Alle Beiträge von A.C. Donaubauer

„Ein neuer Weg“ – Der Orden: Buch 9

Kapitel 1

Ein Irrtum

Eryn stand wie erstarrt und fixierte weiterhin die seltsam gekleidete Gestalt, die sich bislang noch nicht dazu bequemt hatte, auf ihre und Malriels Frage zu antworten. Von einem Moment zum nächsten mutete die Vorstellung, sie hätten Malhora von Haus Aren vor sich, eine Frau in ihren späten Siebzigern, plötzlich vollkommen lächerlich an. Abgesehen davon, dass sie zweifellos tot war, hatten sie soeben beobachtet, wie diese Wüstennomaden scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren. Malhora hatte in Eryns Gegenwart noch niemals irgendwelche athletischen Körperbewegungen vollführt, die darauf hingedeutet hätten, dass sie beweglich oder flink genug war, um so etwas wie ein Untertauchen im Sand zu bewerkstelligen, um dann emporzuschnellen und einer sich gerade günstig in Reichweite befindlichen Person die Kehle aufzuschlitzen.

Doch ihre Augen klebten an dem Schlitz in der Kopfbedeckung, durch den grimmige braune Augen hervorblitzten. Braune Augen waren keineswegs eine Seltenheit in einem Land, wo dunkles Haar vorherrschte, soviel war ihr bewusst. Ganz im Gegenteil. Braune Augen waren bei praktisch jeder Person, die in den Westlichen Territorien geboren wurde, der Normalfall. Das machte Enric mit seinen blonden Haaren und blauen Augen zu einem Kuriosum, wann immer sie nach Takhan kamen.

Malhoras Stimme gehört zu haben musste wohl nur eine Einbildung gewesen sein. In diesem Fall jedoch musste Malriel unter denselben Wahnvorstellungen leiden…

Ram’an trat vor, um die Frage zu beantworten, die die Erscheinung gestellt hatte. Wie sich die die Kette als Durchgang durch die Barriere verwenden ließ. Weder Eryn noch Malriel waren zu einer Antwort imstande.

“Man hebt sie einfach an und schiebt sie dann mit einem kräftigen Stoss durch die Barriere. Dann kannst du sie als Durchgang benutzen.”

Die Gestalt folgte der Anweisung, und einen Moment später trat sie durch den Schild und nickte anerkennend angesichts eines simplen Prinzips, das sich dermaßen effektiv umsetzen ließ.

Einen Moment später nahm sie das Tuch ab, das ihr Gesicht bedeckte, und Malriel vermochte gerade noch mit einer Hand vor den Mund das Aufschluchzen, das ihr entwichen war, zu dämpfen.

Da war sie in ihrer ganzen Pracht – Malhora von Haus Aren, allem Anschein nach eine ehrenamtliche Meuchelmörderin der Wüstenstämme.

“Großmutter!” flüsterte Eryn, noch immer ungewiss, ob sie ihren Augen trauen durfte. “Du lebst!” Sie streckte ihre Arme aus und zog die alte Frau in eine Umarmung.

“Natürlich lebe ich. Wie kommst du auf die Idee, es wäre anders?”

“Weil alle anderen auf deinem Anwesen abgeschlachtet wurden!” schrie Malriel ihr entgegen, woraufhin einige der Umstehenden zusammenzuckten.

Die Takhaner wichen ein paar Schritte zurück. Das hier zeigte alle Anzeichen eines weiteren bevorstehenden Aren-Zusammenstoßes.

“Jedoch befand sich meine Leiche nicht unter ihnen”, erwiderte Malhora ruhig.

“Ich habe um dich getrauert, du selbstsüchtiges, rücksichtsloses, verantwortungsloses altes…”

“Mutter, bitte!”, versuchte Eryn zu bremsen, was verdächtig nach einem drohenden Nervenzusammenbruchs aussah. Malriel bekleidete das Amt der Obersten Triarchin der Westlichen Territorien. Die Leute sollten sie nicht in einem solchen Zustand erleben. Das würde ihr Vertrauen in die geistige Stabilität ihrer Anführerin untergraben.

“…Ungeheuer!”

“Reiß dich zusammen, Malriel”, schoss Malhora streng zurück. “Denk an deine Position!” Einen Moment später wurde ihr Kopf durch eine kräftige Ohrfeige zur Seite geschleudert.

“War es zu viel verlangt, einen Vogel zu schicken und mir mitzuteilen, dass es dir gut geht, Mutter?” zischte Malriel und wischte sich wütend eine Träne von ihrer Wange.

“Die Wüstenstämme halten nichts von Vögeln, wie du sehr wohl weißt”, knirschte die alte Frau mit zusammengebissenen Zähnen, während sie ihrer Tochter einen mörderischen Blick zuwarf.

Eryns Blick wanderte zu dem Mann, der immer noch blutend auf dem Boden außerhalb der Barriere lag. Es war im Moment wohl kaum die ratsamste aller Vorgehensweisen, eine Frau zu provozieren, die zu so etwas fähig war.

Sie packte Malriel an den Schultern und flehte sie mit eindringlichem Flüsterton an: “Beruhige dich gefälligst! Auf der Stelle! Die Leute blicken zu dir auf – sie müssen sehen, dass du dich unter Kontrolle hast! Ich verspreche dir, dass du dich später auf sie stürzen kannst! Bitte!” Sie schloss für einen Moment die Augen und fügte hinzu: “Ich bin so erschöpft, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ich habe nicht die Kraft, dich außer Gefecht zu setzen und von hier wegzutragen.”

Eryn drehte den Kopf und sah, wie Orrin und König Folrin mit ihren Männern den Hügel herab auf sie zu kamen. Ein wenig zu spät, kam ihr der unwillkürliche Gedanke. Sie hatten all die interessanten Ereignisse verpasst.

Ihr Blick wanderte zu Enric und Ram’an, dann zu Neled. Sie alle erweckten den Anschein, als brauchten sie ebenso dringend ein Bett wie sie selbst.

Sie hob den Arm und deutete auf die Residenz, aus der Etor Gart vor nicht allzu langer Zeit in der Gewissheit geflohen war, dass sich alles zu seinen Gunsten wenden würde. “Ich werde dort oben etwas Schlaf nachholen.”

“Dafür kannst du ebenso gut zur Aren Residenz laufen, die ist nicht viel weiter entfernt”, rief Malhora ihr nach, als sie sich in Bewegung gesetzt hatte.

