkram gekümmert, ist zuweilen darüber verzweifelt”, erklärte er, das Mitgefühl in seiner Stimme klar erkennbar.

“Wie bist du mit ihm zurechtgekommen?”

“Gut genug. Ich habe versucht, ihm so viel abzunehmen, wie ich konnte, aber meine eigene Erfahrung, wenn es darum geht, Leute anzuführen oder zu heilen und unterrichten, ist nicht eben erwähnenswert. Das Einzige, womit ich ihn unterschützen konnte, waren die Schreibarbeiten.” Er seufzte. “Und auch damit, ihn aus dem Schutzraum herauszulassen, als sie Tür blockierten, während er noch drin war.”

“Sie?”, fragte sie. “Die Heiler?”

Rolan nickte.

“Was haben sie sonst noch getan?” Sie spürte Ärger in sich aufsteigen über die Dämlichkeit Erwachsener, die einen jungen Mann, dem sie einige Jahre voraus waren, piesackten, anstatt ihm ihre Unterstützung angedeihen zu lassen.

“Absichtlich falsch verstandene Anweisungen, soweit ich das mitbekommen habe. Versteckte Kleider. Verschlossene Arbeitszimmertür. Zweimal.”

Eryn schloss die Augen und dämpfte den Drang nieder, jemandem wehzutun. Als sie sie wieder öffnete, war der Ausdruck darin stählern. “In Ordnung. Sag mir, was er getan hat, um diese Dinge zu provozieren. Normalerweise sind sie nicht dermaßen dumm.”

“Er schrie sie häufig an. Ließ sie länger bleiben, gab ihnen mehr zu lernen, als sie bewältigen konnten. Es scheint, dass er einen etwas zügigeren Lernfortschritt gewohnt ist.”

Ja, dachte sie, und sie hatte es stets den Vorteil genutzt, dass er klug, interessiert und ein sehr schneller Lerner war. Hatte sie ihn unabsichtlich dazu ermutigt, dass er dachte, das sei die Art und Weise, wie auch jeder sonst unterrichtet werden sollte? So schien es wohl.

“Zuerst versuchten sie, mit ihm zu reden”, setzte Rolan fort. “Aber sie stellten Forderungen, worauf er nicht besonders gut reagierte.”

Sie dachte zurück an Verns Umarmung. Die Panik in seiner Stimme, als er ihr sagte, dass er Angst gehabt hatte, dass man sie nicht mehr aus Takhan abreisen lassen würde. Offensichtlich steckte da etwas mehr dahinter, als dass er sie einfach nur als Freundin vermisst hatte.

“Meine Güte”, seufzte sie. “Es sieht also so aus, als würde ich damit anfangen müssen, diese Kluft zu reparieren. Sie müssen in der Lage sein, wieder professionell miteinander zu arbeiten. Und Vern ist ihnen noch immer weit genug voraus, um sie gelegentlich zu unterrichten oder zumindest ihre Arbeit zu überwachen. Ich muss sie dazu bringen, dass sie einander wieder respektieren. Irgendwelche Vorschläge?”

Rolan setzte sich etwas aufrechter hin. Ihr entging nicht, dass er es sehr schätzte, nach seiner Meinung gefragt zu werden. Sie versuchte sich zu erinnern. Hatte sie sich niemals zuvor die Mühe gemacht, ihn zu fragen? Es schien, als ob Verns Führungsansatz nicht der einzige war, der eine Kurskorrektur erforderte, dachte sie.

“Ich denke, was beiden Seiten in den letzten Wochen gefehlt hat, ist Wertschätzung”, wagte er sich vor und wartete auf ihre Reaktion.

“Wertschätzung? Ihnen also sagen, dass sie gute Arbeit geleistet haben?”

Er nickte. “So in der Art, ja.”

“Gut, das bekomme ich hin.” Sie trank die Tasse aus. “Hast du irgendwelche Informationen betreffend Trainingsfortschritt, Inventar und Behandlungen für mich?”

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sah sie ihn lächeln und konnte nicht anders, als den Anblick genießen. Nicht ein einziges Mal hatte er es in der Zeit ihrer Zusammenarbeit bisher versäumt, ein Blatt Papier mit Listen, Zahlen oder was auch immer sonst darauf vorzulegen. Das war es, worin er gut war. Nun würden sie sich seinem Fachgebiet zuwenden.

* * *

Eryn war gerade damit fertig, den Bericht über die Art und Mengen der Medizin, die den Patienten während ihrer Abwesenheit verabreicht worden war, durchzulesen, als es an ihrer Tür klopfte. Auf ihre Einladung hin trat eine Palastwache in Livree ein.

Oh nein, dachte sie. Bloß keine Vorladung vom König oder dem Rat. Nicht jetzt, wo es so vieles gab, um das sie sich zu kümmern hatte. Jedoch schien er keine schriftliche Nachricht bei sich zu tragen, also war er zweifellos hier, um sie anzuweisen, mit ihm zu kommen.

Bevor er sprechen konnte, seufzte sie: “König oder Rat?”

Der Bote blinzelte. “Der Rat der Magier, Lady Eryn.”

“Jetzt gleich oder habe ich noch Zeit, vorher ein paar Dinge zum Abschluss zu bringen?”

Er verzog mitfühlend das Gesicht. “Jetzt sofort, befürchte ich.”

Sie schob ihren Stuhl zurück. “Aber natürlich. Was denn sonst? Dann geh voraus. Ich schätze, dir wurde aufgetragen, nicht ohne mich von hier wegzugehen.”

Er nickte und wartete, bis sie ihre Robe übergezogen und zurechtgerückt hatte, bevor er vor ihr die Stufen hinabstieg.

Enric hatte sie gewarnt, dass man sie bald sehen würde wollen, aber sie hatte gehofft, dass er sich für den Moment allein um das, was auch immer sie brauchten oder wissen wollten, kümmern konnte. Bei allem, was Handel oder Politik betraf, wäre er auf jeden Fall der Richtige, um ihre Neugier zu befriedigen. Sie hielt an und atmete aus. Aber einen Bereich gab es, wo sie die Ansprechpartnerin war. Heilung und alles in Verbindung damit. Natürlich. Sie wollten über die Barriere in ihren Köpfen sprechen. Das war die wahrscheinlichste Erklärung.

Der Bote drehte sich zu ihr um und wartete geduldig, bis sie weiterging. Als sie die Türen der großen Ratshalle erreicht hatten, verbeugte er sich vor ihr und verschwand. Sie klopfte dreimal, woraufhin die Tür augenblicklich geöffnet wurde. Sie trat ein und stand sofort im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sowohl der zwölf Ratsmitglieder als auch eines exaltierten Besuchers in diesen Hallen: des Königs.

Der Rat saß um den weitläufigen Tisch herum, der Stuhl des Anführers des Ordens ein wenig aufwändiger gearbeitet als die der anderen. Der Thron des Königs stand abseits, als ob er in diesen Hallen nur die Rolle eines Beobachters einnahm.

Zwölf Mitglieder, sinnierte sie. Genau die gleiche Anzahl wie die der Häuser in Takhan. Es war das erste Mal, dass ihr dieser Zufall auffiel. Seltsam, mit welchen Dingen der Verstand aufwartete, wenn er der unmittelbaren Realität entfliehen wollte. Sie wusste, dass sie nicht in Schwierigkeiten war, und doch war es nicht besonders angenehm, vor dem Rat und dem König zu stehen.

“Meine Herren”, sprach sie, bevor jemand die Chance hatte, sie anzusprechen, “hier bin ich. Halten wir das hier kurz, in Ordnung? Wie Ihr Euch zweifellos denken könnt, gibt es da jede Menge Arbeit, um die ich mich nach meiner Rückkehr kümmern muss.”

Sie sah, wie ein paar von ihnen belustigte oder verärgerte Blicke austauschten. Orrin hob eine Braue, eventuell eine Warnung, während Enric leicht amüsiert wirkte und Lord Tyront ihr einen Blick zuwarf, der zwar nicht gerade feindselig, aber definitiv wenig herzlich war. Die Miene des Königs war so unergründlich wie auch sonst in der Regel.

Vielleicht war es nicht besonders ratsam gewesen, den Gruß so zu formulieren, überlegte sie. Andererseits war es auch nicht gerade rücksichtsvoll gewesen, sie so kurzfristig herzubeordern. Soweit es sie betraf, waren sie nun quitt.

“Lady Eryn”, sagte Tyront pointiert, “erlaubt mir, Euch im Namen des Rats wieder unter uns willkommen zu heißen, selbst wenn unsere Aufforderung, zu uns zu kommen, Euch im Augenblick eher ungelegen zu kommen scheint.”

Sie zuckte mit den Schultern. “Ich danke Euch. Solange das hier nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt, werden sich die Unannehmlichkeiten in Grenzen halten, würde ich sagen.” Bescheuert, schalt sie sich. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass sie ihn ständig provozieren wollte? Sie dachte zurück an die Worte des Königs vom Vorabend darüber, dass ihr Aufenthalt in der Fremde ihre Einstellung Autorität gegenüber nicht verändert hatte.

Tyront nahm einen tiefen Atemzug und lächelte sie kühl an. “Dann wird der Rat sein Bestes tun, um Eure wertvolle Zeit nicht ungebührlich zu verschwenden, Lady Eryn.”

Darauf antwortete sie nicht, sondern wartete nur, dass er fortfuhr. Die Aussage mochte harmlos scheinen, aber sein Tonfall zeigte eindeutig, dass er alles andere als glücklich war, also war es wohl weiser, ihre Zunge für den Moment im Zaum zu halten und sich darauf zu beschränken, nur dann zu sprechen, wenn sie angesprochen wurde. Eine Strategie, deren Vorteile Enric ihr nun schon seit einer Weile ans Herz zu legen versuchte.

“Ihr könnt Euch womöglich denken, weshalb wir Euch rufen ließen”, setzte er fort. Sie bemerkte, dass er ihr keinen Sitzplatz anbot. Kleine Vergeltungsmaßnahmen. Also musste sie dort stehen, als wäre sie eines Vergehens angeklagt. Es erinnerte sie an den Tag, als sie und Vern in seinem Arbeitszimmer gestanden hatten, nachdem ihre ungenehmigten Unterrichtsstunden in magischem Kampf aufgeflogen waren. Und an den Senat in Takhan, wo sie während des Verfahrens vor den Repräsentanten der Häuser stehen hatte müssen. Sie schob die Bilder zur Seite und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

“Ich gehe davon aus, dass Ihr mit mir über die Barriere in Euren Köpfen reden wollt”, wagte sie sich vor. Sie sah, wie Tyront leicht überrascht nickte. Also hatte er nicht damit gerechnet, dass sie den Grund tatsächlich vermutete und wollte sie als Bestrafung für ihr Verhalten schlecht aussehen lassen. Charmant. Enrics zustimmendes Grinsen war kaum mehr als eine Andeutung, aber für das geschulte Auge klar erkennbar.

“In der Tat. Soweit ich das verstehe, wurde Euch das Wissen gewährt, wie sich die Barriere aufspüren und entfernen lässt. Euch wurde zudem gezeigt, wie es gemacht wird von…” Er hielt inne, offensichtlich nicht sicher, wie er die Familiensituation bezeichnen sollte, in der sie sich nach ihrer Adoption befand.

“Von Valrad”, vervollständigte sie seinen Satz. “Ja. Er war so freundlich, mir zu zeigen, wie es geht, indem er mich bei der Entfernung von Enrics Barriere instruierte.”

Sie sah, wie sich ein breites Lächeln auf Lord Woldarns Gesicht ausbreitete. “Dann haben wir nun zwei Magier, die in der Lage sind, magisch begabte Töchter zu zeugen. Und wie günstig, dass sie auch noch Gefährten sind.”

Eryn starrte ihn kühl an. “Euer Eifer, diese neue Entwicklung mit offenen Armen zu begrüßen, ist verständlich, mein Lord, aber ich versichere Euch, dass ich nicht die Absicht habe, eine Großfamilie zu starten, um in dieser Angelegenheit den Wünschen anderer entgegenzukommen.”

“Verzeiht”, sagte er beschwichtigend und hob beide Hände, “das wollte ich damit nicht sagen, Lady Eryn, seid versichert. Ich meinte nur, dass, egal wie viele Kinder Ihr und Lord Enric zu haben beabsichtigt, wir uns alle darauf freuen, ihre Entwicklung zu verfolgen – besonders, falls es darunter Mädchen gibt.”

Enric schloss für einen Moment die Augen. Darauf würde es ebenfalls keine besonders wohlwollende Antwort geben, und er bezweifelte, dass Tyront in der Laune war, im Moment noch weitere Unverschämtheiten von ihrer Seite in Kauf zu nehmen. Deshalb erhob er seine Stimme, bevor Eryn darauf antworten konnte.

“Lord Woldarn, ich schätze Euer Interesse an unseren Fortpflanzungsplänen sehr, würde aber meinen, dass dies hier kaum das richtige Umfeld für solch eine Diskussion ist”, kommentierte er trocken und ließ keinen Zweifel daran, dass er es keineswegs schätzte.

Das brachte ihm ein paar Lacher ein, und Lord Woldarn lehnte sich mit verschränkten Armen und einem missmutigen Gesichtsausdruck zurück.

“Lady Eryn”, kehrte Lord Tyront wieder zum ursprünglichen Thema zurück, “wir haben Euch rufen lassen, um Euch über unsere Entscheidung zu informieren, dass Ihr die Barriere in den Köpfen sowohl von Magiern als auch Nichtmagiern entfernen sollt, sobald es Euch möglich ist.”

Sie schluckte. “Bei allen?”

“Vorzugsweise, ja. Ich stelle mir vor, dass dies einige Zeit in Anspruch nehmen wird, die Ihr lieber auf andere Angelegenheiten verwenden würdet, aber Ihr werdet sicher verstehen, dass dies bald erledigt werden sollte”, zeigt er auf.

Eryn atmete aus und nickte. “Das tue ich, ja. Allerdings weiß ich nicht, wie lange ich dafür brauchen werde, jede einzelne Barriere zu entfernen. Ich habe das bisher erst einmal gemacht, und dabei hatte ich Hilfe. Wie soll das funktionieren? Soll ich an jede Tür klopfen und den Leuten sagen, sie sollen mich einen Blick in ihren Kopf werfen lassen? Was ist, wenn sich jemand weigert? Nicht jeder fühlt sich damit wohl, jemand Fremden Dinge in seinem eigenen Kopf tun zu lassen, die er nicht versteht”, wies sie hin.

“Es wird einen königlichen Befehl geben, dem sich die Leute fügen werden”, steuerte ein weiteres Ratsmitglied bei.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. “Wirklich? Wir zwingen sie dazu? Oder Ihr wollt mich dazu bringen, sie zu zwingen? Was soll ich denn machen, wenn sie sich rundheraus weigern? Ihnen eins überziehen und dann ohne ihre Zustimmung fortfahren?” Sie verschränkte die Arme. “Das widerspricht den Prinzipien des Heilerberufs. Ich habe nicht die Absicht, diesen Befehl irgendjemandem aufzuzwingen, der nicht zustimmt. Weiters werde ich meinen Heilern nicht zeigen, wie es gemacht wird, falls Ihr beabsichtigt, sie an meiner statt unter Druck zu setzen.” Mit trotzig erhobenem Kinn blitzte sie die Ratsmitglieder an.

Enric sah, wie Tyront bei der unverfrorenen Verweigerung eines königlichen Befehls erblasste, besonders da derjenige, der ihn erlassen hatte, anwesend war. Sie waren noch nicht einmal einen ganzen Tag lang zurück, und schon war sie wieder dabei, sich Ärger einzuhandeln. Diese Frau hatte wirklich ein Talent dafür. Es war allerdings ein Pech für den Orden und den König, dass sie einen erheblichen Vorteil auf ihrer Seite hatte. Wenn sie sich weigerte, die Barriere zu entfernen, hatten sie niemanden sonst, der es tun würde oder konnte. Und einen Heiler aus den Westlichen Territorien anzufordern, der sich darum kümmern sollte, weil Eryn es ablehnte, würde gar nicht gut aussehen. Dann war da auch noch die Frage, ob man sich dort unter diesen Umständen ebenfalls weigern würde. Es konnte sehr gut sein, dass man dort beim Heilen die gleichen Prinzipien zur Anwendung brachte, denen Eryn folgte.

Alle sahen auf, als sie die ruhige Stimme des Königs vernahmen.

“Lady Eryn. Ich darf Euch versichern, dass niemand beabsichtigt, die strengen ethischen Grundsätze zu verletzen, die Ihr für Eure Arbeit als notwendig erachtet. Ich bin sicher, dass wir uns gerade deswegen alle sicherer dabei fühlen, uns in Eure fähigen Hände zu begeben. Welche Herangehensweise würdet Ihr in dieser Angelegenheit als angemessen erachten, meine Lady?”

Gut, überlegte Enric, es schien, als wäre der König zum gleichen Schluss gelangt. Aber das war keine große Überraschung. Er hatte eine gewisse Begabung dafür, schnell zu reagieren.

Enric beobachte Eryn, wie sie einen Moment lang die Möglichkeiten abwog, bevor sie sich an den König wandte. “Ich schlage vor, die Entfernung der Barriere freiwillig zu machen, Eure Majestät. Wenn wir bekannt machen, dass die dies vollkommen gefahrlos erfolgt und wir den wahrscheinlichen Vorteil betonen, dass weibliche Magier geboren werden könnten, könnte das den Großteil der Menschen dazu veranlassen, zuzustimmen. Die Leute könnten zur Klinik kommen, um die Entfernung vornehmen zu lassen. Es könnte auch sein, dass ein Steuererlass für dieses Jahr helfen könnte, sie zu überzeugen…”

Der König zog eine Braue hoch. “Ein faszinierender Vorschlag, den ich auf jeden Fall in Betracht ziehen werde. Ihr habt Euch also entschieden, die Stätte Klinik zu nennen?”

Hatte sie das? Sie dachte kurz nach und erkannte dann, dass es stimmte. “Ja, es scheint, als hätte ich das”, sagte sie langsam.

“Allerdings nicht ganz bewusst, wie es scheint”, bemerkte der König. “Ein Begriff, den ihr zweifelsohne von unseren neuen Freunden im Westen übernommen habt.” Er sah die Ratsmitglieder an. “Ich gehe davon aus, dass der Rat der Magier keinen Einwand dagegen hat, die Barriere seiner Mitglieder so bald wie möglich entfernen zu lassen?”

Köpfe wurden geschüttelt.

“Wie Ihr seht, Lady Eryn, müssen die anwesenden Magier nicht genötigt werden. Darf ich es Euch somit auferlegen, dies gleich hier und jetzt zu erledigen? Lasst mich der Erste sein, bei dem Ihr es durchführt, um als gutes Beispiel voranzugehen.”

Sie schluckte und nickte, nicht sicher, wie sie fortfahren sollte. Sollte sie sich dem Thron nähern? Benötigte sie dafür eine Einladung? War das gerade eben eine gewesen?

König Folrin erhob sich und bedeutete ihr näherzutreten. “Wo müsst Ihr mich dafür berühren, Lady Eryn?”

“Irgendwo an Eurem Kopf wäre gut. Die Stirn beispielsweise”, antwortete sie und ging die paar Schritte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand.

“Zieht Ihr es vor, dabei zu sitzen oder zu stehen?”, erkundigte er sich weiter.

“Da ich nicht sicher bin, wie lange es dauern wird, wäre es mir lieber, dabei zu sitzen, wenn das in Ordnung ginge.”

“Aber natürlich”, nickte der König höflich und ergriff ihre Hand, um sie zu einer kleinen Bank vor einem der vielen Fenster zu führen. Die war kaum breit genug, um zwei Leuten Platz zu bieten, bemerkte sie mit leichtem Unbehagen. Sie waren also wieder zurück bei seinen Spielchen, wie es schien. Allerdings bezweifelte sie, dass es besonders klug von ihm war, ihr Unbehagen zu vermitteln, während sie im Inneren seines Kopfes arbeiten sollte, ohne dort irgendwelchen Schaden anzurichten.

Er wartete darauf, dass sie Platz nahm und setzte sich dann ein wenig näher zu ihr, als nötig gewesen wäre, bevor er ihre Hand nahm und sie auf seine Stirn legte.

“Ich bin bereit, wenn Ihr es seid, meine Lady.”

Sie nickte und schloss die Augen, sich seines Blicks auf ihr nur zu bewusst. Sie kämpfte die Nervosität nieder und fand diesen Ort des Friedens und der Stille in sich. Erst dann ließ sie die Magie ihren Arm entlang und von ihrer Handfläche in seinen Schädel fließen. Da dies nun bereits das dritte Mal war, dass sie danach suchte, fand sie den Punkt einigermaßen rasch. Es schien umso einfacher zu werden, je öfter sie es tat. Genau wie Valrad sie angewiesen hatte, ließ sie, indem sie Magie zuführte, die Größe der Barriere langsam und vorsichtig anwachsen, bis sie aufgelöst werden konnte, ohne beim umliegenden Gewebe irgendwelche Schockreaktionen auszulösen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der nervenaufreibende Blick des Königs noch immer auf sie gerichtet. Sie nickte und entfernte ihre Hand von seiner Stirn. “Es ist vollbracht. Die Barriere in Euch ist nun beseitigt.”

König Folrin lächelte beifällig. “Gut gemacht.” Dann stand er auf und wandte sich an den Rat.

Tyront hatte sich bereits von seinem Stuhl erhoben. Er wusste immerhin, was von ihm erwartet wurde. “Ich bin der Nächste.” Er kam mit forschen Schritten auf sie zu und nahm den Platz ein, den der König gerade eben geräumt hatte. Seine Haltung war so ruhig und selbstbewusst wie immer, aber sie sah die Warnung in seinen Augen. Es sah also so aus, als wäre ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, ihr Zugriff zu seinem Kopf zu erlauben.

“Sorgt Euch nicht, Lord Tyront”, sagte sie so leise, dass nur er sie hören konnte. “Ich verspreche, es wird nicht wehtun. Ich werde mich benehmen; keine Alpträume oder Bilder von riesigen Katzen, die Euch durch die Straßen jagen.”

Er erwiderte nichts darauf, sondern zog nur eine Braue hoch, als sie ihre Hand hob, um sie auf seine Stirn zu legen.

* * *

Tyront gesellte sich zu seinem Stellvertreter, der an eine Säule gelehnt stand, während er seine Gefährtin auf der kleinen Bank dabei beobachtete, wie sie mit vor Konzentration gerunzelter Stirn arbeitete.

“Kilan sagte uns, dass ihre Familie in den Westlichen Territorien für ihre Unbeherrschtheit berüchtigt ist”, bemerkte er. “Wie bedauerlich, dass nicht jemand mit mehr Sanftmut seinen Weg hierher gefunden hat.”

Enric lächelte nur. Es schien, als hätte Tyront, genau wie Enric erwartet hatte, seinen Ärger über die Neuigkeiten der Adoption vom Abend zuvor überwunden.

“Ich muss sagen, dass ich mit dem, wie sich die Dinge bislang entwickelt haben, recht zufrieden bin. Außerdem musst du zugeben, dass wir von ihrem Wissen profitiert haben. Nach mehr als dreihundert Jahren werden wir wieder weibliche Magier haben. Dass wir ihr Temperament aushalten müssen, ist ein kleiner Preis dafür, würde ich sagen”, merkte er an.

Tyront seufzte. “Du hast Recht, und das wissen wir beide. Allerdings schätze ich es nicht besonders, dass du die Stimme der Vernunft bist, wenn ich stattdessen einen mitfühlenden Zuhörer brauche, um meine Frustration loszuwerden, mein lieber Junge.”

“Mein lieber Junge”, wiederholte Enric mit einem leichten Kopfschütteln. “Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Wann wirst du aufhören, mich so zu nennen?”

“Wenn unser Altersunterschied zu schrumpfen beginnt oder du meine Position übernimmst”, erwiderte Tyront selbstgefällig.

“Wenn ich deine Position übernehme? Das würde bedeuten, dass du tot wärst”, strich Enric hervor.

“Das würde mich auf jeden Fall davon abhalten, dich länger mit mein lieber Junge anzusprechen, oder etwa nicht?”

“Es würde dich von einer Menge Dinge abhalten, würde ich meinen”, entgegnete der jüngere Mann trocken.

“Sehr richtig. Aber dann ist da noch die Frage, ob du überhaupt zur Verfügung stündest, um meine Nachfolge anzutreten mit deinem neuen Status als Erbe eines Hauses in Takhan, ist es nicht so?”

Ah ja, dachte Enric grimmig – sie waren also wieder bei diesem Thema angelangt. Natürlich ließ es sich auf lange Sicht nicht vermeiden; er stand nun für zwei Positionen, die einander mehr oder weniger – schon allein aus geographischen Gründen – ausschlossen, an zweiter Stelle.

“Ich rechne nicht damit, dass ich mich in absehbarer Zukunft in diese Verlegenheit kommen werde”, sagte er in dem Versuch, seinen Vorgesetzten zu besänftigen. “Ich bin zuversichtlich, dass es ausreichend Gelegenheit geben wird, um im Laufe der Zeit ein fähiges Oberhaupt für Haus Aren zu finden. Malriel ist noch keine Fünfzig, also bezweifle ich, dass sie ihre Position in nächster Zeit aufgeben wird. Oder du deine.”

Das schien Tyront bis zu einem gewissen Grad zu beschwichtigen. “Das mag zutreffen. Aber wenngleich das keine Angelegenheit ist, die uns jetzt im Augenblick betrifft, bedeutet das nicht, dass wir dafür keine Lösung finden müssen. Im Moment sieht es so aus, als wäre die Nachfolge im Orden gefährdet.” Sein Blick wanderte zu Eryn, die gerade an Lord Poron arbeitete. “Nummer drei”, murmelte er. “Abgesehen von der Tatsache, dass sie den Orden wahrscheinlich auflösen oder in ultimatives Chaos stürzen würde, ist das nicht einmal das Hauptproblem, da du sie ohnehin mit nach Takhan nehmen würdest. Damit bleibt Lord Poron, bei dem ich mir wünschen würde, dass er ewig lebt, der aber trotzdem zwanzig Jahre älter ist als ich und mich sehr wahrscheinlich nicht überleben wird, um meine Position zu übernehmen.”

“Dann also Orrin”, lächelte Enric. “Nun, das wäre eine gute Wahl. Abgesehen davon, dass er sich einfach weigern würde. Er ist zu ehrlich, zu direkt für diesen politischen Tanz.”

Tyront atmete hörbar aus. “Ich hoffe, du siehst, in welche Situation du mich mit deiner ritterlichen Geste gebracht hast, indem du den Platz deiner Gefährtin in ihrer alten Familie eingenommen hast, um ihre neue zu beschützen.”

Enric nickte verständnisvoll. “Ich darf dich meines Mitgefühls versichern.”

“Ich würde lieber hören, wie du mir versicherst, dass du eine Lösung für dieses Dilemma findest. Glaub bloß nicht, dass das allein mein Problem ist, Enric.”

“Davon würde ich nicht einmal träumen. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit eines weiteren unerwarteten Zuwachses in unseren hohen Rängen”, sagte der jüngere Mann fröhlich.

“Hör bloß auf, mich aufzumuntern”, knurrte Tyront. “Wenn es irgendeine Gerechtigkeit in dieser Welt gibt, werde ich mich mit so etwas kein drittes Mal herumplagen müssen.” Er sah erneut zu Eryn hin. “Ist sie noch immer so entschieden dagegen, Kinder zu bekommen? Sie ist immerhin mit dir in dieses magische Band eingetreten.”

“Ja, das ist sie. Und wenn ich zuvor bei Lord Woldarns Frage nicht eingegriffen hätte, hätte sie ihre Ansichten dazu ohne Zweifel in recht farbenfrohen Worten kundgetan. Denkst du darüber nach, meine Nachkommen nach Takhan zu schicken, damit sie Haus Aren übernehmen?” Er schüttelte den Kopf. “Das würde nicht ganz so einfach funktionieren. Gemäß ihren Gesetzen wären unsere Kinder Mitglieder von Haus Vel’kim. Kinder, die wir allerdings wohl niemals haben werden”, fügte er in einem Tonfall hinzu, auf den hin Tyront seine Augen zusammenkniff.

“Darüber bist du nicht allzu glücklich, was?”, fragte er behutsam nach.

Enric seufzte. “Ich respektiere diese Entscheidung. Und ich war mir darüber im Klaren, bevor ich das Kommitmentband mit ihr eingegangen bin. Ich beschwere mich also nicht. Es ist immerhin nicht so, als wäre ich ohne sie drauf und dran gewesen, eine Familie zu gründen. Wenn sich die Frage stellt, ob ich entweder Kinder haben werde oder Eryn behalten kann, brauche ich über die Antwort nicht einmal nachzudenken.”

Der ältere Mann nickte langsam. “Ich verstehe. Wie bedauerlich, dass dies die Optionen sind.”

Lord Poron trat zu ihnen und lächelte. “Ich habe es hinter mich gebracht. Es scheint, als hätte ich nun die Fähigkeit, magische Töchter zu zeugen”, lachte er. “Meine Aurna wird sich sehr amüsieren, wenn sie das erfährt.”

“Es ist mehr die Geste, die zählt”, meinte Tyront. “Wir müssen sagen können, dass der gesamte Rat der Magier die Barriere entfernen ließ – sonst könnten wir es kaum rechtfertigen, wenn wir andere dazu anhalten, wenn es nicht jeder einzelne von uns ebenfalls tut.”

Lord Poron winkte ab. “Keine Beschwerden von meiner Seite, Lord Tyront. Es war interessant mitanzusehen, obwohl Lady Eryn mir immer wieder sagte, ich solle aufhören, jeden ihrer Schritte zu verfolgen und unbequeme Fragen zu stellen, die ihre Konzentration störten.”

“Nun, ich würde meinen, dass es womöglich nicht die schlaueste Idee ist, eine Heilerin abzulenken, die sich im Inneren Eures Kopfes zu schaffen macht”, zeigte Enric auf. “Aber ich bin sicher, dass es mehr als genug Gelegenheiten geben wird, sich anzusehen, wie es gemacht wird, wenn sie die Barrieren im Heilergebäude entfernt.”

Ihre Haltung wurde etwas aufrechter, als der König auf sie zutrat.

“Lord Enric, Ihr seid Euch gewiss über den Brauch im Klaren, dass die Krone denjenigen, die sich um das Königreich verdient machen und seinen Dank verdienen, einen Gefallen gewährt?”

Enric lächelte flüchtig. “Ich gestehe, dass ich mir dessen bewusst bin, Eure Majestät.”

“Dann gehe ich weiterhin zweifellos recht in der Annahme, dass Ihr bereits etwas im Sinn habt, das Ihr mir zu diesem Zweck näherbringen wollt?”

“Da gibt es in der Tat eine Idee, die ich sehr gerne mit Euch diskutieren würde, Eure Majestät.”

“Sehr gut”, lächelte der König. “Dann schlage ich vor, dass wir uns bald treffen, um uns darum zu kümmern. Benötigt Ihr Zeit, um Euer Vorhaben im Detail auszuarbeiten?”

“Nein, wie es der Zufall will, ist alles vorbereitet.”

“Ausgezeichnet. Ich muss sagen, dass das nicht gänzlich unerwartet kommt.” Der König nickte den drei Magiern zu. “Entschuldigt mich nun. Ich muss Euch nun verlassen.” Er wartete, bis sich die Magier vor ihm verbeugt hatten, bevor er sich entfernte.

“Also, was wird es denn werden?”, fragte Lord Poron neugierig.

“Nichts, das ich verbreiten möchte, bevor es bewilligt wurde”, meinte Enric mit einem leisen Lachen. “Das soll angeblich Unglück bringen.” Er sah zu Eryn hinüber. “Es sieht so aus, als hätte sie hier noch eine Weile zu tun. Das bedeutet, dass ihre Arbeit unerledigt liegen bleibt und sie heute Abend nicht besonders entspannt sein wird. Ich gehe davon aus, dass ich sie nach Hause schleifen muss, bevor sie wieder auf ihrem Schreibtisch einschläft.”

“Das ist die Kehrseite daran, wenn man mit solch einer wichtigen Frau verbunden ist, Lord Enric”, lachte Lord Poron. “Der wichtigsten, die wir derzeit haben.”

* * *

Eryn kehrte in ihr Arbeitszimmer zurück und ließ sich in den Sessel plumpsen. Zwei Stunden waren vergangen. Zwei Stunden, die sie wesentlich besser nutzen hätte können, als die Barrieren des Königs und der Ratsmitglieder zu entfernen. Aber zumindest hatte sie ihre Fertigkeiten durch die Übung ein wenig verbessert. Zum Ende hin war sie schon wesentlich schneller gewesen als zu Beginn. Sobald sie mit dem Letzten von ihnen fertig war, war sie mehr oder weniger aus der Ratshalle geflohen, als erste Versuche folgten, sie in Gespräche zu verwickeln.

Sie hatte gesehen, wie Enric auf einer Seite gestanden hatte und zuerst mit Lord Tyront und dann auch mit Lord Poron gesprochen hatte. Später war Orrin noch dazugestoßen. Nur kurze Zeit nach dem Entfernen von Lord Tyronts Barriere hatte sie einen überraschenden Anfall von Melancholie verspürt, der nicht von ihr gekommen war. Sie fragte sich, was die beiden Männer wohl besprochen hatten, das in ihrem Gefährten solch ein Gefühl auslöste.

Ein Klopfen ertönte an der Tür, die ihr Arbeitszimmer mit Rolans verband, und sie rief ihn zu sich. Er steckte seinen Kopf herein.

“Vern hat nach Euch gesucht. Ich sagte ihm, dass ich ihm Bescheid gebe, sobald Ihr zurück seid. Er ist jetzt in Plias Labor”, berichtete ihr Assistent.

Seufzend stand sie auf. “In Ordnung, dann hole ich ihn besser. Es sieht nicht so aus, als würde ich heute irgendetwas erledigen können. Ich frage mich, warum ich dermaßen optimistisch war.”

Sie trat in den Korridor hinaus und klopfte an Plias halboffene Tür.

“Plia?”, rief sie aus. “Mir wurde gesagt, Vern sei hier.” Als sie eintrat, sah sie, wie Plia ein Bündel getrockneter Kräuter inspizierte, das höchstwahrscheinlich von den Kräutersammlern geliefert worden war, und Vern in einem der Bücher auf dem Tisch neben ihr herumblätterte.

“Ich habe es dir ja gesagt”, verkündete er dann triumphierend, “die Blüten müssen vor dem Trocknen gepflückt werden!”

Beide blickten auf, als Eryn eintrat.

“Da bist du ja!”, beschwerte sich Vern. “Ich warte hier schon seit mehr als einer halben Stunde auf dich! Wo warst du nur? Ich hätte gedacht, dass du nach deiner Reise genug Arbeit hast, um nicht einfach mitten am Tag fortzulaufen!”

Sie schnaubte. “Sag das nicht mir, sondern dem Rat der Magier! Die dachten, dass jetzt eine prima Zeit wäre, um mich eine Kleinigkeit für sie erledigen zu lassen. Plia, ich hoffe, er hält dich nicht von der Arbeit ab? Wirf ihn einfach hinaus, wenn er dich nervt.”

“Nein”, lächelte das Mädchen, “tatsächlich hat er mir sogar sehr geholfen. Es hilft, dass er dir dabei zur Hand gegangen ist, die Bücher zusammenzustellen; er findet die Dinge darin viel schneller als ich.”

Vern legte das Buch zur Seite und winkte Plia zum Abschied zu, bevor er Eryn in ihr Arbeitszimmer folgte. Sobald die Türe ins Schloss fiel, veränderte sich seine Haltung vollkommen. Er ließ seine Schultern hängen, und seine Miene wurde unglücklich und besorgt.

“Was ist los?”, fragte sie sofort. “Das ist keine gute Reaktion darauf, dass du mein Zimmer betrittst.”

“Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Ich schätze, dass du bereits das eine oder andere gehört hast. Wie ich mich um alles hier gekümmert habe, hat sich nicht gerade als großer Erfolg erwiesen”, murmelte er. “Ich habe versagt.”

Eryn sah ihn an und überlegte, wie damit umzugehen war. Mitgefühl würde sie im Augenblick bei ihm nicht weiterbringen. Sein Selbstwertgefühl war jetzt gerade niedrig, und wenn sie ihn behutsam anfasste, würde er das nur als Bestätigung auffassen. Eine Freundin war nicht das, was er im Augenblick brauchte. Er brauchte eine Vorgesetzte.

Sie griff nach ein paar Blättern Papier und gab vor, sie durchzusehen, bevor sie verwirrt aufblickte.

“Ich habe mir die Berichte, die Rolan mir bei jeder Gelegenheit mit so viel Eifer nachwirft, durchgesehen, und es scheint, dass es in den letzten Wochen eine zunehmende Anzahl an Patienten gab, die mit weitgehend guten Ergebnissen behandelt wurden.” Sie zog eine Liste hervor. “Hier steht, dass die Qualität der Kräuter und Medizin angemessen war, also keine Beschwerden von dieser Seite. Die Beschwerden, die gemacht wurden – alle vier – wurden rasch aus der Welt geschafft. Das Geld ist nur so hereingeflossen und wurde ordnungsgemäß aufbewahrt, die Patientenberichte wurden fertiggestellt, und ich bin nicht zu vollkommenem Chaos und Durcheinander zurückgekehrt.” Sie legte die Papiere zur Seite. “Ich habe gehört, dass du Ärger mit den Heilern hattest, aber da die Heilerdienste durchgehend und mit dem von mir verlangten Standard bereitgestellt wurden, betrachte ich den Ausdruck versagt hier nicht als angemessen.”

Er blinzelte mehrmals und runzelte die Stirn. Als er zum Sprechen ansetzte, hob sie einen Finger, um ihn zu stoppen.

“Ich bin sicher, dass die Zeit, in der du die Verantwortung für alles hier tragen musstest, nicht eben entspannend und unkompliziert war, sondern voller Herausforderungen, besonders persönlicher Natur. Aber das hat dich weder davon abgehalten, die Dienste am Laufen zu halten, noch hast du alles hingeschmissen und bist abgehauen, wenngleich die Meisten das zweifellos verstanden hätten. Also, wie auch immer du selbst deine Leistung beurteilen magst, rational betrachtet ist versagt jedenfalls nicht zutreffend. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, musst ich mich darauf verlassen können, wie du Situationen beurteilst.” Sie lehnte sich zurück und legte ihre Fingerspitzen genau so aneinander, wie sie es Lord Tyront hatte tun sehen. Oh Mann. Imitierte sie ihn jetzt tatsächlich?

“Ich würde dich darum ersuchen, noch einmal nachzudenken und mir dann eine realistische Beurteilung dessen zu geben, was in meiner Abwesenheit vorgefallen ist.” Sie war stolz darauf, wie kühl ihre Stimme klang. Die Aussage klang wie der Befehl, der sie tatsächlich auch war.

Vern richtete sich auf, und auf seinem Gesicht blieb nur ein unsicherer Ausdruck zurück, als wüsste er nicht genau, wie er mit Eryn als Authoritätsperson umgehen sollte, wenn sie viel eher in ihren explosiven, verärgerten oder ausgelassenen Stimmungen kannte.

Seine Augen wanderten einige Sekunden lang suchend über den Boden, bevor er zu sprechen begann. “Die Behandlung der Patienten hat gut funktioniert; ich habe ein Rad eingeführt, wo jeder der Lehrlinge zuerst mit mir arbeitete, bevor er wieder mit einem anderen Lehrling zusammengespannt wurde. Um die komplizierteren Behandlungen habe ich mich selbst gekümmert, während die anderen die weniger aufwändigen Dinge geheilt haben und angewiesen waren, bei Fragen zu mir zu kommen.” Dann hielt er inne und dachte erneut kurz nach, bevor er fortsetzte: “Die Kräuterversorgung war zu Beginn etwas unstet, aber Plia hat sich etwas ausgedacht, um vorauszuplanen, welche Medizin sie braucht und hat die Kräutersammler entsprechend angewiesen. In manchen Fällen war die Qualität ein Problem, besonders wenn es um die Kräutersammler geht, die nicht mit uns auf der Exkursion waren. Aber Plia war sehr streng, wenn es darum ging, die Materialien anzunehmen, also hat sich das gebessert.” Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

“Was noch?”, forderte Eryn ihn auf.

“Rolan hat sich um alles Verwaltungstechnische gekümmert, und obwohl ich es zu Beginn etwas schwierig fand, mit ihm auszukommen, hat sich herausgestellt, dass dieser Ort hier ohne ihn mehr oder weniger dem Untergang geweiht ist. Zumindest, wenn du nicht hier bist.”

Sie unterdrückte ein Lächeln und verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass es diesbezüglich keinen großen Unterschied machte, ob sie hier war.

“Ohne ihn wäre ich komplett und vollkommen verloren gewesen. Wirklich. Ich denke, ich verdanke ihm meine geistige Gesundheit. Oder was davon noch übrig ist”, seufzte Vern.

Gut. Zumindest sah er, dass auch etwas Positives gelaufen war, dachte sie. Es war Zeit, das anzusprechen, was nicht so gut funktioniert hatte.

“Was war das Problem zwischen dir und den anderen Heilern?”, erkundigte sie sich milde.

“Ich weiß es nicht, es war einfach…”, begann er und brach sofort ab, als sie den Kopf schüttelte.

“Nein, Vern. Lass für den Moment das Selbstmitleid beiseite und denk nach. Ich brauche anständige Antworten, keine Beschwerden”, beharrte sie.

Er wirkte leicht bestürzt, nickte aber und begann von Neuem. “Ich hatte den Eindruck, dass es ihnen schwerfiel, mich ernst zu nehmen.”

“Was denkst du, woran das lag?”

Er sah sie an, als wäre das offensichtlich. “Meine Jugend, würde ich meinen.”

“In Ordnung. Ich habe gehört, dass es gewisse… Unstimmigkeiten gab, was das Training betrifft?”

“Das könnte man so sagen, ja”, antwortete er düster. “Entweder haben sie die Aufgaben, die ich ihnen gegeben habe, überhaupt nicht erledigt oder nur die Hälfte davon.”

“Haben sie dir dafür einen Grund genannt?”

“Sie haben immer wieder gesagt, es sei zu viel, dass sie nach der Arbeit keine Energie mehr dafür hätten.”

Eryn nickte. “Ich verstehe. Und wie hast du auf dieses Argument reagiert?”

“Ich sagte ihnen, sie sollten mehr Einsatz für ihre Ausbildung zeigen und sie besser ernst nehmen, anstatt zu versuchen, einen Vorteil aus deiner Abwesenheit zu ziehen”, informierte er sie.

Meine Güte. “Du hattest also keinerlei Zweifel, dass sie womöglich tatsächlich nicht versucht haben, sich aus Faulheit vor den Aufgaben zu drücken, sondern weil es wirklich zu viel für sie war?”

Seine Augen verengten sich. “Ich habe viel mehr als das getan, als ich mein Heilertraining mit dir begann! Ich blieb bis Mitternacht auf, um Bücher zu lesen, die Sachen zu üben, die ich gelernt hatte und Bilder zu zeichnen. Ich gab ihnen wesentlich weniger zu tun, also sehe ich wirklich nicht, worüber man sich hier beschweren konnte!”

