„Der Orden“ – Buch 1

„Der Orden“ – Buch 1

Kapitel 1

Eryn

Die Luft war eisig und es schien, dass der Winter mit viel Schnee seinen Einzug halten würde.

Es war erst der Beginn dieser Jahreszeit, allerdings war sie bereits jetzt wesentlich rauer als die letzten Jahre, an die sie sich erinnern konnte.

Eryn beobachtete ihren Atem, der in blassen Wolken vor ihrem Gesicht kondensierte. Dann hob sie ihren Blick zum sternenübersäten Himmel über sich. Er war ein unvergleichlicher Anblick in solch einer klaren, wolkenlosen Nacht. Trotzdem freute sie sich auf ihre Rückkehr nach Hause zu einem gemütlichen Feuer und einem warmen Getränk. Sie hasste diese Kälte seit sie denken konnte. Ihre bevorzugte Jahreszeit waren die heißen Sommermonate, ganz gleich wie sehr sie die Arbeit in der Hitze erschöpfte. Der Sommer fühlte sich auf jeden Fall wesentlich besser an als diese klirrende Kälte.

Sie presste ihre Tasche mit den Wurzeln fest an sich und eilte durch die dunkle Hauptstraße des kleinen Dorfes. Sie hätte schon vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein sollen, aber die Wurzeln waren dieses Jahr schwer zu finden. Vermutlich hatten sich die Dorfbewohner ebenfalls auf die Suche danach gemacht, um sie auf den Märkten zu verkaufen.

Ihr Vater würde sie bereits ungeduldig erwarten und jede Minute – oder jede zweite – einen Blick aus dem Fenster werfen. Er wurde es nicht müde, ihr zu erklären, wie gefährlich es für ein fünfzehnjähriges Mädchen war, allein in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Eryn unterdrückte jedes Mal ein Seufzen, wenn er eine weitere seiner Tiraden darüber startete, welche zahllosen Gefahren hinter jeder Ecke lauerten. Ihre späte Rückkehr würde ihr eine weitere einbringen, daran bestand kein Zweifel.

Nur noch vorbei an zwei weiteren Häusern, und sie würde den schmalen Pfad erreichen, der zu dem abgeschieden gelegenen kleinen Haus führte, das sie mit Treban, ihrem Vater, bewohnte.

Treban war der Dorfheiler, und zwar ein ausgezeichneter. Sein guter Ruf war weit verbreitet. Die Kranken und Verletzten kamen von weit her, um sich von ihm helfen zu lassen – kaum jemals vergebens. Er war ungemein stolz auf seine Arbeit und hatte noch niemals jemanden fortgeschickt, auch wenn der- oder diejenige nicht in der Lage war, ihn zu bezahlen.

Diejenigen jedoch, die er behandelte, waren stets bestrebt, einen Weg zu finden um ihn zu entschädigen – auch wenn es längere Zeit dauerte. Es war nicht klug, auf jemanden wie ihren Vater einen schlechten Eindruck zu machen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass man seine Dienste eines Tages wieder benötigte. Zuweilen trafen Pakete mit Dankesbriefen ein, die seine Großzügigkeit priesen. Ihr Vater führte keine Aufzeichnungen darüber, wer ihn bezahlt hatte und wer nicht. Es kümmerte ihn schlicht und einfach nicht.

Heilen war für ihn nicht einfach nur ein Mittel, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern dazu, den Menschen zu dienen und zu helfen. Er war überzeugt, dass sie das Gleiche für ihn tun würden. Manche belächelten seine Selbstlosigkeit als naiv. Seine Einstellung hielt ihn aber nicht davon ab, die Menschen so zu sehen, wie sie wirklich waren. Er wollte nur einfach nicht so sein wie sie. Er war ein Mann, der das Beste glauben wollte, sich aber der menschlichen Natur sehr wohl in ihren schlimmsten Ausprägungen bewusst war.

Und Eryn wusste, dass er genau aus diesem Grund immer wieder seiner Tochter verständlich zu machen versuchte, wie wichtig es war, dass sie auf sich aufpasste.

Irgendwo hinter einem der Häuser hörte sie einen Zweig brechen, nur eines der vielen Geräusche, die das Landleben mit sich brachte. Sie sagte sich, dass es sich wohl um ein kleines Tier handelte oder um jemanden, der ein paar Scheite Holz zum Kochen ins Haus holte.

Kein Grund nervös zu werden, beruhigte sie sich und verfluchte ihren Vater dafür, dass er sie dazu brachte, in jedem Schatten eine Gefahr und in jedem Geräusch ein böses Vorzeichen zu sehen.

Das nächste Geräusch war näher, gleich hinter ihr.

Sie schluckte, holte tief Luft, drehte sich um und seufzte erleichtert auf, als sie Krion, den Sohn des Bäckers, erkannte. Er war ein paar Jahre älter als sie, ein hochgewachsener, gutaussehender junger Mann. Er hatte stets ein Lächeln und ein Zwinkern für Eryn übrig, wenn sie in das Geschäft seines Vaters kam, um Brot zu kaufen.

Schon vor einer Weile hatte er begonnen, mit ihr zu flirten, und Eryn fühlte sich überaus geschmeichelt. Manche der anderen Mädchen ihres Alters und ältere hatten schon versucht, seinen Blick auf sich zu ziehen, und Eryn war sehr erfreut, dass er gerade sie ausgewählt hatte. Zumindest hoffte sie, dass sie die Einzige war, mit der er flirtete… Sie wäre am Boden zerstört, wenn sie jemals herausfände, dass er mit allen Mädchen so umging, sobald er ein paar ungestörte Momente mit ihnen verbrachte.

Ein paar andere Jungs hatten ebenfalls begonnen, ein Auge auf sie zu werfen, aber keiner von ihnen schaffte es so wie Krion, sie derart nervös zu machen.

Sie strahlte, als er näher kam, so wie immer, wenn sie ihn erblickte. “Was machst du denn hier draußen in der Kälte? Solltest du nicht zuhause sein?”

Seine hellen Zähne blitzten im Dunkeln, als er lächelte. “Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, kleine Eryn. Es ist gefährlich hier draußen in der Dunkelheit.”

Sie rollte mit ihren Augen: “Du klingst wie mein Vater!”

Er lachte: “Ich bringe dich wohl besser nach Hause, damit dir nichts passiert und dein Vater sich nicht aufregt.”

Sie fühlte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen. Er bot ihr an, sie nach Hause zu begleiten! Sie würde mit ihm den ganzen Weg bis zu ihrem Haus gehen, würde ihn ganz für sich allein haben! Das bedeutete, dass er sie mochte, nicht wahr? Er würde sie nicht begleiten, wenn er nichts für sie empfinden würde, richtig? Oder tat er es einfach nur aus der für ihn so typischen Galanterie?

Er wartete auf ihre Antwort. “Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, kleine Eryn, oder?”, neckte er sie.

Angst? Sie fühlte sich beinahe schwindlig vor Glückseligkeit und lächelte. “Nein, selbstverständlich nicht. Danke, das wäre fein.”

Sie folgten dem Weg wortlos bis sie das Dorf hinter sich gelassen und den schmalen Weg erreicht hatten, der zum Haus des Heilers führte.

“Wie gefällt es dir so, mit deinem Vater zu arbeiten? Das Heilen? Ich meine, dein Vater bildet dich doch zu einer Heilerin aus, oder?”

Sie nickte. “Ja genau, und ich finde es toll. Manchmal ist es wirklich mühsam, die ganze Nacht aufzubleiben, um jemandem zu helfen, der betreut und beobachtet werden muss, und dann nach nur zwei oder drei Stunden Schlaf mit der täglichen Arbeit weiterzumachen – aber glücklicherweise passiert das nicht zu oft. Aber zu sehen, wenn Leute zu uns kommen, denen es wirklich schlecht geht, und sie sich dann nach der Behandlung so viel besser fühlen – das ist wirklich großartig.” Hör auf zu plappern, ermahnte sie sich, so vertreibst du ihn bloß.

Vor der Kurve, die das Haus in Sichtweite bringen würde, stoppte er, trat an sie heran, legte seine Hände auf ihre Schultern und zog sie näher zu sich. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Würde er sie wirklich küssen? Ihr Gesicht glühte trotz der Kälte. Was für eine Schande, dass sie in der Dunkelheit nicht mehr als seine Silhouette erkennen konnte.

Seine Lippen senkten sich kühl auf ihren eigenen, kalten Mund, aber seine Zunge war warm. Sie legte ihre Arme um seine Mitte, lehnte sich an ihn und schmolz unter seiner Berührung dahin.

Als sie seine Hand auf ihrer Brust spürte, zog sie sich zurück und drückte sie entschieden weg. Er ließ seine Hand erneut dorthin wandern und wollte sie wieder näher zu sich ziehen.

“Nein”, sagte sie atemlos und schüttelte in der Dunkelheit ihren Kopf.

“Warum nicht? Du magst mich doch, oder nicht?” Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

Sie stieß ihn fester von sich. Da packte er eines ihrer Handgelenke, damit sie sich nicht weiter zurückziehen konnte. “Ich will das nicht, lass mich los!”

“Plötzlich zierst du dich? Wir wissen doch beide, dass es nichts anderes ist!” Er klang verärgert, als ob er nicht wirklich mit Widerstand gerechnet hätte, und schien ihn als persönliche Beleidigung zu empfinden.

Statt einer Antwort versuchte sie, ihn dorthin zu treten, wo ihr Vater es ihr gezeigt hatte. Er schaffte es knapp, ihrem Fuß zu entkommen und fluchte, als sie stattdessen seinen Oberschenkel traf. Sobald er mit beiden Händen nach seinem Bein griff, wandte sich Eryn in Richtung des Hauses und begann zu laufen.

Sie fühlte nach nur wenigen Schritten, wie seine Hand ihren Ellbogen umfasste und sie beinahe zurückstolpern ließ.

“Lass mich los, du Mistkerl!”, schrie sie und hoffte inständig darauf, dass ihr Vater sie hören und zu ihrer Rettung eilen würde.

Er hielt ihr den Mund mit seiner Hand zu und drückte sie nach unten auf den kalten, harten Boden; seine andere Hand tastete sich voran, um ihre Röcke hochzuschieben. Sie wand und krümmte sich unter ihm, trat nach ihm, versuchte ihn in die Hand zu beißen und sich von ihm zu befreien. Sie spürte seine kalte Hand auf ihrem Bauch, wie sie sich nach unten bewegte und fühlte, wie Tränen an ihren Schläfen hinabliefen. Tränen des Verrats, des Ärgers über sich selbst, der vollkommenen Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit.

Dann plötzlich spürte sie von einem Moment zum nächsten sein Gewicht nicht länger. Sie vernahm seinen überraschten Aufschrei und schließlich ein Geräusch, das klang, als würde jemand einen Schlag einstecken. Da war ein scheußliches Knacken, das nichts anderes als das Brechen eines Knochens sein konnte. Dann hörte sie Krions Stimme, als er sich fluchend davonmachte.

Sie konnte den Mann nicht sehen, erkannte aber den Geruch nach Kräutern, der ihren Vater stets umgab, bevor sich seine warmen Hände um die ihren schlossen und sie zurück auf ihre Füße zogen.

“Vater”, schluchzte sie, “er wollte…”

“Mir ist klar, was er wollte”, unterbrach sie die irritierend ruhige Stimme ihres Vaters. Sie spürte den mühsam im Zaum gehaltenen Zorn darin und drückte sich an ihn, als er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie zurück zum Haus brachte.

“Die Wurzeln…” Sie blieb stehen und versuchte zu erkennen, wo die Tasche gelandet war. Ihr Vater entdeckte sie zuerst, bückte sich und hob sie auf, bevor er seinen Arm wieder um ihre Schultern legte und seine Tochter an sich zog.

“Komm, mein Mädchen”, sagte er. “Bringen wir dich ins Haus. Du bist eiskalt.”

Sie fühlte sich auch kalt, durch und durch eisig. Es hatte sie ganz tief in ihrem Inneren getroffen. Nicht einmal das einladende Feuer, das sie durch die Fenster des Hauses erkannte, konnte sie trösten.

Sie rechnete mit Tadel, mit einer Maßregelung ob ihrer Sorglosigkeit, die sie dazu bewegt hatte, allein mit einem Jungen durch die Dunkelheit zu gehen, aber ihr Vater blieb stumm. Er nahm nur den Umhang von ihren Schultern und hängte ihn ordentlich an den Haken an der Wand neben seinen eigenen. Er hatte ihn nicht umgelegt, als er ihr zur Hilfe gekommen war.
Dann griff er nach ihrer Hand und zog sie zu seinem gemütlichen Sessel vor dem Feuer. Er verließ sie noch einmal kurz, und sie hörte das Geklapper von Geschirr, bevor er zur ihr zurückkehrte und vor ihr in die Hocke ging.

Er presste einen Becher mit einer klaren, dunklen, scharf riechenden Flüssigkeit in ihre Hand und wischte die Tränen weg, die ihre Wangen hinabliefen, während sie schweigend in seinem Sessel saß.

Sie machte keinerlei Anstalten zu trinken, also hob er ihre Hand mit dem Becher an, bis sie einen Schluck nahm. Die süße Flüssigkeit brannte sich ihren Weg den Hals hinab und brachte sie zum Husten. Fast augenblicklich fühlte sie, wie sich Wärme in ihrem Magen ausbreitete.

Sie blickte in das Gesicht ihres Vaters, das zwischen den Tränen immer wieder verschwamm. Still wartete sie noch immer auf die Tirade, die jeden Moment beginnen musste.

Eine Zeitlang sahen sie einander einfach nur an, schließlich sprach ihr Vater, zu ihrer Überraschung aber nicht, um sie zu tadeln, wie sie es erwartet hatte. “Es tut mir leid, mein Kind. Das ist meine Schuld.”

Sie starrte ihn an, fühlte, als wäre sie in einem absurden Traum gefangen.

“Was?”

Er schüttelte seinen Kopf. “Ich hätte dich warnen sollen. Ich hätte dich nicht wegen der Wurzeln losschicken sollen, wenn es so früh dunkel wird. Ich hätte stattdessen gehen sollen. Ich…”

Sie griff nach seiner Hand. Es war unerträglich, dass ausgerechnet er sich die Schuld dafür gab, was passiert war. Oder eher dafür, was er abgewendet hatte.