“Es gibt keine Aren Residenz mehr, Großmutter”, warf Eryn über ihre Schulter zurück, zwang einen Fuß vor den anderen und ergriff im Vorbeigehen Enrics Hand, um ihn mit sich zu ziehen.

“Was meint sie damit, es gibt keine Aren Residenz mehr?” erfragte Malhora von ihrer Tochter.

“Er hat sie zerstört, Mutter”, schnappte Malriel. “Also wird es jetzt keinen Streit mehr darüber geben, wem das Hauptschlafzimmer zusteht, wenn du in der Stadt bist!”

Enric schüttelte den Kopf, legte seiner Gefährtin einen Arm um die Schultern und schleppte sich in Richtung des Hügels, der vor ihnen lag. Er wirkte beinahe unbezwingbar in diesem Moment, wo die Aufregung des Schlachtgetummels nicht länger durch seine Adern pulsierte. “Ist es nicht erstaunlich, wie schnell sich alles wieder normalisiert hat?”

“Ich denke, Malriel geht auf Malhora los, damit sie nicht stattdessen in Tränen ausbricht”, vermutete Eryn. “Ich hatte Recht, möchte ich anmerken”, fügte sie dann hinzu. “Malhora ist nicht tot. Es ist mir ein Bedürfnis, das hervorzuheben.”

“Gut gemacht, Liebste. Ich habe eindeutig unterschätzt, wie schwer es ist, deine Sippe auszurotten.”

In der Zwischenzeit hatten der König und Orrin die beiden erreicht.

“Lord Enric, was hat es mit all dem auf sich? Wer sind diese Leute?” verlangte König Folrin zu wissen und deutete auf die Loman Ergen.

“Bei allem Respekt, Eure Majestät”, antwortete Enric, “das wird Euch jemand anderer beantworten müssen. Versucht es bei Malriel. Sie könnte im Moment etwas Ablenkung gebrauchen. Ich muss meine Gefährtin an einen Ort bringen, wo sie sich hinlegen kann.”

Eryn runzelte die Stirn. “Du nicht? Du siehst nahezu so erschöpft aus wie ich mich fühle.”

“Du bist schlimmer dran als ich, weil du dich dringend von der Heilung erholen musst, die du erhalten hast. Ich dagegen bin lediglich müde. Ich kann noch ein paar Stunden durchhalten und mich um ein paar Dinge kümmern.”

“Wartet auf mich”, rief ihnen Ram’ans Stimme hinterher. “Wenn die mächtigen Anführer des Ordens sich zur Ruhe begeben können, dann muss das auch bei mir zulässig sein.”

Enric unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass er selbst noch eine Weile wach zu bleiben hatte.

Als Ram’an zu ihnen aufgeschlossen hatte, nickte er dem König zu. “Eure Majestät.” Dann deutete er auf die Residenz vor ihnen. “Ihr wisst, wem die gehört, nicht wahr?”

“Das ist mir gleichgültig, solange es dort Schatten und Wasser gibt”, entgegnete Eryn müde. “Ich nehme sogar mit dem Boden vorlieb, solange ich mich nur hinlegen kann.”

“Sie gehört Haus Roal, Haus Arens größtem Widersacher”, fühlte er sich bemüßigt, sie aufzuklären.

Sie seufzte und drehte sich zu ihm um. “Wenn du unbedingt schwierig sein musst, können wir dich nicht mitnehmen. Halt einfach den Mund, Arbil.”

Ram’an zuckte mit den Schultern, und als sie stolperte, stützte er sie mit einem Arm um ihre Taille, zusätzlich zu Enrics Arm um ihre Schultern.

Arm in Arm, wankend wie Betrunkene, nahmen sie zu dritt den beschwerlichen Aufstieg in Angriff.

*  *  *

Enric erwachte mit schmerzendem Rücken, bedingt durch die leicht schräge Position seines Körpers auf den Sitzkissen im Hauptraum der Roal-Residenz. Eryn hatte es nicht einmal mehr in ein Schlafzimmer geschafft, sondern war auf der ersten bequem wirkenden Oberfläche zusammengeklappt. Den Kissen. Als Enric etwa fünf Stunden später zurückgekehrt war, hatte er sich einfach neben ihr niedergelassen. Nach dem schwachen Licht der frühen Morgendämmerung zu urteilen, hatte er in etwa fünfzehn Stunden lang geschlafen. Allzu erfrischt fühlte er sich nicht, was nach den Strapazen der letzten Tage jedoch kaum zu erwarten war. In den kommenden Tagen würde er den Preis dafür bezahlen, dass er sich mit Magie auf den Beinen gehalten hatte. Dazu kam noch die Tatsache, dass er auch nicht eben jünger wurde und sein Körper nicht müde wurde, ihn darauf hinzuweisen.

Er versuchte, seine Umgebung in dem schwachen Licht zu erahnen. Eryn hatte sich neben ihm auf den Kissen ausgestreckt. Aufgrund ihres beachtlichen Platzanspruchs beim Schlafen war er selbst gezwungen gewesen, sich mit einer weniger bequemen Position zufrieden zu geben. Bei dieser Frau war ein breites Bett nicht lediglich ein Luxus, sondern eine Überlebensfrage.

Sie trug immer noch den Großteil ihrer Rüstung am Leib. Im Gegensatz zu ihm hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich auch nur von einem einzigen der steifen Lederteile zu befreien.

Zu ihren Füßen lag Ram’an, dessen Beine zu Boden hingen. Er hatte es geschafft, zwei weitere Kissen für sich zu ergattern.

Unbeholfen und mit einer Grimasse angesichts seiner verspannten Muskeln kämpfte sich Enric auf die Beine, darauf bedacht, jedes Geräusch zu vermeiden, das die anderen beiden aus dem Schlaf reißen könnte. Er verspürte den Drang sich zu strecken, etwas zu trinken und dann die Toilette aufzusuchen. Da Haus Roal nicht zu den Kreisen zählte, in denen sich die Mitglieder von Haus Aren nach Belieben bewegen konnten, war er noch nie bei einer der geselligen Zusammenkünfte oder Feiern in dieser Residenz zu Gast gewesen und daher mit deren Grundriss nicht vertraut.

Gewisse Gegebenheiten unterschieden sich kaum von einer Residenz zur anderen, wie beispielsweise die Anordnung des Hauptraums im ersten Stock, der angrenzenden Küche und des gesamten Lagerbereichs im Erdgeschoss. Die verbleibenden Räume allerdings, einschließlich des Badezimmers, waren eine Frage der persönlichen Vorlieben.