Eryn lehnte sich nach vorne. “Vern, du weißt sehr genau, dass deine Fähigkeiten rund um alles, was auch nur entfernt mit Büchern und Verständnis zu tun hat, über dem Durchschnitt liegen. Das ist etwas, das nicht nur ich dir gesagt habe, sondern das du zweifellos auch mit dem Rest deiner Klassenkameraden und deinen Lehrern wahrgenommen hast. Es kann sehr gefährlich sein, deine eigenen Standards, die auf deinen persönlichen Fähigkeiten beruhen, auf andere Menschen anzuwenden, deren Stärken entweder nicht so ausgeprägt sind wie deine oder aber in anderen Bereichen liegen.”

“Du denkst also ebenfalls, dass ich zu viel von ihnen erwartet habe?”

Sie atmete langsam aus. “Vern, ich bin nicht wirklich in einer Position, um hier irgendetwas zu beurteilen. Ich habe keine Ahnung, was oder wie viel genau du ihnen zu tun gegeben hast, ob es zu viel war oder nicht. Ich versuche nur, dich dazu zu ermutigen, ihren Standpunkt zu sehen und dir selbst klar zu machen, dass nicht jeder so ist wie du. Das bedeutet nicht, dass sie als Heiler weniger wichtig sind als du, wohlgemerkt. Sie haben womöglich andere Stärken, die du nicht besitzt”, fügte sie als Warnung hinzu.

Das schien ihn zum Nachdenken anzuregen.

“Sie sperrten mich mehrmals ein”, war alles, was er schließlich leise sagte.

“Das hätten sie nicht tun sollen”, nickte sie. “Es war recht kindisch. Aber Leute tendieren dazu, unvernünftig zu reagieren, wenn sie sich unverstanden fühlen und frustriert sind. Das ist der Trick, siehst du? Ihnen zuzuhören.” Sie lächelte. “Erinnerst du dich an all diesen Ärger, den wir mit dem Umkleideraum hatten?” Wie weit weg das nun schien. “Ich beharrte darauf, alles so zu belassen, ganz egal, welche Unannehmlichkeiten Enric mir verursachte. Dann waren es die Heiler selbst, die zu mir kamen und mir sagten, dass ich es ändern sollte. Darüber war ich nicht besonders glücklich, das darfst du mir glauben. Obwohl es sich anfühlte, als hätte ich diese Schlacht gegen Enric verloren, gab ich dennoch meinen Kampf auf und tat, worum sie mich baten. Deswegen haben sie mich nicht weniger respektiert. Hätte ich trotz ihrer Bitte darauf bestanden, alles so zu lassen, wie es war, hätte mich das sicherlich ihre Gunst gekostet. Und trotz all des Ärgers, den du mit ihnen hattest, haben sie niemals die Qualität ihrer Arbeit darunter leiden lassen, soweit ich das gesehen habe. Weißt du, das ist etwas, das du ihnen zugutehalten solltest.”

Vern rieb sich über sein Gesicht, plötzlich müde. “Das zeigt mir, dass ich ganz klar nicht dafür geschaffen bin, Leute zu führen.”

“Kompletter Unsinn. Es zeigt nur, dass du sechzehn bist. Leute anzuführen ist eine Frage von Erfahrung und Lernbereitschaft. Lernbereitschaft war in deinem Fall noch nie ein Problem. Die Erfahrung wird mit dem Alter kommen, da bin ich sicher. Ich habe nicht die Absicht, dich vom Haken zu lassen, wenn es darum geht, für mich einzuspringen.”

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. “Nach all dem denkst du noch immer, dass das eine kluge Idee ist?”

“Ja, das tue ich. Ich habe nicht die Absicht, dich dein Potential und Talent verschwenden zu lassen, weil du noch nicht gelernt hast, deine tyrannischen Tendenzen unter Kontrolle zu bringen. Du wirst früher oder später eine Führungsrolle irgendeiner Art übernehmen, das lässt sich nicht vermeiden. Also fängst du besser damit an zu lernen, wie man mit Leuten umgeht. Allerdings werden wir zusehen, dass du beim nächsten Mal besser vorbereitet bist.”

“Man hört die Leute von geborenen Anführern reden! Es ist also nicht unbedingt etwas, das man lernen kann, sondern ist ein Talent”, strich er hervor.

“Geborene Anführer, Vern, sind Leute, die sich den Luxus leisten können, all das nicht lernen zu müssen, weil sie höchstwahrscheinlich mit beträchtlichen Stärken in diesem Bereich geboren wurden. Allerdings sind sie dann womöglich weder gute Heiler, Künstler oder Verhandler. Wenn du mich fragst, würde ich lieber mit einer Gabe geboren werden, die nicht erlernt werden kann und dafür die Mühen auf mich nehmen, die Fertigkeit des Führens zu erlernen. Du hast gehört, was die Leute über Enric sagen. Er war in seiner Jugend ein fauler, nutzloser Taugenichts – auf jeden Fall kein geborener Anführer. Und sieh ihn dir jetzt an.”

Sie entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um zu ihrer Rolle als Freundin zurückzukehren. “Vern, du hast nicht versagt. Abgesehen von deiner vollkommen unrichtigen Bewertung der Situation”, lächelte sie. “Ich bin stolz auf dich, sehr sogar. Das war ich immer. Und ich bin zuversichtlich, dass du mir mehr als genug Gründe liefern wirst, auch in Zukunft stolz auf dich zu sein.”

Er entspannte sich und erwiderte ihr Lächeln. “Es tut gut, dich zurück zu haben. Richtig gut.”

Sie grinste. “Gut. Vergiss das nur nicht.”

“Was soll ich denn jetzt mit den Heilern tun?”

“Ich werde mit ihnen reden und mir ihre Seite der Geschichte anhören. Ihnen sagen, dass sie gute Arbeit geleistet haben, ihnen Anerkennung zeigen. Was den Rest betrifft – nun, es liegt an dir, dass du sie dazu bringst, dich wieder zu respektieren. Du hast zwei bedeutsame Vorteile: weitreichenderes Heilerwissen und mehr Heilererfahrung als sie. Benutz das, um ihnen zu helfen, lass dich aber nicht respektlos behandeln. Das ist soweit alles.” Sie warf einen kurzen Blick zur Tür, die zum Zimmer ihres Assistenten führte. “Er hat also in meiner Abwesenheit gut gearbeitet?”

Vern schüttelte den Kopf. “Nicht bloß gut, sondern er hat mir Tag für Tag das Leben gerettet. Er hat so viel Papierkram erledigt, dass ich nicht einmal weiß, was das alles ist. Er kann nur zu mir, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wenn er eine Unterschrift oder sonst etwas brauchte, um diesen Ort hier am Laufen zu halten. Fast jeden Tag ist er lange geblieben und war früh am Morgen wieder zurück. Ich weiß nicht, wann er Zeit zum Schlafen hatte. Und er hat versucht, uns vom Streiten abzuhalten.”

Eryn nickte. Das war in der Tat ein hohes Lob, und sie entschied, von nun an netter zu Rolan zu sein. Das hatte er sich redlich verdient.

Sie lächelte und beugte sich vor. “Ich habe ein paar sehr hilfreiche Dinge in Takhan gelernt. Dinge, bei denen ich mir denken könnte, dass du begierig darauf bist, sie zu erlernen.”

In Verns Augen funkelte es. “Was zum Beispiel?”

“Ich habe gelernt, wie man Leute jünger erscheinen lassen kann. Zehn Jahre, zwanzig, wie viel du willst. Und ich habe einen sehr talentierten und gescheiten nichtmagischen Heiler kennengelernt, der mir etwas über nichtmagische Diagnosemethoden beigebracht hat.”

Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. “Ernsthaft? Das ist fabelhaft!”

“Da ist noch mehr. Ich habe gelernt, wie man es den Leuten hier ermöglichen kann, magisch begabte Töchter zu haben.”

Vern starrte sie an. “Das ist nicht dein Ernst!”

“Doch, das ist es”, lächelte sie, zufrieden mit seiner Reaktion. “Und ich wurde gerade vom Rat der Magier damit beauftragt, daran zu arbeiten. Ich könnte noch einen weiteren Heiler gebrauchen, der mir dabei hilft. Du kennst nicht zufällig jemanden, den diese Aufgabe interessieren würde, oder?”

Kapitel 3

Nebenwirkungen

Junar lachte begeistert, als sie die Tür öffnete und sich Eryn gegenübersah.

“Hey, welch unerwartete Ehre! Ich dachte nicht, dass wir dich in nächster Zeit hier sehen würden! Du musst mit Arbeit überflutet sein, könnte ich mir vorstellen. Orrin – sieh mal, wer hier ist”, rief sie. Dann bemerkte sie den leicht gepeinigten Gesichtsausdruck ihrer Besucherin und hielt inne. “Irgendetwas stimmt nicht. Komm herein.”

“Ich muss mit dir reden”, seufzte Eryn und betrat den Salon, der ganz unverkennbar zeigte, dass im Laufe der letzten paar Wochen eine weibliche Hand am Werk gewesen war. Blumen in Vasen, bunte Zierkissen, kleine Gegenstände, die keinem anderen Zweck als der Dekoration dienten.

Orrin kam aus seinem Arbeitszimmer und runzelte die Stirn. “Gibt es Ärger, Mädchen?”

Sie nickte. “Das könnte man sagen, ja.”

“Hast du ihn verursacht oder leidest du unter den Auswirkungen?”, erkundigte er sich weiter.

“Schwierige Frage. Ich schätze, in gewisser Weise könnte man beides sagen”, erwiderte sie nach kurzer Überlegung.

“Nun, wenn das nicht kryptisch ist…” Junar drehte die Augen zur Decke und führte Eryn zu einem Sofa. “Setz dich. Ich hole dir etwas zu trinken.”

“So, was ist los?”, fragte Orrin und näherte sich gemächlich.

Eryn betrachtete ihn ein paar Augenblicke lang, dann sagte sie: “Ich bin nicht wirklich sicher, ob du das hören solltest. Es hat mit Sex zu tun.”

Er brachte seine etwas unbehagliche Miene unter Kontrolle, aber nicht, bevor sie sie bemerkt hatte. Sie lächelte dünn. “Das ist deine letzte Chance zur Flucht, Krieger. Was wird es sein? Wirst du dich den Neuigkeiten stellen oder Junar dazu bringen, dir davon zu erzählen, nachdem ich fort bin?”

Er schnaubte entrüstet. “Was lässt dich glauben, ich würde so etwas tun? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich an diesem Aspekt deines Lebens jemals irgendein ungebührliches Interesse bekundet hätte. Oder jemals gehabt hätte”, fügte er hinzu.

“Ich denke, dass du schrecklich neugierig wärst, weil ich normalerweise nicht herumlaufe, um mit Leuten über meine intimen Probleme zu sprechen”, bemerkte sie mit einer hochgezogenen Braue.

“Ich werde bleiben”, verkündete Orrin. “Aber nur, weil du es wie eine Herausforderung formuliert hast.”

“Mutiger Orrin”, murmelte sie und nahm das warme Getränk entgegen, das Junar ihr brachte.

“Dann rück schon heraus damit!”, drängte sie die Schneiderin, bevor sie sich zwischen die beiden setzte.

Eryn nahm einen Schluck und spürte die tröstliche Wärme in ihrem Hals und Magen. Sie fragte sich, wie sie am besten anfangen sollte. Es war einiges damit verbunden, von dem sie noch nichts wussten.

“Enric und ich sind vor unsere Abreise aus Takhan etwas eingegangen, das sich Kommitmentband dritten Grades nennt”, begann sie. “Es ist ein magisches Kommitment, das nur zwischen zwei Magiern möglich ist. Es bindet sie sehr eng aneinander.”

Junars Augen wurden groß, und Orrins Stirn legte sich in Falten. “Eine magische Bindung? Wie der Eid an den König?”

“Ja, so ähnlich. Allerdings etwas stärker. Sie haben dort drei Kommitmentbande, und das zwischen Gefährten ist das Stärkste. Es führt erhöhte Intimität sowie mehr Bewusstsein für die Gefühle des anderen herbei und zieht Gefährten zueinander zurück, wenn sie getrennt sind.”

“Und in so etwas bist du eingetreten?”, fragte Junar ungläubig. “Du hast dich magisch an einen Mann gebunden?”

“Freiwillig?”, fügte Orrin in dem gleichen fassungslosen Tonfall hinzu.

“Kommt schon!”, rief Eryn aus und warf frustriert die Hände hoch. “Ich war zuvor schon mehrere Monate lang mit Enric verbunden, warum sollte es euch also überraschen, dass wir das getan haben, was man als nächsten Schritt betrachten könnte?”

“Weil du in dein Kommitment mit ihm hineingezwungen wurdest und das zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gut aufgenommen hast”, antwortete Orrin.

“Zudem hast du ernsthafte Bindungsprobleme”, sagte Junar.

“Nun, die könnt ihr als überwunden betrachten! Kann ich jetzt weitererzählen, oder wollt ihr noch länger über meine vermeintlichen Bindungsängste reden?”

“In Ordnung… ihr seid also dieses starke magische Kommitment miteinander eingegangen.” Orrin bedeutete ihr fortzufahren.

“Es hat Nebenwirkungen”, murmelte Eryn.

“Abgesehen von den Dingen, die du gerade erwähnt hast?”, fragte Junar.

“Ja. Zumindest in unserem Fall. Mir wurde gesagt, dass das kaum jemals passiert und ich mir deswegen keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber natürlich ist es ausgerechnet Enric und mir passiert”, seufzte sie und drückte ihre Finger gegen ihre Schläfen. “Weit weg von all den Leuten, die zumindest ein klein wenig darüber wissen.”

“Und diese Nebenwirkungen betreffen dein Sexualleben?”, fragte die Schneiderin vorsichtig.

“Ja, unter anderem. Wir haben uns etwas eingehandelt, das sich Geistesband nennt. Das bedeutet, dass sich zwischen uns eine Verbindung entwickelt hat, die es uns ermöglicht, die Gefühle des jeweils anderen in unserem eigenen Bewusstsein wahrzunehmen, wenn sie stark genug sind”, erklärte Eryn.

Beide starrten sie überrascht an. Junar erholte sich als erste. “Wirklich? Wie zum Beispiel was?”

“So ziemlich alles – gute und schlechte Gefühle. Als ich davon erfuhr, sagte ich etwas, das Enric enorm verärgerte, und die Gewalt seiner Reaktion zwang mich beinahe in die Knie.”

Orrin wirkte verwundert. “Erstaunlich. Und weshalb genau ist das im Bett ein Problem?”

Eryn warf ihm einen gequälten Blick zu. “Weil seine Emotionen zusätzlich zu meinen eigenen so intensiv sind, dass mein Gehirn offenbar nicht in der Lage ist, damit umzugehen. Ich bin ohnmächtig geworden.” Sie schnipste mit den Fingern. “Einfach so. Vollkommen weg.”

Junar erwiderte hilfreich: “Meine Güte. Das ist aber unangenehm.”

“Unangenehm?”, rief Eryn aus. “Das ist eine gewaltige Untertreibung! Das ist eine Katastrophe!”

“Warum?”, fragte ihre Freundin verwirrt. “Ich gehe davon aus, dass die Gefühle, die du verspürt hast, positiv waren?”

“Ja. Na und?”

“Ich könnte mir denken, dass eine Menge Frauen absolut begeistert wären bei der Aussicht darauf, nach dem Sex aufgrund einer überwältigenden Welle an positiven Gefühlen das Bewusstsein zu verlieren”, meinte sie achselzuckend. “Ich allerdings nicht”, fügte sie mit einem verschmitzten Blick zu Orrin hinzu. “Ich bin absolut zufrieden.”

Eryn warf ihr einen finsteren Blick zu. “Enric war panisch! Er dachte einen Moment lang, er hätte mich umgebracht! Kannst du dir das vorstellen? Ich frage mich, ob er es jemals wieder wagen wird, mich anzufassen. Oder ob das überhaupt eine gute Idee wäre.”

“Kannst du niemanden in den Westlichen Territorien fragen, was ihr tun könnt? Oder ob das lebensgefährlich sein könnte?”, regte Orrin an.

“Enric hat eine Nachricht an meinen Onkel, einen Heiler, geschickt. Aber da wir es noch nicht geschafft haben, diese vermaledeiten Vögel zum Brüten zu bringen, wird die Antwort wohl einige Zeit auf sich warten lassen.”

“Was werdet ihr dann tun? In getrennten Räumen schlafen?”, erkundigte sich Junar.

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. In dieser Hinsicht ist er unerbittlich. Nach unseren anfänglichen Schwierigkeiten, wo ich mich weigerte, in seinem Zimmer zu schlafen, scheint es, dass er den Gedanken, in verschiedenen Räumen zu nächtigen, rigoros ablehnt. In Takhan wurden wir für die Dauer des Verfahrens getrennt, und das nahm er nicht besonders gut auf.”

“Ja, das Verfahren”, sagte Orrin langsam. “Das ist etwas, worüber ich sehr gerne mehr hören würde. Uns wurde nur mitgeteilt, dass sich deine Rückkehr aufgrund von Vorwürfen, denen du dich stellen musstest, verzögern würde.”

Junar öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder.

“Was?”, fragte Eryn.

“Ich wollte euch gerade zum Abendessen einladen, aber ich weiß nicht genau, wie ich das anstellen soll. Kann ich das überhaupt? Ich meine, dein Gefährte ist Orrins Vorgesetzter. Ist das angemessen? Würde er überhaupt annehmen? Was ist, wenn er es tut? Ich gebe zu, dass ich hier etwas überfordert bin”, seufzte sie.

“Dann erlaube mir, dir hier aus der Klemme zu helfen. Ich würde euch beide plus Vern gerne einladen, in drei Tagen bei uns zuhause zu Abend zu essen.”

Junar lächelte erleichtert. “Danke. Das macht die Sache wesentlich einfacher.”

“Ich bin froh, dass ich dir eine Last von den Schultern nehmen konnte. So, habt ihr irgendwelche Ratschläge für mein Ohnmachtsproblem?”, wollte Eryn wissen.

Junar zuckte die Achseln. “Ich gebe zu, dass ich das Problem nicht wirklich sehe. Du verlierst also das Bewusstsein, wenn das Vergnügen die Grenze des Erträglichen überschreitet. Das klingt für mich nicht gerade nach einer unerträglichen Bürde. Warum genießt du es nicht einfach? Oder gibt es aus Heilersicht irgendwelche Einwände? Könnte dein Gehirn dabei Schaden nehmen? Ich schätze, du hast das überprüft?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Das habe ich, ja. Und nein, kein Schaden, der mir aufgefallen wäre. Aber ich fühle mich so hilflos, wenn ich einfach ohnmächtig werde! Es ist schwach, erbärmlich.”

“Ah ja”, lächelte Orrin. “Und da sind wir auch schon bei der Wurzel des Problems angelangt, nicht wahr? Hier geht es sicherlich nicht darum, was Lord Enric über dich denkt. Er würde dich deswegen nicht weniger schätzen. Aber du hast ein Problem damit, schwach zu wirken, womöglich eine Folge dessen, wie du bei uns in der Stadt gelandet bist. Ganz zu schweigen davon, wie du an deinen Gefährten gebunden wurdest. Indem man dich dazu zwang. Kontrolle. Du hast das Gefühl, dass du erneut die Kontrolle über dein Leben verlierst, und das passt dir nicht.”

Eryn blinzelte mehrmals vor Erstaunen. “Das war ein überraschend tiefgehender Einblick.”

“Du meinst im Gegensatz zu meiner üblichen, ungebildeten Herangehensweise?”, fragte er mit hochgezogenen Brauen.

“Nein!”, protestierte sie. “Es ist nur so, dass du nach meiner Erfahrung eher zu etwas mehr Stumpfheit neigst.”

“Dir ist schon klar, dass es in meinem Arbeitszimmer Bücher gibt, nicht wahr?”

“Ja, durchaus”, bestätigte sie taktvoll.

“Die sind nicht als Dekoration gedacht. Ich habe fast alle davon gelesen”, bemerkte er trocken.

“Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe, Orrin”, seufzte sie. “Du denkst also, ich vertraue Enric nicht genug, um es zu ertragen, dass ich die Kontrolle verliere?”

Er schüttelte den Kopf. “Das habe ich so nicht gesagt. Kontrolle ist ein angeborenes menschliches Bedürfnis. Wenn wir den Eindruck haben, dass wir die Dinge um uns herum nicht beeinflussen können, egal, was wir tun, dann fühlen wir uns hilflos, frustriert. Du hast um Kontrolle gekämpft, als du eine Gefangene warst. Zuerst, indem du mir bei jeder Gelegenheit Widerstand geleistet hast, und als das nicht funktionierte, begannst du damit, Leute auf der Straße zu heilen.”

Eryn starrte ihn an. Es schien, als wäre Vern nicht das einzige geistig gewandte Mitglied dieser Familie. Wie hatte sie ihn nur dermaßen unterschätzen können?

“Indem du mich also mit Vern durch die Straßen ziehen hast lassen…”, setzte sie an.

“Habe ich dir einen Teil der Kontrolle über dein Leben zurückgegeben, ja. Und danach warst du kooperativer. Obwohl du immer noch deine Grenzen ausgereizt hast und ich dir neue setzen musste. So wie in dieser einen Nacht, als du Junars Schwester geheilt hast und nicht in dein Quartier zurückgekehrt bist. Die Kontrolle, die man einer Gefangenen überlässt, sollte immerhin ein gewisses Ausmaß nicht übersteigen.”

“Orrin, Orrin”, murmelte sie und nickte, “du durchtriebener alter Hund. Du bist gefährlicher, als ich gedacht hätte.”

“Wie kommst du allgemein mit diesem Teilen eurer Gefühle zurecht? Wie läuft das? Fühlst du plötzlich etwas und hast keine Ahnung, weshalb?”, wollte Junar wissen.

“Nun, es ist anders als meine eigenen Gefühle. Ich weiß es also sofort, wenn ich etwas von ihm empfange. Meist ist es verwirrend, besonders wenn ich irgendwo anders bin und nur die Emotion, aber keinen Zusammenhang dafür habe. Wie gestern, als er mit Lord Tyront gesprochen hat. Da war ein kurzer Moment der Traurigkeit oder des Bedauerns, und ich hatte keine Ahnung, wodurch er ausgelöst wurde.”

“Und danach fragen willst du ihn nicht?”, forderte Junar sie auf.

Eryn verzog das Gesicht. “Ich weiß es nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass er es mir sagen würde, wenn er wollte, dass ich davon wüsste. Diese ganze Sache ist mühsam. Es ist so, als ob wir langsam verschmelzen und ich mich zu fragen beginne, wo er aufhört und ich anfange. Ich möchte mir eine gewisse private Eigenständigkeit bewahren. Es ist intim genug, die Gefühle aus erster Hand zu teilen, ohne auch noch jedes winzige Detail rundherum zu erfahren.”

Junar nickte langsam. “Ich schätze, das verstehe ich. Aber wer hätte gedacht, dass es in ihm überhaupt so viele Gefühle gibt? Er wirkt immer so ruhig und gefasst.”

“Starke Gefühle hat er sehr wohl; er zeigt sie nur niemandem. Es macht ihm überhaupt keine Mühe, genau zu kontrollieren, wie viel er herauslässt. Und ich denke, das ist jetzt bereits mehr, als er wollen würde, dass ihr über ihn wisst.” Sie erhob sich. “Danke für eure Zeit.” Sie lächelte Orrin an. “Du bist nützlicher als ich dir zugestehe.”

“Offensichtlich”, bemerkte er. “Du verlässt uns also bereits wieder? Das war ein recht kurzer Besuch.”

“Ich muss zurück zur Klinik. Vern und ich treffen uns dort, damit ich ihm bei den anderen Heilern zeigen kann, wie man die Barriere in ihren Köpfen entfernt.”

Er räusperte sich. “Ich habe nicht den Eindruck, dass Vern und die Heiler derzeit besonders gut miteinander auskommen.”

“Ich bin sicher, dass sie sich benehmen werden, besonders, wenn ich dort bin, um ihm den Rücken zu stärken. Ich bin zuversichtlich, dass sie es schaffen werden zusammenzuarbeiten. Ich hatte gestern ein kleines Gespräch mit Vern.”

Orrin nickte. “Ich weiß. Davon hat er mir erzählt. Über ein paar der Dinge, die du zu ihm gesagt hast, war er recht überrascht. Und ich ebenfalls, um ehrlich zu sein. Du wirst langsam erwachsen, nicht wahr?”

Sie seufzte und kicherte. “Es scheint, als wären wir beide voller Überraschungen heute, was?”

“Ich wünschte, das wäre so. Ich warte noch immer auf meine Geschenke von der anderen Seite des Meeres”, schmollte Junar.

“In drei Tagen, ich verspreche es”, lächelte Eryn und schloss die Tür hinter sich.

* * *

Sie betrat den Salon und pfiff durch die Zähne, als sie sah, wie er für die Gäste umgestaltet worden war. Die würden in etwa zwei Stunden eintreffen, und sie war mit den Bemühungen immens zufrieden. Es erinnerte an die Westlichen Territorien, fiel ihr auf. Zierkissen in bunten Stoffen, ein Tischtuch im gleichen Stil. Wann hatten sie all das bloß gekauft?

Enric hatte ihr gesagt, dass er beabsichtigte, ihre Gäste ein wenig in die neue Kultur, zu der sie beide nun mehr oder weniger gehörten, einzuführen. Also hatte er sich am Vortag mit Orrin und natürlich Urban auf die Jagd begeben, um der westlichen Tradition zu folgen, Gästen nur das zu servieren, was der Gastgeber selbst erlegt hatte. Den Kriegerlehrer hatte die Einladung seines Vorgesetzten überrascht, ebenso wie Eryn.

Es schien, als ob die Szene bei ihrer Heimkehr Enric tatsächlich zum Nachdenken über seinen Mangel an Kontakten mit anderen Menschen in seinem Heimatland angeregt hatte und er nun daran arbeitete, das zu ändern. Orrin war mehr oder wenige die offensichtliche – wenn auch keine ganz unkomplizierte – Wahl, wenn man ihre nicht gerade harmonische gemeinsame Geschichte bedachte.

Der Ausflug schien gut verlaufen zu sein, sie kehrten mit mehreren Beutetieren zurück und trennten sich freundschaftlich.

“Enric?”, rief sie und ging zu seinem Arbeitszimmer, als keine Antwort kam. Der Raum war leer, ebenso wie die anderen. War es möglich, dass er nicht zuhause war? Sie sah aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers in den Innenhof und fand Urban, die auf einem erhöhten Platz auf einem Felsen schlief, während ihre Pfoten und ihr Kopf schlaff nach unten hingen. Enric konnte also nicht weit weg sein. Er ließ die Katze nur zuhause, wenn er Ratsversammlungen besuchte, und soweit sie informiert war, stand heute keine auf dem Plan.

Mit einem Achselzucken ging sie nach oben, um ihre Garderobe durchzusehen und fand eine Notiz, die an die Tür geheftet war. Es war eine Anweisung, etwas Ansehnliches in den Farben ihres Heimatlandes anzuziehen. Lächelnd zog sie eine farbenfrohe Tunika und eine dunkle Hose heraus, um sie nach dem Waschen anzuziehen. Enric schien es wirklich zu genießen, heute Abend den Gastgeber zu spielen, wenn man von den Details ausging, denen er seine Aufmerksamkeit widmete.

Sie hielt inne, als ihr ein Gedanke kam. Ihr Blick wanderte zu dem Fenster, das den Hof und das gegenüberliegende Gebäude mit den Arbeitsräumen überblickte. Arbeitsräume wie die Küche. Er würde doch wohl kaum die Zubereitung der Mahlzeit selbst übernehmen? Nein, dachte sie, amüsiert über sich selbst – das war wohl eine etwas zu gewagte Annahme. Oder?

Sie entschied, dass noch immer genug Zeit für ein schnelles Bad blieb. Die letzten drei Tage waren aufreibend gewesen, also hatte sie sich sicherlich ein wenig Entspannung verdient, bevor sie ihre Gäste empfing.

Ihre Gedanken allerdings kümmerte es wenig, dass sie zur Ruhe kommen wollte, als sie sich wenig später in das erfrischende, warme Wasser sinken ließ. Die schienen nur auf eine kleine Pause gewartet zu haben, um von allen Seiten auf sie einzustürmen.

Vern und die Heiler. Die erste Begegnung nach ihrer Rückkehr war merklich angespannt und übermäßig höflich verlaufen, aber nach ein paar Stunden schienen sie alle ihren Weg zurück in ihre Rollen gefunden zu haben, so wie vor ihrer Abreise – als Kollegen ohne Hierarchie, sondern nur mit einem Wissensvorsprung zwischen ihnen. Vern schien hinterher immens erleichtert, froh, dass seine Kollegen wieder mit ihm sprachen.

In den letzten zwei Tagen war er fleißig gewesen und hatte Barrieren entfernt, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergeben hatte. Zuerst bei Junar und Plia, dann bei Rolan und seinen Klassenkameraden. In seinem Eifer wollte er mit den Patienten fortsetzen, aber Eryn hatte ihn zurückhalten müssen. Er war noch immer dabei, sich von sechs sehr anstrengenden Wochen zu erholen und musste sich, anstatt ihre Arbeit zu erledigen, auf die Dinge konzentrieren, die er im Unterricht verpasst hatte.

Das Geistesband hatte sich in den letzten drei Tagen als überraschend unproblematisch erwiesen. Einmal hatte sie ein Aufflackern von Ärger bei Enric verspürt und ihn am Abend danach gefragt. Er hatte ihr erklärt, dass einer seiner Kollegen im Rat seine Meinung über Enrics Adoption etwas zu freizügig kundgetan hatte und entsprechend zurechtgewiesen worden war. Sehr wahrscheinlich mit einem frostigen Lächeln und einem warnenden Blick, der keinerlei Hinweis auf das Ausmaß an Ärger in seinem Inneren preisgegeben hatte. Sie fragte sich, ob sich das erlernen ließ. Ihre Gefühle so in ihrem Inneren zu behalten, sie nur herauszulassen, wenn sie sie als Waffe einzusetzen gedachte.

Von allen Leuten, die im Heilergebäude arbeiteten, schien Plia die Einzige gewesen zu sein, die von der Anspannung zwischen Vern und den anderen Heilern nicht betroffen war. Sie hatte zuverlässig in ihrem abgeschiedenen Rückzugsort vor sich hingearbeitet, die Tür geschlossen gehalten, Kräutersammler und Apotheker empfangen, um ihre Güter entweder anzunehmen oder zurückzuweisen, und ihren Medizinvorrat vorbereitet.

Eryn hatte sie dazu ermutigen wollen, sich an diesem Abend zu ihnen zu gesellen, aber Plia hatte höflich abgelehnt und vorgegeben, anderweitig verabredet zu sein. Enric und Orrin gemeinsam am gleichen Ort war womöglich zu viel für sie – sie verbeugte sich noch immer jedes Mal vor Enric, wenn sie ihm im Haus über den Weg lief, obwohl er ständig betonte, dass dies eine recht übertriebene Formalität war, wenn man unter dem gleichen Dach lebte.

Der Hof hatte sich bei ihrer Rückkehr als angenehme Überraschung entpuppt. Das Gras, das kurz nach ihrer Abreise gesät worden war, bedeckte den Boden mit den großen Felsen, Bäumen und Baumstämmen. Urban fand Gefallen daran – wahrscheinlich, weil sie endlich einen Platz hatte, den sie nach Herzenslust verwüsten durfte. Enric hatte Eryn erzählt, dass die Leute ihn immer wieder darauf ansprachen, wie sehr die Katze gewachsen war, seit sie sie vor eineinhalb Monaten zuletzt gesehen hatten und auch recht nachdrücklich wissen wollten, wie lange das Wachstum wohl noch andauern würde. Eryn bemerkte die Veränderung nicht wirklich, aber da sie Urban jeden Tag gesehen hatte, wäre es ihr auch kaum aufgefallen. Die Kiste für den Transport der Katze hatte allerdings auf der Rückreise etwas voller gewirkt.

Sie spürte, wie ihre Augenlider schwerer wurden und nahm sich vor, sie nicht länger als eine Minute zu schließen.

* * *

Es überraschte Enric, das Schlafzimmer leer vorzufinden. Sie war eindeutig nach Hause gekommen – er hatte ihre Robe auf dem Haken unten hängen sehen. Auf dem Bett lagen die Kleider, die sie am Abend zu tragen gedachte. Seiner Bitte folgend hatte sie etwas ausgewählt, das sie in Takhan anfertigen hatte lassen. Ihre Gäste wurden in weniger als einer halben Stunde erwartet, und von ihr war keine Spur zu sehen.

Als er den Nassraum betrat, sah er einen schlaffen Arm aus der Wanne hängen, und er ließ seine Anspannung mit einem langen Seufzer los. Sie wirkte so friedlich, wie sie leise im Wasser schnarchte. Nach ein paar mühsamen Tagen war ein warmes Bad allerdings keine gute Methode, um wach zu bleiben, dachte er und ging neben ihr in die Hocke.

“Eryn”, meinte er, stieß sie leicht an und wiederholte es, als sie nicht reagierte.

Sie öffnete ihre Augen halb und schenkte ihm ein schläfriges Lächeln. “Hallo du.”

Dann setzte sie sich abrupt auf, woraufhin Wasser auf sein Hemd und noch etwas mehr auf den Boden schwappte. “Bin ich eingeschlafen? Oh nein! Wie viel Zeit habe ich noch?”

Enric lächelte nur und trocknete seine Kleidung mit ein wenig Magie. Er sah zu, wie Dampf in winzigen Schwaden aufstieg. “Eine halbe Stunde.”

Sie atmete erleichtert aus. “Gut. Das kann ich schaffen.”

Er beobachtete sie aufmerksam, als sie in der Wanne aufstand. Das Wasser rann in winzigen Bächen ihren Körper hinab und fand seinen Weg entlang von Kurven und Hautfalten, während Enric genüsslich lächelte.

“Lass das”, wies sie ihn an. “Ich weiß genau, wie das normalerweise endet, wenn du mich so ansiehst. Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit mehr.”

Sein Lächeln blieb unverändert. “Ich sehe dich auf eine bestimmte Weise an? Dessen bin ich mir nicht bewusst.”

Mit einem Augenrollen stieg sie aus der Wanne und wickelte sich in ein großes Handtuch ein. “Natürlich tust du das. Dieser hungrige Blick, wenn deine Augenlider halb geschlossen sind, aber deine Augen jeder meiner Bewegungen folgen. Wie ein Raubtier, das bereit ist, seine nächste Mahlzeit zu erlegen.”

“Interessante Einschätzung”, überlegte er. “Und nicht ganz unberechtigt, gestehe ich. Unglücklicherweise hast du Recht, wir haben tatsächlich keine Zeit.” Besonders, da sie in letzter Zeit im Bett ohnmächtig wurde und hinterher eine Weile zur Erholung benötigte. Er sah zu, wie sie ihre Haare mit einer Berührung ihrer Finger trocknete und sie bürstete, bis sie in sanften, dunkelbraunen Wellen ihren Rücken hinabhingen.

“Ich habe darüber nachgedacht, sie abzuschneiden”, sagte sie nebenbei, als sie bemerkte, wie er ihre gleichmäßigen Bewegungen mit der Bürste beobachtete. “Sie sind eher unpraktisch. Und ich trage sie ohnehin entweder geflochten oder hochgesteckt.”

“Wag es bloß nicht, sie abzuschneiden”, knurrte er. Im Bett trug sie die Haare offen. Soweit es ihn betraf, brauchte sie niemand sonst mit offenen Haaren zu sehen.

“Du fragst mich auch nicht um meine Erlaubnis, wenn du deine Haare abschneidest”, strich sie mit einem gereizten Blick hervor. “Du suchst mehr oder weniger meine Kleider aus, und jetzt willst du mir auch noch sagen, wie ich meine Haare schneiden lassen soll?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein. Ich will dir sagen, wie du dir die Haare nicht schneiden lassen sollst. Aber das können wir ein anderes Mal diskutieren. Jetzt solltest du dich fertigmachen. Wenn wir unseren Gästen einen Einblick in die Kultur des Westens gewähren wollen, können wir ebenso gut bei der Pünktlichkeit auf Originalität achten.”

“Wie sehr du auf Authentizität bedacht bist. Mit deiner eigenen Besessenheit mit Pünktlichkeit hat das natürlich überhaupt nichts zu tun”, scherzte sie und ging ihm voran ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

“Ich will für meine Gäste eben nur das Beste”, murmelte er, woraufhin sie innehielt und sich zu ihm umdrehte.

“In letzter Zeit sprichst du gerne in Reimen, was? Zuerst der Kommitment-Eid und jetzt spontane kleine Verse für alltägliche Zwecke. Wirklich zauberhaft.”

Er zuckte die Schultern und reichte ihr die Tunika vom Bett. “Als ich jünger war, schrieb ich eine Menge Gedichte. Meist mit dem Zweck, meine Lehrer und meinen Vater in bildreicher Sprache zu schmähen. Aber ebenso wie das Zeichnen, ist auch das Verfassen von Poesie nicht gerade eine Fertigkeit, die bei einem Magier erwünscht ist.”

Sie starrte ihn überrascht an. “Das hast du wirklich getan?”

Leise lachend zog er ihr die Tunika nach unten, als sie vor Erstaunen erstarrt schien. “Ja, das habe ich. Wenn auch nichts Inspirierendes oder Herzerwärmendes. Es war mehr wie eine Wissenschaft für mich, Worte zu finden, die sich reimten und sie so zusammenzufügen, dass daraus möglichst beleidigende Kombinationen entstanden. Nicht gerade das, was die meisten Leute als künstlerischen Ansatz verstehen würden, fürchte ich.”

“Das würde womöglich davon abhängen, welche Leute du fragst. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Leute hier auch Verns Arbeit nicht gerade als künstlerisch erachten würden, während man in Takhan absolut sprachlos war, als man sein Buch sah.”

Enric grinste. “Manche Leute würden wohl eine ähnliche Reaktion auf meine frühen Werke zeigen, allerdings vor Schock anstatt Anerkennung.”

“Du hast nicht zufällig irgendwo noch ein paar davon herumliegen, oder?”, fragte sie neugierig.

Er schüttelte den Kopf. “Nein, meine Lehrer konfiszierten sie ständig und verbrannten sie dann womöglich hinterher. Ich habe einst ein recht wenig Schmeichelhaftes über Orrin geschrieben. Zur Bestrafung ließ er mich zehn Stunden Küchendienst ableisten.”

Sie lachte laut auf bei dem Gedanken, dass sie heute Abend genau diesen Mann zum Essen eingeladen hatten.

“Dann sieht es wohl so aus, als wärst du nicht sehr gut darin gewesen, sie zu verstecken”, lächelte sie.

“Das wollte ich auch gar nicht. Das war immerhin der Sinn dahinter – ich brauchte ein Publikum.”

Seltsam, dachte sie, wie unterschiedlich ihre Prioritäten in ihrer Jugend gewesen waren. Er hatte nach Aufmerksamkeit gesucht, während sie bestrebt gewesen war, sie um jeden Preis zu vermeiden.

* * *

Eryn eilte zur Tür, als sie das entschiedene Klopfen vernahm. “Das ist Orrins Klopfen; ich würde es überall wiedererkennen. Davor hat mir gegraut, als ich noch in meiner Zelle in den Kriegerquartieren residierte. Normalerweise hat er kurz darauf meine Tür eingetreten oder mich gescholten. Oder beides.”

Enric lächelte. “Es scheint, dass wir beide keine besonders erfreulichen Erinnerungen aus unseren frühen Tagen mit ihm haben. Warum genau haben wir ihn hierher eingeladen?”

“Damit wir uns selbst beweisen können, dass wir jetzt stärker und ranghöher sind als er und ihn nicht länger zu fürchten brauchen”, lachte sie und öffnete die Tür.

Sie schnappte in gespieltem Erstaunen nach Luft und legte eine Hand auf ihren Brustkorb. “Orrin, ganz egal, wie oft ich dich in Abendgarderobe sehe, es ist jedes Mal ein Schock!”

“Ist das die Art von Begrüßung, die ein Gast hier erdulden muss? Deine Manieren haben sich seit deiner Reise in fremde Gefilde nicht eben verbessert”, entgegnete er und ließ eine glücklich wirkende Junar als Erste eintreten.

Sofort griff sie nach Eryns Händen und hielt sie zu beiden Seiten hoch, bevor sie einen Schritt zurücktrat und ihr geschultes Auge die Kleidung beurteilen ließ. “Sehr interessant! Dreh dich”, befahl sie.

“Die Frau, die du mitgebracht hast, hat auch keine besonders guten Manieren”, meinte Eryn, drehte sich aber gehorsam, als Junar mit ihrem Finger nachdrücklich eine kreisende Geste vollführte.

“Schlechter Einfluss, befürchte ich. Ihre Auswahl an Freunden ist mangelhaft”, antwortete Orrin gelassen. “Genau wie bei meinem Sohn. Du bist ein verderblicher Einfluss auf die ganze Familie.”

Eryn bemerkte, wie Junar blinzelte und ein Lächeln unterdrückte, das nur ein Ausdruck der Freude darüber gewesen sein konnte, in den Begriff Familie miteinbezogen zu werden.

“Dann hast du ja Glück, dass du der Einzige zu sein scheinst, der über genug Charakterstärke verfügt, um dem zu widerstehen.” Sie wandte sich an ihre Freundin. “Also, Schneiderin – bin ich fertig mit dem Posieren? Nicht, dass dieser kuschelige Platz vor der Tür nicht absolut gemütlich wäre, aber ich würde doch lieber in den Salon gehen, wenn es euch nichts ausmacht.”

“Nun, Heilerin”, antwortete Junar mit einer hochgezogenen Braue, “dann solltest du uns wohl besser eintreten lassen, anstatt im Weg herumzustehen.”

Nachdem sie ihre Umhänge aufgehängt und zur Seite getreten waren, kam Vern herein und verdrehte die Augen, als er die Tür hinter sich schloss. “Endlich! Ich war kurz davor, ein Feuer zu machen und mir eine Ratte zu fangen, die ich darüber rösten kann!”

“Du hättest eine von denen mitbringen können, die dein Katzenmonster fängt, um sie dann auf dem Teppich zurückzulassen”, schnaubte Orrin.

Enric lächelte seine Gäste an, die sich alle vor ihm verbeugten. “Darauf können wir heute Abend verzichten, das ist eine gesellige Zusammenkunft. Willkommen. Was darf ich euch zu trinken anbieten? Zur Auswahl stehen Wein und verschiedene Säfte aus dem Westen.”

Junar ließ ihren Blick über die Dekoration wandern und nickte anerkennend. “Ein Glas Wein wäre wunderbar, danke.”

“Für mich das Gleiche”, meinte Orrin.

“Für mich auch”, nickte Vern.

Eryn sah Orrin fragend an. “Geht das in Ordnung für dich?”

Er zuckte die Achseln. “Er hat bewiesen, dass er wie ein Mann arbeiten kann – wer bin ich also, um ihm einen Drink zu verweigern, wenn er einen will?” Seine Augen verengten sich. “Hey, du brauchst gar nicht vorzugeben, dass du ihn zuvor niemals Alkohol trinken hast lassen. Oder muss ich dich an den einen Abend im Quartier des Botschafters erinnern?”