“Du hast mich gewarnt!”

“Nein.” Er befreite seine Hand aus ihrem Griff und fuhr sich durch sein graues, aber immer noch dichtes Haar. “Ich habe dich nicht vor ihm im Speziellen gewarnt.”

Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass sie innerlich noch weiter erstarren konnte. “Vor ihm im Speziellen?”, wiederholte sie beinahe lautlos.

“Letztes Jahr wurde ich zu einem jungen Mädchen im Dorf gerufen. Ihr war aufgelauert worden, und sie wurde…” Seine Stimme verebbte. “Sie sagte, dass es der Sohn des Bäckers gewesen war”, setzte er nach einer Weile fort. “Seitdem habe ich meine Augen und Ohren offengehalten, um gleich im Bilde zu sein, falls so etwas noch einmal passieren sollte. Und nun, jetzt wärst du beinahe…” Er brach erneut ab.

Sie saß bewegungslos, zu überwältigt, um zu sprechen. Nur ein einziger Gedanke drehte sich in ihrem Kopf: Der junge Mann, in den sie sich im Begriff war zu verlieben, war nichts anderes als ein Tier, das sich hilflosen jungen Frauen aufzwang. Das letzte an Zuneigung, das seinen Angriff überlebt hatte, verpuffte und wurde durch Härte und Kälte ersetzt.

“Ich werde zusehen, dass er dafür bezahlt”, presste Treban zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Sie blickte zu ihrem Vater auf und überraschte ihn, als sie ruhig sagte: “Nein.” Die Tränen trockneten noch auf ihren Wangen, doch der Schimmer in ihren Augen hatte sich von Verletzlichkeit zu stählerner Härte gewandelt. Er wollte widersprechen, doch sie meinte stattdessen: “Lass mich.”

* * *

Als Eryn am nächsten Morgen erwachte, stellte sie überrascht fest, dass es schon sehr spät war. Die Sonne stand bereits am Himmel, und normalerweise hätte ihr Vater sie schon lange geweckt. Sie war dankbar, dass er davon abgesehen hatte, denn die Nacht war alles andere als erholsam gewesen. Es hatte Stunden gedauert, bis sie endlich, trotz des Schlaftrunks ihres Vaters, in einen ruhelosen Schlaf gesunken war.
Sie zog sich an und ging nach unten, wo sie ihn in seinem Sessel sitzend vorfand. Er starrte in den Kamin. Das Feuer war niedergebrannt – es waren nur ein paar glühende Holzstücke übrig, die noch etwas Wärme abgaben. Als sie sich näherte, blickte er auf.

“Setz dich, Eryn. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden möchte.”

Sie drehte sich um, holte einen Stuhl vom Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Dann wartete sie, dass er zu sprechen begann.

“Ich hätte das bereits vor einiger Zeit tun sollen, aber ich habe es in den letzten paar Jahren immer wieder aufgeschoben. Ich wollte nicht sehen, dass du zu einer Frau heranwächst, anstatt mein kleines Mädchen zu bleiben.” Er seufzte: “Trotzdem, das Wissen darüber, welche Menschen es dort draußen gibt, hätte mich schon früher dazu bewegen sollen, als du noch jünger warst.”

Eryn runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.
“Ich sehe, dass ich dich verwirre”, lächelte er. “Du weißt, wie die inneren Organe einer Frau funktionieren. Ich habe es dir mehrmals gezeigt, du hast sogar kleinere Probleme selbst geheilt. Du bist mit dieser Gabe gesegnet, mein liebes Kind. Deshalb möchte ich etwas tun, um sicherzustellen, dass niemand jemals in der Lage sein wird, dir das anzutun, was diese Bestie gestern versucht hat.”

Sie begann, sich etwas unbehaglich zu fühlen.

“Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, Eryn. Ich spreche von einem magischen Schutz, der verhindert, dass weder ein Mann noch ein Objekt in deinen Körper eindringen kann, sofern du das nicht wünschst. Ich kann ihn ohne Schmerzen platzieren, und er wird niemals eine Last für dich sein. Du allein entscheidest, wer ihn passieren darf.”

Anders als andere Mädchen ihres Alters hatte sie kein Problem damit, über solche Themen mit ihrem Vater zu sprechen. Der menschliche Körper war für sie nichts Mysteriöses oder Schamhaftes, sondern wie ein offenes Buch. Ihre Magie ermöglichte es ihr, einfach die Augen zu schließen und sich anzusehen, wie alles funktionierte, herauszufinden, was Probleme verursachte und dann bereitzustellen, was auch immer benötigt wurde – entweder ein wenig Heilungsenergie oder Kräuter.

“Was passiert, wenn es jemand ohne meine Erlaubnis versucht?”, fragte sie neugierig.

“Es wäre eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung für denjenigen”, meinte er mit einem dünnen Lächeln und einem schadenfrohen Glitzern in seinen Augen.

“Irgendetwas, das dauerhaften Schaden verursacht?”, wollte sie hoffnungsvoll wissen.

“Du weißt sehr genau, wie ich darüber denke, unsere Fähigkeiten dazu einzusetzen, anderen Menschen Schaden zuzufügen”, sagte er mit einem warnenden Unterton.

Sie seufzte. Natürlich wusste sie es. Nur manchmal wäre es so unglaublich befriedigend, zumindest ein paar Unannehmlichkeiten verursachen zu dürfen. Ein Jucken hier, ein Ausschlag dort… Was war so schlimm daran?

Vor etwa fünf Jahren hatten sie sich hier niedergelassen, nachdem sie ungefähr ebenso lange von einem Ort zum nächsten gezogen waren. Sie war gezwungen gewesen, sich an ein Leben zu gewöhnen, das völlig anders war als jenes, das sie gekannt hatte. Sie war das verlegene neue Mädchen, das von anderen Kindern drangsaliert und beschimpft worden war. Ein wenig Rache wäre nett gewesen – besonders da niemals jemand daraufgekommen wäre, wer dahintersteckte.

Sie war verwirrt, als ihr Vater ihr erklärte, dass es in diesem Land keine Frauen mit der Gabe gab, nur Männer. Auf die Frage weshalb meinte er nur, dass er es nicht wisse.

Die nächste ungewöhnliche Sache war, dass alle diese Menschen hier die gleiche Haarfarbe hatten. Sie erinnerte sich dunkel, dass ihre eigene Haarfarbe ein sattes, dunkles Braun war. Hier fand man keine einzige Person mit dunklem Haar. Ihr Vater hatte ihre Haarfarbe von einem prächtigen, glänzenden Braun zu einer der vielen blonden Schattierungen hier verändert.

Die blonde Farbe zu erhalten war jedoch weniger einfach. Die Veränderung war nicht permanent, und sobald ihr Körper nicht länger aktiv die magische Energie bereitstellte, nahm ihr Haar wieder seine ursprüngliche Farbe an. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis ihr Unterbewusstsein dahingehend trainiert war, immer wieder den nötigen Fluss an Energie bereitzustellen – sogar im Schlaf. Sowohl damals als auch heute war sie noch zu jung und unerfahren, um die Technik zu erlernen. Sie war höchst komplex.

Aber die Erinnerung an das Leben zuvor war in den letzten zehn Jahren so stark verblasst, dass kaum noch etwas vorhanden war.
“Bist du einverstanden?”, sprach ihr Vater ungeduldig in ihre Gedanken.
“Ja.” Sie musste nicht wirklich darüber nachdenken. Ihr Vater würde es nicht vorschlagen, wenn es gefährlich oder unnötig wäre. “Wie funktioniert es?”

“Ich werde einen Schutz in deinem Unterleib platzieren. Solange du Lebenskraft hast, um ihn zu versorgen, wird er dort verbleiben. Sämtliche Flüssigkeiten werden weiterhin in der Lage sein, deinen Körper ohne Probleme zu verlassen.”

“Niemand kann ihn entfernen?”, fragte sie.

“Nur ein Magier, der stärker ist als ich. Und davon sollte es hier nicht viele geben”, fügte er mit einem selbstbewussten Schmunzeln hinzu.

Eryn wusste nichts darüber, sie war noch nie anderen Magiern begegnet, aber er selbst war sich dessen bewusst, dass er außerordentlich stark war. Aus diesem Grund hatte er auch seine Gefährtin in einem dummen Machtspiel verloren und musste mit seiner Tochter in ein anderes Land fliehen, wo er nun ein einfaches Leben führte. Er verbarg seine eigenen Fähigkeiten und die seiner Tochter und ging als gut ausgebildeter Apotheker durch. Die Tatsache, dass Eryn erste Anzeichen zeigte, selbst eine fähige Heilerin zu werden, stellte keinerlei Gefahr dar. Selbst dann, wenn sie sich – dank ihrer verborgenen Fähigkeiten – als ungewöhnlich gut darin erweisen sollte.

Schließlich wusste jeder, dass Frauen über keinerlei magische Kräfte verfügten.

* * *

Eryn holte tief Luft, als sie aus dem Fenster blickte und Prowel, den Bäcker, den Weg zu ihrem Haus entlangkommen sah.

“Vater”, rief sie eindringlich, “Prowel ist auf dem Weg hierher. Er sieht nicht glücklich aus.”

Ihr Vater trat auf die Tür zu und öffnete sie abrupt, bevor der Bäcker die Möglichkeit hatte, mit seiner erhobenen Faust dagegen zu schlagen. Er stolperte mehr oder weniger hinein.

“Was willst du?”, fragte ihr Vater ruhig.

“Du!” Prowel deutete mit dem Finger auf den Heiler, “Du hast den Arm meines Sohnes gebrochen!”

Ah, das war also dieses knackende Geräusch gewesen, sinnierte Eryn. Sie lächelte. Mehlsäcke schleppen würde für eine Weile wirklich schmerzhaft sein.

“Er hat meine Tochter attackiert.” Noch immer kein Zeichen von Aufregung.

“Er hat mir alles drüber erzählt – dass er sie geküsst hat, ist keine Rechtfertigung dafür, seinen Arm zu brechen, du dummer Narr!” Der Bäcker hatte zu schreien begonnen.

Das war nicht klug, überlegte Eryn. Ihr Vater reagierte nicht besonders gut auf so etwas. Er mochte in seinem grauen Gewand wie ein Gelehrter wirken, mit den langen Haaren und dem Geruch von Kräutern, der ihn umgab. Aber er hackte sein Holz selbst, und ebenso erledigte er sämtliche Reparaturen im und um das Haus herum. Er war in sehr guter körperlicher Verfassung.

“Küssen war es nicht, was ich gesehen habe. Wie hätte er sie auch küssen können, wenn seine Hand ihren Mund zugehalten hat, um sie vom Schreien abzuhalten?” Jetzt konnte sie die Härte in seiner Stimme hören. “Du weißt sehr wohl, was er versucht hat, und was er in der Vergangenheit getan hat. Wenn du dem keinen Riegel vorschiebst, wird niemand in deiner Familie jemals wieder medizinische Hilfe von mir erhalten.”

Prowels Kopf war komplett rot angelaufen. “Ich verlange, dass du sofort kommst und dich um den Arm kümmerst, den du gebrochen hast!” Es war ganz offensichtlich eine enorme Anstrengung für ihn, nicht zu schreien.

“Ich habe dir gerade gesagt, dass du und die deinen nicht länger Anspruch auf Heilung jeglicher Art haben. Geh! Komm nicht zurück, bevor du dich nicht um die Sache gekümmert hast.” Er war dabei die Tür zu schließen, aber der Bäcker holte mit der Faust aus. Als er sich anschickte, dem Heiler ins Gesicht zu schlagen, merkte er, wie er nach vorne gezogen wurde. Ein scharfer Schmerz flammte in seinem Rücken auf, als er auf dem Boden aufschlug. Sobald er wieder in der Lage war, sich zu bewegen, rappelte er sich auf und schwankte zur Tür hinaus.

Auf unsicheren Beinen dahinstolpernd wandte er sich zurück zum Haus und hob seinen Finger. “Das ist nicht vorbei, Heiler!” Er spie ihm das letzte Wort förmlich entgegen und wankte zurück zum Dorf.

* * *

Es gab natürlich Gerede. Der Sohn des Bäckers trug seinen gebrochenen Arm in einer Schlinge um seinen Hals und erzählte jedem, der es hören wollte – ebenso wie denen, die es nicht hören wollten – wie er sich die Verletzung zugezogen hätte: Er sei im letzten Moment zur Seite gesprungen, bevor ein Wagen ihn überrollt hätte, und er somit sicherlich getötet worden wäre.

Der Grund für den Klatsch allerdings war eher, dass er den Heiler nicht konsultiert hatte. Der Bäcker konnte es sich sicherlich leisten, für die Behandlung seines Sohnes zu bezahlen, besonders da Trebans Preise mehr als annehmbar waren und er generell auch Bezahlung in Naturalien akzeptierte. Aber Krion winkte mit einem abwertenden Prusten ab und verkündete, dass es nur ein Kratzer sei, und dass die Qualität der Dienste des Heilers ohnehin enorm überbewertet würde.

Hier hörten die Leute nun genauer hin. Über den Heiler in abfälliger Art und Weise zu sprechen war etwas, das man einfach nicht tat. Es war ein ungeschriebenes Gesetz. Nicht nur, dass es kaum jemals einen Grund dafür gab, sondern es war auch ein Glücksfall für das Dorf, dass der Mann entschieden hatte, sich hier niederzulassen und leistbare, hochqualitative medizinische Dienste anzubieten. In einer größeren Stadt hätte er ohne Probleme ein Vermögen verdienen können.

Es fiel auch auf, dass sowohl der Heiler als auch seine Tochter nicht mehr in die Bäckerei kamen, um Brot zu kaufen. Wenn sie versuchten, Informationen von Treban zu erhalten, antwortete er nur in seiner üblichen gutmütigen Art, dass Eryn ihre Vorliebe zum Backen entdeckt hätte und er sie zuhause experimentieren ließe. Nun hätten sie ständig so viel Brot und Kuchen zuhause, dass es nicht mehr erforderlich war, etwas einzukaufen.