Er trat auf die Terrasse hinaus, atmete die kühle Morgenluft ein und genoss den Luxus, seine Gedanken ausnahmsweise nicht um einen zu erwartenden oder einen geplanten Angriff kreisen lassen zu müssen. Beim Strecken seiner Arme und Beine spürte er, wie seine Gelenke mit einem leisen Schnappen wieder einrasteten. Seine Muskeln erinnerten sich unter Protest daran, dass Bewegung ihr Existenzzweck war. Als Nächstes entledigte er sich seines Leinenhemds und setzte seine Haut der kühlen Morgenluft aus.

Kurz darauf kehrte er in das Gebäude zurück und bewegte sich auf der Suche nach Wasser leise in die Richtung, in der er die Küche vermutete. Er trank eine ganze Karaffe leer und begab sich sodann auf die Suche nach einem Badezimmer.

Im ersten von zwei Korridorein öffnete er eine Tür nach der anderen. So verging eine Weile, bis er fand, wonach er suchte. Im Inneren der Residenz war es noch fast völlig dunkel.

Gedanklich sortierte er die Aufgaben, die dieser Tag mit sich bringen würde. Sie mussten sich mit ihren Familien in Verbindung setzen, ihnen mitteilen, dass die Rückkehr nach Takhan nun wieder sicher war; dafür sorgen, dass die Anwesen ihre Lieferungen in die Stadt wieder aufnahmen; die Gefangenen aus dem Anwesen in den Hügeln herbeischaffen; die Leichen der feindlichen Soldaten beseitigen und sich darum kümmern, dass ihre eigenen gefallenen Soldaten angemessen bestattet wurden. Weiters mussten die Schäden, die die Stadt erlitten hatte, begutachtet und in einigen Fällen rasch behoben werden. Der Hafen musste einsatzbereit sein, sonst konnten sie weder diejenigen, die sie weggeschickt hatten, wieder zurückzuholen, noch die Waren in Empfang nehmen, die Anyueel ihren Verbündeten zukommen lassen musste, bis sie wieder in der Lage waren, sich aus eigener Kraft zu versorgen.

Außerdem mussten er und Eryn mit der Triarchie, Malriel und Neled – und nun wohl auch mit Horam – konferieren und besprechen, wie es nun weitergehen sollte. Es gab einen wichtigen Aspekt, den es herauszufinden galt – nämlich was exakt dieses Bündnis zwischen Neled und Horam beinhaltete. Was genau hatte Neled versprochen? Würde sie dafür ihre Position in Takhan aufgeben müssen? Oder war sie so unvorsichtig gewesen, den Loman Ergen eine Bleibe in Takhan zu versprechen, ohne zuvor jene um ihre Zustimmung zu bitten, die dort das Sagen hatten?

Als er in den Hauptraum zurückkehrte, sah er, dass Ram’an in der Zwischenzeit ebenfalls aufgewacht war. Eryn hingegen schlummerte noch immer tief und fest. Kurz zog er in Betracht, sie zu wecken, um ihr etwas zu trinken einzuflößen, bevor er sie wieder ruhen ließ. Er entschied sich dagegen und platzierte stattdessen Wasser auf einem Tisch in der Nähe für später, sobald sie von selbst aufwachte.

Ram’an gähnte und streckte sich, erhob sich und folgte Enric auf die Terrasse, um Eryn nicht zu stören.

“Was wird jetzt geschehen?”, fragte das Oberhaupt von Haus Arbil und ließ sich auf die Sitzkissen fallen.

“Wir müssen das Land aus dem Ausnahmezustand heraus und zurück in die Normalität führen. Unsere ersten Prioritäten sind die Beseitigung der Toten, bevor eine Seuche über uns hereinbricht, und die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln. Kaum eines der Anwesen ist angegriffen worden, daher erwarte ich bei letzterem keine Probleme.”

“Und das erste? Ich nehme an, ihr wollt eure toten Soldaten und natürlich die Ordensmagier zurück nach Anyueel schaffen?”

Enric nickte. “Das müssen wir. Als Sieger haben wir keine andere Wahl. Diejenigen, die wir in der Wüste verloren haben, mussten wir bereits begraben, aber jene, die in der Stadt gefallen sind, müssen nach Hause gebracht werden.”

“Insbesondere Lord Tyront, nehme ich an?”

“Ja, vor allem er”, antwortete Enric leise und sinnierte darüber, wie er Vyril die grausige Nachricht überbringen sollte. Vorausgesetzt, der König hatte sie nicht bereits informiert, während sich Enric in der Wüste auf die Jagd nach Etor Garts Männern begeben hatte.

“Was ist mit dem Kadaver von Etor Gart? Verfüttern wir ihn an die Fische oder lassen wir ihn in der Wüste verrotten, so wie er es verdient hat?”

“Nein. Ich wünschte, wir hätten diesen Luxus. Wir werden ihn zurückbringen müssen als Beweis für seine Niederlage.”

Ram’an runzelte die Stirn. “Du willst nach Kar reisen, um ihnen die verwesenden Überreste ihres kriegstreiberischen Anführers zu präsentieren? Oder hast du vor, die Kriegsgefangenen freizulassen und sie ihnen mitzugeben?”

Enric streckte sich erneut und unterdrückte ein Gähnen. “Das kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Es ist nicht allein meine Entscheidung.”

Es folgten einige Sekunden des Schweigens, dann fragte Ram’an: “Wegen Malhora. Hattest du schon Gelegenheit, mit ihr zu sprechen? Das muss wohl das Seltsamste gewesen sein, was ich je mitangesehen habe. Ich wusste nicht, dass sich die Nomaden auf diese Weise unter dem Sand bewegen können – von der Oberfläche aus völlig unbemerkt! Und wie ist Malhora überhaupt bei ihnen gelandet?”

“Malriel war noch nicht fertig damit, sie anzuschreien, als ich sie gestern verlassen habe, und seitdem habe ich sie beide nicht mehr gesehen. Ich war beschäftigt, während du dich ausgeruht hast”, fügte er spitz hinzu.

Ram’an zuckte mit den Schultern. “Nun, anders als du und deine Männer bin ich nicht mein ganzes Leben lang auf einen Krieg vorbereitet worden. Ich habe einen Beruf erlernt, der Bücher und Schreibmaterial erfordert, keine Schwerter und Magie. Du solltest mir also zugute halten, dass ich so lange auf den Beinen geblieben bin, wie ich es vermocht habe.”