Sie biss sich auf die Lippe und sah zu Vern hin, der entschuldigend Lächelte. “Du bist mir in den Rücken gefallen, Vern!”

“Er hat den Geruch am nächsten Morgen bemerkt! Was hätte ich denn tun sollen?”

“Mich zum Beispiel aus der Sache heraushalten”, seufzte sie.

“Warum soll ich die Schuld auf mich nehmen, wenn ich sie weitergeben kann?”, meinte er und zog die Schultern hoch.

“Ein berechtigter Einwand”, stimmte Enric zu und reichte seinen Gästen und Eryn jeweils ein volles Glas, bevor er sein eigenes erhob. “Auf angenehme Abende in guter Gesellschaft”, sagte er feierlich und nahm einen Schluck.

“Würde es Euch etwas ausmachen, mich einen Blick auf Euer Hemd und Eure Hose werfen zu lassen, Lord Enric?”, fragte Junar zögernd.

Eryn lächelte. Ihre Schüchternheit in Enrics Gegenwart hatte also keine Chance gegen ihre professionelle Neugier.

“Keineswegs”, antwortete er sanft und stellte sein Glas zur Seite, um seine Arme zu heben und ihr einen besseren Blickwinkel zu ermöglichen.

“Sehr nett”, sagte sie leise, als sie ihn umrundete. “Der Schnitt ist mehr an den natürlichen Umriss Eures Körpers angepasst. Für einen schlanken, gut proportionierten Mann wie Euch ist das sehr vorteilhaft, für stämmiger gebaute Herren eher nicht.” Dann sah sie schockiert auf, als ihr zu spät klar wurde, dass sie mit ihren Kommentaren über seine körperliche Erscheinung gerade etwas freizügiger gewesen war, als die Umstände es rechtfertigten.

Enric zog eine Braue hoch und grinste. “Ich weiß. Darum habe ich sie anfertigen lassen. Ich hatte gehofft, dass du in der Lage bist, das Muster zu kopieren und mir mehr davon zu machen.”

Junar nickte erleichtert. “Das bekomme ich auf jeden Fall hin. Ich würde nur ein Hemd für das Muster brauchen. Ihr zieht den kräftigen Farben, die in Takhan offensichtlich beliebter sind, dunkle vor”, fügte sie mit einem Seitenblick auf die Kissen und Eryns eigene Tunika hinzu.

“Ja”, erwiderte er. “Mir wurde gesagt, das könne ich mir aufgrund meiner exotischen Haarfarbe leisten.”

Sie drehte sich wieder zu Eryn um. “Und du hast dich für die andere Kombination unserer Schnitte mit deren Stoffen entschieden, wie ich sehe. Nicht schlecht. Das ist ein beachtliches Bild, das ihr beide zusammen abgebt.”

“Hey, was ist das hier?”, hörten sie Vern fragen. Eryn drehte ihren Kopf und sah, dass er vor einem kleinen Bilderrahmen an der Wand neben einem hohen Schrank stand. Diese kleine Ergänzung war ihr noch gar nicht aufgefallen.

Als sie nähertrat, sah sie, dass es sich um einen Papierstreifen mit winziger Handschrift darauf handelte. Überrascht sog sie den Atem ein, als sie erkannte, worum es sich dabei handelte: Es war die Nachricht des Königs, in der er Enric darüber informierte, dass sein Antrag, im Fall ihrer Verurteilung zwei Jahre lang als Botschafter in Takhan zu bleiben, bewilligt wurde.

Sie schluckte hart und spürte einen Knoten in ihrem Hals. “Mein Onkel gab mir das. Das war es, was mich dazu brachte, Enric zu sagen, dass ich ihn liebe und ihn zu bitten, das Band dritten Grades mit mir einzugehen.” Und er hatte die Nachricht gerahmt. Wie etwas Wertvolles, das es zu erhalten galt.

Sie spürte, wie eine intensive Welle wahrer Zuneigung in ihr aufstieg, die sie mehrmals hintereinander blinzeln ließ, um die Feuchtigkeit zurückzuhalten, die sich in ihren Augen sammelte. Sie sah, wie sich ein langsames Lächeln auf Enrics Gesicht ausbreitete, als er ein Echo dessen empfing, was in ihr vorging.

“Sehen wir gerade das Geistesband in Aktion?”, flüsterte Junar.

Orrin nickte, während er beide abwechselnd fasziniert anstarrte. “Ja, so sieht es wohl aus.”

“Welches Geistesband? Und was soll dieses Band dritten Grades sein?”, fragte Vern und sah alle vier Leute um sich verdattert an.

Eryn kämpfte sich zurück in die Gegenwart. “Eine Kleinigkeit, die wir uns bei einem magischen Kommitment in Takhan eingefangen haben”, erklärte sie.

“Etwas, das ihr euch eingefangen habt?”, fragte er bestürzt. “Wie eine Krankheit? Und du hast was getan? Freiwillig?”

Sie bedeckte ihre Augen mit einer Hand. “Warum werde ich das andauernd gefragt? Allen Ernstes! Sehe ich aus, als wäre ich in letzter Zeit genötigt, ausgenutzt oder unterdrückt worden?”

“Schon gut, schon gut”, murmelte Vern, “zurück zu diesem Geistesband. Was ist das und warum hast du es?”

“Eine direkte Verbindung, die starke Gefühle zwischen uns transportiert. Alles, was ich weiß ist, dass wir es haben, aber ich habe keine Ahnung, weshalb. Es kommt ganz selten vor, also sieht es so aus, als gäbe es in den Westlichen Territorien kaum Aufzeichnungen darüber.”

Vern sah sie betroffen an. “Was hast du dort getrieben, Eryn? Zuerst lassen sie dich das Land nicht verlassen, weil du irgendein Verbrechen begangen hast, und dann gehst du einfach ein magisches Band ein, ohne die Folgen zu bedenken?” Er sah mit vorwurfsvoller Eindringlichkeit zu Enric. “Ich dachte, man hätte Euch mitgeschickt, damit Ihr sie beschützt und sie davon abhaltet, irgendetwas Dummes anzustellen?”

Orrin fasste nach der Schulter seines Sohnes und drehte ihn abrupt zu sich herum. “Du magst heute hier als Eryns Gast eingeladen sein, mein Sohn, aber vergiss nicht, mit wem du hier redest. Du bedenkst deine Worte wohl von nun an besser und gehst sicher, dass sie angemessen sind, bevor du den Mund öffnest. Oder du trägst die Konsequenzen.”

Der Junge schloss einen Moment lang die Augen, ganz eindeutig, um den Impuls zu unterdrücken, sich noch mehr Ärger einzuhandeln. Dann drehte er sich zurück zu Enric und senkte den Kopf. “Ich entschuldige mich, Lord Enric. Lasst mich Euch versichern, dass es nichts anderes als die Sorge um Eryns Wohlbefinden war, die mich dazu veranlasst hat, zu sprechen ohne nachzudenken. Obwohl dies natürlich keine Rechtfertigung ist.”

“Ich nehme die Entschuldigung an”, erwiderte Enric milde. “Und lass mich dir versichern, dass sich sogar meine beachtlichen Fähigkeiten zuweilen Eryns dunkler Gabe, sich Ärger einzuhandeln, geschlagen geben müssen”, fügte er trocken hinzu.

“Diese Aussage weise ich von mir”, knurrte Eryn.

“Aber natürlich tust du das”, lächelte er und küsste ihre Stirn. “Die Wahrheit ist kaum jemals angenehm. Sollen wir Platz nehmen und unsere Gäste bewirten, meine Liebste?”

“Wir werden selbst servieren?”, fragte sie mit einer hochgezogenen Braue und lächelte. Er war also bei ihrer Ankunft zuvor tatsächlich im anderen Gebäude gewesen, um das Mahl persönlich zuzubereiten.

“So wird es gemacht, wie man mir sagte.” Dann ergriff er Junars Hand und legte sie auf seinen Arm, um sie zum Tisch zu geleiten, Vern und Orrin hinter ihnen.

Als alle saßen, forderte er Eryn auf, ihm zu seinem Arbeitszimmer zu folgen, wo er zwei farbenfrohe Schalen in größere Topfe mit heißem Wasser gestellt hatte, um den Inhalt warmzuhalten.

Sie zog beide Augenbrauen hoch, als er sechs Schüsseln in ihre Hände drückte. “Wann hast du all das bloß gekauft?”

“Sagen wir, dass ich eine Menge Zeit totzuschlagen hatte, als ich bei Golir festsaß”, erwiderte er mit einem leisen Lachen.

“Und die hast du damit verbracht, Haushaltsgegenstände einzukaufen? So wie die Kissen und das Tischtuch? Er hat dich also einfach allein durch die Straßen wandern lassen, anstatt dich wie ein ordentlicher Aufpasser zu bewachen?”

“Natürlich nicht. Er begleitete mich. Ich denke, er erachtete es als weiser, mich irgendwie zu beschäftigen, anstatt mich rastlos bei sich zuhause einzusperren.”

Die Vorstellung der beiden mächtigen, hochrangigen Magier, die solche Einkäufe tätigten und dabei Farben, Qualität, Muster und dergleichen diskutierten, brachte sie zum Lächeln.

“Steh hier nicht einfach grinsend herum”, tadelte er sie. “Bring die Schüsseln zu unseren Gästen, damit wir sie verpflegen können.” Dann hob er eine der großen Schalen aus ihrem Wasserbad, trocknete die tropfende Unterseite mit einem Tuch und ging ihr voran zurück zum Salon, wo er sie in der Mitte des Tisches platzierte, bevor er zurückkehrte, um die zweite zu holen.

Er lächelte über das schlecht verborgene Erstaunen seiner Gäste, ihn beim Servieren von Essen zu sehen. “In den Westlichen Territorien ist es Brauch, dass der Gastgeber seine Gäste bekocht. Und sollte Fleisch serviert werden, dann muss es ebenfalls vom Gastgeber selbst erjagt worden sein. Alles andere wäre eine Beleidigung und würde ihn der Lächerlichkeit preisgeben. Ich habe zwei verschiedene Gerichte vorbereitet, da Eryn sich entschieden hat, nicht länger Fleisch zu essen. Ihr seid natürlich eingeladen, beide zu probieren.”

Junar sagte: “Ich gebe zu, ich bin ganz überwältigt davon, wie gut Ihr Euch offenbar an die dortigen Gepflogenheiten angepasst habt.” Dann starrte sie Eryn ungläubig an, während Enric ihre Schüsseln füllte und jeden einzeln fragte, welches Gericht bevorzugt wurde. “Du isst jetzt kein Fleisch mehr? Was ist passiert?”

Eryn nahm die Schüssel von ihrem Gefährten entgegen und wandte sich an ihre Freundin. “Wir wurden eingeladen, meinen Cousin und seine… Freunde auf einen Jagdausflug zu begleiten, und das hat sich für mich als böses Erwachen erwiesen. Später habe ich erfahren, dass es dort als akzeptierter Lebensstil gilt, kein Fleisch zu essen, wenn man nicht bereit ist, es selbst zu töten.” Sie zuckte mit den Schultern. “Für mich hörte sich das prima an. Und das tut es noch immer.”

“Es fehlt dir also gar nicht? Das hier riecht überhaupt nicht verlockend für dich?”, fragte Vern ungläubig und hielt ihre seine Schüssel unter die Nase.

“Nein zu beidem. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn ich das nicht einatmen müsste.” Ihr Gesicht wurde starr, und sie drehte den Kopf zur Seite, bis er die Schüssel wieder vor sich hingestellt hatte.

Dann ruhten die Blicke erwartungsvoll auf Enric, wartend, dass er zu essen begann.

“Von einem Gastgeber wird erwartet, dass er wartet, bis alle seine Gäste den ersten Bissen gegessen haben, bevor er selbst beginnt”, erklärte er. “Denn erst dann kann er sicher sein, dass jeder etwas bekommen hat, das ihm zusagt. Somit würde ich euch ersuchen, genau das zu tun.”

“Es scheint, als hattet Ihr dort eine Menge zu lernen nach Eurer Ankunft”, bemerkte Orrin.

Eryn nickte. “Das ist wohl wahr. Seid froh, dass wir euch für den Moment den Rest ersparen. Nächstes Mal, wenn ihr herkommt, müsst ihr auf den Kissen sitzen, die sie dort anstelle von Stühlen verwenden und eure Hände in speziell dafür gedachten Schüsseln waschen”, fügte sie grinsend hinzu. “Da Enric seine Zeit dort mit Einkaufen verbracht hat, hat er das alles womöglich auch noch erworben.” Ihre Augen weiteten sich, als er nur die Achseln zuckte. “Das hast du tatsächlich? Ach du meine Güte!” Kopfschüttelnd wandte sich sie zurück an Orrin. “Es scheint, als wäre meine leere Drohung nicht ganz so leer gewesen, wie ich dachte.”

Junar schluckte ihren ersten Bissen und sah zu Enric auf. “Das schmeckt wirklich gut. Wo habt Ihr gelernt zu kochen? Das ist keine Fertigkeit, die ich mit Magiern in Verbindung bringen würde.”

“Eryns Cousin Vran’el hat es mir beigebracht. Dort drüben scheint die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen als ebenso grundlegende Fertigkeit wie das Heilen erachtet zu werden”, erklärte er.

“Cousin?”, fragte Vern neugierig und drehte sich zu Eryn. “Du hast vorher einen Onkel erwähnt. Du hast dort also deine Familie getroffen? Wie sind die so?”

Langsam begann sie zu erklären: “Lass mich am Anfang starten. Als wir das Schiff in Takhan verlassen hatten, wurden wir von drei Leuten und Ram’an begrüßt. Ein wichtiger Politiker und noch zwei Leute. Einer davon hat sich als mein Onkel väterlicherseits herausgestellt. Er war derjenige, der mir die Nachricht gegeben hat, die du an der Wand gesehen hast. Die andere stellte sich mir vor als… meine Mutter.”

Drei Augenpaare starrten sie an. “Was? Deine tote Mutter?”, fragte Junar verwirrt.

“Ja, das hat sich als kleine Fehlinformation erwiesen”, bemerkte Eryn ironisch.

“Deine Mutter lebt also tatsächlich?” Vern klang erstaunt. “Unfassbar! Warum wirkst du dann nicht glücklich, wenn du darüber redest?”

“Weil sich herausgestellt hat, dass ich die einzige Tochter einer sehr mächtigen Familie war, von der erwartet wurde, eines Tages die Rolle der Anführerin, oder Oberhaupt des Hauses, wie sie es dort nennen, einzunehmen.”

“Dann bist du tatsächlich eine Art verlorene Prinzessin!”, lachte Vern und klatschte in die Hände. “Ich hatte Recht!”

“Ja, ich gratuliere ganz herzlich”, schnaubte sie. “Aber da hing noch etwas mehr dran. Man erwartete auch, dass ich ein Kommitment mit Ram’an eingehe.”

“Was?” Dieses Mal war es Orrins verblüffte Stimme, die den Ausruf tätigte. “Das ist also der Grund, weshalb…” Sein Blick fiel auf Enric, und er verstummte sofort.

“Das geht schon in Ordnung, Orrin – er hat in der Zwischenzeit von Ram’ans kleinem Verhörversuch erfahren”, seufzte sie.

“Warum?”

“Mein Cousin hat ihm davon erzählt. Ram’an hat sein Manöver in Takhan publik gemacht.”

“Was? Nein! Ich meinte, warum du dich an Ram’an binden hättest sollen!”

Eryn verzog das Gesicht, beantwortete dann aber die Frage. “Weil es zwischen den Häusern gebräuchlich ist, ihre Nachkommen anderen Häusern zu versprechen, um ihre politischen Allianzen zu stärken. Als einzige Tochter eines mächtigen Hauses war ich für den Sohn eines anderen bestimmt.”

“Aber du hattest doch bereits einen Gefährten, als du dorthin gingst!”, rief die Schneiderin aus.

“Da es zwischen uns kein Band dritten Grades gab, erkannten sie Enric nicht wirklich als meinen Gefährten an. Somit versuchte Ram’an mit allen Mitteln, mich von ihm loszubekommen.” Sie schüttelte den Kopf und seufzte, froh, dass all dies hinter ihr lag.

“Offensichtlich erfolglos”, meinte Orrin mit einem dünnen Lächeln.

“Offensichtlich”, bestätigte Enric, sein Lächeln grimmig.

“Wäre mein Cousin Vran’el nicht gewesen, hätte Ram’an es geschafft, mich für eine ganze Weile in Takhan festzuhalten”, erzählte Eryn. “Hätte Vran’el nicht arrangiert, dass ich von meinem Onkel adoptiert werde, hätte Ram’an mich als Mitglied seines Hauses beansprucht.”

“Du wurdest von deinem Onkel adoptiert?”, rief Junar völlig verzweifelt. “Könntest du die Ereignisse wohl in der richtigen Reihenfolge erzählen? Mein Kopf dreht sich! Wie kann das alles in so kurzer Zeit passiert sein?”

Enric seufzte. “Ich werde das übernehmen. Eryn hat es nicht gerade einfacher gemacht, indem sie ständig vor- und zurückgesprungen ist. Wir haben es geschafft, Handelsvereinbarungen zu treffen, und Eryn brachte es bis dahin fertig, sich Ram’an vom Leib zu halten. Nach drei Wochen sollten wir nach Hause zurückkehren. Gerade, als wir an Bord des Schiffes gehen wollten, wurden wir von Wachen aufgehalten, die uns zum Senat brachten. Das ist so etwas wie unser Rat hier. Es stellte sich heraus, dass Malriel, Eryns Mutter, ihre eigene Tochter beschuldigte, vor dreizehn Jahren den Tod ihres Vaters verursacht zu haben. Ich überlasse es Eryn, ob sie diese Geschichte eines Tages selbst erzählen möchte. Aber seid versichert, dass es aus rechtlicher Sicht klar war, dass Eryn nicht dafür verantwortlich war und dieses Verfahren auch nie über sich ergehen hätte lassen müssen, würde ihre Mutter nicht über solch beträchtlichen politischen Einfluss verfügen.” Er hielt inne, um einen Schluck Wein zu nehmen, bevor er fortfuhr. “Für die Dauer des Verfahrens wurden wir voneinander getrennt. Jeder von uns wurde der Aufsicht eines Magiers unterstellt, der stärker war als wir selbst. Ram’an meldete sich freiwillig dafür, Eryn zu bewachen und durfte die Aufgabe übernehmen, wenngleich er es in der Residenz der Familie ihres Onkels tun musste anstatt in seiner eigenen.” Er hielt inne, als er sah, dass Orrin verwirrt wirkte.

“Wartet”, meinte der Krieger mit einem Stirnrunzeln. “Aber Ram’an war nicht stärker als Eryn. An diesem Tag in seinem Quartier schaffte sie es, seinen Schild zu durchbrechen.”

Eryn schloss die Augen und unterdrückte ein Stöhnen. Oh nein. Das war das einzige kleine Detail gewesen, von dem Enric nichts gewusst hatte, das sie geschafft hatte, vor ihm zu verbergen. Bis jetzt.

Es wurde still am Tisch. Niemand wagte es, auch nur ein Geräusch zu verursachen. Enrics tiefer Atemzug, der zwischen seinen Lippen entwich, war alles, was hörbar war.

“Eryn?”, fragte er mit gefährlich ruhiger, aber dennoch bedrohlicher Stimme. Sie konnte seinen Zorn feurig in ihrer Magengrube spüren. “Würdest du mir das wohl näher ausführen? Wie kommt es, dass ich über Kampfhandlungen, die bei dieser Gelegenheit stattfanden, nicht im Bilde war?”

“Ich dachte, du sagtest, er wüsste Bescheid, Eryn!”, rügte Orrin sie mit Schärfe. “Wann wirst du endlich mit deinen Geheimnissen aufhören, du Idiotin!”

“An dieser Antwort wäre ich selbst auch sehr interessiert”, fügte Enric mit zusammengekniffenen Augen hinzu. “Heraus damit!”, forderte er mit mehr Nachdruck.

Sie wählte ihre Worte sorgsam. “Es war nur eine Kleinigkeit. Er versuchte, mich an diesem Tag mit einem Schild vor der Tür davon abzuhalten, sein Quartier zu verlassen, nachdem ich mich aus seinem Griff befreit hatte. Ich schoss zweimal darauf und schaffte es gerade noch, ihn zu durchdringen. Also ging ich davon aus, dass ich stärker sei als er. Was offensichtlich nicht stimmte. Später sagte er mir, dass er nicht seine gesamte Kraft dafür eingesetzt hatte, den Schild zu errichten, weshalb er schwach genug war, um von mir überwunden zu werden. Es tut mir wirklich leid.”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, das tut es nicht. Ich spüre eine Mischung aus Verdruss und Unbehagen, aber kein Bedauern.” Seine blauen Augen waren zu Schlitzen verengt. “Und noch ein weiterer Schub an Ärger, weil ich dich durchschaut habe. Lass dir das eine Lehre sein. Lüg mich nicht an. Nie wieder. Ich beginne wirklich, dieses Geistesband zu schätzen.”

“Auch wenn ich deswegen im Bett ohnmächtig werde?”, warf sie verärgert zurück in der Hoffnung, in als kleine Rache vor ihren Gästen in Verlegenheit zu bringen.

Über diesen Versuch lächelte er nur, nicht im Geringsten aus der Bahn geworfen. “Ich merke, dass mich diese kleine Nebenwirkung im Moment nicht besonders kümmert. Betrachte es als sanfte Methode, dich auszuschalten. Bisher haben wir es erst zweimal versucht, wenn du dich erinnerst. Womöglich entwickelst du nach einer Weile eine gewisse Immunität gegen diese Auswirkung. Wir werden wohl einfach weiter üben müssen, nicht wahr?”

Ihr Gesicht verfärbte sich dunkelrot, und sie griff rasch nach einem Glas Wasser und leerte es in einem Zug.

Enric warf ihr einen letzten missbilligenden Blick zu, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder seinen Gästen. “So viel dazu. Wie ich schon sagte, wurde Ram’an zu Eryns Wächter bestellt und nutzte die Situation zu seinem Vorteil. Zumindest soweit dies möglich war, während sich ihr Onkel und ihr Cousin in der Nähe befanden. Ram’an war einer der Senatoren und hatte somit eine Stimme bei der Schlussabstimmung der Verhandlung. Ursprünglich war er entschlossen, gegen Eryn zu stimmen, da das Ziel ihrer Mutter ein zwei Jahre andauernder Hausarrest in Takhan war. Aber dann entschied sich Eryn, sich von der Familie ihrer Mutter loszusagen, falls das Verfahren zu ihren Gunsten ausging. Da Ram’an sich zu entscheiden hatte, entweder die Führungsrolle in seinem eigenen Haus zu übernehmen oder Eryn als Erbin eines anderen Hauses als seine Gefährtin zu nehmen, sah er darin seine Chance, sowohl Eryn als auch die Position zu erlangen. Er schaffte es, mit seiner eigenen und noch drei weiteren Stimmen, das Urteil des Senats umzulenken.”

“Was?”, fragte Vern. “Warum musste er sich zwischen Eryn und der Führung seines Hauses entscheiden?”

“Weil Eryn die einzige Erbin ihres Hauses war, er aber noch einen jüngeren Bruder hatte, der diese Rolle übernehmen konnte. Zwei Erben eines Hauses können in den Westlichen Territorien nicht als Gefährten verbunden werden”, erklärte Enric geduldig. “Aus diesem Grund war es für Ram’an eine attraktive Option, dass Eryn sich von ihrem Haus lossagte und somit ihre Position als Erbin aufgab.”

“Aber warum dachte er, dass sie in Takhan bleiben würde, nachdem sie das Verfahren gewonnen hätte? Es stand ihr doch dann frei abzureisen, oder etwa nicht?”, fragte der Junge und wunderte sich, weshalb jede Antwort bloß zu neuen Fragen führte.

“Weil er sehr versiert war, was historische Gesetze und deren Anwendung betraf. Da gab es ein Gesetz, das ihm beträchtlich geholfen hätte. Es handelte sich dabei um eine Regel, der zufolge ein versprochener Gefährte das Recht hat, die Partnerin für das eigene Haus zu beanspruchen für den Fall, dass sie sich von ihrem eigenen lossagt. Das sollte ermöglichen, dass die Kommitment-Vereinbarung dennoch erfüllt wird. Dieses Gesetz wurde verabschiedet, bevor die Erfüllung der Vereinbarung freiwillig war. Man wollte damit verhindern, dass sich Kinder davon befreien, indem sie sich einfach von ihrem Haus lösen.”

“Aber ihr Cousin hat das verhindert, indem ihr Onkel sie adoptierte?”, fragte nun Junar, der es sichtlich Mühe bereitete, mit all diesen Details Schritt zu halten.

“So ist es”, nickte Enric. “Eryn ist somit nicht länger die Erbin des Hauses ihrer Mutter, sondern ein offizielles und rechtlich bestätigtes Mitglied der Familie ihres Vaters, also Haus Vel’kim.”

“Dann gibt es jetzt keinen Erben für das Haus deiner Mutter?”, fragte Vern.

“Oh doch, den gibt es”, warf Eryn ein. “Es stellte sich heraus, dass Enric sich erpressen oder vielleicht sogar eher bestechen ließ, sich von meiner Mutter adoptieren zu lassen. Er ist nun der neue Erbe von Haus Aren, dem ich den Rücken gekehrt habe.” Mit offenkundiger Genugtuung betrachtete sie ihre verblüfften Mienen. Es tat gut zu sehen, dass sie nicht die Einzige war, die das absolut und vollkommen grotesk fand.

“Verstehe ich das richtig”, sagte Orrin ganz langsam, “dass Ihr, Lord Enric, nun der Sohn und Erbe der Mutter Eurer Gefährtin seid?”

“Ja”, nickte Enric, “das stimmt.”

“Bedeutet das, dass man Euch jederzeit dazu heranziehen könnte, ihre Nachfolge anzutreten? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Eure Position im Orden? Es ist angedacht, dass Ihr eines Tages bereits hier jemandem nachfolgen sollt”, erwiderte Orrin besorgt.

“Theoretisch, ja”, gab Enric zu, “aber praktisch ist das im Moment nicht besonders wahrscheinlich. Ich bin zuversichtlich, dass sich im Laufe der Zeit eine andere Lösung für diese Verpflichtung ergeben wird.”

“Und das ist jetzt alles? Abgesehen davon, dass Ihr vor Eurer Abreise noch dieses Band eingegangen seid?”, wollte Junar mit gerunzelter Stirn wissen.

“Nun, beinahe. Enric hat sich an Ram’an dafür gerächt, dass er seine Hände nicht bei sich behalten hat, indem er ihn gezwungen hat, unsere Zeremonie und die Festlichkeiten in seiner Residenz auszurichten. Dann hat er ihn auch noch dazu gebracht, an der Zeremonie selbst teilzunehmen”, ergänzte Eryn. “Aber das war jetzt alles. Wirklich.”

“Unfassbar”, seufzte Orrin und seine Augen waren voller Erstaunen geweitet. “Eryn, es scheint, als gäbe es wirklich keine Chance, dich lange vor Ärger zu bewahren.”

“Wie war das mit der Zeremonie genau?”, fragte Junar. “Du sagtest, es war ein magisches Band? Wie funktioniert das? Wie der Eid an das Königreich, den man mit aneinander gepressten Händen schwört?”

“So ziemlich, ja”, nickte Eryn. “Abgesehen davon, dass man dafür fünf Hände braucht anstatt nur zwei und man außerdem seinen eigenen Schwur dafür schreiben muss. Enrics Eid hat sich sogar gereimt.” Sie sah zu Orrin hin. “Da gibt es etwas, das ich dich fragen wollte. Enric sagte mir, dass er einmal ein Gedicht über dich schrieb, als er ein Junge war. Und zwar ein beleidigendes.”

Orrin lächelte. “Daran erinnere ich mich, ja. Ich war nicht der einzige Lehrer, dem er diese Ehre angetan hat. Wir verglichen sie und versuchten herauszufinden, wen von uns er am meisten hasst. Lass mich nachdenken…” Er lehnte sich zurück und sah für eine kurze Weile an die Decke, bevor er zu rezitieren begann: “An Orten, wo man Orrin sieht / Liegt oft ein Ohr, ein Fingerglied / Von einem Schüler abgetrennt / Der blutig durch das Land nun rennt.”

Vern starrte zuerst seinen Vater, dann Enric an. “Ihr habt das geschrieben? Ernsthaft?”

“Ich gebe zu, das habe ich. Ich erkenne es wieder”, grinste Enric. “Es ist allerdings nur ein Auszug. Ich bin überrascht, dass Ihr Euch noch an die Worte erinnert, Lord Orrin. Es scheint, als hätte es einen dauerhaften Eindruck bei Euch hinterlassen.”

Orrin lachte leise. “Das hat es in der Tat. Ich war der erste der Lehrer, der auf diese Weise geehrt wurde. Respektlos und beleidigend, aber extrem amüsant zu lesen. Es wurde sogar so schlimm, dass sich die Lehrer, die nicht von dieser Unverfrorenheit betroffen waren, ausgeschlossen fühlten.”

Eryn lachte. “Und du dachtest, dass künstlerisches Talent in diesem Land überhaupt nicht geschätzt wird!”

“Das wurde es auch nicht”, bemerkte Enric, “Für dieses spezielle Gedicht wurde ich zur Arbeit in die Küche geschickt. An die Bestrafungen der anderen Lehrer erinnere ich mich nicht einmal mehr.”

“Dann scheint es, als hätte Euch meine Reaktion ebenfalls beeindruckt”, grinste Orrin.

“So scheint es wohl, ja”, nickte Enric nachdenklich.

“Und heute, etwa zwanzig Jahre später, sitzen der Schmutzpoet und der gnadenlose Lehrer gemeinsam an einem Tisch und essen das Mahl, dass der Schmutzpoet zubereitet hat, weil eure Partnerinnen zufällig Freundinnen sind”, sagte Vern und klang ebenfalls beeindruckt. “Ich wette, wenn das damals jemand vorhergesagt hätte, wärt ihr entweder in Panik verfallen oder hättet abgestritten, dass es jemals soweit kommen könnte.”

“Das ist allerdings wahr”, nickte Orrin. “Aber damals wäre es schon schlimm genug gewesen, wenn man mir gesagt hätte, dass ich mich eines Tages als Lord Enrics Untergebener wiederfinden würde.”

Enric lehnte sich zurück und betrachtete seinen alten Lehrer nachdenklich. “Ich hoffe, es hat sich als nicht ganz so übel für Euch erwiesen.”

Der ältere Mann lächelte. “Es gab ein paar Anlässe, wo Befehlsverweigerung eine attraktive Option zu sein schien. Besonders im Laufe des letzten Jahres.” Sein Blick sprang zu Eryn.

Die beiden Männer lächelten einander schief an, als sie an meisterhaft bezwungene Herausforderungen zurückdachten.

Eryn wechselte einen Blick mit Junar, die ihre Augen zur Decke richtete. Die beiden Männer wirkten viel zu selbstgefällig für ihren Geschmack. Sie lehnte sich nach vorne.

“Von einer Sache habe ich dir noch nicht erzählt. Ich habe es in Takhan ausprobiert und denke, dass du das sehr interessant finden könntest. Die Magier benutzen zum Jagen goldene Gürtel, die ihre Magie blockieren.”

Enric und Orrin tauschten einen leicht panischen Blick. Der eine bei der Aussicht darauf, dass ein weiteres intimes Detail enthüllt wurde, der andere, weil man ihn womöglich dazu drängen könnte, dem Beispiel des jüngeren Mannes zu folgen.

Vern lächelte nachsichtig und stand auf, um an den Barschrank zu treten und kurz darauf mit einer halbvollen Flasche zurückzukehren.

“Ich vermute, ich bin nicht der Einzige, der Nachschub braucht, oder?”, seufzte er und füllte dann die beiden Gläser auf, die hastig in seine Richtung geschoben wurden.

»Ende der Leseprobe«

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„Bindungen“ – Der Orden: Buch 2

Kapitel 1

Pläne

Tyront warf dem jüngeren Mann gegenüber einen Blick zu und brachte die volle, leicht ergrauende Mähne mit seinem nachsichtigen Kopfschütteln zum Tanzen. “Du warst in den letzten Tagen sehr gut gelaunt. Das hat nicht zufällig etwas mit der Abreise eines gewissen Botschafters zu tun?”, lachte er leise.

Enric lächelte schwach und streckte seine langen Beine aus, bevor er seine Knöchel überkreuzte. “Willst du damit andeuten, ich würde die großartigen Chancen, die der Besuch der Delegation dem Königreich eröffnet, nicht schätzen? Das würde bedeuten, dass meine Gesinnung eher unpatriotisch wäre.”

“Nein, mein Junge, ich will damit nur sagen, dass du erleichtert bist, dass er nicht länger versuchen kann, deine Gefährtin von dir wegzulocken.”

Die durchdringenden blauen Augen des jüngeren Mannes verengten sich missbilligend. “Du denkst also, ich hätte befürchtet, er wäre schlussendlich erfolgreich gewesen?”

“Vielleicht hätte er es nicht geschafft, sie wegzulocken, aber womöglich sehr wohl, sie von hier wegzubringen. Ich bezweifle, dass sie freiwillig von hier fortgegangen wäre. Du scheinst ihr ans Herz gewachsen zu sein. Mir ist aufgefallen, dass sie jetzt wesentlich entspannter ist, wenn du sie berührst.”

“Ja, das ist sie. Und das war harte Arbeit. Ich habe sie mehr oder weniger mürbe gemacht”, antwortete Enric mit einem trägen Lächeln, froh darüber, dass sich die Unterhaltung nicht länger um den Botschafter drehte.

Tyront grinste. “Wie hinterhältig. Was führt sie derzeit im Schilde? Das Heilergebäude ist noch nicht fertig, also kann sie dort derzeit weder heilen noch unterrichten. Weißt du, ob sie den jungen Rolan bereits kontaktiert hat?”

“Sie hat erwähnt, dass sie über eine Expedition zum Unterweisen der Kräutersammler nachdenkt. Sie will ihnen beibringen, nach welchen Pflanzen sie suchen sollen, wo sie zu finden sind und wie man damit umgeht, nachdem man sie gefunden hat. Sie wird ihren Assistenten womöglich anweisen, sich diesbezüglich um ein paar organisatorische Angelegenheiten zu kümmern.”

“Du wirkst von dieser Idee nicht allzu begeistert. Ich persönlich denke, dass es eine sinnvolle Verwendung ihrer Zeit wäre, bis sie mit der Nutzung des Gebäudes beginnen kann.”

Enric seufzte. “Ja, ich weiß. Allerdings passt mir der Gedanke, dass sie die Stadt mit einem Haufen Fremder für einige Tage verlässt, ganz und gar nicht. Ich habe angedeutet, dass ich sie begleiten könnte, aber sie hat es als Scherz abgetan und nur gelacht.” Er schüttelte den Kopf. “Könnte ich mit einer offiziellen Anordnung dafür sorgen, dass sie hierbleibt? Würdest du mich dabei unterstützen? Es würde immerhin bedeuten, dass sie ihr Kampftraining und ihre Studien für einige Zeit vernachlässigt.”

Tyront sah ihn ungläubig an. “Soll das dein Ernst sein? Ich kann dich bei so einer Sache nicht unterstützen. Und ich würde sagen, es ist gut, wenn du sie zur Abwechslung etwas allein machen lässt. Sie ist eine fähige junge Frau. Es wird Zeit für sie, etwas anzupacken, ohne dass du ständig bereitstehst, um alles geradezubiegen, das schiefgeht. Oder du sogar von vorneherein verhinderst, dass etwas schiefläuft.”

“Ich tue nichts dergleichen”, erwiderte Enric in dem vollen Bewusstsein, dass er es doch tat.

“Ach nein? Und was ist mit den Magiern, die du zur Baustelle ihres Gebäudes geschickt hast, um sicherzugehen, dass es rechtzeitig fertig wird? Und mit den Verhandlungen mit den Apothekern, zu denen du sie begleiten wolltest?” Tyronts Augen verengten sich. “Ist es möglich, dass du versuchst, ihr zu zeigen, dass sich ihre Erfolgschancen erhöhen, wenn du in der Nähe bist? Kann es sein, dass du tatsächlich so verzweifelt bist?”

Der jüngere Magier wirkte leicht gereizt. “Warst nicht du derjenige, der gepredigt hat, dass ein Anführer auch gleichzeitig ein Mentor sein sollte?”

“Was du betreibst, hat nichts mit der Aufgabe eines Mentors zu tun. Es dient lediglich deinen eigenen persönlichen Zielen anstatt denen deines Protegés”, antwortete der ältere Mann mit hochgezogenen Brauen.

“Das klingt für mich, als wärst du dafür, dass sie etwas ohne meine Hilfe zuwege bringt. Und du wirst ihr somit auch die Erlaubnis für ihre Kräutersammlerexpedition erteilen.”

“Ja. Wenn die Details halbwegs vernünftig sind, werde ich ihr keine Steine in den Weg legen”, sagte er. “Auch wenn es dir fast das Herz bricht, ein paar Tage auf sie verzichten zu müssen.”

“Wie nett. Zuerst drangsalierst du mich jahrelang, damit ich mir endlich ein nettes Mädchen suche, und wenn ich es dann tue, verspottest du mich, weil ich an ihr hänge.” Enric schüttelte den Kopf. “Mir hätte klar sein sollen, dass man es dir nicht recht machen kann.”

Tyront lächelte. “Ich bin sehr zufrieden, glaube mir. Dass du dich in sie verliebt hast, war ein Glücksfall für uns alle. Aber es tröstet mich zu sehen, dass sie dich auf Trab hält. Ein Mann in deiner Position hat eine Menge gefügiger Frauen zur Auswahl. Somit ist die Versuchung, eine auszuwählen, die dir jeden Wunsch von den Augen abliest, auf jeden Fall da. Aber auf lange Sicht ist eine weniger fügsame Partnerin stimulierender.”

“Ja, ich wette, das ist die eine Sache, an der es mir wahrscheinlich niemals mangeln wird: Stimulation”, sagte Enric mit einem schiefen Grinsen. Dann wurde er wieder ernst. “Wie sieht es mit dem Bericht über die Ergebnisse der Verhandlungen mit der Delegation aus? Hat Marrin ihn schon übermittelt? Ich freue mich schon darauf, ihn zu lesen. Ich bin neugierig, worauf man sich geeinigt hat. Warum genau nochmal war der Orden nicht an den Gesprächen beteiligt?”

“Weil es vorwiegend um Handelsangelegenheiten ging, und das ist keiner der Fach- oder Verantwortungsbereiche des Ordens.”

“Ah ja, die Krieger werden nur eingeladen, wenn die Handelsgespräche fehlschlagen und wir ihnen die Köpfe einschlagen sollen”, erwiderte Enric säuerlich.

“Sieh dich nur an… Es steckt also doch ein wenig von deinem Vater in dir. Verspürst du den Drang, zu deinen Wurzeln zurückzukehren – ein Kaufmann zu sein und Verträge auszuhandeln?”

Der jüngere Mann verzog das Gesicht bei der Erwähnung seines Vaters. “Kaum. Sag mir bloß nicht, dass du glücklich darüber bist, dass wir außen vor gelassen wurden? Es gibt wertvolles Wissen über Magie in den Westlichen Territorien, also sehe ich nicht ein, warum wir nicht berechtigt waren, an den Verhandlungen teilzunehmen.”

“Ich denke, du überschätzt den Fortschritt und die Tiefe der Gespräche. Es ging größtenteils darum, eine vorläufige Handels- und Nachrichtenstruktur zu etablieren, Informationen über verfügbare Handelsgüter auszutauschen sowie einen Wechselkurs für die Währungen festzulegen.”

Enric grinste. “Sie haben es also nicht wirklich geschafft, dich ganz auszuschließen, nicht wahr?” Er lehnte sich nach vorne. “Ich frage mich, wer dein Informant ist. Aber das wirst du mir natürlich nicht sagen.”

Tyront hob seine Schultern. “Natürlich nicht. Geh und such dir deine eigenen Agenten in nützlichen Positionen.”

Als es an der Tür klopfte, blickten sie auf. Ein Diener überreichte seinem Herrn eine gefaltete Nachricht. Der ältere Mann drehte sie um und warf einen Blick auf das Siegel.

“Ah, ja. Ich sehe, dass Eryn endlich ihr eigenes Siegel hat.” Einige Sekunden lang betrachtete er die geschwungenen Linien, die ein elegantes Ornament formten. “Interessant. Es erinnert mich an dein eigenes, was wohl kaum ein Zufall ist, wie ich vermute.”

“Nein, keineswegs. Ich habe Vern entsprechend instruiert, und er hat in Rekordzeit ein Design geliefert. Sehr nützlich, der Junge. Wir sollten ihn wirklich im Auge behalten. Ich schätze, sie hat dir die Anfrage für ihre Expedition geschickt?”

Tyront öffnete das Siegel, las und nickte kurz darauf. “Ja, in der Tat. Sie erbittet für zehn Tage Verpflegung für sich selbst, eine weitere Person und fünfzehn Kräutersammler.”

“Eine weitere Person?”

“Ja. Es scheint, als würde sie den jungen Vern mitnehmen wollen, damit er Zeichnungen für Dokumentationszwecke anfertigt. Sie erwähnt, dass sie ein Buch mit Anweisungen schreiben will, für das diese unverzichtbar wären.” Er warf einen Blick auf ein zweites Blatt Papier, das beigefügt war. “Sie hat sogar einen von Orrin unterzeichneten Brief mitgeschickt, in dem er zustimmt, seinen Sohn für die Dauer der Expedition in ihre Obhut zu übergeben. Ich mag diese kleinen Zeichen der Achtsamkeit.” Er las den Brief erneut. “Seltsam, sie hat keine Diener für die Reise angefordert. Ich gehe nicht davon aus, dass sie beabsichtigt, für all diese Leute jeden Abend das Lager vorzubereiten und zu kochen. Also werde ich zwei weitere Leute bewilligen, die sich darum kümmern.”

Enric lächelte, als ihm eine Idee kam. “Schick Plia, das Waisenmädchen aus der Küche, mit. Eryn hatte in den letzten Wochen kaum Gelegenheit, Zeit mit ihr zu verbringen, und ich weiß, dass sie sich deswegen schlecht fühlt.”

“Plia, das Küchenmädchen, geht in Ordnung.” Tyront machte sich eine Notiz. “Irgendwelche Vorlieben bezüglich der zweiten Person?”

“Nein, nicht wirklich. Aber es sollte jemand sein, der schwer heben kann und kein Problem damit hat, die Befehle einer Frau zu befolgen.”

“Nun, letzteres würde dich ohnehin ausschließen”, sagte Tyront mit einem dünnen Lächeln. “Ich habe immerhin Jahre gebraucht, bis du Befehle vom König angenommen hast. Siehst du? Es wäre vollkommen sinnlos, wenn du sie begleiten würdest.”

* * *

Eryn klopfte an die Tür zu Orrins Quartier und lächelte, als Junar öffnete.

“Hallo. Ich laufe dir hier in letzter Zeit immer öfter über den Weg. Warum machst du dir überhaupt noch die Mühe, nach Hause zu gehen?”, grinste sie.