Viele waren zufrieden mit der Erklärung und – genau wie er es beabsichtigt hatte – amüsiert. Andere jedoch kannten Eryn ein wenig und schätzten sie – nicht ganz ungerechtfertigt – kaum als Hobbybäckerin ein.

Wann immer Eryn Krion irgendwo im Dorf sah, zwang sie sich, ihre Augen nicht abzuwenden, sondern seinem Blick kalt und gelassen Stand zu halten. Zuerst hatte er bei jeder Begegnung gegrinst, ganz offensichtlich selbstbewusst in dem Wissen, dass er etwas Bestrafungswürdiges getan und ungeschoren davongekommen war. Nach einer Weile jedoch schien er verwirrt. Sie verhielt sich nicht so, wie er es erwartet hatte: keine Anzeichen von Ängstlichkeit, Scheu oder zumindest Hass. Nur kühle Gleichgültigkeit.

Viele Wochen lang kreisten Möglichkeiten durch ihren Kopf, wie man ihn bestrafen könnte: öffentlich oder persönlich, ohne sichtbare äußere Zeichen oder blutig und für jeden erkennbar, vielleicht mit Hilfe von Magie zugefügt, oder auch nur mit einem stumpfen Gegenstand, der seine empfindlichen Körperteile traf.

Sie wusste, dass ihr Vater die Verwendung von Magie zu diesem Zweck ablehnte. Sie verstand seine Philosophie, einen mächtigen Vorteil nicht dafür zu nutzen, anderen Schaden zuzufügen. Krion allerdings wurde nicht von den gleichen Skrupeln geplagt. Ihn hielt nichts davon ab, seine überlegene körperliche Stärke gegen Schwächere einzusetzen. Warum verdiente er Nachsicht – insbesondere da er bereits in der Vergangenheit, nachdem er eine Frau verletzt hatte, ohne Bestrafung davongekommen war?

Sie stieß beinahe mit Krion zusammen, als sie die Straße überquerte, in Gedanken damit beschäftigt, Qualen für ihn zu ersinnen. Er war mit einer Gruppe Jungs in seinem Alter unterwegs, von denen sie die meisten kannte.
“Wenn das nicht die Tochter des Heilers ist”, sagte er, den Satz in die Länge ziehend. “Ich habe gehört, dass du das Backen für dich entdeckt hast. Hoffentlich nicht, um meinem Vater und mir Konkurrenz zu machen?” Er lachte und seine Begleiter schienen sich unwohl zu fühlen. Man legte sich nicht mit der Familie des Heilers an, es war einfach nicht klug. Doch wenngleich sie sich nicht beteiligten, so versuchte auch niemand, ihn zum Weitergehen zu bewegen.

“Nun, was soll ich sagen?”, meinte sie mit einem süßen Lächeln. “Das Brot hat in letzter Zeit einfach nicht unseren Ansprüchen genügt.” Fass mich an, dachte sie. Gib mir eine Gelegenheit, dir weh zu tun, während du versuchst, mir etwas anzutun.

Aber er knirschte nur mit den Zähnen und blitzte sie durch die zu Schlitzen verengten Augen an. Sie war erstaunt über sich selbst, wie sie ihn jemals anziehend hatte finden können.

“Vergebt mir, hochwohlgeborene Lady, dass unsere bescheidene Bäckerei auf dem Lande nicht Eurem vornehmen Geschmack entspricht.”

Sie sah seine zu Fäusten geballten Hände. Gut, dachte sie schadenfroh. Nur noch ein wenig mehr…

“Ach, keine Sorge. Ich weiß ja, dass ihr euch bemüht, so gut ihr könnt”, gurrte sie herablassend. Krions verärgerter Blick erstickte das Kichern eines der Jungs.

“Wie geht es deinem Arm?” Sie ließ ihre Stimme vor wonnevoller Bosheit triefen. Dies war das Letzte, das ihr einfiel, um ihn genug zu provozieren, sodass er am helllichten Tag Hand an sie legen würde.

Ein Gefühl von Triumph schoss durch sie, als sie fühlte, wie sich die Finger seiner intakten Hand in ihren Oberarm bohrten. Es war kein direkter Hautkontakt, aber besser als nichts. Ein paar dünne Lagen Stoff waren kein Problem. Damit konnte sie arbeiten.

Mit ihren inneren Sinnen tastete sie sich vor und wandte die diagnostischen Fähigkeiten an, die ihr Vater sie gelehrt hatte, um in seinen Körper hineinzusehen. Sie folgte dem schwachen Energieimpuls, den sie den Arm hinauf gesendet hatte, der sie festhielt. Auf seinen Unterarm konzentriert, instruierte sie seinen Körper, die Substanz des gesunden, starken Knochens an einem bestimmten Punkt langsam zu reduzieren. Nicht vollständig, nichts, das er fühlen konnte, aber genug, damit er bei der nächsten überdurchschnittlichen Belastung brechen würde.

Diese Technik war das exakte Gegenteil zum Heilen, funktionierte aber wesentlich schneller. Komisch, dachte sie, wie viel einfacher es war, Schaden zu verursachen als ihn zu reparieren.

Seine Freunde hatten schließlich doch entschieden, dass er zu weit ging und griffen nach seinen Schultern, um ihn von ihr wegzuziehen.

“Was glaubst du, was du hier machst?”, hörte sie einen von ihnen flüstern.

“Bist du total verrückt?”

Krion befreite sich aus ihrem Griff, machte kehrt und marschierte wortlos davon.

Sie verbarg ein Lächeln, als sie ihn in der Taverne verschwinden sah und die Tür hinter ihm alles andere als sanft geschlossen wurde.

* * *

Die Tür des kleinen Hauses wurde gewaltsam aufgestoßen und krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Wand. Eryn zuckte zusammen und blickte von den getrockneten Kräutern, die sie auf dem Tisch sortierte, auf.

Treban war außer sich vor Zorn und Ärger, das konnte sie daran erkennen, wie das Blut durch die hervortretende Ader an seinem Hals pulsierte. Das verhieß nichts Gutes, und sie konnte sich nur einen einzigen Grund vorstellen, der ihn in so eine Stimmung versetzt haben konnte.

“Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?” Seine Stimme hatte diese bedrohliche, gezwungene Ruhe angenommen, die die Rage, die sie in seinen stechenden Augen sehen konnte, kaum zurückzuhalten vermochte. Er stand noch immer im Türrahmen. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass ihr nicht bewusst sein könnte, wovon er sprach.

Also hatte Krion schließlich seinen anderen Arm gebrochen, genau wie sie es beabsichtigt hatte. Und nun hatte sie den Preis für ihre Rache zu bezahlen: Sie musste ihrem Vater gegenübertreten.

Die Kräuter auf dem Tisch bedeckte sie mit einem sauberen Tuch, damit die kalte Brise, die durch die offene Tür hereinwehte, sie nicht durcheinanderwirbeln konnte. Dann schluckte sie und erhob sich. Es war besser, dabei zu stehen.

“Er hat bekommen, was er verdient hat”, sagte sie leise, in dem vollen Bewusstsein, dass ihr Vater das nicht gut aufnehmen würde.

“Was er verdient hat? Was er VERDIENT hat?” Er schlug die Tür mit einer kraftvollen Bewegung seiner Hand zu, sodass die Bilderrahmen mit den getrockneten Kräutern an der Wand erbebten. “Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dir nicht zuteilwerden lasse, was du verdienst! Du bist nicht besser als dieses Tier! Du hast deine Kräfte benutzt, um jemandem Schaden zuzufügen, der sich nicht dagegen zur Wehr setzen konnte! Ich schäme mich für dich!” Die Lautstärke seiner Stimme war mit jedem Satz leiser geworden, bis sie auf ihrem üblichen Level angelangt war.

Sie zuckte unter seinen Worten zusammen, obwohl sie diese fast Wort für Wort erwartet hatte. Die reduzierte Lautstärke machte es nicht einfacher, sie zu hören. Im Gegenteil. Sie wartete still darauf, dass er fortfuhr. Er sah nicht aus, als wäre er bereits fertig mit ihr.

“Ich habe dir von den Gefahren des Missbrauchs erzählt, wie unsere Kräfte Seelen korrumpieren können. Dass Menschen, die der Ansicht sind, sie seien aufgrund ihrer Fähigkeiten überlegen, anderen und sich selbst immenses Leid zufügen können. Du hast soeben den ersten Schritt auf diesen Abgrund zu getan.” Er klang leer, resigniert. Sie war beinahe erleichtert, als sein Ärger erneut aufflammte.

“Hast du mir überhaupt nicht zugehört?” Er war näher zu ihr getreten, und seine Worte wurden begleitet von seiner Faust, die fest genug auf dem Tisch landete, damit es die Kräuter kurz hob. Und Eryn.

Sie schluckte hart und blieb vor ihrem Vater stehen, senkte ihren Blick unter seinem. Dies war nicht das erste Mal, dass sie ihn so erzürnt erlebte, aber niemals zuvor war sie das Ziel seiner Wut gewesen. Sie fragte sich, ob er sie zum ersten Mal schlagen würde.

Er trat einen Schritt zurück, als ob er sich selbst davon abhalten wollte, genau das zu tun. Dann drehte er sich um. “Ich kann deinen Anblick jetzt nicht ertragen”, sagte er und öffnete die Tür erneut. “Wir reden später.” Und weg war er.

Eryn starrte ihm nach und spürte, wie ihr Mund austrocknete. Sie frage sich, ob sie ihm hinterherlaufen sollte, um sich zu entschuldigen und ihn um Vergebung zu bitten. Sie entschied sich aus zwei Gründen dagegen. Zum einen war er definitiv nicht in der Stimmung, eine Entschuldigung zu akzeptieren, und zweitens wäre es eine Lüge.

Es tat ihr absolut nicht leid, was sie getan hatte, und sie war überzeugt, dass sie keineswegs einen dunklen Pfad eingeschlagen hatte, der zu Ruin und Verdammnis führte. Aber sie bedauerte den Kummer ihres Vaters und fühlte, wie seine Zurückweisung in ihr brannte.

Sie würde es irgendwie wiedergutmachen. Vielleicht wäre ein gutes Abendessen ein Anfang. Sie band sich die Kochschürze um und begann, Gemüse zu putzen.

* * *

Eryns Blick wanderte wieder und wieder zur Tür, wann immer sie dachte, sie hätte ein Geräusch von draußen vernommen. Ihr Vater war nun schon seit vielen Stunden weg, und es war bereits dunkel. War er böse genug mit ihr, um die ganze Nacht über wegzubleiben? Sie hoffte es nicht.

In einem Versuch, sich zu beschäftigen, setzte sie ihre Arbeit an der Medizin fort und füllte Kräuterzubereitungen in kleine Glasfläschchen, mahlte Kräuter zu feinem Pulver, damit es später direkt vor Gebrauch mit Wasser vermischt werden konnte, und füllte es in kleine Ledersäckchen.
Sie wusste, dass Ihr Vater mit ihren Bemühungen zufrieden sein würde. Immerhin hatte sie ihm etliche Stunden an Arbeit erspart. Und sie hoffte, dass dies seine Gesinnung ihr gegenüber verbessern und er ihr schneller vergeben würde. Natürlich würde er den Grund dafür, dass sie die Kräuter verarbeitet hatte, sofort durchschauen, aber das spielte keine Rolle. Er war normalerweise niemand, der einen vernünftigen Bestechungsversuch verschmähte, wenn er ordentlich umgesetzt war. Er hatte diese Art von Humor.

Sie war beinahe fertig, als sie sah, dass Fackeln hinter dem Hügel, der den Großteil des Weges zum Dorf verdeckte, auftauchten. Sie zählte fünf. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie fühlte ein banges Gefühl in sich aufsteigen. Waren die Männer aus dem Dorf gekommen, um ihren betrunkenen Vater nach Hause zu bringen? Der Gedanke war schauderhaft, aber je näher die Männer kamen, desto mehr hoffte sie, dass es nicht mehr als das war.

Als sie nahe genug waren, dass sie die Gesichter erkennen konnte, öffnete sie die Tür. Ihr Vater war nicht unter ihnen.

Die blassen Gesichter zeigten einen Ausdruck grimmigen Kummers, als sie Eryn ansahen. Sie konnte in den Augen lesen, dass etwas Schreckliches, Entsetzliches passiert war. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor, noch bevor der Älteste unter ihnen, der Glashersteller, der die Fläschchen für ihre Medizin produzierte, zu sprechen begann.

“Dein Vater ist tot, Kind.” Seine Stimme klang rau und betrübt.
Tränen verschleierten ihren Blick, und der plötzliche Schmerz in ihrem Brustkorb zwang sie in die Knie. Sie fühlte Hände auf ihren Schultern, die sie hochhoben und zurück ins Haus in den Sessel ihres Vaters vor dem Kamin führten. Sie rang nach Luft, während ungestüme Schluchzer aus ihr hervorbrachen.

Tot! Nein – das war nicht möglich. Er konnte nicht für immer verloren sein, wo sie doch erst vor ein paar Stunden miteinander gesprochen hatten. Die letzten Worte zwischen ihnen… Seine waren gewesen, dass er sich für sie schämte, und ihre letzten Worte waren in Missachtung seiner Werte gesprochen. Sie würde mit dieser Bürde leben müssen, ohne jemals die Chance zu haben, es wiedergutmachen zu können.

Sie wusste nicht, wie lange sie mit den Männern dort gesessen hatte, die versuchten, sie zum Trinken des starken Gebräus zu überreden, das sie ihr an die Lippen hielten.

Nachdem ihr Schluchzen an Kraft verloren hatte, wechselte der Glashersteller einen Blick mit den anderen Männern, bevor er erneut sprach: “Dein Vater wurde getötet, Eryn. Prowel hat ihm ein Messer in den Rücken gerammt. Er hat deinen Vater beschuldigt, er hätte Krions anderen Arm gebrochen. Er kann nicht mehr richtig im Kopf gewesen sein.”

Sie starrte zu ihm auf, kaum in der Lage die Worte zu begreifen, die sie hörte. Als die volle Bedeutung der Nachricht in ihr Bewusstsein drang, ergriff eisige Kälte Besitz von ihr und traf sie tief im Innersten ihres Wesens.