Enric seufzte. Selbstverständlich hatte er Recht. Für einen Zivilisten hatte er sich bei all dem durchaus wacker geschlagen. Er hatte bis zum bitteren Ende durchgehalten und war bei der Begegnung mit dem Feind nicht ein einziges Mal verzagt.

“Entschulde bitte. Ich wollte dich nicht herabwürdigen.”

“Kein Grund zur Sorge, mein Freund. Wie geht es nun weiter? Darf ich darauf hoffen, dass ich bald in meine Residenz zurückkehren kann, um mir wenigstens frische Kleidung zu besorgen, oder muss ich ihr fernbleiben, solange der König sie noch benutzt?”

“Es ist gewiss kein Problem, wenn du dir frische Kleidung besorgst. Du kannst dich mir anschließen, mein erster Weg führt dorthin, um mich mit dem König und Orrin zu beraten. Du kannst dich in der Zwischenzeit gerne in mein Haus zurückziehen. Zum Glück steht es noch. Möglicherweise halten sich dort jedoch auch Malriel und Malhora auf. Wenn du meine Gastfreundschaft akzeptierst, mach dich darauf gefasst, dass es wahrscheinlich keine allzu ruhige Erfahrung wird.”

Ram’an nickte dankbar. “Das Angebot nehme ich dankend an. Was ist mit Theá?”

“Ich werde ihr eine Nachricht hinterlassen und sie anweisen, dass sie nach Hause gehen soll, sobald sie aufwacht. Ich vermute allerdings, dass sie noch ein paar Stunden schlafen wird.”

“Gut. Dann werde ich das Bad benutzen und etwas Wasser trinken, während du die Nachricht verfasst.”

“Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo ich ein Arbeitszimmer mit etwas Papier und einem Stift finden kann?”

“Überhaupt keine.”

Enric drehte sich um und begab sich erneut auf Zimmersuche.

*  *  *

Eryn gönnte sich ein finales, ausgedehntes Gähnen, bevor sie an die Eingangstür der Arbil Residenz klopfte. Die Morgendämmerung kündigte sich bereits durch eine deutlich erkennbare orange Färbung des Sonnenlichts an.

Als sie etwa eine Stunde zuvor aufgewacht war, allein und leicht verwirrt an einem ihr unbekannten Ort, hatte sie sich vage daran erinnert, dass Ram’an etwas von der Roal-Residenz erwähnt hatte. Abgesehen von der geschmackvollen, gediegenen Einrichtung hatte das Gebäude einen offenen, luftigen und modernen Eindruck auf sie gemacht. Es wurde ganz eindeutig dem Ruf des Hauses als fähige Bauherren gerecht.

Enrics Zettel auf dem niedrigen Tisch forderte sie auf, in ihr offenbar noch intaktes Haus zurückzukehren und sich zu waschen, bevor sie in die Arbil Residenz aufbrechen sollte. Einige Themen würde man auch ohne sie angehen, aber für andere war ihre Anwesenheit erforderlich.

Hier stand sie also und wartete geduldig darauf, eingelassen zu werden. Malriel war diejenige, die ihr die Tür öffnete und dann zur Seite trat, um sie eintreten zu lassen, bevor sie ihr ein feuchtes Handtuch reichte.

“Wie geht es dir, Maltheá?”, erkundigte sich ihre Mutter. “Wie ich höre, war die Heilung, die du erhalten hast, recht umfassend, was bedeutet, dass du dich noch ein paar Tage lang erschöpft fühlen wirst. Unter normalen Umständen würden wir dir raten, dich zu schonen und so viel zu ruhen, wie es dir möglich ist.”

Eryn lächelte. “Ich danke dir, Mutter. Das Verfahren ist mir bekannt. Ich war früher selbst Heilerin, wie du dich vielleicht noch erinnerst?” Wie war es möglich, dass die Leute ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet so schnell aus den Augen verloren, nur weil sie den Beruf nicht länger aktiv ausübte? Nicht-Heiler waren plötzlich von dem Bedürfnis beseelt, ihr die grundlegendsten medizinischen Prinzipien zu erklären.

“Verzeih mir. Ich bin lediglich besorgt.”

Eryn musterte ihre Mutter und erinnerte sich, wie verstört diese zuvor an der Barriere gewesen war, als sie alle Zeugen des dramatischen Vorfalls geworden waren, mit dem Malhora die Welt davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass die Gerüchte über ihr Ableben übertrieben und verfrüht gewesen waren. Nichts davon hatte Spuren in Malriels gegenwärtigem Aussehen hinterlassen. Sie strahlte einen Hauch mehr Eleganz aus als in den letzten Wochen, um den Menschen unmissverständlich zu signalisieren, dass sie in eine neue Phase eingetreten waren – eine Phase, die noch weit entfernt war von aufwendigen gesellschaftlichen Zusammenkünften in luxuriösen Residenzen, die aber trotz all der Arbeit, die noch vor ihnen lag, ein erster Schritt in Richtung der Normalität war, nach der die Sehnsucht so groß war. Eryn fragte sich, wessen Kleidung sie gerade trug. Hatte sie es geschafft, unter den Trümmern ihrer Residenz ein paar intakte Kleidungsstücke zu bergen? Diese Tunika kam ihr allerdings bekannt vor…

“Wie geht es dir, Mutter? Hast du dich schon mit Großmutters unerwarteter Rückkehr von den Toten abgefunden?” Sie betrachtete die dunkle Hose, die etwas weniger körperbetont geschnitten war, als es Malriel bevorzugte. Vielmehr wirkte das Kleidungsstück wie für eine Frau gemacht, deren Fokus eher darauf lag, sich viel zu bewegen als verführerisch auszusehen… “Sind das meine Kleider?”

Malriel sah an sich hinab, als müsse sie sich vergewissern, was genau sie gerade am Leib trug. “Ja, das sind sie. Enric war so freundlich, mir eine Auswahl aus deinem Kleiderschrank anzubieten, da die einzigen Kleider, die ich derzeit besitze, entweder verschwitzt, staubig und zerrissen sind oder unter den Ruinen meines Hauses verschüttet liegen”, erklärte sie etwas spitz. Ganz so als wollte sie ihre Tochter herausfordern, ihren Unmut darüber zu äußern, dass sie ihre Kleidung vorerst teilen musste.