“Weil ich eine unabhängige Frau mit meinem eigenen Einkommen bin und meinem Liebhaber nicht auf der Tasche liegen will – deshalb”, erklärte Junar mit gespieltem Hochmut.

“Liebhaber.” Eryn schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und betrachtete die zierliche Frau vor sich, deren Erscheinungsbild in ihrem fließenden Kleid so viel weiblicher war als der nüchterne Stil, den sie selbst bevorzugte: Hose und Tunika und eilig geflochtene Haare, die ihren Rücken hinabhingen. “Ich habe noch immer Probleme damit, Orrin mit diesem Begriff in Verbindung zu bringen.”

“Gut”, sagte die Schneiderin. “Ich würde auch nicht wollen, dass du auf diese Weise an ihn denkst.”

“Da besteht keine Gefahr, Süße. Er gehört ganz dir. Ist der Sechzehnjährige meines Herzens in der Nähe? Ich habe gute Nachrichten für ihn.”

“Er ist in seinem Zimmer mit seiner Nase in einem Buch. So wie immer, wenn er nicht gerade irgendeinen Körperteil zeichnet, den kein normaler Mensch identifizieren kann. Sei vorsichtig mit diesem Monster, das du mitgebracht hast. Es hat ein garstiges Gemüt.”

Eryn runzelte die Stirn. “Monster? Meinst du den Kater, den ich hergebracht habe, damit er übt, wie man Weichteilgewebe repariert? Er ist noch immer hier? Warum? Er sagte mir, dass er ihn nur noch füttern und dann wieder freilassen wollte. Das war vor mehr als einer Woche!”

Junar nickte ernst. “Ja, das war der ursprüngliche Plan. Aber irgendwie hat es die Bestie geschafft, Vern einer Gehirnwäsche zu unterziehen, sodass er sie jetzt behält. Sie schläft jetzt in seinem Bett, isst übriggebliebenes Fleisch und pinkelt auf alles, was irgendwie teuer aussieht.”

“Meine Güte”, sagte Eryn und verzog mitleidig das Gesicht. Sie fühlte sich ein wenig schuldig. “Soll ich mit ihm darüber reden?”

Junar seufzte. “Nein, das ist Orrins Problem, also soll er sich darum kümmern. Sein Sohn, sein Quartier, seine Verantwortung. Allerdings befürchte ich, dass irgendwann kein Diener mehr einwilligen wird, sein Quartier zu reinigen. Stinkende, nasse, tropfende Gegenstände wegzuräumen oder vom Verursacher attackiert zu werden, ist kaum ein Anreiz, hier zu arbeiten.”

Eryn biss sich auf die Lippe. “Und jetzt ist der Kater in seinem Zimmer? Wohin ich gehen soll?”

“Du hast ihn eingefangen, also weißt du offensichtlich, wie du mit ihm umgehen musst. Und du kannst dich mit einem Schild schützen. Worin genau liegt die Gefahr für dich?”

“Nun, ihn einzufangen war nicht wirklich eine Angelegenheit, die für mich mit großer persönlicher Gefahr verbunden war”, gab sie zu. “Ich habe ihn im Grunde betäubt und über meiner Schulter hergetragen. Er könnte sich daran erinnern und sich an mir rächen.”

Junar warf ihr einen spöttischen Blick zu. “Du hast den Kater mit Magie ausgeschaltet, um ihn zu fangen? Das war wahrlich ein heroischer Akt. Es ist ja nicht so, als wärst du um ein Vielfaches größer als die arme Kreatur.”

“Geh du einmal da hinaus und versuch, eines dieser durchtriebenen Biester mit deinen nackten Händen zu fangen, dann reden wir weiter”, schoss Eryn zurück. “Die haben Krallen. Und Zähne. Und sind blitzschnell. Hab ich die Krallen erwähnt? Wahrhaftige Dolche, sage ich dir. Und plötzlich ist es eine arme Kreatur? Vor einer Minute hast du noch von einem Monster gesprochen!”

“Sagt die Frau, die sich selbst sofort heilen kann. Ich habe noch nichts gehört, das deine Angst, dort hineinzugehen, rechtfertigen würde. Also ab mit dir. Sonst muss ich dich an deinem Ohr hineinziehen”, grinste die Schneiderin.

Eryn richtete sich auf. “In Ordnung. Ich fürchte mich nicht vor einem Kater. Ich fürchte mich nicht vor einem Kater. Ich kann ihn wieder betäuben, falls nötig…” Sie klopfte an Verns Tür und öffnete sie, als er etwas Unverständliches grummelte.

Er war über ein Buch auf seinem Schreibtisch gebeugt, und die Spitzen seiner zu langen Stirnfransen berührten fast das Papier. Der enorme, rote Kater war auf seinem Bett zusammengerollt und öffnete bei ihrem Eintreten ein Auge. Seine Schwanzspitze zuckte in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung, versprach aber dennoch Schmerzen, falls eine sorglose Person sich unangemessene Freiheiten herausnahm – wie beispielsweise, ihm zu nahe zu kommen.

“Gute Nachrichten”, kündigte sie vergnügt an. “Die Expedition ist bewilligt worden! In nicht mehr als drei Wochen brechen wir zu zehn Tagen Wildnis und Kräutersammeln auf!”

Vern blickte auf, blinzelte ein paarmal, um die Welt der Hautkrankheiten hinter sich zu lassen und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

“Das ist großartig”, grinste er dann. “Ich hätte nicht gedacht, dass dich Lord Enric wirklich fortgehen lässt.”

“Was soll das denn heißen?” schnaubte sie entrüstet. “Ich bin eine erwachsene Frau und eine wichtige Person in diesem verfluchten Orden. Natürlich lässt er mich gehen!” Sie erwähnte nicht, dass Enric mehrmals versucht hatte, sie davon abzubringen, angedeutet hatte, sie begleiten zu wollen und sehr wahrscheinlich Agenten angeheuert hatte, um sie im Auge zu behalten. Das würde bedeuten, dass Vern Recht hatte, und das wäre einfach nicht richtig. Wenngleich das grundsätzlich der Fall war.

“Wann reisen wir nochmal ab?”, fragte der Junge und rieb sich die Hände.

“In drei Wochen. Es ist vorher noch einiges zu planen, und ich schätze, das ist eine gute Gelegenheit für meinen neuen Assistenten, um mit seiner Arbeit zu beginnen. Auch wenn das offiziell erst in ein paar Wochen geplant war. Aber ich denke, es ist eine gute Idee, jemanden hier zu haben, der sich um die Dinge kümmert, solange ich weg bin. Ich werde ihm also schonend beibringen, dass er früher als geplant starten muss. Er wird begeistert sein”, fügte sie trocken hinzu.

Vern grinste breit. “Hey, wenn du ihn nicht wieder dorthin trittst, wo es am meisten wehtut, habt ihr einen besseren Start als beim letzten Mal.”

“Großartig. Warum genau nehme ich dich nochmal mit, damit ich dich dann den ganzen Tag um mich habe?”

“Weil du jemanden brauchst, der gut zeichnen kann. Und es scheint, als wären meine Fähigkeiten in der Stadt beispiellos”, erwiderte er selbstgefällig.

“Ja, genau. Ich wusste, dass es einen guten Grund geben muss, warum ich willens bin, mir das anzutun.”

“Würdest du lieber Rolan mitnehmen? Er könnte eine Doppelfunktion als dein Diener übernehmen”, meinte der Junge mit einem boshaften Grinsen.

“Halt die Klappe oder du wirst die Doppelfunktion als mein Diener übernehmen”, drohte sie sanft. “Das würde Plias Arbeit zweifellos erleichtern.”

“Plia kommt auch mit?”, lächelte Vern. “Wunderbar. Es wird nett sein, zumindest ein freundliches weibliches Gesicht dabeizuhaben.”

“Willst du damit sagen, dass mein Gesicht nicht freundlich ist?”

“Ernsthaft, wirfst du nach dem Aufstehen niemals einen Blick in den Spiegel? Ich frage mich, wie Lord Enric das aushält.”

Sie sah ihn an und seufzte. “Weißt du, ich beginne mich zu fragen, wie schwer Zeichnen wirklich sein kann. Vielleicht könnte ich es innerhalb von drei Wochen erlernen.”

“Nur zu, versuch es”, grinste er. “Du wirst zu mir zurückkehren und mich auf Knien anflehen, dich zu begleiten.”

Sie seufzte. “Ja, wahrscheinlich.” Als sie sich anschickte, sich auf sein Bett zu setzen, warnte sie ein leises Knurren, das lieber noch einmal zu überdenken. “Warum ist der Kater noch immer hier? Ich dachte, du wolltest ihn nach dem Aufwachen nur füttern, um dein schlechtes Gewissen zu beruhigen und ihn dann wieder loswerden? Er sieht ziemlich wild aus. Hat er schon jemanden gefressen?”

Vern sah verletzt aus. “Ram’an, so etwas würdest du niemals tun, nicht wahr?”, gurrte er und liebkoste den Kater hinter einem Ohr, ohne dabei gebissen, gekratzt oder sonst irgendwie verletzt zu werden.

Eryn zog eine Braue hoch. “Du hast den Kater nach dem Botschafter benannt? Wirklich? Das ist schräg, sogar für deine Verhältnisse.”

“Warum? Ich mag den Botschafter. Ich weiß, dass du irgendeine Auseinandersetzung mit ihm hattest, aber das ist geklärt, oder? Es ist also nicht illoyal von mir, wenn ich seinen Namen für den Kater verwende.”

Sie seufzte. “Nein, nicht wirklich. Ich bin nur verwundert darüber, dass du ihn behalten hast. Ich meine, er ist ein Straßenkater, und Junar hat erwähnt, dass er herumpinkelt.”

“Das ist eine krasse Übertreibung. Das war nur, weil Ram’an keine Toilette hatte.”

“Und jetzt hat er eine?”

“Ja, er hat eine Kiste mit Sägespänen. Und er benutzt sie auch. Er pinkelt nur auf Vaters Schuhe, wenn er aufgebracht ist.”

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. “Ich muss wirklich vorsichtiger sein, was ich für deinen Unterricht verwende. Wenn ich dich anweise ein Pferd zu heilen, wird das dann auch in deinem Zimmer landen? Und wer soll sich um diese Bestie kümmern, während du auf der Expedition bist? Wenn er andere Leute ebenso freundlich behandelt wie mich, wird sich ihm niemand nähern wollen.”

“Ach, das ist kein Problem”, winkte Vern ab. “Er braucht nur zweimal pro Tag sein Futter und seine Kiste einmal pro Tag gereinigt. Die Diener können das machen. Er schläft meistens, also wird er niemanden belästigen. Es ist allerdings schade, dass wir im ersten Stock sind. Er kann so nicht durch das Fenster hinaus und wieder herein.”

“Hast du es versucht?”

“Habe ich was versucht?”

“Das Fenster offenzulassen, du Genie. Darunter ist ein Vorsprung, der um das gesamte Gebäude herum verläuft. Er könnte einen Weg hinunter und wieder herauf finden. Du wärst erstaunt, was manche dieser kleinen Kerle zuwege bringen.”

Vern betrachtete den Kater zweifelnd. “Ich weiß nicht. Er könnte weglaufen und nie wieder zurückkehren.”

Kaum, dachte Eryn. Warum sollte er zwei Mahlzeiten am Tag und einen warmen Schlafplatz aufgeben? Aber sie sagte stattdessen: “Du würdest ihn doch nicht hier festhalten wollen, wenn er nicht bleiben will, oder? Ich muss dir wohl kaum sagen, was ich davon halte, jemanden gefangen zu halten, oder doch?”

Er seufzte. “In Ordnung. Ich werde es versuchen. Ich verspreche es.”

Gut, dachte sie. Mit ein wenig Glück würde der Kater den Weg zurück nach oben nicht mehr finden, und Orrin würde ihr irgendwann die tierischen Attacken auf seine Schuhe verzeihen.

“So, ich muss jetzt los, um meinen neuen Assistenten zu finden.” Sie pflasterte ein breites, künstliches Lächeln auf ihr Gesicht. “Das wird so ein Spaß.”

* * *

Sie fragte sich, was wohl der beste Ort war, um Rolan zu treffen. In ihrem Quartier? Nicht gut, sie hatte dort nicht wirklich ein Arbeitszimmer. Und das von Enric zu benutzen, war absolut keine Option. Obwohl sie wusste, dass er es ihr mehr als bereitwillig zur Verfügung stellen würde, fühlte es sich einfach nicht richtig an. Der Salon war zu formlos, und das Gästezimmer war nicht mehr als eine Sammlung von Büchern und Dokumenten. Sie würden auf dem Bett sitzen müssen, und das war alles andere als angemessen.

Was für ein Ärgernis, dass das Heilergebäude noch nicht fertig war. Sie entschied, dass sie Lord Tyront fragen würde, ob sie einen der Besprechungsräume, den der Orden zur Verfügung hatte, benutzen konnte. Das war offiziell – vielleicht ein wenig zu sehr – aber dagegen ließ sich derzeit nichts machen.

Sie zog ein Blatt Papier und einen Stift heran und kritzelte eine schnelle Notiz. Dann verschloss sie sie mit ihrem neuen Siegel und wies den Boten an, nach der Zustellung auf eine Antwort zu warten. Falls Lord Tyront gerade zuhause war, sollte es nur ein paar Minuten dauern, bis sie ihre Antwort hatte; ihre Quartiere waren nicht besonders weit voneinander entfernt.

Sie griff nach einem weiteren Blatt und begann, eine Nachricht an Rolan zu verfassen, um ihn zu sich zu rufen. Sie überlegte, was die beste Art war, das zu tun. Es wie eine Einladung zu formulieren, würde schwach wirken. Ein Befehl wäre wohl etwas harsch. Eine Bitte? Aber das würde die Möglichkeit einer Weigerung offen lassen, nicht wahr? Sie entschied sich schließlich, es wie einen Befehl, der es im Prinzip war, zu formulieren.

Ein Klopfen an der Tür brachte Lord Tyronts Antwort, in der er sie wissen ließ, dass es ihr freistand, jeden Besprechungsraum zu nutzen, den sie jetzt und in Zukunft für welchen Zweck auch immer als dienlich erachtete. Das war praktisch. Sie entschied sich, den Raum zu verwenden, den sie für ihre Verhandlungen mit den Apothekern kannte. Zumindest war er einfach zu finden.

Sie stellte die Nachricht an Rolan fertig. Sie instruierte ihn, sie in einer Stunde zu treffen und Stift und Papier mitzubringen, da dies sein erster Arbeitstag als ihr Assistent sein würde.

Es wäre eine Erleichterung, ihn den Großteil der Arbeit in Verbindung mit der Expedition erledigen zu lassen. Enric hatte sie wenig subtil darauf hingewiesen, dass er von ihr erwartete, dass sie einiges an Studien und Kampftraining, das sie vermissen würde, vorab erledigte. Das bedeutete noch mehr Stunden des Lesens und des Kämpfens zusätzlich zu ihren Heilerstunden mit Vern.

Aber sie war gewillt, das in Kauf zu nehmen für die Chance, zum ersten Mal seit zehn Monaten der beengten Stadt zu entfliehen. Sie hatte beinahe ihr ganzes Leben lang zwischen Bäumen gelebt, Kräuter gesammelt, in Teichen und Flüssen gebadet. Und nun war sie seit einiger Zeit schon auf einen Ort beschränkt, wo es nicht mehr als ein paar magere Bäume gab und einen Fluss, mit dem sie lieber keinen Kontakt riskieren wollte. Zumindest nicht mit dem Stück in und flussabwärts der Stadt. Wieder wirkliche Erde unter ihren Füßen zu spüren, das Rauschen des Windes in den Blättern über sich zu hören… Andererseits… mit sechzehn Männern im Freien zu schlafen, keine Sanitärräume, den Elementen ausgeliefert, ergänzte ein anderer Teil in ihr und wurde ärgerlich zum Schweigen gebracht.

Es schien, als hätte sie sich an den Luxus des Lebens in der Stadt gewöhnt, überlegte sie. Vielleicht war es höchste Zeit, wieder mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, sich daran zu erinnern, dass es im Leben nicht nur um weiche Betten, reichliche Frühstückstabletts und heiße Bäder ging.

* * *

Sie wandte sich von dem hohen Fenster ab, als das laute Klopfen an der Tür durch das geräumige Besprechungszimmer mit der gewölbten Decke und dem ovalen Tisch mit den sechs unbequem aussehenden Stühlen hallte. Ein Diener öffnete die Tür, verbeugte sich und kündigte Rolan an.

Wie sie erwartet hatte, wirkte er nicht allzu erfreut darüber, ihr wieder zu begegnen. Ob das daran lag, dass er so unversehens herzitiert worden war oder an seiner neuen Position im Allgemeinen, konnte sie nicht sagen. Aber sie hatte sich das hier ebenfalls nicht ausgesucht, also würden sie beide sich wohl irgendwie damit arrangieren müssen. Sie war älter, weiser und damit reifer und bekleidete einen höheren Rang. Somit war sie wahrscheinlich diejenige, die dafür Sorge tragen musste, dass dies irgendwie funktionierte.

“Lady Eryn”, sagte er förmlich und verbeugte sich, als der Diener sie allein gelassen hatte. Er trug die übliche braune Robe der Magier. Seine blonden Haare reichten bis zu seinem Kragen und waren hinter seine Ohren zurückgestreift. Seine Haltung war steif, womöglich wegen seines Unmuts über seine neue Position, und er vermied den Blickkontakt mit Eryn, so gut er es vermochte. Er machte sich nicht die Mühe, die Tatsache zu verbergen, dass ihm das Treffen mit ihr keinerlei Vergnügen bereitete, sondern eine Störung war, die er zu erdulden hatte.

Er war zweiundzwanzig Jahre alt, überlegte sie. Nur sechs Jahre älter als Vern, aber wesentlich weiter fortgeschritten, was Zynismus und Missbilligung betraf. Nun, zumindest im Hinblick auf Missbilligung. Für einen Jungen seines Alters war Vern ungewöhnlich zynisch und sarkastisch.

“Rolan.” Sie nickte ihm zu, kam näher und bedeutete ihm, Platz zu nehmen, während sie selbst vorerst stehenbleiben würde. Sollte sie ihm dafür danken, dass er gekommen war? Es war nicht so, als hätte er in dieser Angelegenheit wirklich eine Wahl gehabt. Ihm zu danken, würde womöglich wie Spott wirken.

“Ich schätze es, dass du so kurzfristig gekommen bist”, sagte sie und entschied, dass es richtig klang. “Du wurdest darüber informiert, dass wir unsere Zusammenarbeit in ein paar Wochen beginnen sollten. Es hat sich aber bereits jetzt etwas ergeben, wo ich deine Hilfe benötige. Ich hoffe, das bereitet dir keine allzu großen Unannehmlichkeiten.”

“Nein”, erwiderte er steif und fand es offensichtlich immens unangenehm, hier sitzen zu müssen.

“Gut”, quittierte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ich sehe, dass du Stift und Papier dabei hast.” Sie zeigte auf ihre eigenen Zettel, die sie mitgebracht hatte und schob sie auf dem Tisch in seine Richtung. “Die erste Aufgabe, bei der ich deine Unterstützung benötige, ist die Planung einer Expedition, die in drei Wochen losgehen soll. Ihr Zweck ist es, die…”

“Eine Expedition?”, unterbrach sie der junge Mann und legte die Stirn in Falten. “Ich habe keine Ahnung, wie man eine Expedition plant! Was soll ich denn da machen?”

“Zuerst einmal wirst du den Mund halten und mir zuhören, wenn ich rede”, erwiderte sie harsch. “Du könntest immerhin etwas Nützliches dabei lernen.”

Sie sah, wie er seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammenpresste. Fabelhaft. Ihn zu rügen war definitiv kein guter Start.

“Wie ich dir gerade zu erklären versucht habe”, fuhr sie fort, “ist der Zweck dieser Expedition, die Kräutersammler zu unterrichten, wo man Pflanzen für Medizin und medizinische Behandlungen findet und wie man damit umgeht. Ich habe bereits mit ein paar von ihnen gesprochen und eine zehntägige Route festgelegt.” Sie beugte sich vor, hob ein Blatt hoch und schob es zu ihm. “Die blaue Linie auf dieser Karte zeigt den Weg, den ich festgelegt habe. Ich will, dass du das an dich nimmst und eine Akte mit allen für diese Reise erforderlichen Informationen zusammenstellst. Lass von allem eine Kopie anfertigen, damit jeder von uns beiden eine vollständige Version hat.”

Er zog das Papier an sich und betrachtete es mit einem Stirnrunzeln. “Das ist kompletter Unsinn.”

“Wie bitte?”, sagte sie eisig mit auf den Rücken gelegten Händen und wartete darauf, dass er aufsah.

“Bei den meisten der Plätze, die Ihr markiert habt, ist keinerlei Unterkunft in der Nähe. Wo habt Ihr denn die Nachtquartiere geplant?”

“Wir werden im Wald ein Lager errichten, Stadtjunge. Und wir müssen daran arbeiten, wie du deine Einwände künftig auf eine respektvollere Art und Weise kundtust”, fügte sie hinzu und stöhnte innerlich. Das klang sehr stark nach jemandem, den sie ständig beleidigt hatte. War sie dabei, sich in eine weibliche Version von Tyront zu verwandeln? Sicher nicht!

“Lass mich das anders ausdrücken”, sagte sie zuckersüß und beugte sich zu ihm hinab, während sie ihre Handflächen auf dem glatten, polierten Holz der Tischplatte abstützte. “Wenn du jemals wieder irgendetwas, das ich sage, als Unsinn bezeichnest, werde ich deinen jämmerlichen Hintern von hier bis zum Meer treten. Habe ich mich klar ausgedrückt?” Sie lächelte, als er nach einem Moment des Zögerns nickte. Gut. Das hatte sich schon viel eher nach ihr selbst angefühlt.

“Ausgezeichnet. Zurück du den Lagern. Da wir die meiste Zeit nicht in Tavernen bleiben werden, brauchen wir Zelte, länger haltbare Lebensmittel sowie Kochutensilien und vernünftige Kleidung für die Reise durch den Wald. Für die Nächte brauchen wir auch warme Decken. Es wird bereits wärmer, aber der Winter ist noch nicht vollständig vorbei. Zumindest sollten wir keinen Schnee haben. Hoffe ich.”

Sie sah zu, wie er die Punkte, die sie aufgezählt hatte, auf seinem Notizblock vermerkte und wartete, bis er fertig war. Dann setzte sie fort: “Dann brauchen wir Ausrüstung für das Verarbeiten und Aufbewahren der Kräuter. Ich habe hier schon eine Liste vorbereitet.”

Er nahm das zweite Blatt Papier wortlos in Empfang, betrachtete es und schnitt dann eine Grimasse.

“Was ist jetzt? Stimmst du meiner Auswahl nicht zu? Dann gehe ich davon aus, dass du über weitreichende Fachkenntnisse betreffend die Verarbeitung von Heilkräutern verfügen musst, um das beurteilen zu können?”, sagte sie mit scharfer Stimme und verschränkte die Arme.

Rolan warf ihr einen verärgerten Blick zu. “Dazu kann ich nichts sagen. Eure Handschrift zu entziffern, ist eine ziemliche Herausforderung. Oder ist das die Art, wie man in den Westlichen Territorien zu schreiben pflegt? In diesem Fall würde ich Eure Ladyschaft gnädigst um eine Übersetzung bitten.”

Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Das war witzig gewesen, aber sie konnte es nicht wirklich zugeben. Sie schüttelte ihren Kopf und spitzte die Lippen. “Dann werden wir dich wohl an meine Handschrift gewöhnen müssen.” Sie schenkte ihm ein boshaftes Lächeln. “Oder, falls du einen Ansatz vorziehst, der für deine armen Augen weniger belastend wäre, kannst du auch ständig hinter mir herlaufen und mein Diktat aufnehmen. Würde dir das nicht einiges an Aufwand ersparen?”

Er schluckte, und sie konnte sein Unbehagen bei dem Gedanken, überall für jeden sichtbar mit einem Notizblock hinter ihr her zu trotten, deutlich auf seinem Gesicht erkennen.

“Ich denke, ich werde es noch einmal mit der Liste versuchen”, versicherte er ihr eilig.

“Gut, darauf hatte ich gehofft”, nickte Eryn und kehrte dann zu den Gegenständen für die Expedition zurück. „Wir benötigen genug Papier und Tinte zum Zeichnen für Vern. Und etwas, worin wir seine Arbeiten hinterher aufbewahren können, ohne dass sie zerreißen, nass werden oder sonst irgendwelchen Schaden nehmen. Ich bin noch nie mit Büchern oder Dokumenten gereist, du wirst dir hier also etwas überlegen müssen.”

Sie ging ein paar Schritte und murmelte dann mehr zu sich selbst: “Habe ich noch etwas vergessen?”

“Waffen”, erwiderte Rolan prompt.

Sie drehte sich mit einem Stirnrunzeln zu ihm um. “Was? Das ist kein Raubzug, sondern eine Expedition zur Ausbildung von Kräutersammlern! Oder schlägst du vor, dass wir ein paar Dörfer plündern und niederbrennen, wenn wir schon dabei sind?”

Er rollte ungeduldig mit den Augen. “Und was ist, wenn Ihr überfallen oder angegriffen werdet? Werdet Ihr einfach nur einen großen, starken Schild um alle herum errichten und warten, dass Eure Angreifer so lange darauf einschlagen, bis sie außer Atem sind?”

“Wir reden hier über Kräutersammler, nicht schlachtgestählte Krieger! Sie würden sich sehr wahrscheinlich mit einer scharfen Klinge, die länger als ein Kräutersammlermesser ist, nur selbst verletzen.”

“Und Eure Waffen, Lady Eryn? Oder beabsichtigt Ihr, hier völlig unbewaffnet abzureisen? Und ohne jemanden, der weiß, wie man ein Schwert benutzt? Werdet Ihr allein eine Gruppe von siebzehn Leuten beschützen, falls nötig? Nach gerade einmal zehn Monaten Kampftraining?” Er kämpfte sichtbar um Gelassenheit. “Nun, das sollte meine Position wohl bald überflüssig machen.”

“Hey!”, rief sie fassungslos aus. “Ich wäre dir dankbar, wenn du hier nicht verfrüht mein vorzeitiges Ableben planen würdest!”

“Fiele mir im Traum nicht ein”, murrte er missmutig und gab vor, etwas aufzuschreiben. “Gibt es sonst noch etwas, oder kann ich gehen?”

“Nein, das ist alles von meiner Seite. Für den Moment. Ich erwarte regelmäßige Statusberichte über deinen Fortschritt. Wenn ich nichts von dir höre, werde ich kommen und dich finden. Und dich zum Reden bringen.” Sie lächelte süffisant. “Nimm den leichten Weg und informier mich einfach, ja?”

Er starrte sie ein paar Augenblicke lang an, dann verbeugte er sich und zog sich hastig zurück.

Eryn ließ sich auf einen Stuhl fallen und spürte, wie die Anspannung, jetzt, wo Rolan weg war, aus ihrem Körper wich. Das war nicht so schlecht gelaufen, nicht wahr? Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass das Treffen harmonisch ablaufen würde. Nicht wenn beide Seiten unwillig waren zusammenzuarbeiten und sich nicht die Mühe machten, das zu verbergen. Aber zumindest war er hier mit einem klaren Arbeitsauftrag abgezogen, richtig? Sie seufzte. Hoffentlich würde er zumindest ein paar der Sachen erledigen, damit sie sich nicht um alles allein kümmern musste.

* * *

“Guten Tag”, grüßte Enric sie von einem der Sofas aus und legte sein Buch zur Seite, als sie den Salon betrat. “Wie ist dein Treffen mit Rolan gelaufen?”

Sie seufzte. “Wie kommt es, dass du darüber Bescheid weißt? Mir war nicht einmal bewusst, dass du heute irgendeine Verabredung mit Lord Tyront hattest.”

“Hatte ich nicht wirklich. Zumindest nichts Offizielles. Er hat mir bei unserem gemeinsamen Mittagessen erzählt, dass du einen Ort für ein Treffen mit deinem Assistenten benötigst.”

“Wenn ihr also keinen arbeitsbezogenen Grund habt, euch zu sehen, esst ihr gemeinsam?” Sie schüttelte den Kopf.

“Nicht vom Thema abweichen. Erzähl mir von Rolan. Ist es gut gelaufen?”

“Oh, ja. Fabelhaft. Er ist ein richtiger Schatz. Ich würde ihn wirklich gerne adoptieren. Darf ich, bitte?”, bettelte sie mit gespieltem Eifer.

“Kaum”, lachte Enric leise. “Er ist nur fünf Jahre jünger als du, was bedeutet, dass er großjährig ist. Die Leute würden denken, dass du einfach nur deinen Liebhaber einziehen lassen willst.”

Sie zog eine Grimasse bei dem Gedanken an Rolan in ihrem Bett. “Nun, dann vielleicht lieber doch nicht.”

“Ich stimme zu. Es lief also nicht ganz so, wie du es dir erhofft hast?”, fragte er zum dritten Mal, entschlossen, nicht aufzugeben.

“Ich weiß es nicht.” Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa, ließ sich von ihm auf die Schläfe küssen und nahm einen Schluck von seiner Tasse auf dem Tisch. Enric spielte mit einer ihrer Haarsträhnen, zufrieden mit der gemütlichen, intimen Situation zwischen ihnen und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

“Ich denke, es hätte schlimmer laufen können. Er hat den Raum nicht schreiend, sondern eher verhalten fluchend verlassen. Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr? Und ich habe ihn kein einziges Mal getreten, obwohl es ein paar Gelegenheiten gab, wo ich das wirklich wollte. Also würde ich sagen, dass ich große Zurückhaltung im Angesicht meiner neuen Herausforderung in Form meines sehr widerwilligen Assistenten gezeigt habe.”

“Ich bin so stolz”, schmunzelte Enric. “Erst vor kurzer Zeit warst du die Gefangene, und jetzt unterdrückst du bereits andere.”

Sie grinste. “Was soll ich sagen? Ich lerne offenbar schnell.” Dann biss sie sich auf die Unterlippe und dachte zurück an das, was Rolan gesagt hatte. “Denkst du, ich sollte Waffen auf die Expedition mitnehmen?”

“Auf jeden Fall”, antwortete er, ohne zu zögern. „Ich könnte mir vorstellen, dass du so ziemlich die einzige sein wirst, die weiß, wie man sie benutzt. Falls es also irgendwelche Probleme gibt, solltest du vorbereitet sein.”

„Aber ich bin eine Magierin! Warum sollte ich Schwerter benutzen?”

Enric starrte sie an. „Weil es sehr strenge Gesetze gibt, um mit Magiern zu verfahren, die ihre Kräfte gegen Nicht-Magier einsetzen.”

“Was? Aber genau das mache ich doch beim Heilen”, strich sie sachlich hervor.

“Du weißt, was ich meine. Die Regeln kommen zur Anwendung, wenn es um weniger freundschaftliche Zwischenfälle geht. Wie um einen Kampf.”

“Auch wenn es sich dabei um bloße Verteidigung handelt?”, fragte sie ungläubig.

“Das würdest du dann hinterher beweisen müssen. Wenn es auch nur den Schatten eines Zweifels gibt, wirst du für jeden Schaden, den du angerichtet hast, zur Rechenschaft gezogen. Der König muss zeigen, dass er uns unter Kontrolle hat, und aus deinen Studien der Geschichtsbücher sollte dir klar sein, weshalb. Es gab in der Vergangenheit ein paar… unangenehme Zwischenfälle mit abtrünnigen Magiern.” Er legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. “Was denkst du, weshalb wir wirklich Schwertkampf trainieren, Eryn? Wohl kaum, um uns gegen andere Magier zur Wehr zu setzen. Wir können so sicherstellen, dass wir uns gegen Nicht-Magier verteidigen können, da wir aufgrund der Gesetze sonst nicht in der Lage wären, einem Kampf standzuhalten.”

Eryn starrte ihn mit offenem Mund an. Dann stand sie auf und lief aufgebracht im Salon auf und ab. Sie warf die Hände frustriert und verärgert hoch. “Ich werde noch verrückt mit euch allen! Warum hat mir das in all diesen Monaten, in denen ihr mich zum Kampftraining gezwungen habt, nie jemand gesagt? Ich meine, diesen Grund hätte ich verstanden!”

“Was meinst du damit – niemand hat dir davon erzählt?”

Sie starrte an die Decke. “Genau was ich gesagt habe! Kein einziger von euch mächtigen Kriegern hat es der Mühe wert erachtet, mir mitzuteilen, warum ich das lernen musste! Es wäre nicht gar so eine Tortur gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass es einen berechtigten Grund dafür gibt! Ihr verfluchten Idioten, jeder einzelne von euch!”

Sie sah zu Enric hinab und verengte die Augen, als sie ihn lachen hörte. “Tyront hat dir das also nie gesagt? Und Orrin ebenfalls nicht? Aber du hast monatelang täglich mit ihm trainiert! Er hat nie erwähnt, warum?”

“Ich bin so froh, dass dich das erheitert! Ich sehe absolut nicht, was daran komisch sein soll. Und gib bloß nicht Orrin die Schuld! Du trainierst mich jetzt seit zwei Monaten – und hast du dir jemals die Mühe gemacht, etwas darüber zu sagen? Nein, das hast du nicht!”, rief sie aus.

“Das hätte ich, wenn mir bewusst gewesen wäre, dass es niemand sonst getan hat.”

“Wir hatten Diskussionen über dieses Thema! Ich habe dir gesagt, dass ich all dieses Kämpfen für eine Verschwendung von Zeit und Magie halte! Warum hast du da nichts gesagt?”

Er zuckte die Schultern. „Ich dachte, du wolltest einfach nur schwierig sein. Logische Argumente funktionieren kaum jemals, wenn jemand nur Dampf ablassen will.”

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich glaube das einfach nicht. Und ich habe das nur zufällig herausgefunden, weil ich nicht daran gedacht hätte, ein Schwert zur Expedition mitzunehmen. Stell dir vor, ich hätte mich während eines Angriffs mit Magie verteidigt! Ich hätte schwer bestraft werden können, ohne in diesem Moment zu wissen, dass ich das Gesetz breche!”

Enric wurde wieder ernst. “Ja, da ist die eine Sache, die gefährlich gewesen wäre.” Damals, während ihres Fluchtversuchs, als sie die Torwachen ausgeschaltet hatte, war sie nur deshalb damit durchgekommen, weil sie noch immer gefangen gewesen und es somit praktisch erwartet wurde, dass sie die Gesetze brach. Zudem war auch niemand wirklich zu Schaden gekommen. Also war man mehr als willens gewesen, sie damit davonkommen zu lassen – besonders, da sie zu der Zeit noch nicht an den Orden und dessen Regeln gebunden war.

“Ich verstehe, weshalb du verärgert bist. Und du hast Recht. Jemand hätte es dir sagen sollen. Du wärst also weniger widerspenstig gewesen, wenn dir klar gewesen wäre, dass der Grund für unser Kampftraining der Schutz der Nicht-Magier ist?”

“Natürlich! Ich hätte euch nicht so sehr gehasst dafür, dass ihr mich zwingt zu lernen, wie man Schaden zufügt, wenn mein Lebenszweck das Heilen, nicht das Verletzen von Menschen ist. Ich hätte akzeptiert, dass dies einfach ein Weg ist, um unnötige Verletzungen zu vermeiden.”

Er seufzte. “Es scheint, als hätten wir uns allen das Leben schwerer als nötig gemacht.” Dann lächelte er. “Stell dir vor, ich hätte dich so viel früher wieder in mein Bett bekommen können.”

Sie schnaubte. “Träum weiter, Schönling. Ich hätte dich nicht weniger gehasst, nachdem du mir ständig das Bewusstsein geraubt und den Schild meines Vaters in mir übernommen hast. Ohne deinen kleinen Trick, mich nach meinem Fluchtversuch in deinem Quartier einzusperren, hättest du mit deinem nächsten Versuch wohl bis zur nächsten Nacht der Ungezwungenheit warten müssen.”

Er lächelte selbstbewusst. “Nein, so lange hätte ich nicht gewartet, glaub mir. Nicht, nachdem ich dich an diesem Tag auf der Straße geküsst hatte. Das hat mich sehr eindrucksvoll daran erinnert, was mir gefehlt hat.”

Sie starrte ihn verwirrt an. “Wie sind wir jetzt bei diesem Thema gelandet? Ich bin noch immer böse mit dir, weil du mir nichts über die Gesetze gegen den Einsatz von Magie gegen Nicht-Magier gesagt hast.” Sie seufzte und warf ihm einen verärgerten Blick zu. “Es ist eine ziemliche Herausforderung, mit dir über etwas zu reden, bei dem du dich nicht wohl fühlst. Du bringst mich ständig vom Thema ab.”

“Nicht besonders effektiv, wie es scheint”, bemerkte er. “Du schaffst es immer wieder, dazu zurückzukehren, mich zu tadeln.”

“Ja, genau. Als ob das wirklich einen Unterschied machen würde. Was soll ich denn jetzt machen? Im Alleingang mit einem Schwert Horden von Angreifern abwehren? Ist es mir überhaupt gestattet, mich mit einem Schild zu schützen?” Ihre Gedanken sprangen zurück zu dem Vorfall, als sie Plia zum ersten Mal getroffen und sie mit einem Schild vor den Steine werfenden Rüpeln gerettet hatte.

“Ja, Schilde gehen in Ordnung. Man kann Leute nicht mit einem magischen Schild verletzen.” Er runzelte die Stirn. “Außer…”

“Außer was?”

“Außer du sperrst sie mit einer luftdichten Barriere ein und lässt sie ersticken.”

“Jetzt hör aber auf!”, rief sie aus. “Wer würde denn so etwas tun?”

“Du wärst überrascht was Menschen tun, wenn sie um ihre eigene oder die Sicherheit ihrer Lieben bangen”, sagte er ruhig. Er dachte daran, wie er sie bewusstlos auf dem Boden hatte liegen sehen, während die Apotheker in einer Ecke gekauert saßen. Sein eigenes Leben war damals keinerlei Gefahr ausgesetzt, aber er war willens gewesen, begierig sogar, ihnen wehzutun, sie vor Schmerzen zuckend zu Boden zu schicken. Hätte Tyront ihn nicht dann und dort aufgehalten, hätte wohl niemand sagen können, was passiert wäre.

Sie betrachtete ihn aufmerksam. “Das klingt, als hättest du persönliche Erfahrung mit dem Thema.”

“Sagen wir einfach, dass ich einmal recht nahe dran war, dieses spezielle Gesetz zu brechen”, sagte er und lächelte gezwungen.

“Es ist also in Ordnung, wenn ich mich mit einem Schild schütze, ohne meinen Angreifern Schaden zuzufügen. Dann sollte es auch möglich sein, den Rest der Expedition so zu schützen. Allerdings geht das nur, wenn sie nahe genug beieinanderstehen.”

“Grundsätzlich ja.”

“Wie sieht es damit aus, meine Geschwindigkeit und Stärke zu erhöhen, wenn ich gegen einen Nicht-Magier kämpfe? Ist das erlaubt?”

“Ja, das ist sogar empfehlenswert. Sonst hätte Orrin beim Training nicht solchen Wert auf diese Fertigkeiten gelegt. Du bist allerdings dazu aufgerufen, diesen erheblichen Vorteil dazu zu nutzen, deinen Angreifer nur zu entwaffnen und nicht zu töten. In diesem Fall hättest du dich immer noch zu rechtfertigen. Allerdings wäre es nicht ganz so problematisch wie im Fall eines Lochs in der Brust, das von einem Blitz verursacht wurde.”

Sie zuckte die Achseln. “Damit habe ich kein Problem. Ich bin nicht erpicht darauf, jemanden zu töten, weder mit Magie, noch mit meinen Händen.”

“Gut. Der Gedanke, dass du voller Blutdurst auf der Suche nach wehrloser Beute durch die Wälder streifst, hätte ein gewisses Unbehagen bei mir verursacht”, sagte er und erhob sich, als ein Klopfen an der Tür ertönte. “Dem Klopfen nach zu urteilen, ist das Tyront.”

Und tatsächlich trat der Anführer des Ordens nur wenig später ein.

“Lady Eryn”, nickte er und nahm ihre Verbeugung zur Kenntnis.

“Lord Tyront”, erwiderte sie.

“Wie ist das Treffen mit dem jungen Rolan gelaufen?”, fragte er und nahm Platz.

Sie unterdrückte ein Lächeln. Er war also gekommen, um zu sehen, wie gut seine Rache funktionierte. Wie charmant.

“Unerwartet produktiv”, antwortete sie ernst. “Ich habe ihn in die Planung meiner Expedition miteinbezogen, und er hat die Aufgaben, die ich ihm übertragen habe, akzeptiert. Natürlich wird sich erst herausstellen, wie gut er sie erledigen wird.”

Tyront betrachtete sie und nickte dann. “Es freut mich, das zu hören. Wie geht die Planung voran?”

“Es gilt noch, das eine oder andere herauszufinden”, meinte sie mit einem Schulterzucken. “Aber nichts Unüberwindliches, würde ich sagen.”

Enric reichte seinem Vorgesetzten eine dampfende Tasse. „Wir haben gerade über die Gesetze über die Anwendung von Magie gegenüber Nicht-Magiern diskutiert. Es scheint, als hätte Eryn bis gerade eben nicht darüber Bescheid gewusst.”

“Wie bitte?” Tyront runzelte die Stirn. “Wie ist das möglich? Sie ist seit mindestens zehn Monaten hier.”

“Ja, sagt das mir”, murmelte sie und verschränkte die Arme.

“Lord Orrin hat das Euch gegenüber nie erwähnt?” fragte der ältere Mann ungläubig.

“Nein, und auch keiner von euch”, betonte sie, genervt, dass die Schuld schon wieder auf Orrin geschoben wurde.

“Nun, dann können wir uns wohl glücklich schätzen, dass Ihr Euch bislang soweit zurückgehalten habt, zumindest diese eine Regel nicht zu brechen.”

Sie warf ihm einen entnervten Blick zu, schwieg aber. Sie vermutete, dass er sie absichtlich provozierte. Vielleicht war er enttäuscht über ihren Bericht über das Treffen mit Rolan und hatte stattdessen auf Verzweiflung und Chaos gehofft. Er suchte also womöglich nach einem anderen Grund, um sie für etwas zu bestrafen. Aber nein, nicht heute.

Tyront schmunzelte, als hätte sie soeben seine Vermutung bestätigt. Sie jedoch blieb still und funkelte ihn nur an.

Enric beobachtete die beiden und verbarg sein Lächeln. Sie hatte dazugelernt. Gut.

“Wir haben auch über den Schutz der Expedition gesprochen. Als einzige Magierin und trainierte Kämpferin – wenn wir Vern hier nicht mitzählen – könnte es eine Herausforderung werden, Angreifer abzuwehren.”

Der ältere Magier nickte. “Ja, darüber habe ich ebenfalls nachgedacht. Ich werde die Teilnehmerzahl auf dreiundzwanzig erhöhen. Vier Schwertkämpfer sollten zusätzlich zu Euch, Lady Eryn, ausreichend sein.”

“Oh, nein”, stöhnte Eryn. “Das würde heißen, dass er Recht hatte und ich falsch lag. Und dass ich es offen zugeben muss.”