Ihr Vater hatte sie gewarnt. Es kam nichts Gutes dabei heraus, wenn Magie gegen die Schutzlosen eingesetzt wurde, gegen diejenigen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Er hatte Recht, erkannte sie mit grauenvoller, betäubender Klarheit.

Ihre Tat hatte ihm sein Leben gekostet.

 

Kapitel 2

Enric

Er saß auf dem Dach der Bäckerei, die dem Palast am nächsten war und betrachtete den Sonnenaufgang. Das war untypisch für ihn. Üblicherweise vermied er es, vor Tagesanbruch aufzustehen, außer er hatte keine andere Wahl. Er fragte sich, ob die heutige Ausnahme etwas mit dem zu tun haben mochte, was ihn in wenigen Stunden erwartete, schloss dies aber schnell aus. Er blies eine Strähne seiner etwas zu langen Haare aus seinen blauen Augen. Es war für ihn ein kleiner Akt der Rebellion, sie nicht so zu tragen, wie es von ihm erwartet wurde. In Wirklichkeit einer von vielen.

Ein paar Passanten blickten zu dem jungen Mann Anfang Zwanzig auf, der so einen ungewöhnlichen Ort gewählt hatte, um in den Himmel zu starren. Sie setzten ihren Weg jedoch fort, sobald sie seine Robe identifiziert hatten: Es war ein Magier. Am besten mischte man sich nicht ein, was auch immer sie gerade anstellten.

Alle seine Kollegen, die ihr Training dieses Jahr gleichzeitig mit ihm beendet hatten, würden getestet und ihre magische Stärke gemessen. Daraufhin konnten sie sich für eine passende Stelle im Orden bewerben. In einer Institution, in der die Hierarchie durch den Umfang der magischen Stärke, über die man verfügte, festgelegt wurde, war dies praktisch eine Evaluierung persönlichen Wertes, überlegte Enric. Er war noch nie ein Freund von Evaluierungen gewesen, egal ob magisch oder intellektuell.

Und somit war er auch nie ein besonders aufmerksamer Student gewesen. Er hatte den Komfort, den ihm sein Status als Magier ermöglichte, genossen. Er kam aus einer Familie wohlhabender Kaufmänner und war nicht gerade als Bettler aufgewachsen, aber der Beitritt zum Orden war dennoch ein Schritt nach oben, soweit es seine Lebensumstände betraf.

Seine Eltern waren außer sich vor Freude, als sie seine Fähigkeiten entdeckt und sofort den Orden informiert hatten. Er war damals zwölf Jahre alt. Erstaunlich, sinnierte er, wie nervtötend und ermüdend die zehn Jahre seitdem gewesen waren. Er hätte es aber nicht vorgezogen, diese Zeit mit seinem Vater zu verbringen.

Die Begeisterung und der Stolz seiner Eltern wandelten sich allerdings schnell zu Ärger und Frustration, nachdem sie wiederholt Nachrichten anlässlich seiner wenig produktiven Einstellung erhalten hatten. Sein Vater war ein Händler durch und durch. Mühevoll versuchte er, seinem Sohn die Idee zu verkaufen, dass aus ihm ein wichtiger Mann mit wichtigen Pflichten werden könnte, der seine Familie mit Stolz erfüllte und große Dinge erreichte. Vergeblich.

Der Orden der Magier war dem Zweck der Verteidigung des Königreichs gewidmet. Geschichtelehrer waren mittlerweile die einzigen Menschen, die noch wussten, wann das letzte Mal ein tatsächlicher Bedarf dafür vorhanden war. Das Kampftraining war in Ordnung gewesen, Enric hatte es genossen. Lord Orrin, sein Lehrer, war allerdings nicht eben begeistert von seiner Faulheit und seinem Mangel an Respekt.

Die restlichen Fächer und Stunden der letzten Jahre verschmolzen zu einer Art verschwommenen Sphäre aus Information. Er schloss ein Jahr später als gewöhnlich ab, da er an das Lernen nicht eben ehrgeizig herangegangen war und einige Prüfungen wiederholen musste.

Heute war der Tag, an dem sich sein Platz in der Hierarchie des Ordens weisen würde. Er war nicht nervös als solches – eher neugierig. Er wusste, dass er stärker als die meisten – wenn nicht alle – Absolventen dieses Jahrgangs war. Aber es würde interessant werden, zu sehen, wie weit er nach oben kommen würde. Nicht zu weit, hoffentlich. An die verantwortungsvolleren Positionen waren Anforderungen geknüpft. Er war kein großer Freund von Anforderungen, Regeln und allem in dieser Richtung.

Die meisten seiner Lehrer hatten ihn wegen seiner Faulheit gerügt, als offensichtlich war, dass er ein Talent für Magie und deren Anwendung hatte. Er aber wollte weder die Zeit noch die Energie investieren, um diese Fähigkeiten kompetent zu meistern. Sie hatten versucht, ihm klar zu machen, dass Magie ohne das Wissen, wann und wie man sie einsetzte, ihn zurückwerfen würde, aber er hatte ohnehin nicht geplant, es weit zu bringen.

Eine nette Stelle als Beamter oder Assistent im Orden wäre genau das Richtige für ihn. Etwas, das ihm genug Freizeit übrigließ, um sich seinen Interessen zu widmen – wie der Jagd und Zeit mit seinen Freunden zu verbringen.

* * *

Er stand mit einer Gruppe junger Magier in seinem Alter beisammen. Die meisten von ihnen waren unruhig. Manche gaben es offen zu, andere versuchten es durch Selbstdarstellung oder mit Unfreundlichkeit zu verbergen.

“Es gibt nicht viel, vor dem du dich fürchten müsstest, was Enric?”, fragte sein guter Freund Kilan. “Du bist so ziemlich der Stärkste dieses Jahr, würde ich sagen. Vielleicht wartet ja ein nettes Plätzchen in den oberen Rängen auf dich?” Er sprach die letzten Worte mit einem Lächeln, wohl wissend, dass dies absolut nicht das war, wonach Enric strebte.

“Ja, wäre das nicht fabelhaft”, antwortete Enric lustlos.

Kilan wurde als Nächster hineingerufen, um getestet zu werden. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkehrte. Er sah zufrieden aus.

“Kategorie D, nicht übel”, grinste er. Ihm war bewusst, dass er keine Chance hatte, es höher als in C zu schaffen und hatte gehofft, nicht unterhalb von E klassifiziert zu werden. Somit war die goldene Mitte absolut in Ordnung.

“Gratuliere, Kumpel.” Enric wandte sich um, als die Flügel der Doppeltür erneut geöffnet und sein Name aufgerufen wurde. “Wir sehen uns gleich.”

Er betrat die Halle und verbeugte sich vor den versammelten Magiern, die im Gegenzug ihren Kopf neigten.

Enric ließ seinen Blick über die zehn Männer wandern. Er wusste, dass sie aus verschiedenen Stärkekategorien ausgewählt waren. Der Stärkste von ihnen war Lord Poron, Kategorie B, soweit er wusste, und damit der zweitstärkste Magier im Orden und dem Königreich. Enric war schon immer der Meinung gewesen, dass er gut in die Rolle der Nummer Zwei passte. Er musste in den Sechzigern sein, sein dünner werdendes Haar zu einem kurzen Zopf in seinem Nacken zusammengebunden, seine Augen intelligent und scharf, als würden sie die Welt um ihn herum einer ständigen Analyse unterziehen.

Einige der Magier waren ihm nur vom Sehen her bekannt, ein paar davon waren seine ehemaligen Lehrer.

Ihr Gesichtsausdruck war nicht eben enthusiastisch, als er eintrat. Mit Ausnahme von Lord Orrin, seinem Kampflehrer, der sich als einziger niemals irgendeine Frechheit von Enric gefallen hatte lassen, hatte keiner von ihnen besonders angenehme Erinnerungen an ihn.

“Schild hoch!” Lord Porons Anweisung wurde als Echo von den hohen Steinwänden zurückgeworfen.

Er folgte der Anweisung, und wenige Augenblicke später traf der erste Energieblitz seine Barriere. Zwei weitere wurden in seine Richtung geschickt, ohne dass etwas passierte. Ein zweiter Magier, sein alter Geschichtelehrer, falls seine Erinnerung ihn nicht betrog, schloss sich seinem Kollegen an und begann, Enrics Schild anzugreifen. Nichts passierte.

Weitere Magier stiegen mit ein, einer nach dem anderen, bis sieben von ihnen Stöße in kurzen Abständen losließen. Enric sah, wie sie die Stirn runzelten. Dann hob Lord Poron seinen Arm, um sie zu stoppen. Er atmete tief ein, zielte mit der Handfläche seines ausgestreckten Armes auf ihn, und feuerte einen klaren Blitz auf den Schild.

Er durchdrang die Barriere nicht. Lord Poron sah blass und beunruhigt aus und winkte dem Schreiber, dessen Aufgabe es war, die Kategorie jedes Magiers zu notieren. Er flüsterte etwas in das Ohr des jungen Mannes, worauf dieser sogleich loslief.

Enric wartete, den Schild nach wie vor aktiv. Diese Spielerei war Zeitverschwendung. Warum begannen sie nicht endlich richtig, damit er bald auf ein kaltes Getränk zu seinen Freunden stoßen konnte?

“Bin ich fertig? Kann ich gehen? Welche Kategorie bin ich?”, rief er den versammelten Magiern zu, die begonnen hatten, untereinander zu flüstern und ihm gelegentlich besorgte Blicke zuwarfen.

Lord Poron schritt auf ihn zu. “Wir müssen noch um ein wenig Geduld bitten, junger Mann. Wir erwarten noch jemanden. Ich bin zuversichtlich, dass er bald eintreffen wird.”

Enric runzelte verwirrt seine Stirn. “Was ist los? Bei den anderen vor mir hat das nur ein paar Momente gedauert. Ich stecke nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten, oder?” Er konnte sich nicht daran erinnern, kürzlich etwas angestellt zu haben, wofür er sich schuldig fühlen müsste.

“Nein.” Lord Porons Lächeln wirkte etwas gezwungen. “Keine Schwierigkeiten, sei versichert.” Dann kehrte er zu den anderen Magiern zurück und ließ den jungen Mann allein in der Mitte der Halle stehen.

Es war nicht viel Zeit vergangen, bevor sich die Doppeltür erneut öffnete und der Anblick des Mannes, der eintrat, Enrics Augenbrauen überrascht nach oben schnellen ließ. Es war Lord Tyront, der Chef des Ordens. Was brachte ihn hierher?

Lord Tyront war Mitte Vierzig, ein großer, respekteinflößender Mann mit ersten grauen Strähnen in seinem Bart. Seine blassblauen Augen fokussierten sich sofort auf Enric und blieben dort, während er ohne ein Wort zu den anderen Magiern auf ihn zutrat.

Sobald er nur noch wenige Schritte entfernt war, erhob er seine dröhnende Stimme: “Schild hoch, Junge.”

Enric folgte der Anweisung hastig und trat einen Schritt zurück, woraufhin eine Salve an Blitzen von Lord Tyronts Handfläche auf seine Barriere geschossen kam. Sie waren stärker als das, was man ihm zuvor entgegengeschleudert hatte, merklich stärker. Der ältere Mann fuhr fort, ihn zu attackieren, jede Salve stärker als die vorhergehende. Bald schon begann sein Schild zu flackern, und er schickte schnell mehr Energie hinein, um ihn aufrechtzuerhalten.

Lord Tyront hielt kurz inne, betrachtete ihn nachdenklich und dann, ohne Warnung, schoss er einen weißen Blitz ab, der Enrics Barriere durchdrang und ihn auf den Rücken zu Boden warf.

Der junge Mann unterdrückte einen schmerzlichen Aufschrei. Man zeigte kein Anzeichen von Schwäche vor dem mächtigen Anführer des Ordens. Er kämpfte sich zurück in eine aufrechte Position und blickte den Mann, der ihn niedergestreckt hatte, finster an. Das war wohl kaum nötig gewesen.

Als sein Blick zu den Magiern im Hintergrund zurückkehrte, sah er ein paar Münder offenstehen, andere hatten ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Es herrschte völlige Stille.

“Bin ich jetzt fertig?”, wollte er wissen.

Lord Tyront lächelte verbissen. “Oh nein, mein junger Freund. Du bist nicht fertig. Tatsächlich wirst du noch längere Zeit nicht fertig sein.”

Enric starrte ihn verwirrt an. “Was?”

“Kategorie A”, verkündete der Anführer laut und für jeden in der Halle hörbar. “Wir haben eine neue Nummer Zwei.” Dann drehte er sich um und verließ den Raum auf dem gleichen Weg, den er gekommen war.

Enric starrte ihm noch immer voller Unverständnis nach, selbst nachdem sich die schweren Türen mit einem lauten Donner hinter ihm geschlossen hatten.

Er schüttelte seinen Kopf. Etwas musste mit seinen Ohren nicht stimmen. Kategorie A? Was für ein Unsinn! Niemand war so stark, abgesehen natürlich vom Magier an der Spitze.

Die Art und Weise, wie ihn die Magier ungläubig anglotzten, ließ ihm die Wahrheit allmählich bewusstwerden.

Sie hatten Lord Tyront gerufen, weil Lord Poron, der zweitstärkste Magier des Ordens, nicht in der Lage war, Enrics Schild zu durchdringen. Ihm wich jede Farbe aus dem Gesicht, als ihm langsam die volle Auswirkung dessen, was soeben passiert war, klarzuwerden begann.

“Oh nein”, stöhnte er und schloss seine Augen.

* * *

Tyront seufzte und spürte die Spannung, die sich langsam hinter seiner Stirn aufbaute, als er die Berichte über seinen zukünftigen Stellvertreter las. Der Junge verursachte ihm nun schon seit Wochen Kopfschmerzen.

Wenn man Enrics bisherigen Werdegang in Betracht zog, war es kaum eine Überraschung, dass er nicht sehr gut auf den Trainingsplan, dem er zu folgen hatte, reagierte. Er kooperierte nicht mehr als unbedingt nötig, um der Anschuldigung offenen Ungehorsams zu entgehen. Beinahe ein Monat war nun vergangen, und es sah nicht so aus, als würde sich seine Einstellung irgendwann in naher Zukunft ändern.