“Das ist kein Problem”, versicherte Eryn ihrer Mutter umgehend. Und das war es auch tatsächlich nicht. Was sie allerdings ein wenig verärgerte, war die Tatsache, dass sie ihre eigenen Sachen nicht auf Anhieb erkannt hatte, weil die Art, wie Malriel sie trug, sie irgendwie… stilvoller wirken ließ. Es war nicht nur die Art, wie sie die einzelnen Stücke kombiniert hatte, sondern auch, wie sie sich mit ihrem Körper bewegten, wie das Licht mit den Falten im Stoff spielte, wenn sie sich drehte oder umherging.

“Also, wegen Malhora…?”

Malriel seufzte. “Wir haben so ziemlich genau dort angeknüpft, wo wir vor ihrem Verschwinden aufgehört haben.”

Eryn schnitt eine Grimasse. Das bedeutete, dass sie sich nach wie vor gegenseitig als formidable Gegnerinnen betrachteten und die Illusion hegten, dies sei eine Art Kompliment, das sie einander zollten, ein Ersatz für eine intakte Beziehung. Und keine von beiden war mutig genug, der anderen zu signalisieren, dass sie sich beide wünschten, die Dinge zwischen ihnen stünden anders. Und das, davon war Eryn überzeugt, war der Grund, weshalb sowohl Malriel als auch Malhora das lang vermisste Kind – nämlich sie selbst – benutzten, um das zu kompensieren, was sie der jeweils anderen vorenthielten. So viel zu dem Ruf der Aren, von dem Malriel noch vor einem Tag behauptet hatte, er entbehre jeglicher Grundlage; sie unterwarf sich diesem Ruf, so wie man es von ihr erwartete. So viel zu ihren ach so vernünftigen Worten, als sie das Thema kurz vor dem Explodieren der Mauer erörtert hatten.

“Komm mit. Wir sollten nach oben gehen zu den anderen. Horam ist nur wenige Minuten vor dir angekommen, und ich denke, es wird dich interessieren, was sie uns zu sagen hat.”

Eryn runzelte die Stirn. “Das klingt, als wüsstest du bereits, was das sein wird.”

Malriel lächelte nur und ging voraus die Treppe hinauf.

Die Sitzkissen waren recht gut besetzt, wie Eryn bemerkte. Da waren der König, die Triarchen, Enric, Orrin, Neled, Horam, Valrad und nun auch sie selbst. Bei einem geselligen Beisammensein würde der Gastgeber die Sitzgelegenheiten für eine so große Anzahl von Menschen etwas umgestalten. Aber im Moment würden sie sich einfach zusammenquetschen müssen.

Sie begrüßte alle mit einem herzlichen Lächeln und bezog dann einen Platz zwischen Enric und Neled. Enric hatte sich für sein bevorzugtes schwarzes Gewand entschieden und die dunkelrote Schärpe ergänzt. Auf diese Weise verwandelte er sein legeres Gewand in ein halbwegs formelles, das seine Stellung widerspiegelte, ohne dass er dafür eine Rüstung oder seine Robe tragen musste, beides ausgesprochen unbequem in diesem Klima.

“Lady Eryn”, nickte der König ihr zu. “Ich nehme an, Ihr habt Euch soweit erholt, dass Ihr Eure Pflichten wieder aufnehmen könnt?”

“Das habe ich in der Tat”, antwortete sie. Dann sah sie Horam an. “Ich bin froh, dich wiederzusehen. Du hast uns gestern einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nun ja – mir zumindest. Neled wusste immerhin, was zu erwarten war.” Sie schürzte die Lippen und sah Malriel und den König an. “Und vielleicht auch ihr beiden, wie ich vermute.”

Malriel lächelte leise. “Ja und nein. Ich wusste von Neleds Vereinbarung mit Horam. Sie hatte mich bereits darüber informiert, als sie das erste Mal in die Stadt kam und unser Angebot annahm, in Takhan zu bleiben. Dennoch war ich mir nicht sicher, ob es sich bei der Verstärkung, die Etor Gart erwartete, wirklich um die Loman Ergen oder um reguläre Soldaten der Armee Pirinkars handelte. Mein erster Impuls, als ich sie in der Ferne sah, war Panik, das will ich zugeben.”

Eryn erinnerte sich an ein Gespräch zwischen ihr und Neled, als sie im Süden nach feindlichen Truppen gesucht hatten. Neled hatte angedeutet, dass sie bestimmte Dinge plante – Dinge, von denen Malriel Kenntnis hatte.

König Folrin räusperte sich und warf einen kühlen Blick in Malriels Richtung. “Ich allerdings wurde über eine solche Vereinbarung nicht informiert, und in der Folge auch nicht die Befehlshaber meiner Truppen.”

“Verzeih mir, Folrin”, flötete Malriel, “dieses Geheimnis zu teilen stand mir nicht zu. Und solange wir nicht mit Sicherheit sagen konnten, ob und wann sie auftauchen würden, brachte es keinerlei strategischen Vorteil, es dir mitzuteilen.”

Der König erwiderte darauf nichts, doch seine Miene verriet deutlich genug, wie wenig er mit ihr übereinstimmte.

Eryn verbarg ein Lächeln und dachte, dass es ihn zutiefst verärgern musste, nun selbst die Art von Behandlung zu erfahren, die er bevorzugt anderen angedeihen ließ.

“Du solltest deine Schärpe tragen, damit wenigstens irgendein Zeichen deiner Position erkennbar ist”, flüsterte Enric ihr ins Ohr, während alle Aufmerksamkeit auf Malriel gerichtet war.

“Sie ist mit Staub und getrocknetem Blut beschmutzt”, antwortete sie. “Ich hatte keine Zeit, sie zu waschen, bevor ich hierher kam.” Ein kurzer Blick auf Enrics eigene Schärpe zeigte ihr, dass sie sauber war. Offensichtlich hatte er sich also entweder selbst die Zeit genommen, sie zu waschen, oder jemand anderen damit beauftragt, das für ihn zu erledigen. Da es in der Stadt aktuell keine Bediensteten gab, hatte er es vermutlich selbst übernommen und dabei seine unfreiwillig in den Bergen erworbene Fähigkeit genutzt, als Malriel auf dem Rückweg von Pirinkar darauf bestanden hatte, dass die Männer ihre Kleidung selbst wuschen, um dem Stamm, bei dem sie zu Gast gewesen waren, die modernen Gepflogenheiten der Stadtbewohner zu demonstrieren.