“Tja, Liebste, so scheint es wohl”, grinste Enric und fügte hinzu: „Ich rede also besser mit Rolan, da er die Planung jetzt übernommen hat.”

“Nein”, protestierte sie. “Du wirst es ihm nicht sagen, sondern ich. Du hast gesagt, ich könnte jetzt selbst unterdrücken.”

Tyront bedachte Enric mit einer hochgezogenen Augenbraue und schüttelte langsam den Kopf. “Das hast du ihr gesagt? Tatsächlich? Ich bin froh, dass du so ein lobenswertes Vorbild bist”, bemerkte er.

“Ach, Lord Tyront”, erwiderte Eryn mit kalkuliertem Spott, “weshalb sollte ich dafür auf ihn angewiesen sein, wenn Ihr selbst so ein strahlender Stern an beispielhafter Führung seid?”

Er sah sie an und schürzte die Lippen, hin und her gerissen zwischen Belustigung über ihre vorsichtig formulierte Beleidigung und Erstaunen über ihre Unverfrorenheit, ihn, wie subtil auch immer, überhaupt zu beleidigen.

Da er gute Laune hatte, entschied er sich, Humor zu zeigen und hob mit einem dünnen Lächeln seine Tasse.

 

Kapitel 2

Vorbereitungen

“Was ist los? Du wirkst etwas verdrossen”, bemerkte Enric vom Türrahmen zu seinem Arbeitszimmer, seinem bevorzugten Beobachtungsposten, aus.

Eryn blickte zu der hochgewachsenen Gestalt auf und seufzte. “Ich hatte auf ein paar Bewerbungen für die drei offenen Positionen als Heilerlehrlinge gehofft, aber bisher tut sich hier gar nichts. Es scheint, dass Lord Poron, Vern und ich selbst die einzigen sind, die an dem Beruf interessiert sind. Das enttäuscht mich etwas”, gab sie zu. “Aber ich schätze, meine Erwartungen waren wohl etwas zu hoch. Es geht immerhin darum, Menschen zu überzeugen, die schon ihr Leben lang denken, Kriegskunst sei der einzige Weg für einen Magier, um ein wahrhaft wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein. Sie sehen wahrscheinlich nur eine Frau, einen halbwüchsigen Jungen und einen alten Mann und denken, dass das die Art von Image ist, das einen Heiler erwartet.”

Enric blieb stumm. Er wusste, dass dies tatsächlich der Fall war, wollte es aber ungern bestätigen. Und außerdem arbeitete er bereits an einer Idee, um diese Sichtweise zu ändern.

“Wir könnten eine öffentliche Ankündigung für alle Magier machen”, schlug er vor. “Man könnte herausstreichen, dass nur die fähigsten und passendsten Kandidaten in Betracht gezogen werden.”

“Ich befürchte, das wird kaum einen Unterschied machen, wenn es ohnehin niemand tun will. Es gibt hier nicht viel Wettbewerb, gegen den es sich durchzusetzen gilt”, sagte sie müde.

Er kam näher und ging vor ihr in die Hocke. “Komm schon. Tyront und ich könnten auch ein paar Worte sagen und betonen, wie wichtig diese neue Einsatzmöglichkeit für unsere Kräfte ist, welche Ehre sie bringen wird.”

Sie konnte nicht anders als grinsen. “Ja, ich sehe schon, dass dies einen ziemlich beachtlichen Eindruck hinterlassen würde, wenn es von zwei Kriegern kommt. Warum nimmst du nicht Orrin noch mit dazu, nur um es für das Publikum so richtig spaßig zu gestalten?”

“Dein Mangel an Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des hohen Kommandos des Ordens schockiert mich, meine Liebste.”

“Gut. Der Gedanke, dass ich bereits nach der kurzen Zeit, in der wir zusammen leben, die Fähigkeit verloren haben könnte, dich zu überraschen, wäre mir ein Graus gewesen.”

“Kaum”, neckte er sie, “du überrascht mich jeden Morgen, wenn du es schaffst, dich für deine Termine aus dem Bett zu quälen. Allerdings muss ich sagen, dass du mir noch unwilliger als sonst erscheinst, wenn du für dein Kampftraining aufstehen musst. Oder ist das nur mein Eindruck?”

Sie lachte, so wie er gehofft hatte, und tätschelte seine Wange. „Das bildest du dir nur ein, Enric. Ich finde es nicht schlimmer, für unsere Verabredungen aufzustehen als für all die anderen.”

“Das ist eine Erleichterung. Denke ich.” Er schnappte sich ein Brötchen von ihrem Frühstückstablett und erntete dafür einen vernichtenden Blick. „Sei nicht gierig, da sind noch zwei weitere.”

“Ich wollte die, die ich jetzt nicht esse, mitnehmen. Ich nehme gerne hin und wieder einen Bissen zu mir, wenn ich eine Pause einlege.”

“Sag mir nicht, dass dich Lord Poron in der Bibliothek essen lässt?”

“Das weiß ich nicht, ich habe es nie gewagt, das herauszufinden. Ich gehe dafür immer hinaus. Man muss in der Gegenwart von Büchern Respekt zeigen”, zitierte sie ihren Vater.

Er sah zu, wie sie das halb verspeiste Brötchen von ihrem Teller nahm und es in ihr Getränk eintauchte, bevor sie hineinbiss. Er erinnerte sich, wie sie ihm erzählt hatte, dass es eine Angewohnheit aus ihrer Kindheit war, an der sie trotz der gegenteiligen Bemühungen ihres Vaters festgehalten hatte.

“Wie sieht dein Tagesplan heute aus? Geschichte? Schlachtstrategien? Botanische Studien?” Er grinste, als er Letzteres aussprach.

Sie kicherte. “Ja, genau. Von eurem Haufen brauche ich unbedingt Unterricht in Botanik. Der Orden unterscheidet nur zwischen zwei maßgeblichen Eigenschaften bei einer Pflanze: essbar oder nicht.”

“Nicht mehr, Liebste. Jetzt, da wir dich bei uns haben, tun wir so viel mehr. Es scheint, als hättest du das Konzept, dich selbst als Teil des Ordens zu betrachten, noch nicht ganz verinnerlicht.”

“Was soll ich sagen? Wann immer ich etwas vollkommen Idiotisches und Nutzloses sehe, versuche ich, mich davon zu distanzieren.”

“Ich verstehe.” Er spitzte die Lippen, nicht sehr angetan von ihrer Beschreibung der Institution, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. „Solltest du nicht eher versuchen, die Dinge zu verändern, die du als nutzlos erachtest, anstatt zu vermeiden, damit in Berührung zu kommen?”

“Meine Güte, du ermutigst wohl nicht etwa die Revolutionärin in mir, oder doch? Ich frage mich, ob ich Lord Tyront darüber in Kenntnis setzen sollte”, schnaubte sie.

Er erschauderte. „Ich fürchte den Tag, an dem du und Tyront euch gegen mich verbündet.”

Sie erinnerte sich schuldbewusst daran, dass sie eigentlich genau das bereits getan hatten. Sie verbargen immer noch die Wahrheit über das Ausmaß ihrer Auseinandersetzung mit Ram’an vor Enric. Er wusste nach wie vor nicht, dass Ram’an zuerst eine Wahrheitssperre angewendet hatte, um sie zu befragen, und dann versucht hatte, sie in seinem Quartier einzusperren.

“Also, welchen Torturen wirst du dich heute stellen müssen?”, formulierte er seine Frage um.

“Politische Strategien oder so etwas, glaube ich. Lord Poron hat für die nächsten paar Tage einen neuen Stapel an Büchern für mich vorbereitet.”

“Gut. Das sollte ein einigermaßen nützliches Fach für dich sein, wenn du ihm genug Beachtung schenkst. Wann ist übrigens die Prüfung in Geschichte angesetzt?”, erkundigte er sich weiter.

“In zehn Tagen. Und fünf Tage danach werde ich in Schlachtstrategien getestet. Es scheint, als wollten sie alle die Prüfungen erledigt haben, bevor ich mit den Kräutersammlern aufbreche”, sagte sie mit einer Grimasse. Der Zeitplan klang zermürbend, wenn sie ihn wiederholte.

“Lord Poron ist derjenige, der dich bei Politischen Strategien betreut, nicht wahr? Er möchte dich möglicherweise ebenfalls testen, bevor du abreist.”

“Ja, das hat er mir schon mitgeteilt. Aber ich habe mich mit ihm darauf geeinigt, den Stoff aufzuteilen. Ich werde nur die Hälfte jetzt lernen und den Rest, nachdem ich zurückgekehrt bin. Habe ich erwähnt, dass ich ihn mag?”

Enric lächelte. “Nein, aber es ist dennoch offensichtlich. Ich finde es recht interessant, wie du es schaffst, dich mit den hohen Rängen im Orden anzufreunden.”

“Wie mit Lord Tyront?”, fragte sie ihn verschmitzt.

“Mit ihm wohl nicht gerade, aber du bist mit der Nummer zwei verbunden und mit Nummer vier und fünf aus den hohen Rängen befreundet.”

“Ja, genau. Als ob ich diejenige war, die sich die Verbindung zu dir ausgesucht hat, Nummer zwei.”

Er grinste. “Ich gebe zu, dass du ein wenig Hilfe dabei hattest, diese Entscheidung zu treffen. Sag mir nicht, dass du sie bereust? Du solltest dich nach einem Monat noch immer in dieser glückseligen Phase kurz nach dem Kommitment befinden.”

“Glückselige Phase kurz nach dem Kommitment? Ach, in der sollen wir uns derzeit befinden? Falls ja, graut mir davor, wenn uns der triste und langweilige Alltag einholt. Keine Kämpfe, Manipulationen, Drohungen und ähnlich erfreuliche Begebenheiten mehr.”

Er zog sie lachend in seine Arme. “Keine Sorge, solange ich dein Vorgesetzter bin und du meinen Befehlen folgen sollst, wird es immer Kämpfe und Drohungen zwischen uns geben.”

“Welch Erleichterung”, lachte sie und wand sich aus seinen Armen. “Ich befürchte, ich muss jetzt los. Auf mich wartet zweifellos faszinierende Lektüre darüber, wie ich meine Feinde glauben lasse, dass sie meine Freunde sind, während mir bewusst ist, dass ein Freund wenig mehr ist als ein Feind, den ich mich noch nicht zu töten entschlossen habe.”

“Nein, Liebste, das wäre Diplomatie. Bei Politischer Strategie geht es darum, deine Feinde mit einem Lächeln im Gesicht anzulügen, während du im Stillen Pläne zu ihrer Vernichtung schmiedest.”

Sie schüttelte den Kopf. “Weißt du, das klingt immens deprimierend. Ich hoffe wirklich, dass ich nie wichtig genug sein werde, um all dieses schreckliche Wissen tatsächlich einzusetzen.” Sie lächelte strahlend. “Aber vielleicht muss ich das gar nicht! Als Frau habe ich immer noch die weniger komplizierte Option zur Verfügung, mir Männer gefügig zu machen, indem ich sie mit zu mir ins Bett nehme, richtig? Klassische weibliche Strategie.”

Enric zog eine Augenbraue hoch und lächelte dünn. “Das, liebste Lady Eryn, würde ich nicht empfehlen. Sonst würdest du herausfinden, dass die Leute, die du dir zu Willen machen willst, eine Tendenz haben, unter sehr verdächtigen Umständen dahinzuscheiden.”

Sie runzelte die Stirn in gespielter Verwirrung. „Das klingt jetzt überhaupt nicht mehr nach Politischer Strategie. Zu direkt und offensichtlich, überhaupt nicht raffiniert und subtil.”

“Nein”, stimmte er mit einem dunklen Gesichtsausdruck zu. “Das ist ganz schlicht und einfach Eifersucht. Weniger kompliziert, aber in meinem Fall wesentlich gefährlicher.”

* * *

Eryn stand auf, um die Tür zu öffnen. Plia, vermutete sie. Und tatsächlich stand das Mädchen dort, strahlend und kaum in der Lage, ihre Aufregung im Zaum zu halten. Zumindest ließ die rastlose Energie, die sie ausstrahlte, das vermuten.

“Eryn!”, rief sie aus und drückte die Magierin fest.

Die Frau lächelte und wartete, bis die glücklicherweise mittlerweile weniger dünnen und schwachen Arme sie wieder losließen, damit sie das Mädchen hereinbitten und die Tür schließen konnte.

“Stimmt es wirklich? Ich werde tatsächlich mit auf deine Expedition kommen?” Plias große Augen waren vor Begeisterung geweitet.

Eryn nahm ihre Hand und nickte. “Ja. Enric hat es vorgeschlagen, und ich muss sagen, dass es eine fabelhafte Idee ist. Ich war nicht wirklich sicher, ob du dich bei dem Gedanken an eine zehntägige Reise durch die Wildnis wohlfühlen würdest. Aber deiner Reaktion gerade eben entnehme ich, dass ich mir darüber keine Sorgen hätte machen müssen.”

“Ich war noch nie zuvor außerhalb der Stadt”, gab das Mädchen zu. “Ich bin deswegen ein kleines bisschen nervös, aber solange du dabei bist, habe ich keine Angst.”

“Das ist ein großer Vertrauensbeweis, aber Vern wird auch dabei sein. Und auch noch vier bewaffnete Männer, um uns zu beschützen. Du brauchst dich also nicht zu fürchten, auch wenn ich aus irgendeinem Grund gerade nicht um dich bin”, lächelte sie.

“Vern kommt auch mit?”, fragte Plia in einem Tonfall, der ganz offensichtlich beiläufig wirken sollte.

Eryn beobachtete, wie eine leichte Röte in Plias Wangen stieg und fragte sich, ob diese Schwärmerei für Vern niedlich war, oder ob das später zu Ärger führen könnte. Es war wahrscheinlich harmlos. Plia war dreizehn Jahre alt, noch immer mehr Kind als Frau, und Vern hatte sie noch nie als etwas anderes als eine jüngere Schwester behandelt, soweit Eryn das bisher beobachtet hatte.

“Ja, er wird die Chance nutzen und etwas über Botanik lernen und auch die Zeichnungen anfertigen, die ich für die Bücher für die Kräutersammler brauche. So können sie die Pflanzen später nachschlagen, wenn wir wieder zurück sind.”

Das Mädchen wirkte plötzlich besorgt. “Eryn, ich habe keine Ahnung, was ich für die Reise brauche. Ich habe ein wenig Geld gespart und…”

“Kleine Blume, das ist genau der Grund, warum ich dich für heute eingeladen habe. Junar wird jeden Moment eintreffen, und sie wird sich um die Kleider kümmern, die du brauchen wirst. Und mach dir keine Sorgen um das Geld. Der Orden wird sich darum kümmern.”

“Der Orden?”, flüsterte sie ehrfürchtig. “Aber ich bin doch kein Mitglied!”

“Aber ich, und ihnen ist daran gelegen, mich zufriedenzustellen”, lächelte Eryn. “Du brauchst dich also deswegen nicht schuldig zu fühlen – die haben mehr Geld als sie brauchen.” Sie legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern. “Bist du in den letzten zwei Monaten gewachsen? Mir kommt vor, als müsste ich mich zu deinen Schultern nicht mehr so weit nach unten beugen.”

“Ein wenig”, lächelte Plia. “Koch sagt, das liegt an den regelmäßigen Mahlzeiten und der ordentlichen Arbeit. Allerdings bin ich bei zweiterem etwas skeptisch. Ich hätte vielmehr gedacht, dass schweres Heben das Wachstum eher stoppt, weil es mich nach unten zieht.”

Eryn lachte und trat von ihr weg. “Lass mich dich einmal richtig ansehen.” Und das tat sie. Weniger blass, nicht mehr so dünn, Muskeln von der Arbeit, adrett und sauber, ordentlich gekämmtes Haar, passende Kleidung. Ein viel besseres Bild als das, an das sie sich erinnerte, als sie einander kennengelernt hatten. Sie dachte mit einem warmen Gefühl daran, dass Orrin derjenige war, der diese Veränderung ermöglicht hatte. Er hatte ihr angeboten, Plia die Lehrstelle in der Palastküche zu verschaffen als Gegenleistung dafür, dass Eryn an dem Wettkampf teilnahm.

Sie hörten ein weiteres Klopfen, und Plia schickte sich an, die Tür zu öffnen, doch Eryn hielt sie zurück. “Nein, du bist nicht als meine Dienerin hier. Zumindest jetzt noch nicht. Du bist mein Gast, und als solcher brauchst du die Tür nicht zu öffnen.”

Junar wehte herein, einen großen, schwarzen Sack über ihre Schulter geschwungen. Sie setzte ihn auf der nächsten verfügbaren freien Fläche ab. “Meine Güte, das ist schwer!”

“Neue Tasche?”, fragte Eryn und beäugte die Monstrosität. “Was hast du da drin? Dein gesamtes Geschäft?”

“Nein, nur ein paar Sachen, die jede aufstrebende, begehrte Schneiderin benötigt, um professionell arbeiten zu können.” Sie grinste. “Orrin hat sie für mich anfertigen lassen. Ich habe mich entschieden, dass ich ihm erlaube, mich gelegentlich zu beschenken. Um ihn glücklich zu machen.”

“Um ihn glücklich zu machen? Wie rücksichtsvoll von dir”, grinste Eryn.

“Plia, mein liebes Kind!”, sagte Junar und küsste das Mädchen auf die Wangen. “Sieh dich an, du bist gewachsen! Und wirst wohl noch weiterwachsen für die nächsten drei oder vier Jahre. Ich denke, das werden wir bei der Länge berücksichtigen müssen, damit dir die neuen Sachen länger passen.” Dann drehte sie sich zu ihrer Freundin. “Was ist mit dir? Du hast bisher auch nichts für die Expedition in Auftrag gegeben. Sag mir nicht, dass du vorhast, mit den schönen Stadtkleidern, die ich dir gemacht habe, durch den Wald zu stapfen? Dafür würde ich dir die Haut bei lebendigem Leibe abziehen!”

Eryn seufzte. “Dann sage ich das wohl besser nicht und bestelle stattdessen einige Hosen und Oberteile, die sich für das Stapfen eignen, schätze ich mal?”

“Braves Mädchen”, nickte die Schneiderin offensichtlich zufrieden und wandte sich wieder an Plia. “Dir ist klar, dass du auch Hosen tragen wirst müssen? Ich hoffe, das wird nicht zu unangenehm für dich. Aber ein Kleid ist wirklich keine gute Wahl, wenn man bedenkt, wohin ihr wollt.”

“Das geht schon in Ordnung, es stört mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, ich freue mich darauf. Hosen erscheinen mir so viel praktischer, und trotzdem müssen wir die ganze Zeit Kleider tragen!”

Junar seufzte. “Oh, nein. Das ist Eryns schlechter Einfluss. Als Vorbild ist sie ganz klar nicht geeignet, zumindest nicht wenn es um Mode geht.”

“Sagt die Frau, die meine Kleidung macht”, kommentierte besagtes Vorbild. “Das ist keine sehr schmeichelhafte Einschätzung deiner eigenen Fähigkeiten, liebste Freundin.”

“Meine Fähigkeiten sind nicht das Problem, Eryn, sondern der Widerstand, auf den sie ständig stoßen”, schoss sie zurück.

“Doch wohl nicht ständig? Was ist mit all den Kleidern, die du für mich genäht hast? Ich habe jedes einzelne davon getragen, oder etwa nicht?”

“Das ist wohl wahr”, gab Junar zu, “aber das war jedes Mal ein Kampf. Plia, mein Schatz, warum ziehst du nicht deine Schuhe und das Kleid aus und kletterst auf diesen Stuhl hier? Ich würde jetzt gerne deine Maße nehmen.”

Plia zog sich gehorsam aus und stieg in ihrer Unterwäsche auf den Stuhl. Junar fragte sie nach ihren bevorzugten Farben und den Arbeiten, die ihr während der Expedition übertragen werden würden, um den Schnitt und das Material an die Herausforderungen anzupassen.

“Eryn, ich nehme an, du wirst im Dreck nach Pflanzen graben, auf dem kalten, harten Boden knien, auf Felsen herumklettern und eine Menge anderer Dinge tun, die alles, was ich dir mache, strapazieren und zerreißen werden?”

“Absolut richtig”, bestätigte sie fröhlich. “Und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue.”

“Ja, das kann ich mir vorstellen. Wenn etwas nicht damenhaft ist, kann ich mich darauf verlassen, dass es dir gefällt. Das heißt, dass ich dir ein paar zusätzliche Hosen anfertigen werde. Lord Enric würde es mir nicht danken, wenn ich dich unter all diesen Männern mit zerrissener Kleidung herumlaufen ließe.”

“Ja, wir sollten uns wirklich darauf konzentrieren, was Enrics Bedürfnisse für diese Expedition sind, nicht wahr?” Eryn verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

“Das solltest du wohl besser. Seine Beschützerinstinkte sind sehr stark, wenn es um dich geht. Ich wette, er ist nicht allzu glücklich darüber, dass du ihn so lange allein lässt, um dich mit so vielen Fremden in ein Abenteuer zu stürzen.”

Die Magierin seufzte. “Beschützerinstinkte? Versuch es stattdessen mit besitzergreifend. Er ist ein erwachsener Mann. Du musst ihn nicht bedauern. Er wird sich wohl irgendwie beschäftigen können, solange ich weg bin.”

Junar wirkte überrascht. “Du bist unglaublich unsensibel! Ich frage mich, ob es dich wirklich so wenig kümmert, wie sehr er dich vermissen wird, oder ob du das einfach nur vorgibst.”

“Jetzt hör aber auf! Ich lebe jetzt gerade mal einen Monat lang mit ihm zusammen! Ich wage zu behaupten, dass er meine Abwesenheit irgendwie überstehen wird. Und wir reden hier von zehn Tagen, nicht zehn Monaten!”

Plias Blick sprang, fasziniert von dem Austausch, von einer Frau zur anderen und wieder zurück.

Die Schneiderin seufzte und schüttelte den Kopf. “Ich hoffe wirklich, dass du ihn dort draußen in der Wildnis so richtig vermissen wirst. Wenn du nachts allein in deinem frostigen Lager liegst, dich niemand in den Armen hält und deine Decke das einzige ist, was dich wärmt. Das würde dich im Nu dazu bewegen, ihn mehr zu schätzen.”

“Denkst du nicht, dass das Frieren in der Wildnis mich eher dazu bringt, sein Quartier zu schätzen als ihn selbst?”, erwiderte Eryn und duckte sich rasch, als ein zusammengerolltes Maßband auf sie zugeflogen kam.

* * *

Eryn hob die Papiere hoch, die im Laufe des Tages für sie abgegeben worden waren. Enric hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, diese zu sammeln und auf der Kommode neben der Tür zu hinterlegen. Die war sie noch immer nicht losgeworden, so wie sie es geschworen hatte, nachdem sie sich in einer beschwipsten Nacht den Zeh daran gestoßen hatte.

Es war der dritte von Rolan’s Berichten, den sie bisher erhalten hatte. Er schickte sie regelmäßig jeden zweiten Tag, was ihr sehr gut passte. Er hatte begonnen, die Gegenstände, die sie ihm aufgetragen hatte zu besorgen, zusammenzutragen und in einem Lagerraum zu hinterlegen. In den letzten sechs Tagen hatten sie nicht mehr als kurze Nachrichten ausgetauscht, Fragen gestellt und beantwortet. Er hielt sie mit Kopien der Zettel für ihre Akte auf dem Laufenden, darunter eine Liste mit den Namen aller Teilnehmer, Checklisten mit Fortschrittsberichten und Vorschlägen, wie man die Zeichnungen sicher transportieren konnte. Die verfügbaren Boxen und Truhen waren für den Transport in einer Kutsche gedacht und für einen Pferderücken ungeeignet, weil sie viel zu sperrig und schwer waren. Eine Möglichkeit war, die Papiere die ganze Zeit über mit einem Schild zu schützen, aber das erschien ziemlich unpraktisch. Eine weitere Idee war, sie in ein Öltuch einzuschlagen, was auf jeden Fall eine Überlegung wert war. Vielleicht konnte Lord Poron dabei behilflich sein, hier eine brauchbare Lösung zu finden. Sie würde Rolan anweisen, mit ihm in Kontakt zu treten.

* * *

Eryn hob eine der flachen Holzboxen hoch, die Rolan zu ihrem zweiten Treffen gebracht hatte, und wog sie in einer Hand.

“Die ist ziemlich schwer”, kommentierte sie. “Dir ist schon klar, dass wir auf Pferden durch den Wald reiten, oder? Und dass wir mehr als eine davon brauchen, da sie ziemlich flach sind?”

Der junge Mann biss die Zähne zusammen. “Zur Auswahl stehen entweder ein wenig mehr Gewicht oder nasse Papiere. Trefft Eure Wahl.”

Zu ihrer Überraschung stellte Eryn fest, dass sie diebische Freude dabei empfand, ihren Assistenten zu piesacken und fragte sich, ob sie deswegen zerknirscht sein sollte. Nein, entschied sie, sicher nicht. Aber zumindest war ihr jetzt klar, warum es Lord Tyront so viel Vergnügen bereitete, sie zu reizen. Die Privilegien des Führens, sinnierte sie. Vielleicht würde sie sich ja doch noch daran gewöhnen, eine Position mit Autorität und Wichtigkeit im Orden innezuhaben…

“Hmm. Warum ist die Box überhaupt so schwer?”

Er nahm sie ihr wortlos aus den Händen, öffnete einen Verschluss und ließ eine weitere, noch flachere Box herausgleiten.

Eindrucksvoll, dachte sie. Zwei Boxen, die nahtlos ineinander glitten, um zu verhindern, dass Wasser durch eine Öffnung eintreten konnte. Die Oberfläche war glatt, wahrscheinlich mit einer Art Ölfarbe behandelt, um das Wasser abzuhalten.

“Interessant. Was denkst du, wie viele Blätter in eine davon hineinpassen?”

Rolan zuckte mit den Achseln. “Ich habe es geschafft etwa zwanzig hineinzustopfen, aber sie sehen nicht mehr so gut aus und sind verknittert, wenn man sie wieder herausnimmt. Fünfzehn sollten in Ordnung gehen.”

Sie biss sich auf die Unterlippe während sie zusah, wie er die Boxen wieder ineinanderschob. Er hatte ihre Frage vorausgesehen und es zuvor ausprobiert. Das war beachtlich. Nicht gerade das, was sie erwartet hätte von jemandem, der solch offensichtlichen Widerwillen zeigte, wenn es darum ging, mit ihr zu arbeiten.

“Ich denke, dann werden wir vier Boxen nehmen. Nicht einmal Vern sollte es schaffen, während unseres Ausflugs mehr als sechzig Zeichnungen fertigzustellen. Und wir werden wohl ohnehin kaum auf so viele verschiedene Pflanzen stoßen.”

Er zog sein Notizbuch heraus, ein kleineres dieses Mal, und machte eine Anmerkung.

“Wie geht die Planung sonst voran? Irgendwelche Schwierigkeiten soweit?”

“Nein”, sagte er nur und zuckte dann mit den Schultern. “Außer Eure Möbel. Die brauchen eine Menge zusätzlicher Packtiere, und die sind zu dieser Jahreszeit nicht so leicht zu kriegen.”

Sie blinzelte. “Meine was?”

“Eure Möbel. Tisch, Stuhl…” Seine Stimme verstummte aufgrund ihres Gesichtsausdrucks.

Sie betrachtete ihn aus zu Schlitzen verengten Augen und fragte sich, ob er sich über sie lustig machte.

“Was? Ihr seid eine Frau! Und noch dazu eine wohlhabende. Man erwartet, dass Ihr mit Stil verreist.”

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. “Und du bist ein Idiot, und was für einer. Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich mit einem Tisch und Stühlen durch den Wald reisen würde und mich dann über das Gewicht von Papierboxen beschwere? Benutz dein Gehirn, mein lieber Junge!” Sie sah, wie er bei der Anrede zusammenzuckte und musste zugeben, dass sie womöglich nicht ganz angemessen war. Sie selbst immerhin nur wenige Jahre älter.

“Woher soll ich denn wissen, dass Ihr auf einem Baumstamm sitzen und auf dem harten Boden schlafen wollt?”

“Noch vor einem Jahr habe ich meine eigenen Kräuter gesammelt. Wie hätte ich denn einen Tisch mitschleppen sollen? Auf dem Rücken?” Sie schnaubte bei der Vorstellung.

“Fein”, schnappte Rolan. “Dann wäre Ihre Ladyschaft vielleicht so freundlich, mir eine Liste mit dem zukommen zu lassen, was sie auf die Expedition mitzunehmen gedenkt?”

“Nein”, erwiderte sie mit einem süßen Lächeln. “Ladyschaft wird nichts dergleichen tun. Sie ist ein großes Mädchen und wird ihre Sachen selbst zusammenpacken. Sie lässt sich aber dazu herab, dir mitzuteilen, dass ein Packtier für sie selbst und das Dienstmädchen ausreicht. Außer du hast geplant, dass ich noch ein paar weitere schwer transportierbare, nutzlose Sachen mitschleppe?”

Rolan schloss für einen Moment die Augen, wie um sich zu sammeln, und sah sie dann mit kaum verhülltem Verdruss an. “Ist das alles? Kann ich jetzt gehen?”

“Ja, wenn du sonst keine Fragen mehr hast?”

“Nein”, antwortete er in einem Tonfall, der erahnen ließ, dass er sich lieber sein eigenes Bein abnagen würde, als länger als nötig mit ihr zu reden. Er verbeugte sich rasch, ohne sie anzusehen, bevor er die Tür des Besprechungszimmers hinter sich schloss.

Sie grinste und schüttelte den Kopf, als er weg war. Warum hatte sie nur jemals gezögert, um einen Assistenten zu bitten?

Kapitel 3

Die Geste

Eryn gähnte, als sie die letzte Seite des Buches, das Lord Poron ihr in der Woche zuvor gegeben hatte, umblätterte. Zu langwierig, zu langweilig, zu öde. Und dennoch musste sie sich einen Großteil davon einprägen. Sie sah auf das Blatt Papier mit ihren Notizen. Es war kaum etwas Greifbares darunter, nur Verschwörung und Töten. Erachtete man es wirklich als weise, den Leuten so etwas beizubringen? Warum brachte man ihnen nicht stattdessen den Wert von Ehrlichkeit und Direktheit nahe?

Sie sah, wie Lord Poron durch eine der hohen Doppeltüren eintrat und sich sein Gesicht bei ihrem übertriebenen Unmutsseufzer zu einem Lächeln verzog. “Ich sehe, dass Euch Eure derzeitige Lektüre nicht mehr Vergnügen bereitet als die anderen Bücher, meine Liebe. Aber zumindest bekommt Ihr jetzt eine kurze Pause. Kommt, wir müssen uns auf den Weg zu der Kundgebung machen.”

“Welche Kundgebung? Seid Ihr sicher, dass ich dorthin muss?”, fragte sie mit einem verwirrten Stirnrunzeln. “Ich bin immerhin nicht darüber informiert worden.”

“Oh ja, ich denke, das solltet Ihr. Ich könnte mir denken, dass es recht interessant werden wird.” Der Magier in seinen Siebzigern hob das vor ihr liegende Buch hoch und stellte es auf seinen Platz im Regal zurück.

Sie zuckte die Schultern. “Na gut. Wo findet sie statt?”

“Draußen auf dem Palastplatz. Vielleicht solltet Ihr einen kleinen Umweg machen, um Eure Robe zu holen. Wenn so viele von uns anwesend sind, schadet es nicht, die Leute an Euren Status zu erinnern, meine Liebe. Nun los, beeilt Euch. Wir wollen nicht zu spät kommen”, trieb er sie an und schob sie mehr oder weniger aus der Bibliothek hinaus.

“Ja, ja, ich komme schon”, seufzte sie. “Was wird denn Großartiges kundgetan?”

“Das werdet Ihr bald genug erfahren. Allerdings nur, wenn Ihr Euch beeilt und wir es dorthin schaffen, bevor es vorbei ist”, fügte er mit einem besorgen Gesichtsausdruck hinzu.

“Wisst Ihr was? Warum laufe ich nicht flink zu meinem Quartier, hole meine Robe und treffe Euch in ein paar Minuten beim Palasttor?”, schlug sie vor. Die Aussicht, von ihm den ganzen Weg zu ihrem Quartier und dann zum Palastplatz angetrieben zu werden, war nicht besonders erfreulich. “Ich verspreche, mich zu beeilen.”

Als sie sich wenig später die Robe über den Kopf gezogen hatte, ging sie flink in Enrics Arbeitszimmer, um auf den Platz hinabzusehen. Es hatten sich tatsächlich eine Menge Magier dort versammelt. Auch ein paar neugierige Zuschauer hatten ihren Weg dorthin gefunden und hielten Abstand zu den mächtigen und verehrten Mitgliedern des Ordens.

Seltsam, dachte sie und wandte sich um, um Lord Poron wie versprochen unten zu treffen. Wenn das so wichtig war, musste Enric darüber Bescheid wissen. Warum hatte er nichts erwähnt, besonders da sie ebenfalls dorthin sollte?

Lord Poron nickte, als er sie auf sich zulaufen sah und bedeutete ihr, den Palast als erste zu verlassen. Die Magier standen in Grüppchen beisammen und unterhielten sich ungezwungen. Von den Fetzen der Unterhaltung, die sie aufschnappte, konnte sie erkennen, dass sie ebenfalls keine Ahnung hatten, was sie erwartete.

Sie erblickte Orrin, der mit verschränkten Armen und seiner üblichen breitbeinigen Pose auf einer Seite der Menge stand. Er war kein Teil des Trubels, sondern nur ein Beobachter. Sie näherte sich ihm und blieb neben ihm stehen. Er quittierte ihre Anwesenheit mit einem knappen Nicken und fuhr damit fort, seine Magierkollegen zu beobachten.

Orrin war weder ungewöhnlich groß, wie Enric, noch strahlte er die beinahe schon zudringliche Autorität aus, die Lord Tyront umgab. Aber da war eine Art ruhiger, autoritärer Kraft und Selbstbewusstsein, die ihn herausragen ließen. Das und seine durchdringenden, grünen Augen ließen die Leute Abstand davon nehmen, ihm in die Quere zu kommen. Und natürlich seine Kampffertigkeiten, die sich in seiner aufrechten Haltung zeigten, als ob er sich in einem Zustand dauerhafter Wachsamkeit befand und jeden Moment mit einem Angriff rechnete. Die lange, dünne Narbe, die sich über eine Seite seines Gesichts erstreckte, trug nicht gerade dazu bei, diesen Eindruck von Gefahr abzumildern. Er musste in etwa in Lord Tyronts Alter sein, in seinen frühen Fünfzigern, aber sein Beruf als Kriegertrainer hatte ihm den beeindruckenden, muskulösen Körper eines Kämpfers beschert. Das und das Fehlen von jeglichem Grau in seinem vollen Haar ließen ihn etwas jünger erscheinen.

“Was soll das alles hier? Weißt du irgendetwas?”, fragte sie ihn und ließ ihren Blick über die versammelten Männer schweifen. Es mussten mehr als hundertfünfzig sein.

“Abwarten”, sagte er mit einem wissenden Lächeln.

Eryn versuchte gar nicht erst, ihn dazu zu bewegen, dass er preisgab, was er wusste. Das war zwecklos, wie ihr klar war. Er war von der starrköpfigen Sorte. “Weißt du”, sagte sie etwas erstaunt, “mir war gar nicht bewusst, wie viele Magier es gibt.”

Orrin sah sich um. “Es sind schon ein paar, ja. Obwohl im Moment nicht alle von uns hier sind. Die Kinder mit magischen Fähigkeiten sind nicht anwesend, und auch die meisten Mitglieder des Rates nicht.”

“Wie viele magisch begabte Kinder gibt es denn?”

“Etwa vierzig. Nicht alle von uns vererben das Talent.”

Dann sah sie Enric durch das Palasttor nach draußen treten und auf sie zukommen, natürlich in seine blaue Robe gekleidet. Ihr fiel auf, dass das Kleidungsstück anders aussah. Er hatte offensichtlich Zeit gefunden, Junar daran arbeiten zu lassen. Seine breiten Schultern und schmalen Hüften waren zu seinem Vorteil betont, dachte sie. Sie beobachtete, wie er sich näherte und schließlich vor den versammelten Magiern zum Stehen kam.

Das Murmeln um sie herum wurde immer leiser. Jeder, der einen Blick auf die blaue Robe erhaschte, verstummte. Als schließlich der Letzte von ihnen ruhig war, nickte Enric Orrin zu, der daraufhin neben ihn trat. Er schenkte Eryn kurz ein Lächeln und erhob seine Stimme, erhöhte die Lautstärke mit ein wenig Magie, damit ihn alle verstehen konnten.

“Guten Morgen an alle. Ihr fragt euch sicher, weshalb ich zu dieser Versammlung gerufen habe. Ich möchte die Sache mit den drei offiziell ausgeschriebenen Stellen für Heiler ansprechen.”

Eryn schloss die Augen. Nein, bitte nicht, dachte sie mit einem innerlichen Stöhnen. Keine verzweifelten Versuche, jemanden zu finden, der sich seiner Gefährtin erbarmte und ihr den Gefallen tat, mit ihr zu arbeiten. Oder die Gelegenheit ergriff, einen guten Eindruck auf Enric zu machen, ohne ein ernsthaftes Interesse am Heilerberuf selbst mitzubringen.

Sie öffnete die Augen wieder, als er fortfuhr. “Ich bin hier, um euch zu warnen, euch nicht vorschnell zu bewerben, da es eine Verpflichtung zu harter Arbeit ist und nicht wie das Kämpfen von einen hohen Level an magischer Stärke profitiert, sondern etwas viel Selteneres erfordert: einen überdurchschnittlichen Intellekt und die Bereitschaft, ihn einzusetzen.”

Eryn runzelte verwirrt die Stirn. Was war sein Plan? Warum riet er den Leuten davon ab, sich zu bewerben, wenn ohnehin niemand vorhatte, das zu tun? Sollte er es nicht lieber umgekehrt versuchen?

“Die Fähigkeit zu heilen ist in unserem Königreich noch immer eine Seltenheit”, fuhr er fort. “Daher müssen diejenigen, die sich für eine Bewerbung entscheiden, sich nicht nur der Herausforderung stellen, neue Fertigkeiten zu meistern und als Pioniere zu arbeiten; sie müssen auch bereit dazu sein, in ein paar Jahren die Verantwortung einer Führungsrolle zu übernehmen.”

Sie entspannte sich etwas. Nun, das klang schon besser. Dieses Argument würde zweifellos weniger starke Magier ansprechen, die kaum eine Chance hatten, in den Rängen der traditionellen Kriegerhierarchie aufzusteigen.

“Die Fertigkeit zu heilen wird uns stärken – als Königreich, als Krieger, als Magier und als Gesellschaft. Stellt euch vor, ihr seid verletzt oder anderweitig außer Gefecht gesetzt und könntet euch selbst und andere heilen. Stellt euch einen Bauern mit einem gebrochenen Bein vor, der nicht mehrere Wochen lang warten muss, bis er wieder arbeiten kann, um seine Familie zu ernähren. Denkt an eure Kinder, Gefährtinnen, Freunde und dass ihr mit einer Berührung eurer Hand ihre Schmerzen lindern könntet.” Er hielt kurz des Effekts wegen inne und fing so viele Blicke wie möglich ein, als er sich umsah. “Die Menschen in den Westlichen Territorien schätzen die Kunst des Heilens so hoch, dass jeder einzelne Magier die Grundprinzipien erlernt – auch ohne ein Heiler zu sein. Wir sind in der glücklichen Lage, unsere eigene Heilerin hier im Orden zu haben, die uns diese Fähigkeit lehrt und dieses Wissen mit uns teilt. Und wir werden diese Chance nutzen.”

Er zog einen Dolch aus seinem Ärmel und fuhr mit der scharfen Klinge, ohne auch nur das kleinste Anzeichen von Schmerz zu zeigen, über seine Handfläche. Dann hob er seine Hand hoch über seinen Kopf, damit jeder sie sehen konnte. Der Schnitt war ziemlich tief, das Blut rann in dunkelroten Rinnsalen seinen Unterarm hinab.

Was machte er nur? Eryn fragte sich, ob er wollte, dass sie neben ihn trat und eine kleine Heildemonstration für die Menge lieferte. Sie wartete auf sein Zeichen. Aber es kam keines.

Als er sicher war, dass die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf seine blutende Handfläche gerichtet war, schloss er die Augen und Eryn starrte ihn mit offenem Mund an. Er würde doch nicht… oder doch? Nein, das war unmöglich! Er wusste doch nicht wie!

Ihr Atem beschleunigte sich, als sie sah, wie sich der Schnitt langsam schloss und der Blutfluss verebbte. Er hielt seine Hand weiterhin über seinem Kopf erhoben und zog mit seiner anderen Hand ein sauberes, weißes Tuch aus einer Tasche, um das Blut abzuwischen. Dann präsentierte er der starrenden Menge eine perfekte, unversehrte Handfläche.

Enric sah zu seiner Gefährtin und war ungemein zufrieden mit der Überraschung und vollkommenen Ungläubigkeit auf ihrem Gesicht. Orrin zog daraufhin seinen eigenen Dolch aus einem Futteral in seinem Stiefel und zerschnitt seine Hand auf die gleiche Art und Weise. Auch er hielt sie sodann hoch in die Luft, damit jeder sie sehen konnte, bevor er seine Augen schloss. Eryn bedeckte ihren weit offenen Mund mit beiden Händen und sah zu, wie sich der Krieger heilte, genau wie sein Kollege es nur Augenblicke zuvor getan hatte.

Erst jetzt, wo das Murmeln rund um sie begann und mit jeder Sekunde lauter und erregter wurde, erkannte sie, wie vollkommen still es um sie herum gewesen war.

Enric war zufrieden mit der Reaktion auf seine kleine Demonstration, und er und Orrin gingen auf sie zu, beide mit unverkennbarer Selbstgefälligkeit ob ihres betäubten Gesichtsausdrucks.

“Aber… wie?” Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Das Wie war ziemlich klar, nicht wahr? Es gab nur einen anderen Heiler im Königreich, der es ihnen gezeigt haben konnte. “Ich meine wann?” Sie gestikulierte hilflos.

“Ich habe Vern gebeten, mir ein paar der grundlegenderen Dinge beizubringen, während du und Orrin eure Tanzstunden hattet. Ich habe ihn angewiesen, es für sich zu behalten. Ich wollte dich überraschen.” Er lächelte auf sie hinab. “Es scheint, als wäre mir das gelungen.”

Sie atmete langsam aus und schüttelte den Kopf, während sie erst jetzt über die Auswirkungen dessen nachdachte, was er gerade getan hatte, was beide Männer getan hatten. Sie hatten soeben der Gesamtheit der Magier im Königreich gezeigt, dass die zwei meistverehrten Krieger im Orden die Fertigkeit des Heilens hoch genug schätzten, dass sie Zeit und Mühe dafür aufwendeten, sie zu erlernen.

Enric beobachtete die Schlacht zwischen ihren Hemmungen, in der Öffentlichkeit Zuneigung zu zeigen, und dem Impuls, genau das zu tun. Er wartete ein paar Augenblicke, ob sie sich dazu durchringen konnte. Dann seufzte er und zog sie in seine Arme. “Komm her. Und du solltest gar nicht erst leugnen, dass dir genau das durch den Kopf gegangen ist”, murmelte er, bevor er ihr einen Kuss auf die Lippen drückte.