Er hatte nicht nur eine Menge neuer Dinge zu lernen und Fähigkeiten zu erweitern, sondern musste auch noch jede einzelne Prüfung wiederholen, die er im Laufe der Jahre seines Trainings zum Magier knapp oder auch nur mit durchschnittlicher Punktezahl bestanden hatte.

In seiner neuen Position musste er als Vorbild fungieren, eine respektierte Säule des Ordens, eine Quelle der Weisheit und des Wissens und, falls erforderlich, ein starker Anführer in der Schlacht sein. Das Bild des faulen Taugenichts, das er in den letzten Jahren kultiviert hatte, musste er hinter sich lassen.

Orrin hatte als Einziger etwas entfernt Positives über ihn zu berichten. Also ging zumindest das Kampftraining einigermaßen gut voran.

Unglücklicherweise war dies nur ein geringer Trost und keineswegs genug, um das Training in seiner Gesamtheit als Erfolg zu betrachten.

Seine Gedanken wanderten zu Lord Poron, seiner derzeitigen Nummer Zwei. Wie zu erwarten, war er wenig begeistert darüber, ersetzt zu werden, insbesondere von jemandem wie Enric. Er war nicht der rachsüchtige Typ, überlegte Tyront, und würde seinem Nachfolger das Leben nicht schwerer als nötig machen. Schade, dachte er. Ein Anlass zum Kämpfen, wenn auch nur gegen einen verdrossenen Vorgänger, hätte Enric möglicherweise dazu motiviert, sich endlich anzustrengen. Es schien, als würde er sich selbst darum kümmern müssen.

Es war Zeit für eine kleine Unterhaltung mit Enric.

* * *

Enric schluckte, als er die Nachricht auf dem weichen, teuer aussehenden hellbraunen Papier las, das ein Bediensteter nur eine Minute zuvor gebracht hatte. Es stand nicht viel darauf geschrieben, nur: Mein Quartier, neun Uhr. Lord Tyront.

Das war in weniger als einer Stunde. Nicht genug Zeit, um sich ordentlich vorzubereiten, aber ausreichend Zeit, um so richtig nervös zu werden. Das war wahrscheinlich die Idee dahinter, vermutete er.

Es gab wenig Zweifel über den Grund für diese Ladung. Seine Fortschritte waren, das war ihm sehr wohl bewusst, alles andere als zufriedenstellend. Für Enric war dies vollkommen in Ordnung, er hatte diese Ehre, die ihm zwangsweise widerfahren war, ohnehin nie gewollt.

Der Anführer des Ordens aber würde kaum damit zufrieden sein, wie die Dinge liefen. Eine Einladung, bei der er sich für seine dürftigen Leistungen rechtfertigen musste, war wirklich nur eine Frage der Zeit gewesen.

Seit dem Tag des Tests hatte Lord Tyront keinerlei Interesse an ihm gezeigt. Mit dieser Nachricht war es das erste Mal, dass er etwas von ihm gesehen oder gehört hatte. Der hohe Lord gewährte seine Aufmerksamkeit offenbar nur dann, wenn etwas nicht ordnungsgemäß verlief. So wie jetzt.

Enric sah sich in seinem neuen Quartier im königlichen Palast um und fühlte sich noch immer etwas verloren. Dies hier war im Vergleich zu seiner vorherigen Bleibe wie der Unterschied zwischen einem Setzling und einem Baum. Vier große Räume, alle für ihn. Das war mehr, als er tatsächlich benötigte. Aber einen hohen Rang zu bekleiden bedeutete nicht, nur das zu haben, was erforderlich war, oder? Sein Quartier war auch dazu gedacht, seine Wichtigkeit zu reflektieren, repräsentativ zu sein.

Repräsentativ war es wohl, seufzte er. Die Frage war nur, was es repräsentierte. Auf jeden Fall nicht seine Persönlichkeit.

Das Apartment war elegant und luxuriös möbliert und ließ keine Wünsche offen. Der Salon allein war größer als die beiden Räume, die er zuvor bewohnt hatte. Und ihm war sogar ein eigener Diener zugeteilt, der die Reinigung übernahm, die Mahlzeiten aus der Palastküche holte und sich um jede seiner Launen kümmerte.

Enric war stets jemand gewesen, der Luxus genossen hatte. Allerdings nicht in einem Ausmaß, das ihn genug motiviert hätte, die Mühen zu investieren, die von ihm erwartet wurden. Damit in Verbindung stand so vieles, das er einfach nicht wollte. All diese Verantwortung, die Folgen im Falle eines Fehlschlags, die harte Arbeit um dorthin zu gelangen… Nein.

Das war nicht das, was er für sich geplant hatte. Was er gewollt hatte und noch immer wollte, war ein angenehmes, unkompliziertes, gemütliches Leben, möglichst keine harte Arbeit, genügend Zeit für seine Freunde und viel Zeit für sich selbst.

Seine Freunde – das war eine weitere Angelegenheit, die ihm zusetzte. Die meisten von ihnen hatten sich seit der großen Ankündigung von ihm zurückgezogen. Und selbst bei denjenigen, die sich noch immer mit ihm trafen, hatte die Frequenz erheblich abgenommen. Sogar Kilan, sein engster Freund, der Dank der Position seines Vaters an den Kontakt mit einflussreichen Persönlichkeiten gewohnt war, hatte begonnen, sich merklich von ihm zu entfernen.

Enric starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen.

Wie war es nur möglich, dass ausgerechnet er sich als zweitstärkster Magier des Königreichs entpuppt hatte? Was für ein Witz!

* * *

Die Tür wurde auf Enrics Klopfen hin geöffnet. Ein älterer Diener verneigte sich leicht und trat dann zurück, um ihm den Zutritt zum Salon zu ermöglichen. Es war ein Raum seinem eigenen sehr ähnlich, wenngleich hier ganz klar der Einfluss einer weiblichen Hand spürbar war.

Lord Tyront erhob sich von seinem Platz am Fenster und musterte seinen Gast von oben bis unten. Er machte sich nicht die Mühe einer Begrüßung, sondern deutete auf eine dunkelrote Couch vor einem kleinen, runden Tisch.

“Hinsetzen.”

Ebenfalls einen guten Abend, dachte Enric gereizt, tat aber wie ihm geheißen.

“Bitte lass uns allein”, instruierte Tyront den Diener und wartete, bis der Mann sich zurückgezogen hatte. Dann wandte er sich an Enric und blickte ihn finster an.

Er blieb stehen und begann ohne Einleitung: “Deine Leistungen bleiben hinter meinen Erwartungen zurück. Rechtfertige dich!” Seine Worte klangen harsch, sein Ton war es nicht.

Enric setzte sich unbewusst etwas aufrechter hin, eine tiefliegende Angewohnheit aus seiner Kindheit, als von ihm erwartet wurde, dass er Respekt zu zeigen hatte, wenn er gescholten wurde.

“Es tut mir leid, Lord Tyront.”

“Nein, das tut es nicht. Ich habe dich nicht gebeten, mich anzulügen, ich habe nach einem Grund gefragt.”

“Ich… ich muss zugeben, mein Lord, dass ich mit der derzeitigen Situation nicht sehr glücklich bin.”

Lord Tyront seufzte ungeduldig. “Hör auf, um den heißen Brei herumzureden, Junge. Sag, was dir durch den Kopf geht.”

Der junge Mann hob trotzig sein Kinn als er sprach: “Ich will nicht in diese Position gezwungen werden. Ich habe weder darum gebeten, noch bin ich daran interessiert.”

“Endlich eine klare Aussage”, kommentierte der andere trocken und nahm schließlich seinem widerwilligen Gast gegenüber Platz. “Was genau stößt dich ab?”

Auf der Suche nach den richtigen Worten hob Enric mehrmals hintereinander seine Arme und ließ sie wieder fallen, bevor er antwortete:

“Alles.”

“Geht es etwas detaillierter? Das ist nicht unbedingt hilfreich”, sagte der ältere Mann geduldig.

“Die Verantwortung. Ich meine, was genau qualifiziert mich für eine Position, in der ich viel ältere, viel erfahrenere Magier als ich es bin befehlige? Das macht keinerlei Sinn! Was ist, wenn ich etwas falsch mache oder falsche Entscheidungen treffe? Die Konsequenzen!”

“Was dich zuallererst qualifiziert, ist deine überlegene Stärke, da sie dem primären Zweck des Ordens, also der Verteidigung, dient; und als zweites das Wissen und das spezielle Training, das du derzeit erhältst.” Lord Tyronts Stimme war ruhig. “Was noch?”

“Die Arbeit. Ich möchte unabhängig sein, nicht gesagt bekommen, was ich tun soll, nicht die ganze Nacht umsonst arbeiten, mehr Zeit haben für mich und…” Er hielt inne.

“Und deine Familie? So wie dein Vater, der erfolgreiche Kaufmann, der fast immer rund um die Uhr gearbeitet hat, um der nächsten Gelegenheit für ein gutes Geschäft hinterherzujagen? Der dich und deine Geschwister in der Obhut seiner unglücklichen Gefährtin zurückließ, außer er stellte Forderungen, denen du zu gehorchen hattest?”

Enric starrte Lord Tyront an. Wie war es möglich, dass er darüber Bescheid wusste? Er hatte niemals irgendjemandem davon erzählt, nicht einmal seinen engsten Freunden. Er fühlte sich entblößt, verwundbar. Dieser Mann, dessen Gesicht jedem in der Stadt bekannt, der für ihn jedoch ein Fremder war, war unbefugt in sein Privatleben eingedrungen.

Als er weiterhin schwieg und finster auf den Teppich starrte, fuhr Lord Tyront fort: “Und du hast dir soeben selbst widersprochen. Wenn es für dich ein Problem ist, andere, ältere Magier zu befehligen, warum solltest du dich dann daran stoßen, selbst gesagt zu bekommen, was du zu tun hast? Du kannst nicht beides haben; Positionen, in denen man weder Befehle gibt, noch welche erhält, sind nicht gerade im Einklang mit der Natur unserer Institution – und übrigens auch nicht mit der unserer Gesellschaft. Wobei ein Platz weit oben in der Hierarchie die Anzahl derer, die dich befehligen können, drastisch reduziert.”

“Da seid Ihr. Und der König”, erwiderte er missmutig. “Es mögen nicht mehr so viele über mir sein, aber diejenigen, die übrig sind, reagieren nicht sehr gut darauf, wenn ihre Befehle in Frage gestellt werden.”

Ein Problem mit Autorität, dachte Tyront. Aber das war kaum eine Überraschung nach den Einblicken, die ihm sowohl aktuelle als auch ältere Berichte gewährt hatten. “Korrekt. Es gibt nicht viel Raum, wenn es darum geht, die Befehle des Königs zu hinterfragen. Aber ich versichere dir, dass ich mir sehr wohl anhöre, was du zu sagen hast. Möglicherweise handle ich sogar danach, wenn es halbwegs vernünftig ist. Tatsächlich ist es sogar deine Pflicht, mich zu beraten.”

“Ich, Euch beraten?” Enric schüttelte verzweifelt den Kopf. “Wie kann ich Euch beraten?”

“Als erstes wirst du erwachsen werden und hart daran arbeiten, die Erwartungen des Ordens – und meine – zu erfüllen.” Seine Worte enthielten nur den Funken einer Drohung. “Du wirst lernen, zu denken bevor du sprichst und handelst. Du wirst Respekt zeigen und ihn auch im Gegenzug einfordern. Zuvor jedoch musst du erst zu jemandem werden, der Respekt verdient.”

“Ich will das alles nicht”, flüsterte der junge Mann.

“Das Problem ist, dass uns niemand fragt, was wir wollen”, antwortete Tyront verständnisvoll. “Aber lass mich dir eines sagen: Männer, die es nach großer Macht gelüstet, sind in der Regel diejenigen, die am wenigsten geeignet sind, sie auszuüben. Das ist die eine Sache, die für dich spricht, mein Junge.” Er lehnte sich nach vorne und fing Enrics Blick ein, fesselte ihn mit seinem eigenen, durchdringenden Starren. “Deine Angelegenheiten sind etwas, mit dem du zurechtkommen musst, indem du schnell erwachsen wirst. Du magst die oberen Ränge als einen Haufen harmloser alter Männer sehen, aber lass mich dir sagen, dass Schwächlinge unter uns nicht lange bestehen. Die Luft ist dünn hier oben, wie du früh genug lernen wirst.” Und dann sprach er aus, wovon er sicher war, dass es funktionieren würde: eine Herausforderung.

“Bist du schwach, Enric?”

 

Kapitel 3

Ausgeliefert

12 Jahre später

Eryn kletterte den steilen, in Ermangelung eines besseren Wortes, Pfad hinauf. Sie fischte ein Tuch aus der Leinentasche, die sie quer über ihre Schulter und über ihren Brustkorb geschlungen hatte, und wischte ihre verschwitzte Stirn ab. Das Sammeln von Kräutern war eigentlich eine Aufgabe, die sie genoss, aber nicht bei dieser Hitze und ohne Schatten in Sicht.

Unglücklicherweise waren die Pflanzen, die sie brauchte, nur in größeren Höhen zu finden, denn sie benötigten eine Menge Sonnenlicht. Also würde sie in nächster Zeit keinen kühlen Fleck finden.

Sie hielt an, zog den robusten, ledernen Wassersack hervor und nahm einen großzügigen Schluck. Das Wasser war lauwarm und nicht unbedingt erfrischend, aber es tat seinen Zweck, es befeuchtete ihre trockene Kehle.

Nach der rückläufigen Baumlinie zu ihrer Linken zu urteilen, würde sie für den Rest des Weges noch etwa eine Stunde benötigen. Sie ging die paar Schritte zu einem Felsen und nahm Platz, um sich für eine kurze Weile auszuruhen. Sie sollte sich in dieser Hitze nicht zu sehr anstrengen.

Erinnerungen an fünfzehn Jahre zuvor, als sie diesen Weg zum ersten Mal gegangen war, überfielen sie plötzlich und ungebeten. Ihr Vater war an diesem Herbsttag bei ihr gewesen, hatte sie ständig angehalten, diesen Baum oder jene Blume zu identifizieren, hatte sie über die Vorgehensweise beim Herstellen von Medizin getestet, sie korrigiert, wenn ein Detail falsch oder ihr weitergeholfen, wenn ihr etwas entfallen war.