König Folrin sah Neled und dann Horam an. “Meine werten Damen, ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mich und alle anderen hier über die Art eurer Vereinbarung aufklären könntet. Horam, ich habe gehört, dass du die Anführerin einer Gruppe bist, die sich Loman Ergen nennt, was sich grob mit die Unerschrockenen übersetzen lässt.”

Horam legte den Kopf schief. “Ich gehöre zu den Unerschrockenen, das ist richtig. Jedoch ordnen wir uns keinem Anführer unter. Ich bin lediglich eine der Älteren, die das Glück hat, das Vertrauen vieler zu genießen, die meinen Rat suchen. Ich nehme an, Ihr wurdet auch darüber informiert, dass wir seit Jahrhunderten ein wanderndes Volk sind, das immer in Bewegung ist, um der Unterdrückung zu entkommen, die sonst aufgrund unserer Magie unser Schicksal wäre. Ich selbst wurde in der Stadt Kar geboren und als Säugling dem grausamsten und abscheulichsten der Tempel übergeben. Wie so viele andere wurde mir das Sprechen verboten und ich wurde unmenschlichen und entwürdigenden Praktiken unterworfen. Es gelang mir zu flüchten, und ich wurde von den Loman Ergen verloren und allein in den Wäldern aufgelesen. Seither bin ich eine von ihnen.”

Eryn schluckte. Sie erinnerte sich daran, dass Horam ihr von ihrem bitteren Start bei den Anhängern von Amel Harp erzählt hatte. Hatte sie sich deshalb auf die Seite des Volkes geschlagen, das ihre Landsleute als Feind betrachteten? Weil sie sich gegen jene stellen wollte, die ihr so schreckliche Dinge angetan hatten? Die Gelegenheit nutzen, es einer Gesellschaft heimzuzahlen, die nicht nur tolerierte, sondern aktiv unterstützte, was Magiern im Allgemeinen und insbesondere den armen Kreaturen, die im Tempel von Amel Harp landeten, angetan wurde?

Als sich abzeichnete, dass Horam nicht weitersprechen würde, ergriff Neled das Wort. “Wir verließen Kar, sobald unsere Vorbereitungen abgeschlossen waren – nachdem ich mich endgültig zu diesem Schritt entschlossen hatte. Der Gedanke, mich den Loman Ergen anzuschließen, hat mich bereits seit Jahren beschäftigt, aber es bedurfte offensichtlich der Bedrohung, von unseren Unterdrückern in den Krieg geschickt zu werden, um mich zum Handeln zu bewegen. Ich wusste, dass Etor Gart durch den Verlust der Bendan Ederbren über keine Magier mehr verfügte, die für einen Krieg gegen Kampfmagier ausgebildet waren. Damit war es für ihn nur logisch, sich an die Loman Ergen zu wenden. Also habe ich sie aufgesucht, um sie zu warnen.” Sie lächelte bei der Erinnerung, ihr Blick in die Ferne gerichtet. “Sie zu finden, ist entweder eine Frage des Zufalls oder des Wissens, wo man suchen muss. Da ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte, und die Zeit wegen unserer Flucht aus dem Land drängte, beschloss ich, mich stattdessen von ihnen finden zu lassen. Ich kleidete mich in mein Priestergewand und verbrachte eineinhalb Tage auf einer erhöhten Lichtung, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ich schickte die anderen voraus und behielt nur ein paar meiner Leute zum Schutz bei mir, für den Fall, dass irgendwelche übereifrigen, gehorsamen Dorfbewohner versuchen würden, mich in die Stadt zurückzuschaffen. Sie fanden mich tatsächlich und beschlossen, sich mir zu nähern, obwohl sie sich normalerweise von Fremden fernhielten und sie nur aus der Ferne beobachteten. Doch mein Gewand hatte ihr Interesse geweckt, genau wie ich gehofft hatte. Nach ein paar weiteren Tagen des Reitens traf ich schließlich Horam. Ich warnte sie, dass die Regierung sie wahrscheinlich kontaktieren und mit Versprechungen dazu bewegen wollen würde, in einem Krieg kämpfen, der nicht der ihre war – einem Krieg gegen ein Volk, das keinem von uns etwas angetan hatte, außer dass es das Pech hatte, ein geeignetes Ziel für die Machtbestrebungen eines einzelnen Mannes zu sein. Wir unterhielten uns die ganze Nacht hindurch. Mein ursprüngliches Ziel bei der Suche nach ihnen war nicht ein Bündnis irgendeiner Art gewesen. Ich war ein Flüchtling, der sich und die Menschen, die unter ihrer Obhut standen, der Gnade von Fremden auslieferte, die keinen Grund hatten, uns zu vertrauen. Es gab ohnehin wenig, was ich hätte anbieten können. Und noch weniger hatte ich das Recht, um etwas zu bitten. Ich wollte sie lediglich warnen, sie anflehen, sich nicht auf diese Weise missbrauchen zu lassen – und für ein Freiheitsversprechen oder Ähnliches den Fehler zu begehen, den Leuten, die sie schon so lange jagten, ihren Aufenthaltsort zu verraten oder gar freiwillig ihr Leben für sie zu opfern.”

“Und trotzdem haben wir uns am Ende der Nacht verbündet”, übernahm Horam und lächelte Neled an. “Zwei Frauen, die auf der Flucht vor ihren Verfolgern waren und die einander nicht viel mehr zu bieten hatten als Entschlossenheit und ein gemeinsames Empfinden von Ungerechtigkeit aufgrund der Misshandlungen, die wir erleiden und bei anderen mitansehen mussten.”

Eryn spürte, wie die Spannung im Raum merklich zunahm, während alle darauf warteten, dass die Einzelheiten dieser Vereinbarung offengelegt wurden. Alle außer Malriel, die bereits Bescheid wusste.

Die Frau, die behauptete, nicht die Anführerin der Loman Ergen zu sein, fuhr fort: “Ich habe versprochen, Etor Gart in dem Glauben zu lassen, dass er sich unsere Unterstützung für den Krieg gesichert hat, für den Fall, dass er wahrhaftig beabsichtigt, uns für seine Zwecke zu benutzen, wie Neled es vorausgesagt hatte. Es war besser, ihn in dem Glauben zu lassen, wir würden auf seiner Seite in den Krieg ziehen und ihm später eine Lektion erteilen, als ihm eine Absage zu erteilen und ihn zu zwingen, sich eine andere Lösung einfallen zu lassen. Im Gegenzug versprach Neled, am Ende von Etor Garts Bemühungen zurückzukehren, ob diese schlussendlich erfolgreich waren oder nicht, und mit den Loman Ergen nach Kar zu marschieren, um unsere Brüder und Schwestern aus ihren Gefängnissen hinter den Mauern der Tempel zu befreien.”