Sie zögerte einen Moment lang, dann schlang sie ihre Arme um ihn und presste ihn fest an sich, während ihre Wange auf seiner Schulter lag.

“Danke. Vielmals.”

“Gerne. Aber wir werden erst sehen müssen, ob das irgendetwas ändert. Erwarte nicht zu viel”, warnte er.

Sie ließ ihn los und lächelte. “Das macht keinen Unterschied. Die Geste war erstaunlich, ob sie nun darauf reagieren oder nicht. Ich schätze das wirklich.” Sie wandte sich an Orrin, hob ihre Arme, um ihn ebenfalls zu umarmen und stöhnte leicht, als er sie nicht gerade zärtlich drückte.

“Keine Luft”, keuchte sie mit einem übertriebenen Erstickungsanfall.

Er lachte leise. “Du bist noch immer zu weich. Ich hätte gedacht, dass sich das mit deinem Kampftraining in der Zwischenzeit von selbst erledigt hätte, besonders mit deinem neuen Trainingspartner.”

“Wenn du Junar genauso umarmst, dann wirst du deine neuen Heilerfertigkeiten oft genug brauchen”, lachte sie und küsste seine Wange. Als sie sich umsah, erkannte sie Vern, der grinsend auf sie zukam.

“Das war vielleicht eine Vorstellung, was? Kannst du hören, wie sie reden? Sie sind total verwirrt”, strahlte er, als wäre er glücklich über einen gelungenen Streich. “Und dein Gesicht war ein Anblick! Dein Mund war weit offen, deine Augen sind hervorgetreten… Sehr elegant, Lady Eryn.”

Sie schnipste ihre Finger gegen sein Ohrläppchen und grinste, als er es rieb. “Vorsicht, Junge. Ich könnte sonst entscheiden, dass du nicht autorisiert warst, Heilerstunden zu geben und daher bestraft werden musst.”

“Nicht autorisiert?”, schnaubte er. “Du denkst, dass Lord Enric nicht autorisiert ist, mich zu autorisieren? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatte er noch einen höheren Rang als du.”

“Ja”, stimmte Enric zu, “das war auch mein Eindruck. Und was auch immer sie benutzt, um dich zu bedrohen, kannst du getrost als nichtig betrachten.”

“Nett”, erwiderte sie. “So viel zu meiner Autorität.”

* * *

“Eine nette Vorführung”, kommentierte Tyront und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. “Und noch dazu recht effektiv. Ich habe seit gestern insgesamt vier Bewerbungen erhalten.”

Enric zog seine Augenbrauen nach oben. “Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten. Hast du Eryn schon davon erzählt?”

“Nein. Ich will sie mir erst genauer ansehen.”

“Sag mir nicht, dass du die Kandidaten, die du nicht befürwortest, vorher aussortierst? Sie würde dir nie wieder vertrauen, wenn sie das herausfände.”

Tyront beeilte sich, diese Bedenken zu zerstreuen. “Nein, selbstverständlich nicht. Wofür hältst du mich? Sie ist diejenige, die mit den Leuten arbeiten muss, die sie sich aussucht, was also wäre mein Vorteil? Ich bin nur neugierig.”

“Warum überlässt du ihr die Auswahl dann nicht vollständig?”, erkundigte sich Enric.

“Weil es keinen guten Eindruck macht, wenn ich ihr im Zusammenhang mit dem Heilen alles allein überlasse. Und es zwingt sie auch dazu, gelegentlich mit mir zusammenzuarbeiten. Das ist etwas, woran sie sich gewöhnen muss.” Er grinste boshaft. “Es scheint, als würde ihr ihr neuer Assistent ebenfalls das eine oder andere über Führung beibringen.”

“Warum? Was hast du gehört?”

“Nicht so sehr gehört als gelesen”, sagte Tyront und nahm zwei Briefe von seinem Schreibtisch. “Der junge Rolan ist nicht allzu glücklich darüber, mit ihr arbeiten zu müssen, soviel kann ich dir sagen.”

“Berichte?”

“Nein, besser. Beschwerdebriefe.” Er hielt das erste Blatt hoch und las vor: “Lady Eryn scheint es als angemessen zu erachten, mich wiederholt mit dem beleidigenden Ausdruck ‘Idiot’ zu betiteln. Ich erachte dies nicht als professionelles Verhalten und denke zudem nicht, dass diese Regelung langfristig zur beiderseitigen Zufriedenheit funktionieren kann. Ich wäre somit ewig dankbar, wenn Ihr Euch imstande sehen würdet, eine andere Position für mich zu finden.”

“Oh ja, das klingt in der Tat nach ihr”, bemerkte Enric und seufzte.

“Warte, da ist noch einer. Das ist genau genommen der Erste. Er muss ihn kurz nach ihrem ersten Treffen geschrieben haben”, sagte Tyront und begann erneut vorzulesen: “Lady Eryn hat mich heute mit körperlicher Gewalt bedroht für den Fall, dass ich es versäume, ihre Forderungen zu erfüllen. Ich zitiere: ‘Ich werde deinen jämmerlichen Hintern von hier bis zum Meer treten’ und ‘Wenn ich nichts von dir höre, werde ich kommen und dich finden. Und dich zum Reden bringen.’ Ich bin ernsthaft um meine persönliche Sicherheit besorgt und ersuche Euch dringend darum, Eure Wahl für meine Stelle noch einmal zu überdenken. Sie hat des Weiteren damit gedroht, mich ihre Geringschätzung spüren zu lassen, indem sie mich in der Öffentlichkeit erniedrigende und peinliche Aufgaben durchführen lässt.” Er ließ beide Blätter sinken. “Führungspotential wie es im Buche steht.”

“Was wirst du deswegen unternehmen?”

“Ich?” Tyront schüttelte den Kopf und lächelte breit. “Nicht das Geringste. Und warum sollte ich? Ich freue mich auf seine Nachrichten, sie amüsieren mich. Und er hält mich unabsichtlich auf dem Laufenden darüber, was sie so treibt. Sozusagen ein unbezahlter Agent. Ein sehr nützlicher junger Mann.”

Enric grinste und schüttelte den Kopf. “Du durchtriebener, alter Halunke. Hat dir Eryn ebenfalls irgendwelche Briefe geschickt, um dich dazu zu bewegen, dass du deine Meinung änderst?”

“Nein, überhaupt nichts. Aber ich wäre sehr daran interessiert, was sie zu sagen hat. Ich schätze, ich werde sie um einen Fortschrittsbericht bitten müssen. Wenngleich ich befürchte, dass es einige Zeit in Anspruch nehmen wird, ihn zu lesen. Ihre Handschrift wirkt etwas… ungeduldig, um es milde auszudrücken. Und nachdem ich regelmäßig Orrins Gekritzel entziffern muss, will das etwas heißen. Ich gehe davon aus, dass sie nicht allzu angetan davon ist, Berichte zu schreiben?”

“Nein, nicht wirklich. Wäre ihr Terminplan nicht so voll, würde ich stattdessen regelmäßige Treffen vorschlagen.”

“Ich werde darüber nachdenken. Wir können das besprechen, wenn sie von ihrer Expedition zurückgekehrt ist.” Er sah den jüngeren Mann an. “Hast du dich schon an den Gedanken gewöhnt, dass sie zehn Tage lang mit einem Haufen Fremder durch die Wälder streifen wird? Es sind nur mehr sieben Tage, bis es losgeht, wenn ich mich nicht irre.”

Enric seufzte. “Nein, nicht wirklich. Ich bin noch immer nicht glücklich darüber, aber sie ist fest entschlossen, es zu tun und ich sehe ein, warum. Sie ist jetzt seit einiger Zeit in der Stadt eingesperrt. Nachdem sie auf dem Land aufgewachsen ist, kann ich verstehen, dass sie für eine Weile von hier weg will.”

“Du machst dir keine Sorgen darüber, dass sie nicht zurückkommen könnte, oder?”

“Nein”, sagte er mit gerunzelter Stirn. “Warum? Denkst du, das sollte ich?”

Tyront grinste. “Woher soll ich das wissen? In dieser Hinsicht habe ich keinerlei geheime Informationen von meinen Agenten erhalten, wenn es das ist, worauf du hinaus willst. Keine geheimen Pläne zur Flucht aus dem Königreich, die mir zu Ohren gekommen wären. Sie hat übrigens alle ihre Tests erfolgreich abgelegt. Zumindest diejenigen, die sie schon hinter sich hat. Da ist noch immer einer in Politischer Strategie offen, denke ich. Lord Poron will sie in den nächsten Tagen über einen Teil der Bücher testen.”

“Gut. In den letzten Wochen hat sie ihre Bücher sogar mit ins Bett genommen, also ist es gut, dass das nicht vergebens war.” Enric spitzte die Lippen. “Es gibt da etwas, worüber ich nachgedacht habe. Ein paar von Verns Unterrichtsstunden wurden aufgrund seines Heilertrainings verschoben. Ich habe mich gefragt, ob er nicht zwei oder drei seiner Gegenstände gemeinsam mit Eryn anstatt dem Rest der Klasse fortsetzen könnte. Er ist klug genug, um mit einer höheren Lerngeschwindigkeit zurechtzukommen.”

“Und du denkst dabei natürlich überhaupt nicht an deine Gefährtin, sondern nur an die Vorteile für den Jungen?”, fragte Tyront milde.

Enric überlegte genau, bevor er darauf antwortete: “Überhaupt nicht wäre vielleicht nicht ganz korrekt, aber da der Junge erheblich davon profitieren würde, denke ich nicht, dass ich Eryn hier ungebührlich bevorzuge.”

“Ich verstehe”, antwortete Tyront langsam. “Dann achten wir wohl besser darauf, dass wir den Vorteil für den Jungen betonen, wenn wir es seinen Lehrern mitteilen. Es könnte sonst so erscheinen, als ob du versuchtest, den Orden umzukrempeln, um deine Gefährtin glücklich zu machen. Und diesen Eindruck wollen wir doch wohl vermeiden, nicht wahr?”

Enrics Augen verengten sich. “Du denkst, ich bin ein verliebter Narr, oder?”

“Spielt es eine Rolle, was ich denke?”, sagte er mit einem dünnen Lächeln und wurde dann wieder ernst. “Enric, du hast in all den Jahren niemals irgendwelche Forderungen gestellt oder um Gefälligkeiten gebeten, seit du in die Ränge der Macht aufgestiegen bist. Aus meiner Sicht steht dir ein wenig Narrheit durchaus zu. Ich habe lange darauf gewartet, dass du eine Gefährtin findest. Und solange deine Pflichten dadurch nicht vernachlässigt werden, habe ich kein Problem damit, mit dir hin und wieder etwas nachsichtig zu sein.”

Der jüngere Mann nickte langsam und verinnerlichte die Bedeutung von Tyronts Worten. Großzügigkeit verpackt in eine Warnung. Das war typisch für Tyront.

* * *

Eryn seufzte und schüttelte den Kopf über die Nachricht, die sie soeben von den Apothekern erhalten hatte. Es waren nur noch drei Tage bis zum Beginn der Expedition übrig. Offenbar dachten sie, dass dies genau der richtige Zeitpunkt wäre, um einen Lehrplan für das Training, das sie gemäß der Vereinbarung mit dem Orden zu absolvieren hatten, zu verlangen. Sie hatte keinerlei Absicht, noch vor ihrer Abreise einen zu erstellen. Besonders, da das Heilergebäude ohnehin noch nicht fertig war – und das war immerhin der Ort, an dem der Unterricht stattfinden sollte.

Eine Idee ließ ihre Augen schelmisch aufblitzen. Sie würde die Apotheker an Rolan verweisen. Zumindest würde ihn das beschäftigen, bis sie wieder zurück war. Sie waren ziemlich fordernd, und die Gespräche mit ihnen waren nicht eben angenehm. Und es konnte ohnehin nicht schaden, sie für die Zukunft bereits jetzt daran zu gewöhnen, dass sie sich an ihren Assistenten wenden mussten.

Sie blickte zurück zu dem letzten der Bücher, das sie für ihre Prüfung mit Lord Poron morgen noch durchgehen musste. Zehn Tage ohne irgendwelche Bücher über was auch immer der Orden als nützliches Wissen erachtete, keine Tests, nichts. Das erschien ihr nun wie ultimativer Luxus. Sie schüttelte ihren Kopf über ihre umherwandernden Gedanken und erhob sich, um ihr Glas aufzufüllen. Sie hatten es erfolgreich bewerkstelligt, dass einer Frau, die Bücher ihr Leben lang verehrt und sich an ihnen erfreut hatte, nun vor ihnen graute und sie davon träumte, mehrere Tage lang keine einzige Seite lesen zu müssen. Wenn der Orden das als effektive Ausbildungmethode erachtete, würde sie mit ein paar Leuten hier sprechen müssen.

Sie warf einen Blick auf die Kiste voll mit ledernen Hosen, die kurz zuvor geliefert worden waren und entschied, dass sie sich eine Pause von ihrem Buch verdient hatte. Junar war ebenfalls recht fleißig gewesen. Zusätzlich zu ihrer regulären Arbeit hatte sie die Kleidungsstücke für Vern, Plia und Eryn fertiggestellt.

Rolan hatte sie durch einen Boten wissen lassen, dass sämtliche Vorräte, Koch- und Schlafutensilien, Papierboxen und sonstige Ausrüstung beinahe vollständig und bereit zum Zusammenpacken waren. Alles schien nach Plan zu laufen.

Sie sah nachdenklich zu der Tür, hinter der Enric arbeitete. Je näher der Tag der Abreise rückte, desto rastloser fühlte sie sich. Zuerst hatte sie es der Aufregung zugeschrieben, aber jetzt begann sie den Verdacht zu hegen, dass ein Teil von ihr ihn nur ungern zurückließ.

Was er für sie getan hatte, die Heilerstunden mit Vern, hatte sie berührt. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sie sehr gerne mochte, aber das… Es schien, als ob seine Zuneigung zu ihr tiefer ging, als sie erwartet hatte. Vielleicht war es sogar Liebe?

Sie erschauderte bei dem Wort. Ihr Vater hatte sie mehr als einmal davor gewarnt. Er hatte ihre Mutter geliebt, und diese Verbundenheit hatte sich für ihn nicht eben als Segen erwiesen. In ein anderes Land fliehen und all diese Zeit über seine wahre Identität verbergen zu müssen – das hatte es ihm eingebracht. Er hatte ihr gesagt, dass sie, seine Tochter, das einzig Gute war, das aus seiner Liebe entstanden war.

In den Jahren, die sie in ihrem kleinen Dorf verbracht hatte, hatte sie ein paar glückliche Paare gesehen, aber viele waren alles andere als das gewesen. Sie hatte Gewalt, Untreue, schwelende Unzufriedenheit, enttäuschte Hoffnungen und Frustration beobachtet. Und was all diese Gefühle auf lange Sicht aus Menschen machten. Da gab es Paare, die zum Zeitpunkt ihrer Kommitment-Zeremonie Glückseligkeit ausstrahlten und nur wenige Jahre später kaum noch in der Lage oder willens waren, einander in die Augen zu sehen. Es war erstaunlich, wie viel sich zwischen zwei Menschen verändern konnte, die einander ursprünglich mit Leib und Seele zugetan und in, nun ja, Liebe verbunden gewesen waren.

Dass ein Gefährte zurückgelassen wurde, kam auf dem Land nicht häufig vor. Es war wichtig, dass man zeigte, dass man den Lebensbund ehrte. Man nahm keine Rücksicht, wie viel Unzufriedenheit und Verbitterung zwischen den beiden Menschen herrschte. Sie hatten sich mit einem Eid, törichterweise in einer sehr optimistischen Stimmung geschworen, aneinander gefesselt. Ihn aufzulösen wäre wie Betrug. Und diejenigen, die selbst in einer unglücklichen Beziehung gefangen waren, erwiesen sich als die strengsten Tugendwächter, um sicherzugehen, dass die anderen ebenso sehr litten.

Sie war entschlossen gewesen, niemals in diese Falle zu geraten. Es wäre kaum möglich gewesen, ihre magischen Fähigkeiten geheim zu halten, wenn sie einer anderen Person ständig so nahe gewesen wäre. Ganz zu schweigen davon, dass sie die Unglückseligkeit vermeiden wollte, die sie gesehen hatte.

Aber dann waren da der König und Enric mit ihren eigenen Ideen und Plänen gewesen. Enric hatte ihr am Abend ihres Kommitments gesagt, dass er ohnehin geplant hatte, sie um ihre Hand zu bitten, auch ohne die Einmischung des Königs. Er hatte ihr aber mehr Zeit geben wollen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie fragte sich, wie er reagiert hätte, wenn er sie eines Tages gefragt und sie ihn aus Angst vor zukünftigem Elend zurückgewiesen hätte.

Das waren jetzt jedoch unnütze Gedanken. Sie war nun in genau der Falle gefangen, die sie immer vermeiden wollte. Zu ihrer Erleichterung und Überraschung hatte sie sich bislang weniger als Folter, sondern als größeres Vergnügen erwiesen, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Aber emotionale Bindungen hatten auch ihre Nachteile. Was, wenn einer von ihnen eines Tages damit begann, den anderen zu verachten oder sich in jemand anderen verliebte? Oder sich in der Partnerschaft einfach nur langweilte?

Sie rieb mit den Händen über ihr Gesicht und schob diese Gedanken weit weg. Es gab keine Garantie, dass dies hier funktionieren würde. Warum also sollte sie es nicht genießen, solange es währte? Genau, dachte sie und seufzte über ihre eigene Torheit. Darum begann sie ihn auch bereits jetzt zu vermissen, noch bevor sie auch nur aufgebrochen war.

»Ende der Leseprobe«

 

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„Der Orden“ – Buch 1

Kapitel 1

Eryn

Die Luft war eisig und es schien, dass der Winter mit viel Schnee seinen Einzug halten würde.

Es war erst der Beginn dieser Jahreszeit, allerdings war sie bereits jetzt wesentlich rauer als die letzten Jahre, an die sie sich erinnern konnte.

Eryn beobachtete ihren Atem, der in blassen Wolken vor ihrem Gesicht kondensierte. Dann hob sie ihren Blick zum sternenübersäten Himmel über sich. Er war ein unvergleichlicher Anblick in solch einer klaren, wolkenlosen Nacht. Trotzdem freute sie sich auf ihre Rückkehr nach Hause zu einem gemütlichen Feuer und einem warmen Getränk. Sie hasste diese Kälte seit sie denken konnte. Ihre bevorzugte Jahreszeit waren die heißen Sommermonate, ganz gleich wie sehr sie die Arbeit in der Hitze erschöpfte. Der Sommer fühlte sich auf jeden Fall wesentlich besser an als diese klirrende Kälte.

Sie presste ihre Tasche mit den Wurzeln fest an sich und eilte durch die dunkle Hauptstraße des kleinen Dorfes. Sie hätte schon vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein sollen, aber die Wurzeln waren dieses Jahr schwer zu finden. Vermutlich hatten sich die Dorfbewohner ebenfalls auf die Suche danach gemacht, um sie auf den Märkten zu verkaufen.

Ihr Vater würde sie bereits ungeduldig erwarten und jede Minute – oder jede zweite – einen Blick aus dem Fenster werfen. Er wurde es nicht müde, ihr zu erklären, wie gefährlich es für ein fünfzehnjähriges Mädchen war, allein in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Eryn unterdrückte jedes Mal ein Seufzen, wenn er eine weitere seiner Tiraden darüber startete, welche zahllosen Gefahren hinter jeder Ecke lauerten. Ihre späte Rückkehr würde ihr eine weitere einbringen, daran bestand kein Zweifel.

Nur noch vorbei an zwei weiteren Häusern, und sie würde den schmalen Pfad erreichen, der zu dem abgeschieden gelegenen kleinen Haus führte, das sie mit Treban, ihrem Vater, bewohnte.

Treban war der Dorfheiler, und zwar ein ausgezeichneter. Sein guter Ruf war weit verbreitet. Die Kranken und Verletzten kamen von weit her, um sich von ihm helfen zu lassen – kaum jemals vergebens. Er war ungemein stolz auf seine Arbeit und hatte noch niemals jemanden fortgeschickt, auch wenn der- oder diejenige nicht in der Lage war, ihn zu bezahlen.

Diejenigen jedoch, die er behandelte, waren stets bestrebt, einen Weg zu finden um ihn zu entschädigen – auch wenn es längere Zeit dauerte. Es war nicht klug, auf jemanden wie ihren Vater einen schlechten Eindruck zu machen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass man seine Dienste eines Tages wieder benötigte. Zuweilen trafen Pakete mit Dankesbriefen ein, die seine Großzügigkeit priesen. Ihr Vater führte keine Aufzeichnungen darüber, wer ihn bezahlt hatte und wer nicht. Es kümmerte ihn schlicht und einfach nicht.

Heilen war für ihn nicht einfach nur ein Mittel, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern dazu, den Menschen zu dienen und zu helfen. Er war überzeugt, dass sie das Gleiche für ihn tun würden. Manche belächelten seine Selbstlosigkeit als naiv. Seine Einstellung hielt ihn aber nicht davon ab, die Menschen so zu sehen, wie sie wirklich waren. Er wollte nur einfach nicht so sein wie sie. Er war ein Mann, der das Beste glauben wollte, sich aber der menschlichen Natur sehr wohl in ihren schlimmsten Ausprägungen bewusst war.

Und Eryn wusste, dass er genau aus diesem Grund immer wieder seiner Tochter verständlich zu machen versuchte, wie wichtig es war, dass sie auf sich aufpasste.

Irgendwo hinter einem der Häuser hörte sie einen Zweig brechen, nur eines der vielen Geräusche, die das Landleben mit sich brachte. Sie sagte sich, dass es sich wohl um ein kleines Tier handelte oder um jemanden, der ein paar Scheite Holz zum Kochen ins Haus holte.

Kein Grund nervös zu werden, beruhigte sie sich und verfluchte ihren Vater dafür, dass er sie dazu brachte, in jedem Schatten eine Gefahr und in jedem Geräusch ein böses Vorzeichen zu sehen.

Das nächste Geräusch war näher, gleich hinter ihr.

Sie schluckte, holte tief Luft, drehte sich um und seufzte erleichtert auf, als sie Krion, den Sohn des Bäckers, erkannte. Er war ein paar Jahre älter als sie, ein hochgewachsener, gutaussehender junger Mann. Er hatte stets ein Lächeln und ein Zwinkern für Eryn übrig, wenn sie in das Geschäft seines Vaters kam, um Brot zu kaufen.

Schon vor einer Weile hatte er begonnen, mit ihr zu flirten, und Eryn fühlte sich überaus geschmeichelt. Manche der anderen Mädchen ihres Alters und ältere hatten schon versucht, seinen Blick auf sich zu ziehen, und Eryn war sehr erfreut, dass er gerade sie ausgewählt hatte. Zumindest hoffte sie, dass sie die Einzige war, mit der er flirtete… Sie wäre am Boden zerstört, wenn sie jemals herausfände, dass er mit allen Mädchen so umging, sobald er ein paar ungestörte Momente mit ihnen verbrachte.

Ein paar andere Jungs hatten ebenfalls begonnen, ein Auge auf sie zu werfen, aber keiner von ihnen schaffte es so wie Krion, sie derart nervös zu machen.

Sie strahlte, als er näher kam, so wie immer, wenn sie ihn erblickte. “Was machst du denn hier draußen in der Kälte? Solltest du nicht zuhause sein?”

Seine hellen Zähne blitzten im Dunkeln, als er lächelte. “Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, kleine Eryn. Es ist gefährlich hier draußen in der Dunkelheit.”

Sie rollte mit ihren Augen: “Du klingst wie mein Vater!”

Er lachte: “Ich bringe dich wohl besser nach Hause, damit dir nichts passiert und dein Vater sich nicht aufregt.”

Sie fühlte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen. Er bot ihr an, sie nach Hause zu begleiten! Sie würde mit ihm den ganzen Weg bis zu ihrem Haus gehen, würde ihn ganz für sich allein haben! Das bedeutete, dass er sie mochte, nicht wahr? Er würde sie nicht begleiten, wenn er nichts für sie empfinden würde, richtig? Oder tat er es einfach nur aus der für ihn so typischen Galanterie?

Er wartete auf ihre Antwort. “Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, kleine Eryn, oder?”, neckte er sie.

Angst? Sie fühlte sich beinahe schwindlig vor Glückseligkeit und lächelte. “Nein, selbstverständlich nicht. Danke, das wäre fein.”

Sie folgten dem Weg wortlos bis sie das Dorf hinter sich gelassen und den schmalen Weg erreicht hatten, der zum Haus des Heilers führte.

“Wie gefällt es dir so, mit deinem Vater zu arbeiten? Das Heilen? Ich meine, dein Vater bildet dich doch zu einer Heilerin aus, oder?”

Sie nickte. “Ja genau, und ich finde es toll. Manchmal ist es wirklich mühsam, die ganze Nacht aufzubleiben, um jemandem zu helfen, der betreut und beobachtet werden muss, und dann nach nur zwei oder drei Stunden Schlaf mit der täglichen Arbeit weiterzumachen – aber glücklicherweise passiert das nicht zu oft. Aber zu sehen, wenn Leute zu uns kommen, denen es wirklich schlecht geht, und sie sich dann nach der Behandlung so viel besser fühlen – das ist wirklich großartig.” Hör auf zu plappern, ermahnte sie sich, so vertreibst du ihn bloß.

Vor der Kurve, die das Haus in Sichtweite bringen würde, stoppte er, trat an sie heran, legte seine Hände auf ihre Schultern und zog sie näher zu sich. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Würde er sie wirklich küssen? Ihr Gesicht glühte trotz der Kälte. Was für eine Schande, dass sie in der Dunkelheit nicht mehr als seine Silhouette erkennen konnte.

Seine Lippen senkten sich kühl auf ihren eigenen, kalten Mund, aber seine Zunge war warm. Sie legte ihre Arme um seine Mitte, lehnte sich an ihn und schmolz unter seiner Berührung dahin.

Als sie seine Hand auf ihrer Brust spürte, zog sie sich zurück und drückte sie entschieden weg. Er ließ seine Hand erneut dorthin wandern und wollte sie wieder näher zu sich ziehen.

“Nein”, sagte sie atemlos und schüttelte in der Dunkelheit ihren Kopf.

“Warum nicht? Du magst mich doch, oder nicht?” Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

Sie stieß ihn fester von sich. Da packte er eines ihrer Handgelenke, damit sie sich nicht weiter zurückziehen konnte. “Ich will das nicht, lass mich los!”

“Plötzlich zierst du dich? Wir wissen doch beide, dass es nichts anderes ist!” Er klang verärgert, als ob er nicht wirklich mit Widerstand gerechnet hätte, und schien ihn als persönliche Beleidigung zu empfinden.

Statt einer Antwort versuchte sie, ihn dorthin zu treten, wo ihr Vater es ihr gezeigt hatte. Er schaffte es knapp, ihrem Fuß zu entkommen und fluchte, als sie stattdessen seinen Oberschenkel traf. Sobald er mit beiden Händen nach seinem Bein griff, wandte sich Eryn in Richtung des Hauses und begann zu laufen.

Sie fühlte nach nur wenigen Schritten, wie seine Hand ihren Ellbogen umfasste und sie beinahe zurückstolpern ließ.

“Lass mich los, du Mistkerl!”, schrie sie und hoffte inständig darauf, dass ihr Vater sie hören und zu ihrer Rettung eilen würde.

Er hielt ihr den Mund mit seiner Hand zu und drückte sie nach unten auf den kalten, harten Boden; seine andere Hand tastete sich voran, um ihre Röcke hochzuschieben. Sie wand und krümmte sich unter ihm, trat nach ihm, versuchte ihn in die Hand zu beißen und sich von ihm zu befreien. Sie spürte seine kalte Hand auf ihrem Bauch, wie sie sich nach unten bewegte und fühlte, wie Tränen an ihren Schläfen hinabliefen. Tränen des Verrats, des Ärgers über sich selbst, der vollkommenen Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit.

Dann plötzlich spürte sie von einem Moment zum nächsten sein Gewicht nicht länger. Sie vernahm seinen überraschten Aufschrei und schließlich ein Geräusch, das klang, als würde jemand einen Schlag einstecken. Da war ein scheußliches Knacken, das nichts anderes als das Brechen eines Knochens sein konnte. Dann hörte sie Krions Stimme, als er sich fluchend davonmachte.

Sie konnte den Mann nicht sehen, erkannte aber den Geruch nach Kräutern, der ihren Vater stets umgab, bevor sich seine warmen Hände um die ihren schlossen und sie zurück auf ihre Füße zogen.

“Vater”, schluchzte sie, “er wollte…”

“Mir ist klar, was er wollte”, unterbrach sie die irritierend ruhige Stimme ihres Vaters. Sie spürte den mühsam im Zaum gehaltenen Zorn darin und drückte sich an ihn, als er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie zurück zum Haus brachte.

“Die Wurzeln…” Sie blieb stehen und versuchte zu erkennen, wo die Tasche gelandet war. Ihr Vater entdeckte sie zuerst, bückte sich und hob sie auf, bevor er seinen Arm wieder um ihre Schultern legte und seine Tochter an sich zog.

“Komm, mein Mädchen”, sagte er. “Bringen wir dich ins Haus. Du bist eiskalt.”

Sie fühlte sich auch kalt, durch und durch eisig. Es hatte sie ganz tief in ihrem Inneren getroffen. Nicht einmal das einladende Feuer, das sie durch die Fenster des Hauses erkannte, konnte sie trösten.

Sie rechnete mit Tadel, mit einer Maßregelung ob ihrer Sorglosigkeit, die sie dazu bewegt hatte, allein mit einem Jungen durch die Dunkelheit zu gehen, aber ihr Vater blieb stumm. Er nahm nur den Umhang von ihren Schultern und hängte ihn ordentlich an den Haken an der Wand neben seinen eigenen. Er hatte ihn nicht umgelegt, als er ihr zur Hilfe gekommen war.
Dann griff er nach ihrer Hand und zog sie zu seinem gemütlichen Sessel vor dem Feuer. Er verließ sie noch einmal kurz, und sie hörte das Geklapper von Geschirr, bevor er zur ihr zurückkehrte und vor ihr in die Hocke ging.

Er presste einen Becher mit einer klaren, dunklen, scharf riechenden Flüssigkeit in ihre Hand und wischte die Tränen weg, die ihre Wangen hinabliefen, während sie schweigend in seinem Sessel saß.

Sie machte keinerlei Anstalten zu trinken, also hob er ihre Hand mit dem Becher an, bis sie einen Schluck nahm. Die süße Flüssigkeit brannte sich ihren Weg den Hals hinab und brachte sie zum Husten. Fast augenblicklich fühlte sie, wie sich Wärme in ihrem Magen ausbreitete.

Sie blickte in das Gesicht ihres Vaters, das zwischen den Tränen immer wieder verschwamm. Still wartete sie noch immer auf die Tirade, die jeden Moment beginnen musste.

Eine Zeitlang sahen sie einander einfach nur an, schließlich sprach ihr Vater, zu ihrer Überraschung aber nicht, um sie zu tadeln, wie sie es erwartet hatte. “Es tut mir leid, mein Kind. Das ist meine Schuld.”

Sie starrte ihn an, fühlte, als wäre sie in einem absurden Traum gefangen.

“Was?”

Er schüttelte seinen Kopf. “Ich hätte dich warnen sollen. Ich hätte dich nicht wegen der Wurzeln losschicken sollen, wenn es so früh dunkel wird. Ich hätte stattdessen gehen sollen. Ich…”

Sie griff nach seiner Hand. Es war unerträglich, dass ausgerechnet er sich die Schuld dafür gab, was passiert war. Oder eher dafür, was er abgewendet hatte.

“Du hast mich gewarnt!”

“Nein.” Er befreite seine Hand aus ihrem Griff und fuhr sich durch sein graues, aber immer noch dichtes Haar. “Ich habe dich nicht vor ihm im Speziellen gewarnt.”

Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass sie innerlich noch weiter erstarren konnte. “Vor ihm im Speziellen?”, wiederholte sie beinahe lautlos.

“Letztes Jahr wurde ich zu einem jungen Mädchen im Dorf gerufen. Ihr war aufgelauert worden, und sie wurde…” Seine Stimme verebbte. “Sie sagte, dass es der Sohn des Bäckers gewesen war”, setzte er nach einer Weile fort. “Seitdem habe ich meine Augen und Ohren offengehalten, um gleich im Bilde zu sein, falls so etwas noch einmal passieren sollte. Und nun, jetzt wärst du beinahe…” Er brach erneut ab.

Sie saß bewegungslos, zu überwältigt, um zu sprechen. Nur ein einziger Gedanke drehte sich in ihrem Kopf: Der junge Mann, in den sie sich im Begriff war zu verlieben, war nichts anderes als ein Tier, das sich hilflosen jungen Frauen aufzwang. Das letzte an Zuneigung, das seinen Angriff überlebt hatte, verpuffte und wurde durch Härte und Kälte ersetzt.

“Ich werde zusehen, dass er dafür bezahlt”, presste Treban zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Sie blickte zu ihrem Vater auf und überraschte ihn, als sie ruhig sagte: “Nein.” Die Tränen trockneten noch auf ihren Wangen, doch der Schimmer in ihren Augen hatte sich von Verletzlichkeit zu stählerner Härte gewandelt. Er wollte widersprechen, doch sie meinte stattdessen: “Lass mich.”

* * *

Als Eryn am nächsten Morgen erwachte, stellte sie überrascht fest, dass es schon sehr spät war. Die Sonne stand bereits am Himmel, und normalerweise hätte ihr Vater sie schon lange geweckt. Sie war dankbar, dass er davon abgesehen hatte, denn die Nacht war alles andere als erholsam gewesen. Es hatte Stunden gedauert, bis sie endlich, trotz des Schlaftrunks ihres Vaters, in einen ruhelosen Schlaf gesunken war.
Sie zog sich an und ging nach unten, wo sie ihn in seinem Sessel sitzend vorfand. Er starrte in den Kamin. Das Feuer war niedergebrannt – es waren nur ein paar glühende Holzstücke übrig, die noch etwas Wärme abgaben. Als sie sich näherte, blickte er auf.

“Setz dich, Eryn. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden möchte.”

Sie drehte sich um, holte einen Stuhl vom Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Dann wartete sie, dass er zu sprechen begann.

“Ich hätte das bereits vor einiger Zeit tun sollen, aber ich habe es in den letzten paar Jahren immer wieder aufgeschoben. Ich wollte nicht sehen, dass du zu einer Frau heranwächst, anstatt mein kleines Mädchen zu bleiben.” Er seufzte: “Trotzdem, das Wissen darüber, welche Menschen es dort draußen gibt, hätte mich schon früher dazu bewegen sollen, als du noch jünger warst.”

Eryn runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.
“Ich sehe, dass ich dich verwirre”, lächelte er. “Du weißt, wie die inneren Organe einer Frau funktionieren. Ich habe es dir mehrmals gezeigt, du hast sogar kleinere Probleme selbst geheilt. Du bist mit dieser Gabe gesegnet, mein liebes Kind. Deshalb möchte ich etwas tun, um sicherzustellen, dass niemand jemals in der Lage sein wird, dir das anzutun, was diese Bestie gestern versucht hat.”

Sie begann, sich etwas unbehaglich zu fühlen.

“Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, Eryn. Ich spreche von einem magischen Schutz, der verhindert, dass weder ein Mann noch ein Objekt in deinen Körper eindringen kann, sofern du das nicht wünschst. Ich kann ihn ohne Schmerzen platzieren, und er wird niemals eine Last für dich sein. Du allein entscheidest, wer ihn passieren darf.”

Anders als andere Mädchen ihres Alters hatte sie kein Problem damit, über solche Themen mit ihrem Vater zu sprechen. Der menschliche Körper war für sie nichts Mysteriöses oder Schamhaftes, sondern wie ein offenes Buch. Ihre Magie ermöglichte es ihr, einfach die Augen zu schließen und sich anzusehen, wie alles funktionierte, herauszufinden, was Probleme verursachte und dann bereitzustellen, was auch immer benötigt wurde – entweder ein wenig Heilungsenergie oder Kräuter.

“Was passiert, wenn es jemand ohne meine Erlaubnis versucht?”, fragte sie neugierig.

“Es wäre eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung für denjenigen”, meinte er mit einem dünnen Lächeln und einem schadenfrohen Glitzern in seinen Augen.

“Irgendetwas, das dauerhaften Schaden verursacht?”, wollte sie hoffnungsvoll wissen.

“Du weißt sehr genau, wie ich darüber denke, unsere Fähigkeiten dazu einzusetzen, anderen Menschen Schaden zuzufügen”, sagte er mit einem warnenden Unterton.

Sie seufzte. Natürlich wusste sie es. Nur manchmal wäre es so unglaublich befriedigend, zumindest ein paar Unannehmlichkeiten verursachen zu dürfen. Ein Jucken hier, ein Ausschlag dort… Was war so schlimm daran?

Vor etwa fünf Jahren hatten sie sich hier niedergelassen, nachdem sie ungefähr ebenso lange von einem Ort zum nächsten gezogen waren. Sie war gezwungen gewesen, sich an ein Leben zu gewöhnen, das völlig anders war als jenes, das sie gekannt hatte. Sie war das verlegene neue Mädchen, das von anderen Kindern drangsaliert und beschimpft worden war. Ein wenig Rache wäre nett gewesen – besonders da niemals jemand daraufgekommen wäre, wer dahintersteckte.

Sie war verwirrt, als ihr Vater ihr erklärte, dass es in diesem Land keine Frauen mit der Gabe gab, nur Männer. Auf die Frage weshalb meinte er nur, dass er es nicht wisse.

Die nächste ungewöhnliche Sache war, dass alle diese Menschen hier die gleiche Haarfarbe hatten. Sie erinnerte sich dunkel, dass ihre eigene Haarfarbe ein sattes, dunkles Braun war. Hier fand man keine einzige Person mit dunklem Haar. Ihr Vater hatte ihre Haarfarbe von einem prächtigen, glänzenden Braun zu einer der vielen blonden Schattierungen hier verändert.

Die blonde Farbe zu erhalten war jedoch weniger einfach. Die Veränderung war nicht permanent, und sobald ihr Körper nicht länger aktiv die magische Energie bereitstellte, nahm ihr Haar wieder seine ursprüngliche Farbe an. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis ihr Unterbewusstsein dahingehend trainiert war, immer wieder den nötigen Fluss an Energie bereitzustellen – sogar im Schlaf. Sowohl damals als auch heute war sie noch zu jung und unerfahren, um die Technik zu erlernen. Sie war höchst komplex.

Aber die Erinnerung an das Leben zuvor war in den letzten zehn Jahren so stark verblasst, dass kaum noch etwas vorhanden war.
“Bist du einverstanden?”, sprach ihr Vater ungeduldig in ihre Gedanken.
“Ja.” Sie musste nicht wirklich darüber nachdenken. Ihr Vater würde es nicht vorschlagen, wenn es gefährlich oder unnötig wäre. “Wie funktioniert es?”

“Ich werde einen Schutz in deinem Unterleib platzieren. Solange du Lebenskraft hast, um ihn zu versorgen, wird er dort verbleiben. Sämtliche Flüssigkeiten werden weiterhin in der Lage sein, deinen Körper ohne Probleme zu verlassen.”

“Niemand kann ihn entfernen?”, fragte sie.

“Nur ein Magier, der stärker ist als ich. Und davon sollte es hier nicht viele geben”, fügte er mit einem selbstbewussten Schmunzeln hinzu.

Eryn wusste nichts darüber, sie war noch nie anderen Magiern begegnet, aber er selbst war sich dessen bewusst, dass er außerordentlich stark war. Aus diesem Grund hatte er auch seine Gefährtin in einem dummen Machtspiel verloren und musste mit seiner Tochter in ein anderes Land fliehen, wo er nun ein einfaches Leben führte. Er verbarg seine eigenen Fähigkeiten und die seiner Tochter und ging als gut ausgebildeter Apotheker durch. Die Tatsache, dass Eryn erste Anzeichen zeigte, selbst eine fähige Heilerin zu werden, stellte keinerlei Gefahr dar. Selbst dann, wenn sie sich – dank ihrer verborgenen Fähigkeiten – als ungewöhnlich gut darin erweisen sollte.

Schließlich wusste jeder, dass Frauen über keinerlei magische Kräfte verfügten.

* * *

Eryn holte tief Luft, als sie aus dem Fenster blickte und Prowel, den Bäcker, den Weg zu ihrem Haus entlangkommen sah.

“Vater”, rief sie eindringlich, “Prowel ist auf dem Weg hierher. Er sieht nicht glücklich aus.”

Ihr Vater trat auf die Tür zu und öffnete sie abrupt, bevor der Bäcker die Möglichkeit hatte, mit seiner erhobenen Faust dagegen zu schlagen. Er stolperte mehr oder weniger hinein.

“Was willst du?”, fragte ihr Vater ruhig.

“Du!” Prowel deutete mit dem Finger auf den Heiler, “Du hast den Arm meines Sohnes gebrochen!”

Ah, das war also dieses knackende Geräusch gewesen, sinnierte Eryn. Sie lächelte. Mehlsäcke schleppen würde für eine Weile wirklich schmerzhaft sein.

“Er hat meine Tochter attackiert.” Noch immer kein Zeichen von Aufregung.

“Er hat mir alles drüber erzählt – dass er sie geküsst hat, ist keine Rechtfertigung dafür, seinen Arm zu brechen, du dummer Narr!” Der Bäcker hatte zu schreien begonnen.

Das war nicht klug, überlegte Eryn. Ihr Vater reagierte nicht besonders gut auf so etwas. Er mochte in seinem grauen Gewand wie ein Gelehrter wirken, mit den langen Haaren und dem Geruch von Kräutern, der ihn umgab. Aber er hackte sein Holz selbst, und ebenso erledigte er sämtliche Reparaturen im und um das Haus herum. Er war in sehr guter körperlicher Verfassung.

“Küssen war es nicht, was ich gesehen habe. Wie hätte er sie auch küssen können, wenn seine Hand ihren Mund zugehalten hat, um sie vom Schreien abzuhalten?” Jetzt konnte sie die Härte in seiner Stimme hören. “Du weißt sehr wohl, was er versucht hat, und was er in der Vergangenheit getan hat. Wenn du dem keinen Riegel vorschiebst, wird niemand in deiner Familie jemals wieder medizinische Hilfe von mir erhalten.”

Prowels Kopf war komplett rot angelaufen. “Ich verlange, dass du sofort kommst und dich um den Arm kümmerst, den du gebrochen hast!” Es war ganz offensichtlich eine enorme Anstrengung für ihn, nicht zu schreien.

“Ich habe dir gerade gesagt, dass du und die deinen nicht länger Anspruch auf Heilung jeglicher Art haben. Geh! Komm nicht zurück, bevor du dich nicht um die Sache gekümmert hast.” Er war dabei die Tür zu schließen, aber der Bäcker holte mit der Faust aus. Als er sich anschickte, dem Heiler ins Gesicht zu schlagen, merkte er, wie er nach vorne gezogen wurde. Ein scharfer Schmerz flammte in seinem Rücken auf, als er auf dem Boden aufschlug. Sobald er wieder in der Lage war, sich zu bewegen, rappelte er sich auf und schwankte zur Tür hinaus.