Vater. Der Schmerz des Verlustes war über die Jahre dumpfer geworden, wie auch die Verzweiflung, dass sie die Schuld daran trug. Zwölf lange Jahre hatten das bewerkstelligt. Sie hatte darum gekämpft, den Schmerz am Leben zu erhalten. Es war das Einzige, das sie noch mit ihm verband, der einzigen Person in ihrem ganzen Leben, der sie nahe gewesen war. Aber es war immer schwieriger geworden, den Schmerz zu halten und die abstumpfende Wirkung der Zeit zu bekämpfen.

Zu Beginn hatte es problemlos funktioniert – seine Bücher anzusehen, seine Zeichnungen, die Dinge, die er gebaut hatte – um die Erinnerung heraufzubeschwören. Tränen, die ihr trotz des großen Schmerzes die Illusion von Nähe gaben, waren ihr nach nur wenigen Sekunden in die Augen getreten.

Heute war der Schmerz beinahe außer Reichweite, so wie viele ihrer Erinnerungen an ihn. Was blieb, war die Leere, die Einsamkeit.

Mit fünfzehn Jahren war sie kaum mehr als ein Kind, und sogar zwölf Jahre später hätte sie noch gerne jemand Älteren und Weiseren um sich gehabt, der ihr nahe war, dem sie vollkommen vertrauen konnte.

Sie war in dem kleinen Haus am Rande des Waldes geblieben und hatte – so gut sie konnte – die Arbeit ihres Vaters als Dorfheilerin fortgeführt. Es war ihre Pflicht, ihre Buße, ihr Lebenszweck. Sie würde diese Mission fortsetzen, solange sie dazu in der Lage war.

Das letzte Mal hatten sie ein paar Wochen vor seinem Tod diesen Weg hier gemeinsam beschritten. Sie hatten ihre Kräutervorräte aufgestockt. Die ganze Zeit hatte sie an Krion gedacht und geplant, das gesamte Brot aufzuessen, damit sie einen Grund hatte, bald in die Bäckerei gehen zu können.

Krion. Sie erschauderte. Er war ebenfalls Teil ihrer Buße: Ihm regelmäßig im Dorf zu begegnen nach allem, was passiert war, was sie gemeinsam verursacht hatten. Ihr Vater war nicht der Einzige, der in dieser Nacht gestorben war.

Die Dorfbewohner hatten den Bäcker gelyncht, nachdem sie ihn mit dem blutigen Messer in der Hand über die Leiche des Heilers gebeugt vorgefunden hatten. Das hatten die Männer, die zu ihrem Haus gekommen waren, um ihr die schreckliche Nachricht zu bringen, nicht erwähnt.

Die Gerechtigkeit war flink und endgültig. Oder was die Dorfbewohner als solche erachtet hatten.

Sie war zerrissen zwischen dem Erstaunen über die Verehrung, die man ihrem Vater entgegengebracht hatte, und dem Horror vor dem gnadenlosen Abschlachten eines Mannes, den sie ein Leben lang gekannt hatten.

Nicht einer, sondern zwei Männer waren gestorben als Folge dessen, was sie getan hatte. Und niemand außer ihr wusste davon. Ihr Vater war immer unerbittlich gewesen, wenn es darum ging, ihre magische Gabe geheim zu halten. Und dieses Gesetz hatte sie niemals gebrochen.

Sie fragte sich, ob Krion über den Tod ihrer beiden Väter jemals Schuldgefühle empfunden hatte, oder ob sie die Einzige war, die diese Bürde trug.

Einige Tage, nachdem die Asche ihres Vaters dem Wind übergeben worden war, hatte sie Krion in seiner Bäckerei aufgesucht. Sie war nach Einbruch der Dunkelheit zu ihm gegangen, als die Bäckerei bereits für Kunden geschlossen war. Den Anblick seines Gesichts, als er die Tür auf ihr Klopfen hin öffnete, würde sie wahrscheinlich nie mehr vergessen. Schock und Horror hatten seine Züge verzerrt.

In diesem Augenblick war ihr bewusstgeworden, dass ihm davor graute, möglicherweise das gleiche Schicksal wie sein Vater zu erleiden. Die Dorfbewohner betrachteten ihn schließlich als die Ursache für diese ganze Situation. Er hatte ihr wortlos Zutritt gewährt und sie war eingetreten, nicht länger von Angst geplagt, was er mit ihr allein anstellen mochte.

Sie hatte sich zu ihm umgedreht, war sehr nahe an ihn herangetreten, hatte seinen Kragen gepackt und ihn zu sich heruntergezogen, so nahe, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. Seine Augen waren geschwollen vom Weinen. Sie erinnerte sich, dass sie sich darüber gewundert hatte, war er doch in ihren Augen nicht fähig, menschliche Gefühle zu empfinden. Für sie war er nicht mehr als ein Monster. Der saure Geruch von Tage altem Schweiß auf seiner Haut stach ihr in die Nase, ein Zeichen dafür, dass er seine Körperpflege vernachlässigte.

Sie hatte ihm in die Augen gestarrt und ihm gedroht, sie würde ihn dauerhaft verstümmeln, sollte sie jemals wieder hören, dass er eine Frau auch nur gegen ihren Willen angesehen hätte. Zwei gebrochene Arme wären im Vergleich dazu wie eine Umarmung. Dann war sie gegangen, alles andere als befriedigt mit der zusätzlichen Angst, die sie in seinen Augen wahrgenommen hatte – Angst, deren Ursache sie war.

Es funktionierte. Kein einziger weiterer Vorfall dieser Art war ihr in all den Jahren zu Ohren gekommen.

So hatte sie sich also mit fünfzehn Jahren der Herausforderung gestellt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten – Jahre, bevor sie ihr Training beendet hätte. In Trebans Büchern zu lesen half ihr, ihr medizinisches Wissen zu erweitern. Allerdings war er immer sehr vorsichtig gewesen und hatte keine Bücher über Magie aufbewahrt, die zur Entdeckung seiner Kräfte führen konnten. Somit hatte ihr Magie-Training mit seinem Tod ebenfalls ein Ende gefunden. Sie hatte überlegt, zu experimentieren. Aber aus Angst davor, entdeckt zu werden, hatte sie den Gedanken immer und immer wieder verworfen. Man wusste nie, wer zusah, hatte ihr Vater immer gesagt.

Eryn seufzte und schüttelte die nostalgische Stimmung ab. Sie nahm einen weiteren Schluck des lauwarmen Wassers und steckte den Beutel wieder weg. Noch etwa fünf Stunden Tag – sie hatte vor, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause zu sein. Das war nicht realistisch, wenn sie hier weiterhin herumsaß. Es war noch ungefähr eine weitere Stunde zu gehen, dann ein oder zwei Stunden zum Sammeln der Kräuter, und schließlich brauchte sie drei Stunden für den Rückweg.

Ursprünglich wollte sie ihre Reise am Morgen beginnen, aber dann war ihr ein Patient in die Quere gekommen, dann ein weiterer, und ehe sie sich versah, war es Nachmittag und sie hatte hastig ihre Tasche gepackt und war losgegangen.

Falls sie genug Kräuter fand, überlegte sie, konnte sie genug Medizin vorbereiten, um über die nächsten drei Monate zu kommen. Sie musste noch mit dem Glashersteller über seine letzte Lieferung Fläschchen sprechen: Die Öffnung war zu eng, um die dickflüssigen Zubereitungen ohne Hilfe eines Holzstäbchens wieder herauszubekommen.

Sie fluchte, als sich ihr Schuh unter der Wurzel eines Baumes verfing und sie beinahe nach vorne fiel. Ein schneller Griff nach einem dünnen Baum verhinderte, dass sie auf ihren Knien landete. Sie lehnte sich an den Baum und schüttelte den Fuß, um ihn von der Wurzel zu befreien. Nach Luft schnappend hörte sie, wie das spröde Holz knackte und brach, dann rutschte sie die steile Böschung hinunter.

Panische Versuche, einen Baum, eine Wurzel oder einen Felsen im Fallen zu fassen zu bekommen, brachten ihr nicht mehr als zerkratzte und blutige Handflächen ein. Sie wollte schreien, aber kein Laut entkam.

Bitte – nur keine Kopfverletzung, war ihr letzter Gedanke, bevor ihr Kopf auf einem moosbedeckten Felsen, der ihren Absturz stoppte, aufschlug und sie regungslos auf dem schattigen Boden zum Liegen kam.

* * *

Feuerschein blitzte durch die Bäume, als sieben Männer durch den Wald stapften, jeder von ihnen mit einer entzündeten Fackel, um den Waldboden nach Spuren ihrer Heilerin abzusuchen. Sie war schon zu lange weg. Sie war eine vorsichtige Person, die immer Bescheid gab, wenn sie sich auf den Weg machte, um Kräuter zu sammeln. Immer ließ sie eine der Frauen im Dorf wissen, wohin sie unterwegs war und wann man sie zurückerwarten konnte.

Als fünf Stunden nach ihrer geplanten Rückkehr noch immer nichts von ihr zu sehen war, hatten sich zwei Gruppen von Männern auf die Suche gemacht. Der Schmied runzelte die Stirn, als er einen braunen Schuh entdeckte, der unter einer Wurzel feststeckte.

Er rief nach seinen Begleitern. Sie betrachteten den abgebrochenen Baum und sahen eine Spur. Da könnte jemand den Hang hinuntergerutscht sein.

Mit bedachtsamen Schritten kletterte eine Hälfte nach unten und entdeckte wenig später die regungslose Frau. Sie erkannten sie ohne Probleme an ihrem Gesicht, obwohl eine Schläfe blutverschmiert war. Sie hätten schwören können, dass es sich dabei um die Frau handelte, die sie alle kannten, seit sie ein Kind war, und die ihnen nun schon seit vielen Jahren ihre Dienste als Heilerin anbot.

Aber da war ein kleines Detail, das ihnen die Sprache verschlug und sie mehr als nur ein wenig einschüchterte: Ihr Haar, in dem sich nun eine Mischung aus Erde, kleinen Zweigen und Blättern verfangen hatte, sah fremdartig aus. Es hatte sich von einem strahlenden Blond zu einem dunklen Braun gewandelt.

* * *

Sie versuchte, ihren Kopf vom Sonnenlicht, das direkt auf ihr Gesicht schien und ihre Lider durchdrang, wegzudrehen. Die Bewegung war schmerzhaft und sie stöhnte leise, als sie langsam ihre Augen öffnete. Ihr Kopf schmerzte, und noch mehr Schmerzen bereitete ihr das Heben ihres Armes, um ihre Augen damit zu bedecken.

Sie schloss ihre Augen wieder und führte eine schnelle Kontrolle durch, indem sie einen kurzen magischen Impuls durch ihren Körper schickte. Er sollte ihr Informationen über den Schaden, den sie genommen hatte, aufzeigen: Ein verstauchter Knöchel, ein gebrochener Arm und eine Kopfverletzung. Nichts allzu Ernstes, sie konnte es in ein paar Minuten reparieren, auch wenn sie in ihrem derzeitigen Zustand ein paar Erholungspausen einlegen würde müssen.

Schließlich öffnete sie ihre Augen vollständig und starrte an die steinerne Decke, die ihr absolut unvertraut war. Ihre Augen wanderten langsam zur Quelle des Lichts, einem kleinen Fenster mit Gitterstäben hoch oben in der Wand. Ihr Blick huschte die Steinwände entlang zu der schweren Tür mit einem kleinen, vergitterten Fenster.

Sie war in einer Zelle, erkannte sie mit einem Ruck. Weshalb hatte man sie eingesperrt? Vor allem, da sie auch noch durch den Absturz verletzt war!

“Hallo?”, rief sie schwach mit rauer Stimme.

“Sie ist aufgewacht”, sagte jemand auf der anderen Seite der Tür. “Gib dem Bürgermeister Bescheid.”

Darauf folgte Stille.

Sie musste wohl wieder eingenickt sein, denn das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, ließ sie hochschrecken. Drei Männer und eine Frau traten ein, der Bürgermeister, der Schmied, der älteste Sohn des Schmieds und die Gefährtin des Bürgermeisters. Sie betrachteten Eryn mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht ganz entschlüsseln konnte.

“Warum bin ich hier?”, krächzte sie, woraufhin die Gefährtin des Bürgermeisters ein Glas Wasser für sie holte und es an ihre Lippen hielt, bevor sie eilig zurücktrat.

Ihre Stimme klang klarer, als sie fragte: “Was ist los hier? Warum bin ich eingesperrt?”

Anstatt einer Antwort reichte ihr der Bürgermeister einen kleinen Handspiegel.

Eryn entfuhr ein kurzer, entsetzter Aufschrei, als sie ihr Gesicht erblickte – umgeben von einer verhedderten Masse fremdartigen braunen Haares. Sie ließ den Spiegel beinahe fallen und berührte ihren Kopf, fühlte die vertraute Textur ihres Haares gemischt mit den Rückständen aus dem Wald. Es fühlte sich nicht anders an unter ihren Fingern, die Veränderung war jedoch eindeutig ersichtlich.

Gedanken begannen in ihrem bereits pochenden Schädel zu rasen und verstärkten den Schmerz noch weiter. Weshalb war das passiert? Wie war das möglich? Ihr Vater hatte hart mit ihr trainiert, um genau dies zu vermeiden, also warum funktionierte es zum ersten Mal in all diesen Jahren nicht mehr?

Dann begriff sie. Sie war nicht nur einfach eingeschlafen, sondern ihr Bewusstsein war tiefer abgedriftet, zu tief, um irgendwelchem Training oder eingebetteten Gewohnheiten zu gehorchen. Ihre Achtlosigkeit auf dem Pfad hatte weit mehr Schaden angerichtet, als nur ein paar Knochen und Gewebe zu verletzen. Sie war nicht länger dadurch geschützt, gleich wie alle anderen zu sein. Nun war sie anders. Und anders zu sein war gefährlich.

“Wir haben den König darüber informiert”, sagte der Bürgermeister ernst.

“Den König?”, antwortete sie schwach. “Aber… warum?”