Eryn spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Nach Jahrhunderten hatten die Loman Ergen beschlossen, sich ihren Unterdrückern entgegenzustellen anstatt weiterhin vor ihnen zu fliehen. Der Zeitpunkt dafür war hervorragend: Nun hatten sie zum ersten Mal Verbündete, die nicht nur Magier, sondern auch ausgebildete Krieger waren. Und die dank Etor Gart nun sogar wertvolle Kampferfahrung gesammelt hatten, die ihnen helfen würde, sich gegen die Reste von Pirinkars Armee zu behaupten. Die Frage war nur, ob es sich dabei noch um eine ernstzunehmende Macht handelte, auch wenn sie aus Nichtmagiern bestand. Eine ausreichend große Zahl fähiger Kämpfer war eine Gefahr für deutlich weniger Magier – vor allem, wenn sie über Geschosse mit goldenen Spitzen verfügten.

“Du wirst uns also bald verlassen, wenn ich das richtig verstehe”, wandte sich Golir an Neled, und sein Ton klang besorgt. “Es tut mir unendlich leid, das zu hören, zumal wir noch nicht sicher sein können, ob der bloße Sturz Etor Garts sämtlichen Feindseligkeiten ein Ende setzen wird.”

Enric lächelte leise. “Wenn sich die Loman Ergen mit den Bendan Ederbren vereinigen, um gegen Kar zu marschieren, wird die Regierung auf absehbare Zeit kaum in der Lage sein, weitere Angriffe auf uns in Betracht zu ziehen.”

“Wir könnten die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Krieges mit ihnen erheblich verringern”, formulierte Eryn etwas, das sie bereits vor nicht allzu langer Zeit auf dem Rückweg nach Takhan bereits gegenüber Enric und Ram’an erwähnt hatte, “wenn wir dafür sorgen, dass die Machthaber nicht geneigt sind, uns erneut anzugreifen.”

Der König hob die Brauen und sah sie an. “Betrügen mich meine Ohren, Lady Eryn, oder erlebe ich wahrlich den Tag, an dem Ihr den Vorschlag unterbreitet, die Invasion eines anderen Landes in Angriff zu nehmen?” Er schüttelte verblüfft den Kopf. “Du liebe Zeit, was haben wir nur aus Euch gemacht?”

“Ihr habt mich zu nichts gemacht, was ich nicht schon vorher war”, erwiderte sie, aus irgendeinem Grund irritiert über seine Worte. “Ich war nie ein Mensch, der bereit war, eine Bedrohung für Unschuldige hinzunehmen, und das gilt für beide Seiten. Ich möchte auch nicht, dass mein Sohn an einem Ort aufwächst, an dem Frieden ein zerbrechliches Konstrukt ist, das davon abhängt, von welcher Laune irgendjemand in Pirinkar gerade getrieben wird. Und ich billige auch nicht, wie Magier in Pirinkar unterdrückt, versklavt, gequält und verfolgt werden. Euer Einfluss hat lediglich dazu geführt, dass ich neue Ansätze zur Durchsetzung meiner Werte in Betracht ziehe.”

“Ansätze wie eine Invasion”, antwortete König Folrin mit einem Lächeln.

“Wenn wir die Einwohner von Pirinkar lediglich in ihrem Bestreben unterstützen würden, die Sklaverei zu beenden, anstatt dort einzumarschieren und das Land zu übernehmen, würde ich es kaum als Invasion bezeichnen”, meldete sich Enric zu Wort.

Der König warf ihm einen direkten Blick zu. “Ich verstehe.” Er hielt einen Moment inne, als überlege er, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte. “Gehe ich recht in der Annahme, Lord Enric, dass Ihr mir in Eurer Eigenschaft als Anführer des Ordens der Magier mitteilt, dass Ihr die Entsendung unserer Truppen nach Pirinkar befürwortet?”

Eryn hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Enric hatte sich nie wirklich zu ihrer Aussage, gegen Pirinkar zu marschieren, geäußert, als sie nach der Schlacht zurückgeritten waren. Sie waren einfach eine Weile schweigend weitergeritten und hatten anschließend über andere Dinge gesprochen. Sie war also nicht sicher, mit welcher Antwort er nun aufwarten würde.

Enric hob sein Kinn leicht an. “So ist es.”

Stille trat ein. Eryn bemerkte, wie angespannt Horam und Neled den Austausch verfolgten. Den Orden an ihrer Seite zu haben würde ihre Erfolgschancen deutlich erhöhen.

Torka’na ergriff nun das Wort: “Wenn unser Hauptziel darin besteht, unser Land vor zukünftigen Angriffen zu schützen, können wir ebenso gut die gleiche Art von Barriere errichten, die unsere Vorfahren benutzt haben, um das Königreich Anyueel fernzuhalten. Immerhin haben wir wiederentdeckt, wie sich das bewerkstelligen lässt. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Pirinkars ist eine prekäre Angelegenheit. Im Grunde genommen stellen wir uns auf die Seite jener, die bestrebt sind, einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Sollten wir uns in der Position wiederfinden, die Verliererseite unterstützt zu haben, müssen wir mit Sicherheit mit den Feindseligkeiten rechnen, die vorher lediglich eine mögliche Option waren.”

Eryn biss sich auf die Lippe, um sich den Hinweis zu verkneifen, dass dies zwar der Sicherheit der westlichen Territorien dienen würde, aber wohl kaum der Sicherheit der in Kar unterdrückten Priester. Sie wusste, dass es der Triarchie in erster Linie um den Schutz ihres eigenen Volkes gehen musste. Torke’nas Argument war berechtigt; etwas anderes zu behaupten wäre sinnlos. Es nutzte auch nichts, sich über das zu ärgern, was Eryn als Gefühllosigkeit empfand. Torke’na hatte noch nie mit eigenen Augen erblickt, wie das Leben in Pirinkar für Magier aussah. Und selbst wenn sie es gewusst hätte – eine Entscheidung wie diese musste auf Vernunft und validen Argumenten beruhen, nicht auf bloßer Solidarität.