Auf unsicheren Beinen dahinstolpernd wandte er sich zurück zum Haus und hob seinen Finger. “Das ist nicht vorbei, Heiler!” Er spie ihm das letzte Wort förmlich entgegen und wankte zurück zum Dorf.

* * *

Es gab natürlich Gerede. Der Sohn des Bäckers trug seinen gebrochenen Arm in einer Schlinge um seinen Hals und erzählte jedem, der es hören wollte – ebenso wie denen, die es nicht hören wollten – wie er sich die Verletzung zugezogen hätte: Er sei im letzten Moment zur Seite gesprungen, bevor ein Wagen ihn überrollt hätte, und er somit sicherlich getötet worden wäre.

Der Grund für den Klatsch allerdings war eher, dass er den Heiler nicht konsultiert hatte. Der Bäcker konnte es sich sicherlich leisten, für die Behandlung seines Sohnes zu bezahlen, besonders da Trebans Preise mehr als annehmbar waren und er generell auch Bezahlung in Naturalien akzeptierte. Aber Krion winkte mit einem abwertenden Prusten ab und verkündete, dass es nur ein Kratzer sei, und dass die Qualität der Dienste des Heilers ohnehin enorm überbewertet würde.

Hier hörten die Leute nun genauer hin. Über den Heiler in abfälliger Art und Weise zu sprechen war etwas, das man einfach nicht tat. Es war ein ungeschriebenes Gesetz. Nicht nur, dass es kaum jemals einen Grund dafür gab, sondern es war auch ein Glücksfall für das Dorf, dass der Mann entschieden hatte, sich hier niederzulassen und leistbare, hochqualitative medizinische Dienste anzubieten. In einer größeren Stadt hätte er ohne Probleme ein Vermögen verdienen können.

Es fiel auch auf, dass sowohl der Heiler als auch seine Tochter nicht mehr in die Bäckerei kamen, um Brot zu kaufen. Wenn sie versuchten, Informationen von Treban zu erhalten, antwortete er nur in seiner üblichen gutmütigen Art, dass Eryn ihre Vorliebe zum Backen entdeckt hätte und er sie zuhause experimentieren ließe. Nun hätten sie ständig so viel Brot und Kuchen zuhause, dass es nicht mehr erforderlich war, etwas einzukaufen.

Viele waren zufrieden mit der Erklärung und – genau wie er es beabsichtigt hatte – amüsiert. Andere jedoch kannten Eryn ein wenig und schätzten sie – nicht ganz ungerechtfertigt – kaum als Hobbybäckerin ein.

Wann immer Eryn Krion irgendwo im Dorf sah, zwang sie sich, ihre Augen nicht abzuwenden, sondern seinem Blick kalt und gelassen Stand zu halten. Zuerst hatte er bei jeder Begegnung gegrinst, ganz offensichtlich selbstbewusst in dem Wissen, dass er etwas Bestrafungswürdiges getan und ungeschoren davongekommen war. Nach einer Weile jedoch schien er verwirrt. Sie verhielt sich nicht so, wie er es erwartet hatte: keine Anzeichen von Ängstlichkeit, Scheu oder zumindest Hass. Nur kühle Gleichgültigkeit.

Viele Wochen lang kreisten Möglichkeiten durch ihren Kopf, wie man ihn bestrafen könnte: öffentlich oder persönlich, ohne sichtbare äußere Zeichen oder blutig und für jeden erkennbar, vielleicht mit Hilfe von Magie zugefügt, oder auch nur mit einem stumpfen Gegenstand, der seine empfindlichen Körperteile traf.

Sie wusste, dass ihr Vater die Verwendung von Magie zu diesem Zweck ablehnte. Sie verstand seine Philosophie, einen mächtigen Vorteil nicht dafür zu nutzen, anderen Schaden zuzufügen. Krion allerdings wurde nicht von den gleichen Skrupeln geplagt. Ihn hielt nichts davon ab, seine überlegene körperliche Stärke gegen Schwächere einzusetzen. Warum verdiente er Nachsicht – insbesondere da er bereits in der Vergangenheit, nachdem er eine Frau verletzt hatte, ohne Bestrafung davongekommen war?

Sie stieß beinahe mit Krion zusammen, als sie die Straße überquerte, in Gedanken damit beschäftigt, Qualen für ihn zu ersinnen. Er war mit einer Gruppe Jungs in seinem Alter unterwegs, von denen sie die meisten kannte.
“Wenn das nicht die Tochter des Heilers ist”, sagte er, den Satz in die Länge ziehend. “Ich habe gehört, dass du das Backen für dich entdeckt hast. Hoffentlich nicht, um meinem Vater und mir Konkurrenz zu machen?” Er lachte und seine Begleiter schienen sich unwohl zu fühlen. Man legte sich nicht mit der Familie des Heilers an, es war einfach nicht klug. Doch wenngleich sie sich nicht beteiligten, so versuchte auch niemand, ihn zum Weitergehen zu bewegen.

“Nun, was soll ich sagen?”, meinte sie mit einem süßen Lächeln. “Das Brot hat in letzter Zeit einfach nicht unseren Ansprüchen genügt.” Fass mich an, dachte sie. Gib mir eine Gelegenheit, dir weh zu tun, während du versuchst, mir etwas anzutun.

Aber er knirschte nur mit den Zähnen und blitzte sie durch die zu Schlitzen verengten Augen an. Sie war erstaunt über sich selbst, wie sie ihn jemals anziehend hatte finden können.

“Vergebt mir, hochwohlgeborene Lady, dass unsere bescheidene Bäckerei auf dem Lande nicht Eurem vornehmen Geschmack entspricht.”

Sie sah seine zu Fäusten geballten Hände. Gut, dachte sie schadenfroh. Nur noch ein wenig mehr…

“Ach, keine Sorge. Ich weiß ja, dass ihr euch bemüht, so gut ihr könnt”, gurrte sie herablassend. Krions verärgerter Blick erstickte das Kichern eines der Jungs.

“Wie geht es deinem Arm?” Sie ließ ihre Stimme vor wonnevoller Bosheit triefen. Dies war das Letzte, das ihr einfiel, um ihn genug zu provozieren, sodass er am helllichten Tag Hand an sie legen würde.

Ein Gefühl von Triumph schoss durch sie, als sie fühlte, wie sich die Finger seiner intakten Hand in ihren Oberarm bohrten. Es war kein direkter Hautkontakt, aber besser als nichts. Ein paar dünne Lagen Stoff waren kein Problem. Damit konnte sie arbeiten.

Mit ihren inneren Sinnen tastete sie sich vor und wandte die diagnostischen Fähigkeiten an, die ihr Vater sie gelehrt hatte, um in seinen Körper hineinzusehen. Sie folgte dem schwachen Energieimpuls, den sie den Arm hinauf gesendet hatte, der sie festhielt. Auf seinen Unterarm konzentriert, instruierte sie seinen Körper, die Substanz des gesunden, starken Knochens an einem bestimmten Punkt langsam zu reduzieren. Nicht vollständig, nichts, das er fühlen konnte, aber genug, damit er bei der nächsten überdurchschnittlichen Belastung brechen würde.

Diese Technik war das exakte Gegenteil zum Heilen, funktionierte aber wesentlich schneller. Komisch, dachte sie, wie viel einfacher es war, Schaden zu verursachen als ihn zu reparieren.

Seine Freunde hatten schließlich doch entschieden, dass er zu weit ging und griffen nach seinen Schultern, um ihn von ihr wegzuziehen.

“Was glaubst du, was du hier machst?”, hörte sie einen von ihnen flüstern.

“Bist du total verrückt?”

Krion befreite sich aus ihrem Griff, machte kehrt und marschierte wortlos davon.

Sie verbarg ein Lächeln, als sie ihn in der Taverne verschwinden sah und die Tür hinter ihm alles andere als sanft geschlossen wurde.

* * *

Die Tür des kleinen Hauses wurde gewaltsam aufgestoßen und krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Wand. Eryn zuckte zusammen und blickte von den getrockneten Kräutern, die sie auf dem Tisch sortierte, auf.

Treban war außer sich vor Zorn und Ärger, das konnte sie daran erkennen, wie das Blut durch die hervortretende Ader an seinem Hals pulsierte. Das verhieß nichts Gutes, und sie konnte sich nur einen einzigen Grund vorstellen, der ihn in so eine Stimmung versetzt haben konnte.

“Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?” Seine Stimme hatte diese bedrohliche, gezwungene Ruhe angenommen, die die Rage, die sie in seinen stechenden Augen sehen konnte, kaum zurückzuhalten vermochte. Er stand noch immer im Türrahmen. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass ihr nicht bewusst sein könnte, wovon er sprach.

Also hatte Krion schließlich seinen anderen Arm gebrochen, genau wie sie es beabsichtigt hatte. Und nun hatte sie den Preis für ihre Rache zu bezahlen: Sie musste ihrem Vater gegenübertreten.

Die Kräuter auf dem Tisch bedeckte sie mit einem sauberen Tuch, damit die kalte Brise, die durch die offene Tür hereinwehte, sie nicht durcheinanderwirbeln konnte. Dann schluckte sie und erhob sich. Es war besser, dabei zu stehen.

“Er hat bekommen, was er verdient hat”, sagte sie leise, in dem vollen Bewusstsein, dass ihr Vater das nicht gut aufnehmen würde.

“Was er verdient hat? Was er VERDIENT hat?” Er schlug die Tür mit einer kraftvollen Bewegung seiner Hand zu, sodass die Bilderrahmen mit den getrockneten Kräutern an der Wand erbebten. “Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dir nicht zuteilwerden lasse, was du verdienst! Du bist nicht besser als dieses Tier! Du hast deine Kräfte benutzt, um jemandem Schaden zuzufügen, der sich nicht dagegen zur Wehr setzen konnte! Ich schäme mich für dich!” Die Lautstärke seiner Stimme war mit jedem Satz leiser geworden, bis sie auf ihrem üblichen Level angelangt war.

Sie zuckte unter seinen Worten zusammen, obwohl sie diese fast Wort für Wort erwartet hatte. Die reduzierte Lautstärke machte es nicht einfacher, sie zu hören. Im Gegenteil. Sie wartete still darauf, dass er fortfuhr. Er sah nicht aus, als wäre er bereits fertig mit ihr.

“Ich habe dir von den Gefahren des Missbrauchs erzählt, wie unsere Kräfte Seelen korrumpieren können. Dass Menschen, die der Ansicht sind, sie seien aufgrund ihrer Fähigkeiten überlegen, anderen und sich selbst immenses Leid zufügen können. Du hast soeben den ersten Schritt auf diesen Abgrund zu getan.” Er klang leer, resigniert. Sie war beinahe erleichtert, als sein Ärger erneut aufflammte.

“Hast du mir überhaupt nicht zugehört?” Er war näher zu ihr getreten, und seine Worte wurden begleitet von seiner Faust, die fest genug auf dem Tisch landete, damit es die Kräuter kurz hob. Und Eryn.

Sie schluckte hart und blieb vor ihrem Vater stehen, senkte ihren Blick unter seinem. Dies war nicht das erste Mal, dass sie ihn so erzürnt erlebte, aber niemals zuvor war sie das Ziel seiner Wut gewesen. Sie fragte sich, ob er sie zum ersten Mal schlagen würde.

Er trat einen Schritt zurück, als ob er sich selbst davon abhalten wollte, genau das zu tun. Dann drehte er sich um. “Ich kann deinen Anblick jetzt nicht ertragen”, sagte er und öffnete die Tür erneut. “Wir reden später.” Und weg war er.

Eryn starrte ihm nach und spürte, wie ihr Mund austrocknete. Sie frage sich, ob sie ihm hinterherlaufen sollte, um sich zu entschuldigen und ihn um Vergebung zu bitten. Sie entschied sich aus zwei Gründen dagegen. Zum einen war er definitiv nicht in der Stimmung, eine Entschuldigung zu akzeptieren, und zweitens wäre es eine Lüge.

Es tat ihr absolut nicht leid, was sie getan hatte, und sie war überzeugt, dass sie keineswegs einen dunklen Pfad eingeschlagen hatte, der zu Ruin und Verdammnis führte. Aber sie bedauerte den Kummer ihres Vaters und fühlte, wie seine Zurückweisung in ihr brannte.

Sie würde es irgendwie wiedergutmachen. Vielleicht wäre ein gutes Abendessen ein Anfang. Sie band sich die Kochschürze um und begann, Gemüse zu putzen.

* * *

Eryns Blick wanderte wieder und wieder zur Tür, wann immer sie dachte, sie hätte ein Geräusch von draußen vernommen. Ihr Vater war nun schon seit vielen Stunden weg, und es war bereits dunkel. War er böse genug mit ihr, um die ganze Nacht über wegzubleiben? Sie hoffte es nicht.

In einem Versuch, sich zu beschäftigen, setzte sie ihre Arbeit an der Medizin fort und füllte Kräuterzubereitungen in kleine Glasfläschchen, mahlte Kräuter zu feinem Pulver, damit es später direkt vor Gebrauch mit Wasser vermischt werden konnte, und füllte es in kleine Ledersäckchen.
Sie wusste, dass Ihr Vater mit ihren Bemühungen zufrieden sein würde. Immerhin hatte sie ihm etliche Stunden an Arbeit erspart. Und sie hoffte, dass dies seine Gesinnung ihr gegenüber verbessern und er ihr schneller vergeben würde. Natürlich würde er den Grund dafür, dass sie die Kräuter verarbeitet hatte, sofort durchschauen, aber das spielte keine Rolle. Er war normalerweise niemand, der einen vernünftigen Bestechungsversuch verschmähte, wenn er ordentlich umgesetzt war. Er hatte diese Art von Humor.

Sie war beinahe fertig, als sie sah, dass Fackeln hinter dem Hügel, der den Großteil des Weges zum Dorf verdeckte, auftauchten. Sie zählte fünf. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie fühlte ein banges Gefühl in sich aufsteigen. Waren die Männer aus dem Dorf gekommen, um ihren betrunkenen Vater nach Hause zu bringen? Der Gedanke war schauderhaft, aber je näher die Männer kamen, desto mehr hoffte sie, dass es nicht mehr als das war.

Als sie nahe genug waren, dass sie die Gesichter erkennen konnte, öffnete sie die Tür. Ihr Vater war nicht unter ihnen.

Die blassen Gesichter zeigten einen Ausdruck grimmigen Kummers, als sie Eryn ansahen. Sie konnte in den Augen lesen, dass etwas Schreckliches, Entsetzliches passiert war. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor, noch bevor der Älteste unter ihnen, der Glashersteller, der die Fläschchen für ihre Medizin produzierte, zu sprechen begann.

“Dein Vater ist tot, Kind.” Seine Stimme klang rau und betrübt.
Tränen verschleierten ihren Blick, und der plötzliche Schmerz in ihrem Brustkorb zwang sie in die Knie. Sie fühlte Hände auf ihren Schultern, die sie hochhoben und zurück ins Haus in den Sessel ihres Vaters vor dem Kamin führten. Sie rang nach Luft, während ungestüme Schluchzer aus ihr hervorbrachen.

Tot! Nein – das war nicht möglich. Er konnte nicht für immer verloren sein, wo sie doch erst vor ein paar Stunden miteinander gesprochen hatten. Die letzten Worte zwischen ihnen… Seine waren gewesen, dass er sich für sie schämte, und ihre letzten Worte waren in Missachtung seiner Werte gesprochen. Sie würde mit dieser Bürde leben müssen, ohne jemals die Chance zu haben, es wiedergutmachen zu können.

Sie wusste nicht, wie lange sie mit den Männern dort gesessen hatte, die versuchten, sie zum Trinken des starken Gebräus zu überreden, das sie ihr an die Lippen hielten.

Nachdem ihr Schluchzen an Kraft verloren hatte, wechselte der Glashersteller einen Blick mit den anderen Männern, bevor er erneut sprach: “Dein Vater wurde getötet, Eryn. Prowel hat ihm ein Messer in den Rücken gerammt. Er hat deinen Vater beschuldigt, er hätte Krions anderen Arm gebrochen. Er kann nicht mehr richtig im Kopf gewesen sein.”

Sie starrte zu ihm auf, kaum in der Lage die Worte zu begreifen, die sie hörte. Als die volle Bedeutung der Nachricht in ihr Bewusstsein drang, ergriff eisige Kälte Besitz von ihr und traf sie tief im Innersten ihres Wesens.

Ihr Vater hatte sie gewarnt. Es kam nichts Gutes dabei heraus, wenn Magie gegen die Schutzlosen eingesetzt wurde, gegen diejenigen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Er hatte Recht, erkannte sie mit grauenvoller, betäubender Klarheit.

Ihre Tat hatte ihm sein Leben gekostet.

 

Kapitel 2

Enric

Er saß auf dem Dach der Bäckerei, die dem Palast am nächsten war und betrachtete den Sonnenaufgang. Das war untypisch für ihn. Üblicherweise vermied er es, vor Tagesanbruch aufzustehen, außer er hatte keine andere Wahl. Er fragte sich, ob die heutige Ausnahme etwas mit dem zu tun haben mochte, was ihn in wenigen Stunden erwartete, schloss dies aber schnell aus. Er blies eine Strähne seiner etwas zu langen Haare aus seinen blauen Augen. Es war für ihn ein kleiner Akt der Rebellion, sie nicht so zu tragen, wie es von ihm erwartet wurde. In Wirklichkeit einer von vielen.

Ein paar Passanten blickten zu dem jungen Mann Anfang Zwanzig auf, der so einen ungewöhnlichen Ort gewählt hatte, um in den Himmel zu starren. Sie setzten ihren Weg jedoch fort, sobald sie seine Robe identifiziert hatten: Es war ein Magier. Am besten mischte man sich nicht ein, was auch immer sie gerade anstellten.

Alle seine Kollegen, die ihr Training dieses Jahr gleichzeitig mit ihm beendet hatten, würden getestet und ihre magische Stärke gemessen. Daraufhin konnten sie sich für eine passende Stelle im Orden bewerben. In einer Institution, in der die Hierarchie durch den Umfang der magischen Stärke, über die man verfügte, festgelegt wurde, war dies praktisch eine Evaluierung persönlichen Wertes, überlegte Enric. Er war noch nie ein Freund von Evaluierungen gewesen, egal ob magisch oder intellektuell.

Und somit war er auch nie ein besonders aufmerksamer Student gewesen. Er hatte den Komfort, den ihm sein Status als Magier ermöglichte, genossen. Er kam aus einer Familie wohlhabender Kaufmänner und war nicht gerade als Bettler aufgewachsen, aber der Beitritt zum Orden war dennoch ein Schritt nach oben, soweit es seine Lebensumstände betraf.

Seine Eltern waren außer sich vor Freude, als sie seine Fähigkeiten entdeckt und sofort den Orden informiert hatten. Er war damals zwölf Jahre alt. Erstaunlich, sinnierte er, wie nervtötend und ermüdend die zehn Jahre seitdem gewesen waren. Er hätte es aber nicht vorgezogen, diese Zeit mit seinem Vater zu verbringen.

Die Begeisterung und der Stolz seiner Eltern wandelten sich allerdings schnell zu Ärger und Frustration, nachdem sie wiederholt Nachrichten anlässlich seiner wenig produktiven Einstellung erhalten hatten. Sein Vater war ein Händler durch und durch. Mühevoll versuchte er, seinem Sohn die Idee zu verkaufen, dass aus ihm ein wichtiger Mann mit wichtigen Pflichten werden könnte, der seine Familie mit Stolz erfüllte und große Dinge erreichte. Vergeblich.

Der Orden der Magier war dem Zweck der Verteidigung des Königreichs gewidmet. Geschichtelehrer waren mittlerweile die einzigen Menschen, die noch wussten, wann das letzte Mal ein tatsächlicher Bedarf dafür vorhanden war. Das Kampftraining war in Ordnung gewesen, Enric hatte es genossen. Lord Orrin, sein Lehrer, war allerdings nicht eben begeistert von seiner Faulheit und seinem Mangel an Respekt.

Die restlichen Fächer und Stunden der letzten Jahre verschmolzen zu einer Art verschwommenen Sphäre aus Information. Er schloss ein Jahr später als gewöhnlich ab, da er an das Lernen nicht eben ehrgeizig herangegangen war und einige Prüfungen wiederholen musste.

Heute war der Tag, an dem sich sein Platz in der Hierarchie des Ordens weisen würde. Er war nicht nervös als solches – eher neugierig. Er wusste, dass er stärker als die meisten – wenn nicht alle – Absolventen dieses Jahrgangs war. Aber es würde interessant werden, zu sehen, wie weit er nach oben kommen würde. Nicht zu weit, hoffentlich. An die verantwortungsvolleren Positionen waren Anforderungen geknüpft. Er war kein großer Freund von Anforderungen, Regeln und allem in dieser Richtung.

Die meisten seiner Lehrer hatten ihn wegen seiner Faulheit gerügt, als offensichtlich war, dass er ein Talent für Magie und deren Anwendung hatte. Er aber wollte weder die Zeit noch die Energie investieren, um diese Fähigkeiten kompetent zu meistern. Sie hatten versucht, ihm klar zu machen, dass Magie ohne das Wissen, wann und wie man sie einsetzte, ihn zurückwerfen würde, aber er hatte ohnehin nicht geplant, es weit zu bringen.

Eine nette Stelle als Beamter oder Assistent im Orden wäre genau das Richtige für ihn. Etwas, das ihm genug Freizeit übrigließ, um sich seinen Interessen zu widmen – wie der Jagd und Zeit mit seinen Freunden zu verbringen.

* * *

Er stand mit einer Gruppe junger Magier in seinem Alter beisammen. Die meisten von ihnen waren unruhig. Manche gaben es offen zu, andere versuchten es durch Selbstdarstellung oder mit Unfreundlichkeit zu verbergen.

“Es gibt nicht viel, vor dem du dich fürchten müsstest, was Enric?”, fragte sein guter Freund Kilan. “Du bist so ziemlich der Stärkste dieses Jahr, würde ich sagen. Vielleicht wartet ja ein nettes Plätzchen in den oberen Rängen auf dich?” Er sprach die letzten Worte mit einem Lächeln, wohl wissend, dass dies absolut nicht das war, wonach Enric strebte.

“Ja, wäre das nicht fabelhaft”, antwortete Enric lustlos.

Kilan wurde als Nächster hineingerufen, um getestet zu werden. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkehrte. Er sah zufrieden aus.

“Kategorie D, nicht übel”, grinste er. Ihm war bewusst, dass er keine Chance hatte, es höher als in C zu schaffen und hatte gehofft, nicht unterhalb von E klassifiziert zu werden. Somit war die goldene Mitte absolut in Ordnung.

“Gratuliere, Kumpel.” Enric wandte sich um, als die Flügel der Doppeltür erneut geöffnet und sein Name aufgerufen wurde. “Wir sehen uns gleich.”

Er betrat die Halle und verbeugte sich vor den versammelten Magiern, die im Gegenzug ihren Kopf neigten.

Enric ließ seinen Blick über die zehn Männer wandern. Er wusste, dass sie aus verschiedenen Stärkekategorien ausgewählt waren. Der Stärkste von ihnen war Lord Poron, Kategorie B, soweit er wusste, und damit der zweitstärkste Magier im Orden und dem Königreich. Enric war schon immer der Meinung gewesen, dass er gut in die Rolle der Nummer Zwei passte. Er musste in den Sechzigern sein, sein dünner werdendes Haar zu einem kurzen Zopf in seinem Nacken zusammengebunden, seine Augen intelligent und scharf, als würden sie die Welt um ihn herum einer ständigen Analyse unterziehen.

Einige der Magier waren ihm nur vom Sehen her bekannt, ein paar davon waren seine ehemaligen Lehrer.

Ihr Gesichtsausdruck war nicht eben enthusiastisch, als er eintrat. Mit Ausnahme von Lord Orrin, seinem Kampflehrer, der sich als einziger niemals irgendeine Frechheit von Enric gefallen hatte lassen, hatte keiner von ihnen besonders angenehme Erinnerungen an ihn.

“Schild hoch!” Lord Porons Anweisung wurde als Echo von den hohen Steinwänden zurückgeworfen.

Er folgte der Anweisung, und wenige Augenblicke später traf der erste Energieblitz seine Barriere. Zwei weitere wurden in seine Richtung geschickt, ohne dass etwas passierte. Ein zweiter Magier, sein alter Geschichtelehrer, falls seine Erinnerung ihn nicht betrog, schloss sich seinem Kollegen an und begann, Enrics Schild anzugreifen. Nichts passierte.

Weitere Magier stiegen mit ein, einer nach dem anderen, bis sieben von ihnen Stöße in kurzen Abständen losließen. Enric sah, wie sie die Stirn runzelten. Dann hob Lord Poron seinen Arm, um sie zu stoppen. Er atmete tief ein, zielte mit der Handfläche seines ausgestreckten Armes auf ihn, und feuerte einen klaren Blitz auf den Schild.

Er durchdrang die Barriere nicht. Lord Poron sah blass und beunruhigt aus und winkte dem Schreiber, dessen Aufgabe es war, die Kategorie jedes Magiers zu notieren. Er flüsterte etwas in das Ohr des jungen Mannes, worauf dieser sogleich loslief.

Enric wartete, den Schild nach wie vor aktiv. Diese Spielerei war Zeitverschwendung. Warum begannen sie nicht endlich richtig, damit er bald auf ein kaltes Getränk zu seinen Freunden stoßen konnte?

“Bin ich fertig? Kann ich gehen? Welche Kategorie bin ich?”, rief er den versammelten Magiern zu, die begonnen hatten, untereinander zu flüstern und ihm gelegentlich besorgte Blicke zuwarfen.

Lord Poron schritt auf ihn zu. “Wir müssen noch um ein wenig Geduld bitten, junger Mann. Wir erwarten noch jemanden. Ich bin zuversichtlich, dass er bald eintreffen wird.”

Enric runzelte verwirrt seine Stirn. “Was ist los? Bei den anderen vor mir hat das nur ein paar Momente gedauert. Ich stecke nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten, oder?” Er konnte sich nicht daran erinnern, kürzlich etwas angestellt zu haben, wofür er sich schuldig fühlen müsste.

“Nein.” Lord Porons Lächeln wirkte etwas gezwungen. “Keine Schwierigkeiten, sei versichert.” Dann kehrte er zu den anderen Magiern zurück und ließ den jungen Mann allein in der Mitte der Halle stehen.

Es war nicht viel Zeit vergangen, bevor sich die Doppeltür erneut öffnete und der Anblick des Mannes, der eintrat, Enrics Augenbrauen überrascht nach oben schnellen ließ. Es war Lord Tyront, der Chef des Ordens. Was brachte ihn hierher?

Lord Tyront war Mitte Vierzig, ein großer, respekteinflößender Mann mit ersten grauen Strähnen in seinem Bart. Seine blassblauen Augen fokussierten sich sofort auf Enric und blieben dort, während er ohne ein Wort zu den anderen Magiern auf ihn zutrat.

Sobald er nur noch wenige Schritte entfernt war, erhob er seine dröhnende Stimme: “Schild hoch, Junge.”

Enric folgte der Anweisung hastig und trat einen Schritt zurück, woraufhin eine Salve an Blitzen von Lord Tyronts Handfläche auf seine Barriere geschossen kam. Sie waren stärker als das, was man ihm zuvor entgegengeschleudert hatte, merklich stärker. Der ältere Mann fuhr fort, ihn zu attackieren, jede Salve stärker als die vorhergehende. Bald schon begann sein Schild zu flackern, und er schickte schnell mehr Energie hinein, um ihn aufrechtzuerhalten.

Lord Tyront hielt kurz inne, betrachtete ihn nachdenklich und dann, ohne Warnung, schoss er einen weißen Blitz ab, der Enrics Barriere durchdrang und ihn auf den Rücken zu Boden warf.

Der junge Mann unterdrückte einen schmerzlichen Aufschrei. Man zeigte kein Anzeichen von Schwäche vor dem mächtigen Anführer des Ordens. Er kämpfte sich zurück in eine aufrechte Position und blickte den Mann, der ihn niedergestreckt hatte, finster an. Das war wohl kaum nötig gewesen.

Als sein Blick zu den Magiern im Hintergrund zurückkehrte, sah er ein paar Münder offenstehen, andere hatten ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Es herrschte völlige Stille.

“Bin ich jetzt fertig?”, wollte er wissen.

Lord Tyront lächelte verbissen. “Oh nein, mein junger Freund. Du bist nicht fertig. Tatsächlich wirst du noch längere Zeit nicht fertig sein.”

Enric starrte ihn verwirrt an. “Was?”

“Kategorie A”, verkündete der Anführer laut und für jeden in der Halle hörbar. “Wir haben eine neue Nummer Zwei.” Dann drehte er sich um und verließ den Raum auf dem gleichen Weg, den er gekommen war.

Enric starrte ihm noch immer voller Unverständnis nach, selbst nachdem sich die schweren Türen mit einem lauten Donner hinter ihm geschlossen hatten.

Er schüttelte seinen Kopf. Etwas musste mit seinen Ohren nicht stimmen. Kategorie A? Was für ein Unsinn! Niemand war so stark, abgesehen natürlich vom Magier an der Spitze.

Die Art und Weise, wie ihn die Magier ungläubig anglotzten, ließ ihm die Wahrheit allmählich bewusstwerden.

Sie hatten Lord Tyront gerufen, weil Lord Poron, der zweitstärkste Magier des Ordens, nicht in der Lage war, Enrics Schild zu durchdringen. Ihm wich jede Farbe aus dem Gesicht, als ihm langsam die volle Auswirkung dessen, was soeben passiert war, klarzuwerden begann.

“Oh nein”, stöhnte er und schloss seine Augen.

* * *

Tyront seufzte und spürte die Spannung, die sich langsam hinter seiner Stirn aufbaute, als er die Berichte über seinen zukünftigen Stellvertreter las. Der Junge verursachte ihm nun schon seit Wochen Kopfschmerzen.

Wenn man Enrics bisherigen Werdegang in Betracht zog, war es kaum eine Überraschung, dass er nicht sehr gut auf den Trainingsplan, dem er zu folgen hatte, reagierte. Er kooperierte nicht mehr als unbedingt nötig, um der Anschuldigung offenen Ungehorsams zu entgehen. Beinahe ein Monat war nun vergangen, und es sah nicht so aus, als würde sich seine Einstellung irgendwann in naher Zukunft ändern.

Er hatte nicht nur eine Menge neuer Dinge zu lernen und Fähigkeiten zu erweitern, sondern musste auch noch jede einzelne Prüfung wiederholen, die er im Laufe der Jahre seines Trainings zum Magier knapp oder auch nur mit durchschnittlicher Punktezahl bestanden hatte.

In seiner neuen Position musste er als Vorbild fungieren, eine respektierte Säule des Ordens, eine Quelle der Weisheit und des Wissens und, falls erforderlich, ein starker Anführer in der Schlacht sein. Das Bild des faulen Taugenichts, das er in den letzten Jahren kultiviert hatte, musste er hinter sich lassen.

Orrin hatte als Einziger etwas entfernt Positives über ihn zu berichten. Also ging zumindest das Kampftraining einigermaßen gut voran.

Unglücklicherweise war dies nur ein geringer Trost und keineswegs genug, um das Training in seiner Gesamtheit als Erfolg zu betrachten.

Seine Gedanken wanderten zu Lord Poron, seiner derzeitigen Nummer Zwei. Wie zu erwarten, war er wenig begeistert darüber, ersetzt zu werden, insbesondere von jemandem wie Enric. Er war nicht der rachsüchtige Typ, überlegte Tyront, und würde seinem Nachfolger das Leben nicht schwerer als nötig machen. Schade, dachte er. Ein Anlass zum Kämpfen, wenn auch nur gegen einen verdrossenen Vorgänger, hätte Enric möglicherweise dazu motiviert, sich endlich anzustrengen. Es schien, als würde er sich selbst darum kümmern müssen.

Es war Zeit für eine kleine Unterhaltung mit Enric.

* * *

Enric schluckte, als er die Nachricht auf dem weichen, teuer aussehenden hellbraunen Papier las, das ein Bediensteter nur eine Minute zuvor gebracht hatte. Es stand nicht viel darauf geschrieben, nur: Mein Quartier, neun Uhr. Lord Tyront.

Das war in weniger als einer Stunde. Nicht genug Zeit, um sich ordentlich vorzubereiten, aber ausreichend Zeit, um so richtig nervös zu werden. Das war wahrscheinlich die Idee dahinter, vermutete er.

Es gab wenig Zweifel über den Grund für diese Ladung. Seine Fortschritte waren, das war ihm sehr wohl bewusst, alles andere als zufriedenstellend. Für Enric war dies vollkommen in Ordnung, er hatte diese Ehre, die ihm zwangsweise widerfahren war, ohnehin nie gewollt.

Der Anführer des Ordens aber würde kaum damit zufrieden sein, wie die Dinge liefen. Eine Einladung, bei der er sich für seine dürftigen Leistungen rechtfertigen musste, war wirklich nur eine Frage der Zeit gewesen.

Seit dem Tag des Tests hatte Lord Tyront keinerlei Interesse an ihm gezeigt. Mit dieser Nachricht war es das erste Mal, dass er etwas von ihm gesehen oder gehört hatte. Der hohe Lord gewährte seine Aufmerksamkeit offenbar nur dann, wenn etwas nicht ordnungsgemäß verlief. So wie jetzt.

Enric sah sich in seinem neuen Quartier im königlichen Palast um und fühlte sich noch immer etwas verloren. Dies hier war im Vergleich zu seiner vorherigen Bleibe wie der Unterschied zwischen einem Setzling und einem Baum. Vier große Räume, alle für ihn. Das war mehr, als er tatsächlich benötigte. Aber einen hohen Rang zu bekleiden bedeutete nicht, nur das zu haben, was erforderlich war, oder? Sein Quartier war auch dazu gedacht, seine Wichtigkeit zu reflektieren, repräsentativ zu sein.

Repräsentativ war es wohl, seufzte er. Die Frage war nur, was es repräsentierte. Auf jeden Fall nicht seine Persönlichkeit.

Das Apartment war elegant und luxuriös möbliert und ließ keine Wünsche offen. Der Salon allein war größer als die beiden Räume, die er zuvor bewohnt hatte. Und ihm war sogar ein eigener Diener zugeteilt, der die Reinigung übernahm, die Mahlzeiten aus der Palastküche holte und sich um jede seiner Launen kümmerte.

Enric war stets jemand gewesen, der Luxus genossen hatte. Allerdings nicht in einem Ausmaß, das ihn genug motiviert hätte, die Mühen zu investieren, die von ihm erwartet wurden. Damit in Verbindung stand so vieles, das er einfach nicht wollte. All diese Verantwortung, die Folgen im Falle eines Fehlschlags, die harte Arbeit um dorthin zu gelangen… Nein.

Das war nicht das, was er für sich geplant hatte. Was er gewollt hatte und noch immer wollte, war ein angenehmes, unkompliziertes, gemütliches Leben, möglichst keine harte Arbeit, genügend Zeit für seine Freunde und viel Zeit für sich selbst.

Seine Freunde – das war eine weitere Angelegenheit, die ihm zusetzte. Die meisten von ihnen hatten sich seit der großen Ankündigung von ihm zurückgezogen. Und selbst bei denjenigen, die sich noch immer mit ihm trafen, hatte die Frequenz erheblich abgenommen. Sogar Kilan, sein engster Freund, der Dank der Position seines Vaters an den Kontakt mit einflussreichen Persönlichkeiten gewohnt war, hatte begonnen, sich merklich von ihm zu entfernen.

Enric starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen.

Wie war es nur möglich, dass ausgerechnet er sich als zweitstärkster Magier des Königreichs entpuppt hatte? Was für ein Witz!

* * *

Die Tür wurde auf Enrics Klopfen hin geöffnet. Ein älterer Diener verneigte sich leicht und trat dann zurück, um ihm den Zutritt zum Salon zu ermöglichen. Es war ein Raum seinem eigenen sehr ähnlich, wenngleich hier ganz klar der Einfluss einer weiblichen Hand spürbar war.

Lord Tyront erhob sich von seinem Platz am Fenster und musterte seinen Gast von oben bis unten. Er machte sich nicht die Mühe einer Begrüßung, sondern deutete auf eine dunkelrote Couch vor einem kleinen, runden Tisch.

“Hinsetzen.”

Ebenfalls einen guten Abend, dachte Enric gereizt, tat aber wie ihm geheißen.

“Bitte lass uns allein”, instruierte Tyront den Diener und wartete, bis der Mann sich zurückgezogen hatte. Dann wandte er sich an Enric und blickte ihn finster an.

Er blieb stehen und begann ohne Einleitung: “Deine Leistungen bleiben hinter meinen Erwartungen zurück. Rechtfertige dich!” Seine Worte klangen harsch, sein Ton war es nicht.

Enric setzte sich unbewusst etwas aufrechter hin, eine tiefliegende Angewohnheit aus seiner Kindheit, als von ihm erwartet wurde, dass er Respekt zu zeigen hatte, wenn er gescholten wurde.

“Es tut mir leid, Lord Tyront.”

“Nein, das tut es nicht. Ich habe dich nicht gebeten, mich anzulügen, ich habe nach einem Grund gefragt.”

“Ich… ich muss zugeben, mein Lord, dass ich mit der derzeitigen Situation nicht sehr glücklich bin.”

Lord Tyront seufzte ungeduldig. “Hör auf, um den heißen Brei herumzureden, Junge. Sag, was dir durch den Kopf geht.”

Der junge Mann hob trotzig sein Kinn als er sprach: “Ich will nicht in diese Position gezwungen werden. Ich habe weder darum gebeten, noch bin ich daran interessiert.”

“Endlich eine klare Aussage”, kommentierte der andere trocken und nahm schließlich seinem widerwilligen Gast gegenüber Platz. “Was genau stößt dich ab?”

Auf der Suche nach den richtigen Worten hob Enric mehrmals hintereinander seine Arme und ließ sie wieder fallen, bevor er antwortete:

“Alles.”

“Geht es etwas detaillierter? Das ist nicht unbedingt hilfreich”, sagte der ältere Mann geduldig.

“Die Verantwortung. Ich meine, was genau qualifiziert mich für eine Position, in der ich viel ältere, viel erfahrenere Magier als ich es bin befehlige? Das macht keinerlei Sinn! Was ist, wenn ich etwas falsch mache oder falsche Entscheidungen treffe? Die Konsequenzen!”

“Was dich zuallererst qualifiziert, ist deine überlegene Stärke, da sie dem primären Zweck des Ordens, also der Verteidigung, dient; und als zweites das Wissen und das spezielle Training, das du derzeit erhältst.” Lord Tyronts Stimme war ruhig. “Was noch?”

“Die Arbeit. Ich möchte unabhängig sein, nicht gesagt bekommen, was ich tun soll, nicht die ganze Nacht umsonst arbeiten, mehr Zeit haben für mich und…” Er hielt inne.

“Und deine Familie? So wie dein Vater, der erfolgreiche Kaufmann, der fast immer rund um die Uhr gearbeitet hat, um der nächsten Gelegenheit für ein gutes Geschäft hinterherzujagen? Der dich und deine Geschwister in der Obhut seiner unglücklichen Gefährtin zurückließ, außer er stellte Forderungen, denen du zu gehorchen hattest?”

Enric starrte Lord Tyront an. Wie war es möglich, dass er darüber Bescheid wusste? Er hatte niemals irgendjemandem davon erzählt, nicht einmal seinen engsten Freunden. Er fühlte sich entblößt, verwundbar. Dieser Mann, dessen Gesicht jedem in der Stadt bekannt, der für ihn jedoch ein Fremder war, war unbefugt in sein Privatleben eingedrungen.

Als er weiterhin schwieg und finster auf den Teppich starrte, fuhr Lord Tyront fort: “Und du hast dir soeben selbst widersprochen. Wenn es für dich ein Problem ist, andere, ältere Magier zu befehligen, warum solltest du dich dann daran stoßen, selbst gesagt zu bekommen, was du zu tun hast? Du kannst nicht beides haben; Positionen, in denen man weder Befehle gibt, noch welche erhält, sind nicht gerade im Einklang mit der Natur unserer Institution – und übrigens auch nicht mit der unserer Gesellschaft. Wobei ein Platz weit oben in der Hierarchie die Anzahl derer, die dich befehligen können, drastisch reduziert.”

“Da seid Ihr. Und der König”, erwiderte er missmutig. “Es mögen nicht mehr so viele über mir sein, aber diejenigen, die übrig sind, reagieren nicht sehr gut darauf, wenn ihre Befehle in Frage gestellt werden.”

Ein Problem mit Autorität, dachte Tyront. Aber das war kaum eine Überraschung nach den Einblicken, die ihm sowohl aktuelle als auch ältere Berichte gewährt hatten. “Korrekt. Es gibt nicht viel Raum, wenn es darum geht, die Befehle des Königs zu hinterfragen. Aber ich versichere dir, dass ich mir sehr wohl anhöre, was du zu sagen hast. Möglicherweise handle ich sogar danach, wenn es halbwegs vernünftig ist. Tatsächlich ist es sogar deine Pflicht, mich zu beraten.”

“Ich, Euch beraten?” Enric schüttelte verzweifelt den Kopf. “Wie kann ich Euch beraten?”

“Als erstes wirst du erwachsen werden und hart daran arbeiten, die Erwartungen des Ordens – und meine – zu erfüllen.” Seine Worte enthielten nur den Funken einer Drohung. “Du wirst lernen, zu denken bevor du sprichst und handelst. Du wirst Respekt zeigen und ihn auch im Gegenzug einfordern. Zuvor jedoch musst du erst zu jemandem werden, der Respekt verdient.”

“Ich will das alles nicht”, flüsterte der junge Mann.

“Das Problem ist, dass uns niemand fragt, was wir wollen”, antwortete Tyront verständnisvoll. “Aber lass mich dir eines sagen: Männer, die es nach großer Macht gelüstet, sind in der Regel diejenigen, die am wenigsten geeignet sind, sie auszuüben. Das ist die eine Sache, die für dich spricht, mein Junge.” Er lehnte sich nach vorne und fing Enrics Blick ein, fesselte ihn mit seinem eigenen, durchdringenden Starren. “Deine Angelegenheiten sind etwas, mit dem du zurechtkommen musst, indem du schnell erwachsen wirst. Du magst die oberen Ränge als einen Haufen harmloser alter Männer sehen, aber lass mich dir sagen, dass Schwächlinge unter uns nicht lange bestehen. Die Luft ist dünn hier oben, wie du früh genug lernen wirst.” Und dann sprach er aus, wovon er sicher war, dass es funktionieren würde: eine Herausforderung.

“Bist du schwach, Enric?”

 

Kapitel 3

Ausgeliefert

12 Jahre später

Eryn kletterte den steilen, in Ermangelung eines besseren Wortes, Pfad hinauf. Sie fischte ein Tuch aus der Leinentasche, die sie quer über ihre Schulter und über ihren Brustkorb geschlungen hatte, und wischte ihre verschwitzte Stirn ab. Das Sammeln von Kräutern war eigentlich eine Aufgabe, die sie genoss, aber nicht bei dieser Hitze und ohne Schatten in Sicht.