“Du weißt genau, warum. Du bist nicht von hier. Es obliegt dem König, zu entscheiden, was mit dir zu passieren hat.”

“Was mit mir zu passieren hat?” Ihr Sichtfeld begann zu verschwimmen und der Kopfschmerz verstärkte sich von einem dumpfen Pochen zu einem Hämmern. “Was meinst du damit, was mit mir zu passieren hat? Ich habe mich in den letzten zwölf Jahren um dieses Dorf gekümmert”, schluchzte sie, hilflos gegenüber den Tränen des Ärgers, der Angst und der Verzweiflung, die ihre Wangen hinabliefen. “Nach allem, was passiert ist, bin ich hiergeblieben, und so dankt ihr es mir?” Sie versuchte aufzustehen, sank aber zurück auf die harte Bank.

“Es war nicht einfach für uns”, sprach dieses Mal der Schmied. Sie konnte das Bedauern in seiner Stimme hören, sah es in seinen Augen. “Wir haben dich immer als eine von uns betrachtet, wir wollen dich nicht verlieren. Aber…” Er deutete nur auf ihre Haare und suchte hilflos nach Worten, die nicht kommen wollten.

“Die Strafe für die Beherbergung von Spionen ist der Tod”, sagte der Bürgermeister mit hohler Stimme. “Das können wir nicht riskieren. Was mit dir passieren wird, liegt nicht länger in unserer Hand.”

Als Eryn ihre Knie an ihre Brust zog und ihr Gesicht darin vergrub, zogen sich die vier leise zurück und fragten sich, wie es sich dermaßen falsch anfühlen konnte das Richtige zu tun. Und den Gesetzen zu folgen musste das Richtige sein.

* * *

Zwei Tage waren vergangen, seit man ihr verkündet hatte, dass das Dorf sie an den König übergeben würde, als sie einen Tumult vernahm. Das Fenster war zu weit oben in der Wand, als dass sie hinaussehen hätte können.

Man hatte ihr zu essen und zu trinken gegeben und ihr auch Kleidung gebracht, damit sie die schmutzigen, zerrissenen, blutigen Stücke ablegen konnte. Sie hatte kein einziges Wort mit jemandem gewechselt. Niemand war besonders erpicht darauf, sich mit ihr zu unterhalten.

Die Verletzungen zu heilen hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie vorausgesehen hatte. Natürlich konnte sie sich nur um den unsichtbaren Schaden in ihrem Inneren kümmern. Die Kopfwunde vollständig zu heilen und sich damit als Magierin zu erkennen zu geben, würde ihre Haarfarbe zu ihrem geringsten Problem werden lassen.

Sie hatte verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, ihre Magie so einzusetzen, dass sie sich aus ihrer Zelle befreien konnte, aber Heilen war nicht unbedingt eine offensive Fähigkeit. Natürlich nur, sofern man von dem Schaden absah, den sie am menschlichen Körper verursachen konnte.

Aber sie hatte keine Ahnung, ob oder wie schweres Mauerwerk oder Holztüren entfernt, in Luft verwandelt, zum Wegfliegen gebracht werden konnten. Oder was auch immer sonst hilfreich gewesen wäre, um aus der Zelle zu entkommen.

Sie wappnete sich, als sie die Geräusche herannahender Schritte vernahm. Keine Furcht zeigen, ermahnte sie sich. Sie würde ihnen nicht die Befriedigung geben, sie ängstlich zu sehen.

Der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht, und kurz darauf trat der Bürgermeister ein. Hinter ihm folgten zwei Männer, die in irgendeine Art Uniform gekleidet waren. Sie wechselten einen Blick und nickten, offensichtlich eine Bestätigung, dass dies definitiv die Frau war, derentwegen sie gekommen waren.

Dann trat einer der beiden näher und hob seine Hände, in denen er, wie Eryn erst jetzt bemerkte, ein Paar stählerner Handschellen hielt. Sie zog in Betracht, sich aus Stolz zu weigern, wohl wissend, dass sie keine Chance hatte. Aber tretend und schreiend nach draußen gezerrt zu werden war nicht die Art und Weise, wie sie hier abreisen wollte. Sie wollte in Würde weggehen, den Dorfbewohnern zeigen, dass sie im Gegensatz zu deren Feigheit wusste, was Mut war. Das, was sie ihr antaten, war keineswegs mehr, als sie bewältigen konnte.

Sie hob ihre Arme und erlaubte dem Mann, den sie als Soldat betrachtete, ihr die Handschellen anzulegen und sie aus der Zelle zu führen. Vor dem kleinen Gebäude wartete eine Kutsche. Sie hatte in der Vergangenheit bereits mehrere Kutschen gesehen. Wohlhabende Menschen von weit her, die medizinische Hilfe benötigten, pflegten in ihnen anzureisen.

Diese war allerdings anders. Sie verfügte über die üblichen Holztüren, die aber an der Außenseite mit Metallstäben und einem großen Schloss verstärkt waren. Nun, dachte sie, wenigstens beabsichtigte man nicht, sie wie einen Mehlsack über den Rücken eines Pferdes zu werfen.

Erst jetzt bemerkte sie die Menschenmenge, die sich rund um die Kutsche gebildet hatte und aus sicherer Entfernung schweigend zusah. Sie ließ ihren Blick über die Gesichter wandern, kämpfte darum, ihre Gefühle für sich zu behalten und nicht mehr als eine ausdruckslose Maske zu präsentieren. Sie sah den Glashersteller, der blass aussah, seine Lippen zu einer dünnen Linie gepresst; den Schmied mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn; Krion, mit einer hübschen jungen Frau neben sich, die sich an seinem Arm festhielt. Sein Gesichtsausdruck war ernst; eigentlich hätte sie stattdessen Schadenfreude erwartet. Eryn fragte sich, ob sich die Frau darüber im Klaren war, worauf sie sich mit ihm eingelassen hatte.

Sie wurde zu der Kutschentür geführt und kletterte hinein, bevor man sie dazu zwang. Somit entfloh sie dem Anblick all dieser Menschen, die sie einfach so ausgeliefert hatten, bevor sie die Tränen sahen, die sie nicht länger unterdrücken konnte.

Einer der Soldaten, oder was auch immer er nun war, stieg nach ihr ein und nahm auf der gegenüberliegenden Bank Platz, um sie im Auge zu behalten. Es kümmerte sie nicht, ob er ihre Tränen sah, solange die Dorfbewohner ihrer nicht ansichtig wurden.

Ihr Vater wäre nicht überrascht gewesen, dachte sie, und fühlte, wie die Tränen erneut flossen. Immerhin hatte er hart dafür gearbeitet, genau das zu verhindern, hatte stets unnötige Risiken vermieden, die zur Entdeckung seiner magischen Fähigkeiten führen hätten können. Er war sich über die Schattenseiten der menschlichen Natur absolut im Klaren gewesen.

* * *

Zwei Tage in der dunklen Kutsche, einer der Soldaten immer bei ihr, bescherte ihr jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, was sie wohl in der Stadt erwarten würde. Sie hatte genug Gelegenheit, sich unangenehme Optionen vorzustellen. Da gab es lebenslangen Gewahrsam, Folter zur Erlangung der Informationen, die man in ihrem Besitz vermutete, oder sogar Sklaverei. Oder eine nette Kombination zweier Optionen. Jede Kombination würde funktionieren, außer Nummer Eins mit Drei. Eine eingesperrte Sklavin war wohl wenig nützlich.

Abgesehen von ihren gedanklichen Ausflügen zu den potentiellen Schrecknissen, die die Zukunft bringen mochte, war die Reise nicht eben aufregend. Das rote Wappen des Königs hielt Ärger auf Abstand, sodass es keinerlei unterhaltsame Zwischenfälle in Form von Wegelagerern oder anderen kriminellen Elementen gab.

Sie verbrachten die Nächte in Gasthöfen, jedes Mal in einem Zimmer mit zwei Betten, eines für sie, das andere für einen der Soldaten, der sich ausruhte, während sein Kollege auf einem Stuhl Wache hielt.

Die Soldaten waren nicht besonders gesprächig. Das war für Eryn in Ordnung, sie selbst war auch nicht eben in geselliger Stimmung. Wesentlich wichtiger für sie war, dass sie sie kein einziges Mal auf eine Art und Weise berührten, die man als unangemessen hätte erachten können. Disziplin war eine großartige Sache bei einem Soldaten, überlegte sie.

Unglücklicherweise bedeutete dies nicht nur, dass sie ihre Finger von ihr ließen, sondern auch, dass ihre Augen auf ihr blieben – zu jeder Zeit. Es gab kein noch so kurzes Ermüden und Hinabgleiten in ein kleines Schläfchen. Sie boten ihr keine Gelegenheit zu einem Versuch, klammheimlich aus dem Fenster zu klettern.

Wie ungemein rücksichtlos.

Tag drei brachte die königliche Stadt Anyueel in Sichtweite, Hauptstadt des Königreichs Anyueel. Allerdings bezeichnete niemand das Land anders als das Königreich, wenn davon gesprochen wurde. Vermutlich, weil es unnötig war, zwischen den Namen von Ländern zu unterscheiden, wenn es keinerlei Kontakt über die Grenzen hinweg gab. Und es würde ohnehin nur zu Verwirrung führen, ob nun die Hauptstadt oder das Königreich gemeint war.

Eryn war noch nie zuvor dort gewesen und starrte auf die graue Steinmauer, die die Stadt umgab, größer als in ihrer Vorstellung. Sie erblickte ein hohes Gebäude, das über zahllosen Dächern thronte. Zweifellos der Palast des Königs, vermutete sie.

Eine Vielzahl an dunklen Rauchsäulen stieg aus einer Menge an Schornsteinen in die Luft empor.

Sie beobachtete, wie sie sich der Stadt näherten, und es dauerte nicht lange, bis die Kutsche vor einem enormen Tor zum Stehen kam. Sie hörte den Soldaten auf dem Kutschersitz ein paar forsche Worte mit den Torwächtern austauschen, bevor sich das Gefährt wieder in Bewegung setzte.

Beim Passieren des Tores versuchte Eryn, so viel wie möglich durch das kleine Fenster wahrzunehmen. Ihr Herz wurde schwer, als sie sah, dass es nicht nur eine dicke Steinmauer gab, sondern noch eine weitere ein paar Schritte weiter innen. Das äußere Tor hatte zwei schwere Türen mit mächtigen, metallenen Scharnieren, und das innere konnte durch ein Fallgitter blockiert werden. Derzeit stand es offen, und die zahlreichen metallenen Spitzen zeigten nach unten gleich einer düsteren Warnung. Bei dem Gedanken, was wohl mit den Knochen und Organen eines Menschen oder eines Tieres passieren würde, das darunter gefangen war, schauderte sie. Sehr wahrscheinlich mehr als ein oder sogar zwei Heiler gleichzeitig reparieren konnten.

Dann hielt die Kutsche vor dem hohen Gebäude, das sie vom Fenster aus bereits erspäht hatte, und die Türe des Gefährts wurde geöffnet.

Der Soldat ihr gegenüber gab ihr ein Zeichen, zuerst auszusteigen, genau wie er es jedes Mal in den letzten zweieinhalb Tagen getan hatte. Sie mutmaßte, dass er darauf trainiert war, Gefangenen nicht seinen ungeschützten Rücken zu präsentieren. Was auf jeden Fall einen Sinn ergab.

Köpfe drehten sich in ihre Richtung auf dem weiträumigen Platz vor dem Palast, als sie die Kutsche verließ und die Blicke unzähliger erstaunter Augen durch ihre ungewöhnliche Haarfarbe angezogen wurden. Sie konnte Geflüster aus verschiedenen Richtungen hören und sah Kinder, die mit dem Finger auf sie zeigten.

Die Soldaten machten sich daran, sie in das Gebäude zu eskortieren, doch zwei Männer in dunkelbraunen Roben kamen raschen Schrittes über den Platz auf sie zu. Beide waren eher jung, und einer hob seinen Arm, um sie aufzuhalten.

Sobald sie in Hörweite waren, rief er: “Wir werden sie übernehmen. Der Orden übernimmt ihre Befragung.”

Der Orden wollte mit ihr sprechen? Das war eine Überraschung, und zwar eine besorgniserregende. Ihr Vater hatte seine Ansichten über den Orden regelmäßig in der Abgeschiedenheit ihres Hauses kundgetan. Es waren keine sehr schmeichelhaften. Einen Haufen Einfaltspinsel hatte er sie genannt, die lieber mit ihrer Magie herumspielten und einander bekämpften, anstatt etwas Sinnvolles damit anzustellen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Warum brachte man sie zu den Magiern? Sie konnten unmöglich von ihren Kräften wissen, oder? Hatte sie in den letzten zwei Tagen irgendetwas verraten, im Schlaf womöglich? Oder als sie in ihrem Dorf eingesperrt gewesen war?

Die Soldaten nickten und folgten den Männern in den Palast. Waren diese beiden Männer in Roben Magier? Kleideten die sich so?

Die Schatten im Inneren des Gebäudes erschwerten es ihr zunächst, ihre Umgebung wahrzunehmen. Nachdem sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich in einer riesigen Eingangshalle mit mehreren Säulen befand, jede davon so dick wie ein alter Baum und mindestens ebenso hoch. Vier Korridore begannen zwischen jeweils zwei Säulen und erstreckten sich in die Ferne.

Die Männer in den Roben wandten sich dem ersten rechts zu und hielten dann vor einer mittelgroßen Doppeltür, die beinahe zu bescheiden für diesen Ort wirkte.

Der etwas Größere der beiden öffnete beide Türen und deutete den Soldaten, Eryn hineinzubringen. Sie schluckte und wurde, da sie sich nicht von selbst in Bewegung setzte, nach vorne gestoßen.

Das war sehr wahrscheinlich der Raum, in dem man sie befragen würde. Nach einem kurzen Blick bemerkte sie mit Erleichterung, dass keinerlei Folterwerkzeuge zu sehen waren. Es war ein eher großer Raum mit einem einzelnen Stuhl im Zentrum und einem massiven Tisch.

An dem Tisch saßen fünf Männer verschiedener Altersklassen. Einer davon war vollständig ergraut und schien in den Sechzigern zu sein, die anderen wirkten wesentlich jünger und rangierten wohl zwischen Mitte Zwanzig und Ende Dreißig. Sie alle waren in braune Roben gekleidet, sodass die Unterscheidung schwer fiel.

Keiner erhob sich, als sie eintrat. Sie gemahnte sich, dass sie den Respekt, den sie als Heilerin in den letzten eineinhalb Jahrzehnten genossen hatte, hier nicht erwarten konnte. An diesem Ort war sie nicht mehr als eine Fremde, die man verdächtigte, eine Spionin zu sein.

Die Soldaten brachten sie zu dem Stuhl, drückten sie darauf nieder und verließen den Raum ohne ein Wort. Die zwei Magier, die sie hergeführt hatten, bezogen Stellung vor der Tür.

Sie hatte auf der Reise hierher genügend Zeit gehabt, sich zu überlegen, was sie sagen würde, wenn die Zeit kam. Sie entschied, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Der Bürgermeister hatte sicherlich alle Informationen weitergeleitet, die er über sie hatte. Was nicht besonders viel war. Es gab nicht wirklich einen Grund für sie, zu lügen; ihre Geschichte war harmlos genug, und sie wusste selbst nur sehr wenig über ihre Vergangenheit, bevor sie ihr Heimatland verlassen hatte. Sie wusste nicht einmal genau, woher sie stammte. Das Einzige, was sie verbergen musste, war ihre Magie, der Rest war unerheblich.

Wenn sie kooperierte, würde man sie wieder gehen lassen? Wohin würde sie in diesem Fall gehen? In ihr Dorf zurückzukehren war keine Option. Wie sollte sie es ertragen, wieder dort zu leben?

Nein, entschied sie, sie würde in der Nacht dorthin zurückkehren, um ihre Habseligkeiten zu holen und dann nie wieder zurückblicken. Sie konnte sich überall niederlassen – Heiler waren in diesem Land nicht eben zahl vorhanden, also sollte es nicht allzu schwierig sein, einen Ort zu finden, wo ihre Dienste höher geschätzt wurden als ihre Haarfarbe.

“Wie lautet dein Name?”, fragte der Älteste in ihre Gedanken hinein.

“Eryn”, antwortete sie folgsam.

“Woher stammst du?”

“Ich bin nicht sicher. Ich glaube aus dem Westen.”

Der alte Mann runzelte die Stirn. “Wie kannst du nicht sicher sein, woher du kommst?”

“Ich war noch ein Kind, als wir von dort weggingen.”

“Wir?”

“Mein Vater und ich. Er brachte mich hierher.”

“Wo ist er jetzt, dein Vater?”

“Er ist tot. Seit zwölf Jahren.”

“Warum hat er dich hierhergebracht?”

“Ich weiß es nicht.”

Sie begannen untereinander zu murmeln. Dann fragte einer der anderen vier: “Du hast also keine Ahnung, woher du kommst und weshalb dich dein Vater hierhergebracht hat? Das erscheint etwas unglaubwürdig.”

Eryn blieb stumm und sah die Männer nur an. Protest würde ihr kaum Pluspunkte einbringen.

“Wo ist deine Mutter?”

“Sie starb schon bevor wir hierherkamen.”

So ging es weiter und weiter. Sie schienen sehr interessiert an ihrem Vater und wie es möglich war, dass die Dorfbewohner vor dem Unfall im Wald niemals zuvor ihr braunes Haar erblickt hatten. Nun begann der gefährliche Teil. Sie musste jeglichen Verdacht auf Magie zerstreuen.

“Mein Vater konnte ein Pulver mischen, das es möglich machte, die Haarfarbe zu verändern. Er wollte nur in Frieden leben und nicht belästigt werden”, erklärte sie ruhig.

“Aus welchem Grund hat sich dein Haar dann zurück zu seiner ursprünglichen Farbe verändert, als du gefunden wurdest?”, fragte ein weiterer.

“Weil ich mehrere Stunden lang in der Hitze einen Pfad bergauf gegangen bin. Mein Schweiß muss den Großteil des Pulvers entfernt haben.”

Sie war auf diese Frage vorbereitet gewesen und war erleichtert, als sie sah, dass man ihre Erklärung zu akzeptieren schien.

“Wir haben gehört, dass dein Vater ein Heiler war.”

“Ja, er war ein sehr guter Heiler.”

“Anscheinend war er nicht nur sehr gut, sondern außergewöhnlich.”

“Ja, er hat mir erzählt, dass er zuhause viele Jahre lang ausgebildet worden war.”

“Ah ja, das geheimnisvolle Zuhause, an das du dich nicht erinnerst.” Der alte Mann schmunzelte und fuhr dann fort: “Du hast die Arbeit deines Vaters nach seinem Tod fortgesetzt.”

Sie nickte. “Ja.”

“Er hat dich also ausgebildet?”

Die Stunden schienen sich in die Länge zu ziehen. Sie wechselten sich dabei ab, ihr Fragen zu stellen, wollten manchmal hören, was sie bereits zuvor geantwortet hatte. Sie fragte sich, ob sie versuchten, sie dazu zu bringen, dass sie sich selbst widersprach.

Der Nachmittag begann bereits in den frühen Abend überzugehen, als der älteste der Männer sich erhob und auf sie zutrat. Sie war erschöpft, durstig, hungrig und hatte diese ganze Situation satt. Aber sie hatte es durchgestanden, und nun sah es aus, als würde sich all dies schließlich dem Ende zuneigen.

“Dann bleibt nur mehr eine Sache”, sagte der Mann und kam näher. Sie betrachtete ihn misstrauisch. Was wollte er jetzt noch?

“Was?”, seufzte sie müde.

“Nur ein kleiner Test, ob du uns die Wahrheit sagst.”

Sie runzelte die Stirn. “Was für ein Test?”

“Ich werde dir ein paar der Fragen noch einmal stellen. Dieses Mal werde ich ein wenig Magie einsetzen, um deinen Mund davon abzuhalten, eine Unwahrheit zu sagen.”

In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Das klang nicht gut, überhaupt nicht. Als er sich anschickte, ihren Arm zu ergreifen, zog sie ihn weg, sprang auf und presste sich gegen die Wand.

“Nein, ich will das nicht”, schrie sie. “Bleibt mir vom Leib!”

Der Mann trat näher und drängte sie in die Ecke. “Ich befürchte, du hast keine Wahl in dieser Angelegenheit, wenn man bedenkt, weshalb du hier bist.”

Er umfasste ihren Arm und hielt ihn so fest, dass sie sich nicht befreien konnte.

Sie zwang die aufsteigende Panik in ihrem Innern nieder. Vielleicht funktionierte es nicht bei ihr. Konnte sie womöglich selbst Magie einsetzen, um seine zu blockieren? Aber wie? Sie hatte bisher noch nicht einmal davon gehört, dass so etwas möglich war, geschweige denn, wie man entgegenwirken konnte.

Sie fühlte ein Rinnsal von Wärme von seiner Handfläche ihren Arm hinaufwandern.

“Nun, erzähl mir noch einmal, weshalb dich dein Vater hierhergebracht hat”, verlangte er.

Sie schüttelte verzweifelt ihren Kopf. “Ich weiß es nicht! Wirklich nicht. Ich glaube, er hat sich versteckt.” Das war nicht gut. Das letzte Stück war nicht beabsichtigt gewesen.

“Vor wem? Und weshalb?”

“Ich weiß es nicht!”

“War dein Vater ein Spion?” Der Griff um ihren Arm wurde stärker.

“Nein!”

“Bist du eine Spionin?”

“Nein!”

Wenn seine Fragen weiterhin in diese Richtung gingen, bestand keine unmittelbare Gefahr, dass sie ihr Geheimnis offenbarte.

Die nächste jedoch zerstörte diese Illusion rasch.

“War dein Vater in der Lage, Magie anzuwenden?”

Sie sog den Atem scharf ein und wollte es leugnen, doch ihr Mund weigerte sich, die Worte auszusprechen. Triumph blitzte in den Augen des Mannes auf.

“Aha!”

Das war genug! Sie trat ihm gegen das Schienbein und entriss ihren Arm seinem Griff. Er fluchte unterdrückt und wies seine Kollegen an: “Haltet sie fest!”

Neue, heiße Panik stieg in ihr hoch. Sie atmete schwer und zog sich langsam in eine Ecke zurück, ihr Blick auf die Magier gerichtet, die sich ihr stetig näherten. Sie trat dem ersten, der in ihre Reichweite kam, gegen das Knie, woraufhin er hastig mit einem Schmerzensschrei zurücksprang.

“Wir sollten sie vielleicht betäuben. Das wäre sicherer”, sagte einer von ihnen. “Eine schwache Betäubung sollte sie bei Bewusstsein halten, sodass sie unsere Fragen beantworten kann.”

Wenige Momente später schoss etwas auf sie zu und traf sie direkt in die Brust, sodass sie nach Luft schnappte.

Der Magier runzelte seine Stirn und schüttelte den Kopf. “Das hätte sie unschädlich machen sollen! Sie sollte nicht mehr aufrecht stehen!”

“Es war wohl zu schwach”, sagte ein anderer, und dieses Mal sah sie, wie der Energieblitz auf sie zuflog, ohne dass sie in der Lage war, ihm auszuweichen. Dieser traf sie in den Magen, sodass sie beinahe zusammenklappte.

Sie starrte die Männer an und verstand nicht, warum sie ihr bereitwillig Schmerzen zufügten; Hass, Angst und Verzweiflung brachen tief aus ihrem Inneren hervor. Als ein weiterer von ihnen mit seiner Handfläche auf sie zielte, hob sie beide Hände in einer abwehrenden Geste und bereitete sich so auf den nächsten Einschlag vor, verzweifelt entschlossen, den bevorstehenden Schmerz nicht an sich heranzulassen.

Sie spürte tatsächlich nichts, blickte auf und direkt in sieben erstaunte Gesichter, die sie anstarrten. Plötzlich riss die Hälfte von ihnen ihre Hände nach oben und entfesselte Strahlen aus Magie, die jedoch irgendwie gestoppt wurden und sich – ohne sie zu treffen – vor ihrem Körper zerstreuten.

Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung für dieses unerwartete Phänomen und bemerkte nach ein paar Sekunden vor sich in der Luft ein blasses Schimmern. Um es zu berühren, hob sie ihre Fingerspitzen an, zog sie jedoch flink wieder zurück, als sie ein schwaches, kribbelndes Knistern auf ihrer Haut fühlte.

Irgendwie hatte sie es geschafft, sich mit Magie zu schützen! Und es sah so aus, als konnten die Männer nicht zu ihr durchdringen!

Jetzt zielten alle von ihnen mit ihren Handflächen auf sie und setzten Stöße frei. Jeder einzelne davon wurde gestoppt, bevor er Schaden anrichten konnte. Sie versuchten es wieder und wieder, aber vergeblich.

Eryn sah, dass die Männer erblasst waren. Vor Angst? Sie beabsichtigte nicht zu bleiben und es herauszufinden, sondern bewegte sich langsam in Richtung der Türe, die noch immer von den beiden Magiern mit panischen Gesichtsausdrücken bewacht wurde.

“Lauft! Holt Lord Enric! SOFORT!” Dringlichkeit dröhnte in der Stimme des alten Magiers.

Die beiden standen noch einen Augenblick länger still, wie betäubt vor Schock, dann rannten sie los und ließen die Tür hinter sich offenstehen. Eryn schlüpfte hinaus und begann zu laufen, wissend, dass die Magier ihr knapp auf den Fersen waren.

Sie wandte sich nach links, wo sich laut ihrer Erinnerung der Eingang befinden musste und schlitterte den glatten Boden entlang. Sie musste schnell weg von hier, bevor sie es irgendwie schafften, sie aufzuhalten.

Sie vernahm, wie eine weitere Salve an Blitzen auf ihren Schild traf und blickte zurück zu den Männern, die sich eilig in eine Nische duckten, als ob sie Angst vor einem Gegenangriff hätten.

Dann dämmerte es ihr. Genau das war der Grund, warum sie sich versteckten – sie hatten keine Ahnung, dass sie nicht wusste, wie man die Angriffe erwiderte! Sie glaubten, sie könnte jeden Moment zurückschießen. Sie hatte die große Eingangshalle beinahe erreicht, als einige weitere Geschosse die Barriere trafen, ohne sie auch nur ansatzweise zu durchdringen. Sie fragte sich, warum sie nicht aufhörten, da es doch offensichtlich war, dass es keine Wirkung auf sie hatte.

Plötzlich wurde ihr klar, dass es sehr wohl eine Wirkung hatte. Sie wurde hingehalten. Hatten sie nicht nach jemandem geschickt? Einem Lord oder so etwas? Und es funktionierte auch: Jedes Mal, nachdem sie attackiert worden war, wurde sie langsamer.

Entschlossen, ihnen nicht noch weiter entgegenzukommen, griff sie hastig nach dem schweren Eisenring, um einen Flügel der Tür aufzuziehen, als sie eine laute, autoritäre Stimme hinter sich rufen hörte: “Angriff einstellen!”

Ein schneller Blick über die Schulter zeigte ihr, zu wem die Stimme gehörte: Ein Mann Mitte Dreißig, hochgewachsen und schlank, in eine blaue Robe gekleidet, kam zügig auf sie zu, anders als die anderen offensichtlich ohne Furcht vor einem Angriff.

Er strahlte Selbstbewusstsein aus, wurde davon umgeben wie von einer zweiten Haut. Und er wirkte fest entschlossen. Er blieb zwischen den Säulen stehen, hob seine Hand und entfesselte, ohne auch nur einen Moment zu zögern, einen Energieblitz.

Sie starrte in vollkommener Fassungslosigkeit in sein resolutes Gesicht, die fest aufeinandergepressten Lippen und die gerunzelte Stirn; sie nahm all diese bedeutungslosen Details mit unglaublicher Klarheit in sich auf, während ihre Knie langsam unter ihr nachgaben.

Sein Angriff hatte ihren Brustkorb getroffen, und der Schmerz wurde bereits von der Dunkelheit gedämpft, die sie umgab, noch bevor sie auf dem Boden aufschlug.

»Ende der Leseprobe«

 

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A.C. Donaubauer

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