Unglücklicherweise waren die Pflanzen, die sie brauchte, nur in größeren Höhen zu finden, denn sie benötigten eine Menge Sonnenlicht. Also würde sie in nächster Zeit keinen kühlen Fleck finden.

Sie hielt an, zog den robusten, ledernen Wassersack hervor und nahm einen großzügigen Schluck. Das Wasser war lauwarm und nicht unbedingt erfrischend, aber es tat seinen Zweck, es befeuchtete ihre trockene Kehle.

Nach der rückläufigen Baumlinie zu ihrer Linken zu urteilen, würde sie für den Rest des Weges noch etwa eine Stunde benötigen. Sie ging die paar Schritte zu einem Felsen und nahm Platz, um sich für eine kurze Weile auszuruhen. Sie sollte sich in dieser Hitze nicht zu sehr anstrengen.

Erinnerungen an fünfzehn Jahre zuvor, als sie diesen Weg zum ersten Mal gegangen war, überfielen sie plötzlich und ungebeten. Ihr Vater war an diesem Herbsttag bei ihr gewesen, hatte sie ständig angehalten, diesen Baum oder jene Blume zu identifizieren, hatte sie über die Vorgehensweise beim Herstellen von Medizin getestet, sie korrigiert, wenn ein Detail falsch oder ihr weitergeholfen, wenn ihr etwas entfallen war.

Vater. Der Schmerz des Verlustes war über die Jahre dumpfer geworden, wie auch die Verzweiflung, dass sie die Schuld daran trug. Zwölf lange Jahre hatten das bewerkstelligt. Sie hatte darum gekämpft, den Schmerz am Leben zu erhalten. Es war das Einzige, das sie noch mit ihm verband, der einzigen Person in ihrem ganzen Leben, der sie nahe gewesen war. Aber es war immer schwieriger geworden, den Schmerz zu halten und die abstumpfende Wirkung der Zeit zu bekämpfen.

Zu Beginn hatte es problemlos funktioniert – seine Bücher anzusehen, seine Zeichnungen, die Dinge, die er gebaut hatte – um die Erinnerung heraufzubeschwören. Tränen, die ihr trotz des großen Schmerzes die Illusion von Nähe gaben, waren ihr nach nur wenigen Sekunden in die Augen getreten.

Heute war der Schmerz beinahe außer Reichweite, so wie viele ihrer Erinnerungen an ihn. Was blieb, war die Leere, die Einsamkeit.

Mit fünfzehn Jahren war sie kaum mehr als ein Kind, und sogar zwölf Jahre später hätte sie noch gerne jemand Älteren und Weiseren um sich gehabt, der ihr nahe war, dem sie vollkommen vertrauen konnte.

Sie war in dem kleinen Haus am Rande des Waldes geblieben und hatte – so gut sie konnte – die Arbeit ihres Vaters als Dorfheilerin fortgeführt. Es war ihre Pflicht, ihre Buße, ihr Lebenszweck. Sie würde diese Mission fortsetzen, solange sie dazu in der Lage war.

Das letzte Mal hatten sie ein paar Wochen vor seinem Tod diesen Weg hier gemeinsam beschritten. Sie hatten ihre Kräutervorräte aufgestockt. Die ganze Zeit hatte sie an Krion gedacht und geplant, das gesamte Brot aufzuessen, damit sie einen Grund hatte, bald in die Bäckerei gehen zu können.

Krion. Sie erschauderte. Er war ebenfalls Teil ihrer Buße: Ihm regelmäßig im Dorf zu begegnen nach allem, was passiert war, was sie gemeinsam verursacht hatten. Ihr Vater war nicht der Einzige, der in dieser Nacht gestorben war.

Die Dorfbewohner hatten den Bäcker gelyncht, nachdem sie ihn mit dem blutigen Messer in der Hand über die Leiche des Heilers gebeugt vorgefunden hatten. Das hatten die Männer, die zu ihrem Haus gekommen waren, um ihr die schreckliche Nachricht zu bringen, nicht erwähnt.

Die Gerechtigkeit war flink und endgültig. Oder was die Dorfbewohner als solche erachtet hatten.

Sie war zerrissen zwischen dem Erstaunen über die Verehrung, die man ihrem Vater entgegengebracht hatte, und dem Horror vor dem gnadenlosen Abschlachten eines Mannes, den sie ein Leben lang gekannt hatten.

Nicht einer, sondern zwei Männer waren gestorben als Folge dessen, was sie getan hatte. Und niemand außer ihr wusste davon. Ihr Vater war immer unerbittlich gewesen, wenn es darum ging, ihre magische Gabe geheim zu halten. Und dieses Gesetz hatte sie niemals gebrochen.

Sie fragte sich, ob Krion über den Tod ihrer beiden Väter jemals Schuldgefühle empfunden hatte, oder ob sie die Einzige war, die diese Bürde trug.

Einige Tage, nachdem die Asche ihres Vaters dem Wind übergeben worden war, hatte sie Krion in seiner Bäckerei aufgesucht. Sie war nach Einbruch der Dunkelheit zu ihm gegangen, als die Bäckerei bereits für Kunden geschlossen war. Den Anblick seines Gesichts, als er die Tür auf ihr Klopfen hin öffnete, würde sie wahrscheinlich nie mehr vergessen. Schock und Horror hatten seine Züge verzerrt.

In diesem Augenblick war ihr bewusstgeworden, dass ihm davor graute, möglicherweise das gleiche Schicksal wie sein Vater zu erleiden. Die Dorfbewohner betrachteten ihn schließlich als die Ursache für diese ganze Situation. Er hatte ihr wortlos Zutritt gewährt und sie war eingetreten, nicht länger von Angst geplagt, was er mit ihr allein anstellen mochte.

Sie hatte sich zu ihm umgedreht, war sehr nahe an ihn herangetreten, hatte seinen Kragen gepackt und ihn zu sich heruntergezogen, so nahe, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. Seine Augen waren geschwollen vom Weinen. Sie erinnerte sich, dass sie sich darüber gewundert hatte, war er doch in ihren Augen nicht fähig, menschliche Gefühle zu empfinden. Für sie war er nicht mehr als ein Monster. Der saure Geruch von Tage altem Schweiß auf seiner Haut stach ihr in die Nase, ein Zeichen dafür, dass er seine Körperpflege vernachlässigte.

Sie hatte ihm in die Augen gestarrt und ihm gedroht, sie würde ihn dauerhaft verstümmeln, sollte sie jemals wieder hören, dass er eine Frau auch nur gegen ihren Willen angesehen hätte. Zwei gebrochene Arme wären im Vergleich dazu wie eine Umarmung. Dann war sie gegangen, alles andere als befriedigt mit der zusätzlichen Angst, die sie in seinen Augen wahrgenommen hatte – Angst, deren Ursache sie war.

Es funktionierte. Kein einziger weiterer Vorfall dieser Art war ihr in all den Jahren zu Ohren gekommen.

So hatte sie sich also mit fünfzehn Jahren der Herausforderung gestellt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten – Jahre, bevor sie ihr Training beendet hätte. In Trebans Büchern zu lesen half ihr, ihr medizinisches Wissen zu erweitern. Allerdings war er immer sehr vorsichtig gewesen und hatte keine Bücher über Magie aufbewahrt, die zur Entdeckung seiner Kräfte führen konnten. Somit hatte ihr Magie-Training mit seinem Tod ebenfalls ein Ende gefunden. Sie hatte überlegt, zu experimentieren. Aber aus Angst davor, entdeckt zu werden, hatte sie den Gedanken immer und immer wieder verworfen. Man wusste nie, wer zusah, hatte ihr Vater immer gesagt.

Eryn seufzte und schüttelte die nostalgische Stimmung ab. Sie nahm einen weiteren Schluck des lauwarmen Wassers und steckte den Beutel wieder weg. Noch etwa fünf Stunden Tag – sie hatte vor, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause zu sein. Das war nicht realistisch, wenn sie hier weiterhin herumsaß. Es war noch ungefähr eine weitere Stunde zu gehen, dann ein oder zwei Stunden zum Sammeln der Kräuter, und schließlich brauchte sie drei Stunden für den Rückweg.

Ursprünglich wollte sie ihre Reise am Morgen beginnen, aber dann war ihr ein Patient in die Quere gekommen, dann ein weiterer, und ehe sie sich versah, war es Nachmittag und sie hatte hastig ihre Tasche gepackt und war losgegangen.

Falls sie genug Kräuter fand, überlegte sie, konnte sie genug Medizin vorbereiten, um über die nächsten drei Monate zu kommen. Sie musste noch mit dem Glashersteller über seine letzte Lieferung Fläschchen sprechen: Die Öffnung war zu eng, um die dickflüssigen Zubereitungen ohne Hilfe eines Holzstäbchens wieder herauszubekommen.

Sie fluchte, als sich ihr Schuh unter der Wurzel eines Baumes verfing und sie beinahe nach vorne fiel. Ein schneller Griff nach einem dünnen Baum verhinderte, dass sie auf ihren Knien landete. Sie lehnte sich an den Baum und schüttelte den Fuß, um ihn von der Wurzel zu befreien. Nach Luft schnappend hörte sie, wie das spröde Holz knackte und brach, dann rutschte sie die steile Böschung hinunter.

Panische Versuche, einen Baum, eine Wurzel oder einen Felsen im Fallen zu fassen zu bekommen, brachten ihr nicht mehr als zerkratzte und blutige Handflächen ein. Sie wollte schreien, aber kein Laut entkam.

Bitte – nur keine Kopfverletzung, war ihr letzter Gedanke, bevor ihr Kopf auf einem moosbedeckten Felsen, der ihren Absturz stoppte, aufschlug und sie regungslos auf dem schattigen Boden zum Liegen kam.

* * *

Feuerschein blitzte durch die Bäume, als sieben Männer durch den Wald stapften, jeder von ihnen mit einer entzündeten Fackel, um den Waldboden nach Spuren ihrer Heilerin abzusuchen. Sie war schon zu lange weg. Sie war eine vorsichtige Person, die immer Bescheid gab, wenn sie sich auf den Weg machte, um Kräuter zu sammeln. Immer ließ sie eine der Frauen im Dorf wissen, wohin sie unterwegs war und wann man sie zurückerwarten konnte.

Als fünf Stunden nach ihrer geplanten Rückkehr noch immer nichts von ihr zu sehen war, hatten sich zwei Gruppen von Männern auf die Suche gemacht. Der Schmied runzelte die Stirn, als er einen braunen Schuh entdeckte, der unter einer Wurzel feststeckte.

Er rief nach seinen Begleitern. Sie betrachteten den abgebrochenen Baum und sahen eine Spur. Da könnte jemand den Hang hinuntergerutscht sein.

Mit bedachtsamen Schritten kletterte eine Hälfte nach unten und entdeckte wenig später die regungslose Frau. Sie erkannten sie ohne Probleme an ihrem Gesicht, obwohl eine Schläfe blutverschmiert war. Sie hätten schwören können, dass es sich dabei um die Frau handelte, die sie alle kannten, seit sie ein Kind war, und die ihnen nun schon seit vielen Jahren ihre Dienste als Heilerin anbot.

Aber da war ein kleines Detail, das ihnen die Sprache verschlug und sie mehr als nur ein wenig einschüchterte: Ihr Haar, in dem sich nun eine Mischung aus Erde, kleinen Zweigen und Blättern verfangen hatte, sah fremdartig aus. Es hatte sich von einem strahlenden Blond zu einem dunklen Braun gewandelt.

* * *

Sie versuchte, ihren Kopf vom Sonnenlicht, das direkt auf ihr Gesicht schien und ihre Lider durchdrang, wegzudrehen. Die Bewegung war schmerzhaft und sie stöhnte leise, als sie langsam ihre Augen öffnete. Ihr Kopf schmerzte, und noch mehr Schmerzen bereitete ihr das Heben ihres Armes, um ihre Augen damit zu bedecken.

Sie schloss ihre Augen wieder und führte eine schnelle Kontrolle durch, indem sie einen kurzen magischen Impuls durch ihren Körper schickte. Er sollte ihr Informationen über den Schaden, den sie genommen hatte, aufzeigen: Ein verstauchter Knöchel, ein gebrochener Arm und eine Kopfverletzung. Nichts allzu Ernstes, sie konnte es in ein paar Minuten reparieren, auch wenn sie in ihrem derzeitigen Zustand ein paar Erholungspausen einlegen würde müssen.

Schließlich öffnete sie ihre Augen vollständig und starrte an die steinerne Decke, die ihr absolut unvertraut war. Ihre Augen wanderten langsam zur Quelle des Lichts, einem kleinen Fenster mit Gitterstäben hoch oben in der Wand. Ihr Blick huschte die Steinwände entlang zu der schweren Tür mit einem kleinen, vergitterten Fenster.

Sie war in einer Zelle, erkannte sie mit einem Ruck. Weshalb hatte man sie eingesperrt? Vor allem, da sie auch noch durch den Absturz verletzt war!

“Hallo?”, rief sie schwach mit rauer Stimme.

“Sie ist aufgewacht”, sagte jemand auf der anderen Seite der Tür. “Gib dem Bürgermeister Bescheid.”

Darauf folgte Stille.

Sie musste wohl wieder eingenickt sein, denn das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, ließ sie hochschrecken. Drei Männer und eine Frau traten ein, der Bürgermeister, der Schmied, der älteste Sohn des Schmieds und die Gefährtin des Bürgermeisters. Sie betrachteten Eryn mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht ganz entschlüsseln konnte.

“Warum bin ich hier?”, krächzte sie, woraufhin die Gefährtin des Bürgermeisters ein Glas Wasser für sie holte und es an ihre Lippen hielt, bevor sie eilig zurücktrat.

Ihre Stimme klang klarer, als sie fragte: “Was ist los hier? Warum bin ich eingesperrt?”

Anstatt einer Antwort reichte ihr der Bürgermeister einen kleinen Handspiegel.

Eryn entfuhr ein kurzer, entsetzter Aufschrei, als sie ihr Gesicht erblickte – umgeben von einer verhedderten Masse fremdartigen braunen Haares. Sie ließ den Spiegel beinahe fallen und berührte ihren Kopf, fühlte die vertraute Textur ihres Haares gemischt mit den Rückständen aus dem Wald. Es fühlte sich nicht anders an unter ihren Fingern, die Veränderung war jedoch eindeutig ersichtlich.

Gedanken begannen in ihrem bereits pochenden Schädel zu rasen und verstärkten den Schmerz noch weiter. Weshalb war das passiert? Wie war das möglich? Ihr Vater hatte hart mit ihr trainiert, um genau dies zu vermeiden, also warum funktionierte es zum ersten Mal in all diesen Jahren nicht mehr?

Dann begriff sie. Sie war nicht nur einfach eingeschlafen, sondern ihr Bewusstsein war tiefer abgedriftet, zu tief, um irgendwelchem Training oder eingebetteten Gewohnheiten zu gehorchen. Ihre Achtlosigkeit auf dem Pfad hatte weit mehr Schaden angerichtet, als nur ein paar Knochen und Gewebe zu verletzen. Sie war nicht länger dadurch geschützt, gleich wie alle anderen zu sein. Nun war sie anders. Und anders zu sein war gefährlich.

“Wir haben den König darüber informiert”, sagte der Bürgermeister ernst.

“Den König?”, antwortete sie schwach. “Aber… warum?”

“Du weißt genau, warum. Du bist nicht von hier. Es obliegt dem König, zu entscheiden, was mit dir zu passieren hat.”

“Was mit mir zu passieren hat?” Ihr Sichtfeld begann zu verschwimmen und der Kopfschmerz verstärkte sich von einem dumpfen Pochen zu einem Hämmern. “Was meinst du damit, was mit mir zu passieren hat? Ich habe mich in den letzten zwölf Jahren um dieses Dorf gekümmert”, schluchzte sie, hilflos gegenüber den Tränen des Ärgers, der Angst und der Verzweiflung, die ihre Wangen hinabliefen. “Nach allem, was passiert ist, bin ich hiergeblieben, und so dankt ihr es mir?” Sie versuchte aufzustehen, sank aber zurück auf die harte Bank.

“Es war nicht einfach für uns”, sprach dieses Mal der Schmied. Sie konnte das Bedauern in seiner Stimme hören, sah es in seinen Augen. “Wir haben dich immer als eine von uns betrachtet, wir wollen dich nicht verlieren. Aber…” Er deutete nur auf ihre Haare und suchte hilflos nach Worten, die nicht kommen wollten.

“Die Strafe für die Beherbergung von Spionen ist der Tod”, sagte der Bürgermeister mit hohler Stimme. “Das können wir nicht riskieren. Was mit dir passieren wird, liegt nicht länger in unserer Hand.”

Als Eryn ihre Knie an ihre Brust zog und ihr Gesicht darin vergrub, zogen sich die vier leise zurück und fragten sich, wie es sich dermaßen falsch anfühlen konnte das Richtige zu tun. Und den Gesetzen zu folgen musste das Richtige sein.

* * *

Zwei Tage waren vergangen, seit man ihr verkündet hatte, dass das Dorf sie an den König übergeben würde, als sie einen Tumult vernahm. Das Fenster war zu weit oben in der Wand, als dass sie hinaussehen hätte können.

Man hatte ihr zu essen und zu trinken gegeben und ihr auch Kleidung gebracht, damit sie die schmutzigen, zerrissenen, blutigen Stücke ablegen konnte. Sie hatte kein einziges Wort mit jemandem gewechselt. Niemand war besonders erpicht darauf, sich mit ihr zu unterhalten.

Die Verletzungen zu heilen hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie vorausgesehen hatte. Natürlich konnte sie sich nur um den unsichtbaren Schaden in ihrem Inneren kümmern. Die Kopfwunde vollständig zu heilen und sich damit als Magierin zu erkennen zu geben, würde ihre Haarfarbe zu ihrem geringsten Problem werden lassen.

Sie hatte verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, ihre Magie so einzusetzen, dass sie sich aus ihrer Zelle befreien konnte, aber Heilen war nicht unbedingt eine offensive Fähigkeit. Natürlich nur, sofern man von dem Schaden absah, den sie am menschlichen Körper verursachen konnte.

Aber sie hatte keine Ahnung, ob oder wie schweres Mauerwerk oder Holztüren entfernt, in Luft verwandelt, zum Wegfliegen gebracht werden konnten. Oder was auch immer sonst hilfreich gewesen wäre, um aus der Zelle zu entkommen.

Sie wappnete sich, als sie die Geräusche herannahender Schritte vernahm. Keine Furcht zeigen, ermahnte sie sich. Sie würde ihnen nicht die Befriedigung geben, sie ängstlich zu sehen.

Der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht, und kurz darauf trat der Bürgermeister ein. Hinter ihm folgten zwei Männer, die in irgendeine Art Uniform gekleidet waren. Sie wechselten einen Blick und nickten, offensichtlich eine Bestätigung, dass dies definitiv die Frau war, derentwegen sie gekommen waren.

Dann trat einer der beiden näher und hob seine Hände, in denen er, wie Eryn erst jetzt bemerkte, ein Paar stählerner Handschellen hielt. Sie zog in Betracht, sich aus Stolz zu weigern, wohl wissend, dass sie keine Chance hatte. Aber tretend und schreiend nach draußen gezerrt zu werden war nicht die Art und Weise, wie sie hier abreisen wollte. Sie wollte in Würde weggehen, den Dorfbewohnern zeigen, dass sie im Gegensatz zu deren Feigheit wusste, was Mut war. Das, was sie ihr antaten, war keineswegs mehr, als sie bewältigen konnte.

Sie hob ihre Arme und erlaubte dem Mann, den sie als Soldat betrachtete, ihr die Handschellen anzulegen und sie aus der Zelle zu führen. Vor dem kleinen Gebäude wartete eine Kutsche. Sie hatte in der Vergangenheit bereits mehrere Kutschen gesehen. Wohlhabende Menschen von weit her, die medizinische Hilfe benötigten, pflegten in ihnen anzureisen.

Diese war allerdings anders. Sie verfügte über die üblichen Holztüren, die aber an der Außenseite mit Metallstäben und einem großen Schloss verstärkt waren. Nun, dachte sie, wenigstens beabsichtigte man nicht, sie wie einen Mehlsack über den Rücken eines Pferdes zu werfen.

Erst jetzt bemerkte sie die Menschenmenge, die sich rund um die Kutsche gebildet hatte und aus sicherer Entfernung schweigend zusah. Sie ließ ihren Blick über die Gesichter wandern, kämpfte darum, ihre Gefühle für sich zu behalten und nicht mehr als eine ausdruckslose Maske zu präsentieren. Sie sah den Glashersteller, der blass aussah, seine Lippen zu einer dünnen Linie gepresst; den Schmied mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn; Krion, mit einer hübschen jungen Frau neben sich, die sich an seinem Arm festhielt. Sein Gesichtsausdruck war ernst; eigentlich hätte sie stattdessen Schadenfreude erwartet. Eryn fragte sich, ob sich die Frau darüber im Klaren war, worauf sie sich mit ihm eingelassen hatte.

Sie wurde zu der Kutschentür geführt und kletterte hinein, bevor man sie dazu zwang. Somit entfloh sie dem Anblick all dieser Menschen, die sie einfach so ausgeliefert hatten, bevor sie die Tränen sahen, die sie nicht länger unterdrücken konnte.

Einer der Soldaten, oder was auch immer er nun war, stieg nach ihr ein und nahm auf der gegenüberliegenden Bank Platz, um sie im Auge zu behalten. Es kümmerte sie nicht, ob er ihre Tränen sah, solange die Dorfbewohner ihrer nicht ansichtig wurden.

Ihr Vater wäre nicht überrascht gewesen, dachte sie, und fühlte, wie die Tränen erneut flossen. Immerhin hatte er hart dafür gearbeitet, genau das zu verhindern, hatte stets unnötige Risiken vermieden, die zur Entdeckung seiner magischen Fähigkeiten führen hätten können. Er war sich über die Schattenseiten der menschlichen Natur absolut im Klaren gewesen.

* * *

Zwei Tage in der dunklen Kutsche, einer der Soldaten immer bei ihr, bescherte ihr jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, was sie wohl in der Stadt erwarten würde. Sie hatte genug Gelegenheit, sich unangenehme Optionen vorzustellen. Da gab es lebenslangen Gewahrsam, Folter zur Erlangung der Informationen, die man in ihrem Besitz vermutete, oder sogar Sklaverei. Oder eine nette Kombination zweier Optionen. Jede Kombination würde funktionieren, außer Nummer Eins mit Drei. Eine eingesperrte Sklavin war wohl wenig nützlich.

Abgesehen von ihren gedanklichen Ausflügen zu den potentiellen Schrecknissen, die die Zukunft bringen mochte, war die Reise nicht eben aufregend. Das rote Wappen des Königs hielt Ärger auf Abstand, sodass es keinerlei unterhaltsame Zwischenfälle in Form von Wegelagerern oder anderen kriminellen Elementen gab.

Sie verbrachten die Nächte in Gasthöfen, jedes Mal in einem Zimmer mit zwei Betten, eines für sie, das andere für einen der Soldaten, der sich ausruhte, während sein Kollege auf einem Stuhl Wache hielt.

Die Soldaten waren nicht besonders gesprächig. Das war für Eryn in Ordnung, sie selbst war auch nicht eben in geselliger Stimmung. Wesentlich wichtiger für sie war, dass sie sie kein einziges Mal auf eine Art und Weise berührten, die man als unangemessen hätte erachten können. Disziplin war eine großartige Sache bei einem Soldaten, überlegte sie.

Unglücklicherweise bedeutete dies nicht nur, dass sie ihre Finger von ihr ließen, sondern auch, dass ihre Augen auf ihr blieben – zu jeder Zeit. Es gab kein noch so kurzes Ermüden und Hinabgleiten in ein kleines Schläfchen. Sie boten ihr keine Gelegenheit zu einem Versuch, klammheimlich aus dem Fenster zu klettern.

Wie ungemein rücksichtlos.

Tag drei brachte die königliche Stadt Anyueel in Sichtweite, Hauptstadt des Königreichs Anyueel. Allerdings bezeichnete niemand das Land anders als das Königreich, wenn davon gesprochen wurde. Vermutlich, weil es unnötig war, zwischen den Namen von Ländern zu unterscheiden, wenn es keinerlei Kontakt über die Grenzen hinweg gab. Und es würde ohnehin nur zu Verwirrung führen, ob nun die Hauptstadt oder das Königreich gemeint war.

Eryn war noch nie zuvor dort gewesen und starrte auf die graue Steinmauer, die die Stadt umgab, größer als in ihrer Vorstellung. Sie erblickte ein hohes Gebäude, das über zahllosen Dächern thronte. Zweifellos der Palast des Königs, vermutete sie.

Eine Vielzahl an dunklen Rauchsäulen stieg aus einer Menge an Schornsteinen in die Luft empor.

Sie beobachtete, wie sie sich der Stadt näherten, und es dauerte nicht lange, bis die Kutsche vor einem enormen Tor zum Stehen kam. Sie hörte den Soldaten auf dem Kutschersitz ein paar forsche Worte mit den Torwächtern austauschen, bevor sich das Gefährt wieder in Bewegung setzte.

Beim Passieren des Tores versuchte Eryn, so viel wie möglich durch das kleine Fenster wahrzunehmen. Ihr Herz wurde schwer, als sie sah, dass es nicht nur eine dicke Steinmauer gab, sondern noch eine weitere ein paar Schritte weiter innen. Das äußere Tor hatte zwei schwere Türen mit mächtigen, metallenen Scharnieren, und das innere konnte durch ein Fallgitter blockiert werden. Derzeit stand es offen, und die zahlreichen metallenen Spitzen zeigten nach unten gleich einer düsteren Warnung. Bei dem Gedanken, was wohl mit den Knochen und Organen eines Menschen oder eines Tieres passieren würde, das darunter gefangen war, schauderte sie. Sehr wahrscheinlich mehr als ein oder sogar zwei Heiler gleichzeitig reparieren konnten.

Dann hielt die Kutsche vor dem hohen Gebäude, das sie vom Fenster aus bereits erspäht hatte, und die Türe des Gefährts wurde geöffnet.

Der Soldat ihr gegenüber gab ihr ein Zeichen, zuerst auszusteigen, genau wie er es jedes Mal in den letzten zweieinhalb Tagen getan hatte. Sie mutmaßte, dass er darauf trainiert war, Gefangenen nicht seinen ungeschützten Rücken zu präsentieren. Was auf jeden Fall einen Sinn ergab.

Köpfe drehten sich in ihre Richtung auf dem weiträumigen Platz vor dem Palast, als sie die Kutsche verließ und die Blicke unzähliger erstaunter Augen durch ihre ungewöhnliche Haarfarbe angezogen wurden. Sie konnte Geflüster aus verschiedenen Richtungen hören und sah Kinder, die mit dem Finger auf sie zeigten.

Die Soldaten machten sich daran, sie in das Gebäude zu eskortieren, doch zwei Männer in dunkelbraunen Roben kamen raschen Schrittes über den Platz auf sie zu. Beide waren eher jung, und einer hob seinen Arm, um sie aufzuhalten.

Sobald sie in Hörweite waren, rief er: “Wir werden sie übernehmen. Der Orden übernimmt ihre Befragung.”

Der Orden wollte mit ihr sprechen? Das war eine Überraschung, und zwar eine besorgniserregende. Ihr Vater hatte seine Ansichten über den Orden regelmäßig in der Abgeschiedenheit ihres Hauses kundgetan. Es waren keine sehr schmeichelhaften. Einen Haufen Einfaltspinsel hatte er sie genannt, die lieber mit ihrer Magie herumspielten und einander bekämpften, anstatt etwas Sinnvolles damit anzustellen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Warum brachte man sie zu den Magiern? Sie konnten unmöglich von ihren Kräften wissen, oder? Hatte sie in den letzten zwei Tagen irgendetwas verraten, im Schlaf womöglich? Oder als sie in ihrem Dorf eingesperrt gewesen war?

Die Soldaten nickten und folgten den Männern in den Palast. Waren diese beiden Männer in Roben Magier? Kleideten die sich so?

Die Schatten im Inneren des Gebäudes erschwerten es ihr zunächst, ihre Umgebung wahrzunehmen. Nachdem sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich in einer riesigen Eingangshalle mit mehreren Säulen befand, jede davon so dick wie ein alter Baum und mindestens ebenso hoch. Vier Korridore begannen zwischen jeweils zwei Säulen und erstreckten sich in die Ferne.

Die Männer in den Roben wandten sich dem ersten rechts zu und hielten dann vor einer mittelgroßen Doppeltür, die beinahe zu bescheiden für diesen Ort wirkte.

Der etwas Größere der beiden öffnete beide Türen und deutete den Soldaten, Eryn hineinzubringen. Sie schluckte und wurde, da sie sich nicht von selbst in Bewegung setzte, nach vorne gestoßen.

Das war sehr wahrscheinlich der Raum, in dem man sie befragen würde. Nach einem kurzen Blick bemerkte sie mit Erleichterung, dass keinerlei Folterwerkzeuge zu sehen waren. Es war ein eher großer Raum mit einem einzelnen Stuhl im Zentrum und einem massiven Tisch.

An dem Tisch saßen fünf Männer verschiedener Altersklassen. Einer davon war vollständig ergraut und schien in den Sechzigern zu sein, die anderen wirkten wesentlich jünger und rangierten wohl zwischen Mitte Zwanzig und Ende Dreißig. Sie alle waren in braune Roben gekleidet, sodass die Unterscheidung schwer fiel.

Keiner erhob sich, als sie eintrat. Sie gemahnte sich, dass sie den Respekt, den sie als Heilerin in den letzten eineinhalb Jahrzehnten genossen hatte, hier nicht erwarten konnte. An diesem Ort war sie nicht mehr als eine Fremde, die man verdächtigte, eine Spionin zu sein.

Die Soldaten brachten sie zu dem Stuhl, drückten sie darauf nieder und verließen den Raum ohne ein Wort. Die zwei Magier, die sie hergeführt hatten, bezogen Stellung vor der Tür.

Sie hatte auf der Reise hierher genügend Zeit gehabt, sich zu überlegen, was sie sagen würde, wenn die Zeit kam. Sie entschied, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Der Bürgermeister hatte sicherlich alle Informationen weitergeleitet, die er über sie hatte. Was nicht besonders viel war. Es gab nicht wirklich einen Grund für sie, zu lügen; ihre Geschichte war harmlos genug, und sie wusste selbst nur sehr wenig über ihre Vergangenheit, bevor sie ihr Heimatland verlassen hatte. Sie wusste nicht einmal genau, woher sie stammte. Das Einzige, was sie verbergen musste, war ihre Magie, der Rest war unerheblich.

Wenn sie kooperierte, würde man sie wieder gehen lassen? Wohin würde sie in diesem Fall gehen? In ihr Dorf zurückzukehren war keine Option. Wie sollte sie es ertragen, wieder dort zu leben?

Nein, entschied sie, sie würde in der Nacht dorthin zurückkehren, um ihre Habseligkeiten zu holen und dann nie wieder zurückblicken. Sie konnte sich überall niederlassen – Heiler waren in diesem Land nicht eben zahl vorhanden, also sollte es nicht allzu schwierig sein, einen Ort zu finden, wo ihre Dienste höher geschätzt wurden als ihre Haarfarbe.

“Wie lautet dein Name?”, fragte der Älteste in ihre Gedanken hinein.

“Eryn”, antwortete sie folgsam.

“Woher stammst du?”

“Ich bin nicht sicher. Ich glaube aus dem Westen.”

Der alte Mann runzelte die Stirn. “Wie kannst du nicht sicher sein, woher du kommst?”

“Ich war noch ein Kind, als wir von dort weggingen.”

“Wir?”

“Mein Vater und ich. Er brachte mich hierher.”

“Wo ist er jetzt, dein Vater?”

“Er ist tot. Seit zwölf Jahren.”

“Warum hat er dich hierhergebracht?”

“Ich weiß es nicht.”

Sie begannen untereinander zu murmeln. Dann fragte einer der anderen vier: “Du hast also keine Ahnung, woher du kommst und weshalb dich dein Vater hierhergebracht hat? Das erscheint etwas unglaubwürdig.”

Eryn blieb stumm und sah die Männer nur an. Protest würde ihr kaum Pluspunkte einbringen.

“Wo ist deine Mutter?”

“Sie starb schon bevor wir hierherkamen.”

So ging es weiter und weiter. Sie schienen sehr interessiert an ihrem Vater und wie es möglich war, dass die Dorfbewohner vor dem Unfall im Wald niemals zuvor ihr braunes Haar erblickt hatten. Nun begann der gefährliche Teil. Sie musste jeglichen Verdacht auf Magie zerstreuen.

“Mein Vater konnte ein Pulver mischen, das es möglich machte, die Haarfarbe zu verändern. Er wollte nur in Frieden leben und nicht belästigt werden”, erklärte sie ruhig.

“Aus welchem Grund hat sich dein Haar dann zurück zu seiner ursprünglichen Farbe verändert, als du gefunden wurdest?”, fragte ein weiterer.

“Weil ich mehrere Stunden lang in der Hitze einen Pfad bergauf gegangen bin. Mein Schweiß muss den Großteil des Pulvers entfernt haben.”

Sie war auf diese Frage vorbereitet gewesen und war erleichtert, als sie sah, dass man ihre Erklärung zu akzeptieren schien.

“Wir haben gehört, dass dein Vater ein Heiler war.”

“Ja, er war ein sehr guter Heiler.”

“Anscheinend war er nicht nur sehr gut, sondern außergewöhnlich.”

“Ja, er hat mir erzählt, dass er zuhause viele Jahre lang ausgebildet worden war.”

“Ah ja, das geheimnisvolle Zuhause, an das du dich nicht erinnerst.” Der alte Mann schmunzelte und fuhr dann fort: “Du hast die Arbeit deines Vaters nach seinem Tod fortgesetzt.”

Sie nickte. “Ja.”

“Er hat dich also ausgebildet?”

Die Stunden schienen sich in die Länge zu ziehen. Sie wechselten sich dabei ab, ihr Fragen zu stellen, wollten manchmal hören, was sie bereits zuvor geantwortet hatte. Sie fragte sich, ob sie versuchten, sie dazu zu bringen, dass sie sich selbst widersprach.

Der Nachmittag begann bereits in den frühen Abend überzugehen, als der älteste der Männer sich erhob und auf sie zutrat. Sie war erschöpft, durstig, hungrig und hatte diese ganze Situation satt. Aber sie hatte es durchgestanden, und nun sah es aus, als würde sich all dies schließlich dem Ende zuneigen.

“Dann bleibt nur mehr eine Sache”, sagte der Mann und kam näher. Sie betrachtete ihn misstrauisch. Was wollte er jetzt noch?

“Was?”, seufzte sie müde.

“Nur ein kleiner Test, ob du uns die Wahrheit sagst.”

Sie runzelte die Stirn. “Was für ein Test?”

“Ich werde dir ein paar der Fragen noch einmal stellen. Dieses Mal werde ich ein wenig Magie einsetzen, um deinen Mund davon abzuhalten, eine Unwahrheit zu sagen.”

In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Das klang nicht gut, überhaupt nicht. Als er sich anschickte, ihren Arm zu ergreifen, zog sie ihn weg, sprang auf und presste sich gegen die Wand.

“Nein, ich will das nicht”, schrie sie. “Bleibt mir vom Leib!”

Der Mann trat näher und drängte sie in die Ecke. “Ich befürchte, du hast keine Wahl in dieser Angelegenheit, wenn man bedenkt, weshalb du hier bist.”

Er umfasste ihren Arm und hielt ihn so fest, dass sie sich nicht befreien konnte.

Sie zwang die aufsteigende Panik in ihrem Innern nieder. Vielleicht funktionierte es nicht bei ihr. Konnte sie womöglich selbst Magie einsetzen, um seine zu blockieren? Aber wie? Sie hatte bisher noch nicht einmal davon gehört, dass so etwas möglich war, geschweige denn, wie man entgegenwirken konnte.

Sie fühlte ein Rinnsal von Wärme von seiner Handfläche ihren Arm hinaufwandern.

“Nun, erzähl mir noch einmal, weshalb dich dein Vater hierhergebracht hat”, verlangte er.

Sie schüttelte verzweifelt ihren Kopf. “Ich weiß es nicht! Wirklich nicht. Ich glaube, er hat sich versteckt.” Das war nicht gut. Das letzte Stück war nicht beabsichtigt gewesen.

“Vor wem? Und weshalb?”

“Ich weiß es nicht!”

“War dein Vater ein Spion?” Der Griff um ihren Arm wurde stärker.

“Nein!”

“Bist du eine Spionin?”

“Nein!”

Wenn seine Fragen weiterhin in diese Richtung gingen, bestand keine unmittelbare Gefahr, dass sie ihr Geheimnis offenbarte.

Die nächste jedoch zerstörte diese Illusion rasch.

“War dein Vater in der Lage, Magie anzuwenden?”

Sie sog den Atem scharf ein und wollte es leugnen, doch ihr Mund weigerte sich, die Worte auszusprechen. Triumph blitzte in den Augen des Mannes auf.

“Aha!”

Das war genug! Sie trat ihm gegen das Schienbein und entriss ihren Arm seinem Griff. Er fluchte unterdrückt und wies seine Kollegen an: “Haltet sie fest!”

Neue, heiße Panik stieg in ihr hoch. Sie atmete schwer und zog sich langsam in eine Ecke zurück, ihr Blick auf die Magier gerichtet, die sich ihr stetig näherten. Sie trat dem ersten, der in ihre Reichweite kam, gegen das Knie, woraufhin er hastig mit einem Schmerzensschrei zurücksprang.

“Wir sollten sie vielleicht betäuben. Das wäre sicherer”, sagte einer von ihnen. “Eine schwache Betäubung sollte sie bei Bewusstsein halten, sodass sie unsere Fragen beantworten kann.”

Wenige Momente später schoss etwas auf sie zu und traf sie direkt in die Brust, sodass sie nach Luft schnappte.

Der Magier runzelte seine Stirn und schüttelte den Kopf. “Das hätte sie unschädlich machen sollen! Sie sollte nicht mehr aufrecht stehen!”

“Es war wohl zu schwach”, sagte ein anderer, und dieses Mal sah sie, wie der Energieblitz auf sie zuflog, ohne dass sie in der Lage war, ihm auszuweichen. Dieser traf sie in den Magen, sodass sie beinahe zusammenklappte.

Sie starrte die Männer an und verstand nicht, warum sie ihr bereitwillig Schmerzen zufügten; Hass, Angst und Verzweiflung brachen tief aus ihrem Inneren hervor. Als ein weiterer von ihnen mit seiner Handfläche auf sie zielte, hob sie beide Hände in einer abwehrenden Geste und bereitete sich so auf den nächsten Einschlag vor, verzweifelt entschlossen, den bevorstehenden Schmerz nicht an sich heranzulassen.

Sie spürte tatsächlich nichts, blickte auf und direkt in sieben erstaunte Gesichter, die sie anstarrten. Plötzlich riss die Hälfte von ihnen ihre Hände nach oben und entfesselte Strahlen aus Magie, die jedoch irgendwie gestoppt wurden und sich – ohne sie zu treffen – vor ihrem Körper zerstreuten.

Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung für dieses unerwartete Phänomen und bemerkte nach ein paar Sekunden vor sich in der Luft ein blasses Schimmern. Um es zu berühren, hob sie ihre Fingerspitzen an, zog sie jedoch flink wieder zurück, als sie ein schwaches, kribbelndes Knistern auf ihrer Haut fühlte.

Irgendwie hatte sie es geschafft, sich mit Magie zu schützen! Und es sah so aus, als konnten die Männer nicht zu ihr durchdringen!

Jetzt zielten alle von ihnen mit ihren Handflächen auf sie und setzten Stöße frei. Jeder einzelne davon wurde gestoppt, bevor er Schaden anrichten konnte. Sie versuchten es wieder und wieder, aber vergeblich.

Eryn sah, dass die Männer erblasst waren. Vor Angst? Sie beabsichtigte nicht zu bleiben und es herauszufinden, sondern bewegte sich langsam in Richtung der Türe, die noch immer von den beiden Magiern mit panischen Gesichtsausdrücken bewacht wurde.

“Lauft! Holt Lord Enric! SOFORT!” Dringlichkeit dröhnte in der Stimme des alten Magiers.

Die beiden standen noch einen Augenblick länger still, wie betäubt vor Schock, dann rannten sie los und ließen die Tür hinter sich offenstehen. Eryn schlüpfte hinaus und begann zu laufen, wissend, dass die Magier ihr knapp auf den Fersen waren.

Sie wandte sich nach links, wo sich laut ihrer Erinnerung der Eingang befinden musste und schlitterte den glatten Boden entlang. Sie musste schnell weg von hier, bevor sie es irgendwie schafften, sie aufzuhalten.

Sie vernahm, wie eine weitere Salve an Blitzen auf ihren Schild traf und blickte zurück zu den Männern, die sich eilig in eine Nische duckten, als ob sie Angst vor einem Gegenangriff hätten.

Dann dämmerte es ihr. Genau das war der Grund, warum sie sich versteckten – sie hatten keine Ahnung, dass sie nicht wusste, wie man die Angriffe erwiderte! Sie glaubten, sie könnte jeden Moment zurückschießen. Sie hatte die große Eingangshalle beinahe erreicht, als einige weitere Geschosse die Barriere trafen, ohne sie auch nur ansatzweise zu durchdringen. Sie fragte sich, warum sie nicht aufhörten, da es doch offensichtlich war, dass es keine Wirkung auf sie hatte.

Plötzlich wurde ihr klar, dass es sehr wohl eine Wirkung hatte. Sie wurde hingehalten. Hatten sie nicht nach jemandem geschickt? Einem Lord oder so etwas? Und es funktionierte auch: Jedes Mal, nachdem sie attackiert worden war, wurde sie langsamer.

Entschlossen, ihnen nicht noch weiter entgegenzukommen, griff sie hastig nach dem schweren Eisenring, um einen Flügel der Tür aufzuziehen, als sie eine laute, autoritäre Stimme hinter sich rufen hörte: “Angriff einstellen!”

Ein schneller Blick über die Schulter zeigte ihr, zu wem die Stimme gehörte: Ein Mann Mitte Dreißig, hochgewachsen und schlank, in eine blaue Robe gekleidet, kam zügig auf sie zu, anders als die anderen offensichtlich ohne Furcht vor einem Angriff.

Er strahlte Selbstbewusstsein aus, wurde davon umgeben wie von einer zweiten Haut. Und er wirkte fest entschlossen. Er blieb zwischen den Säulen stehen, hob seine Hand und entfesselte, ohne auch nur einen Moment zu zögern, einen Energieblitz.

Sie starrte in vollkommener Fassungslosigkeit in sein resolutes Gesicht, die fest aufeinandergepressten Lippen und die gerunzelte Stirn; sie nahm all diese bedeutungslosen Details mit unglaublicher Klarheit in sich auf, während ihre Knie langsam unter ihr nachgaben.

Sein Angriff hatte ihren Brustkorb getroffen, und der Schmerz wurde bereits von der Dunkelheit gedämpft, die sie umgab, noch bevor sie auf dem Boden aufschlug.

»Ende der Leseprobe«

 

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