Malriel ergriff als nächstes das Wort. “Ich stimme zu, dass Pirinkar im Falle einer Niederlage wahrscheinlich Vergeltung üben wird. Ebenso ist es allerdings eine Tatsache, dass wir nicht sicher sein können, ob sie den gegenwärtigen Krieg als beendet betrachten oder nicht. Sie könnten die Niederlage ihrer Truppen als Vorwand für einen Vergeltungsschlag nutzen. Den Luxus, dass wir nun davon ausgehen, dass Frieden herrscht, können wir uns nicht leisten. Was eine weitere Barriere betrifft, muss ich zur Vorsicht mahnen. Etor Gart hat einen Weg gefunden, die Barrieren, die wir um die Stadt errichtet haben, zu überwinden. Wir müssen davon ausgehen, dass dies keine neue Entdeckung war, sondern eine in Pirinkar bekannte Technik, was bedeutet, dass sie in der Lage wären, selbst den mächtigsten magischen Schild zu überwinden, den wir errichten können.”

“Lord Enric”, begann der König, “was wäre, wenn ich anordne, dass der Orden nach Anyueel zurückzukehren und diesen Krieg als beendet zu betrachten hat?”

“Dem würde ich mich selbstverständlich beugen, Eure Majestät. Solange ich Euer Untertan bin und das Amt des Anführers des Ordens bekleide, werde ich mich Euren Wünschen fügen.” Enric ließ unausgesprochen, dass sich seine Amtszeit dem Ende zuneigte und dass ihn und Eryn danach nichts und niemand mehr davon abhalten konnte, den Bendan Ederbren und Loman Ergen ihre Unterstützung zu gewähren. Die geschürzten Lippen des Königs waren ein deutliches Zeichen dafür, dass die Botschaft angekommen war. Enric fuhr fort: “Ich bin mir sicher, dass die Westlichen Territorien es Euch nicht verübeln würden, falls Ihr beschließt, Euch um Euer eigenes Volk zu kümmern, nachdem Ihr Euer Versprechen, ihnen im Krieg beizustehen, erfüllt habt. Und ich bin ebenso zuversichtlich, dass Ihr nicht zögern würdet, wenn sich in der nächsten Zeit die Notwendigkeit ergeben sollte, zurückzukehren, um sie erneut zu verteidigen.”

Eryn musste die Art und Weise bewundern, wie sein Gehirn arbeitete. Er hatte geschickt angedeutet, dass er gegen Kar marschieren würde, sobald er sich aus der Umklammerung des Königs befreit hatte, und König Folrin auf die möglichen politischen Folgen einer Weigerung hingewiesen, Schritte zu unternehmen, die mancher als geeignet ansehen würde, den Konflikt mit Pirinkar auf eine dauerhaftere Weise zu beenden. Außerdem würde die Wiederaufnahme eines Krieges, den man von vornherein nicht richtig beendet hatte, die Beliebtheit des Königs bei seinem eigenen Volk nicht eben fördern.

Malriels Mundwinkel zuckten für einen kurzen Moment, dann nahm ihr Gesicht wieder seinen neutralen Ausdruck an. Natürlich fand die Königin der Finsternis Gefallen an einer solch hinterhältigen Antwort.

Der durchdringende Blick des Königs blieb auf Enric gerichtet, als er antwortete: “Natürlich werden wir auch weiterhin alle Maßnahmen unterstützen, die die Triarchie für notwendig erachtet, um den Frieden herzustellen und zu sichern.”

Ah, dachte Eryn, und jetzt hatte er die Entscheidung an die Triarchie delegiert.

Malriel lächelte ihn an. “Wir sind unendlich dankbar, das zu hören, Folrin. Doch da unser System etwas anders funktioniert als das von Anyueel, wo du die schlussendliche Entscheidungsinstanz bist, müssen wir den Senat darüber abstimmen lassen. Da sich derzeit nur ein Teil davon noch in Takhan befindet, werden wir noch mindestens ein oder zwei Tage warten müssen, bis die anderen mit ihren Familien aus den Bergen zurück sind.” Sie sah ihre beiden Kollegen an. “Ich schlage vor, dass die Triarchie diese Angelegenheit bespricht. Wir müssen entscheiden, ob wir uns alle einig sind, was getan werden muss, oder ob wir uns aufteilen und jeder dem Senat Argumente für seinen Standpunkt vortragen wird. Sollte sich der Senat gegen die Entsendung von Truppen in den Norden entscheiden, werde ich den Antrag stellen, dass diejenigen unserer Bürger, die sich der Sache unserer Freunde anschließen wollen, dies aus eigenem Antrieb tun können.”

Die Sache unserer Freunde, dachte Eryn. Eine nicht allzu subtile Erinnerung daran, dass die Westlichen Territorien zumindest den Loman Ergen etwas schuldete. Man mochte argumentieren, dass die Bendan Ederbren lediglich ihre Pflicht erfüllt hatten, nachdem man ihnen Schutz und eine neue Heimat gewährt hatte, als sie aus ihrem Herkunftsland geflohen waren. Dennoch war es Neleds Abkommen mit Horam, das einer entscheidenden Schlacht, deren Ausgang unklar gewesen wäre, ein schnelles Ende gesetzt hatte. Was bedeutete, der Krieg hätte sich in die Länge ziehen und vielleicht sogar in einer Niederlage enden können. Daher war durchaus legitim argumentierbar, dass Neled Unterstützung, wenn nicht gar eine Gegenleistung, geschuldet wurde.

Nun, zumindest war klar, welche Option Malriel bevorzugte. Und sie würde es sicher nicht versäumen, den Senat zu beeindrucken, ganz gleich, wo die beiden anderen Triarchen standen. Malriel hatte die Führung übernommen, als Golir sich der Herausforderung als nicht ausreichend gewachsen erwiesen hatte, sie hatte ihr Leben riskiert, um den Gefährten ihrer Tochter zu retten, als dieser oben in Pirinkar als vermisst gemeldet worden war, und es war ihre eigene Mutter gewesen, die den Kommandanten der Gegenseite auf höchst spektakuläre Weise niedergestreckt hatte – eine Geschichte, die noch lange nach Malhoras eigenem Ableben fortbestehen würde. Malriel selbst und später auch ihre Tochter hatten sich in den Norden begeben, um alles zur Vermeidung eines Krieges zu unternehmen, und Malriel hatte sowohl ihr Zuhause als auch eines der Anwesen ihres Hauses verloren – und beinahe auch ihre Mutter. Haus Aren hatte eine Zeit lang darauf hingearbeitet, den Krieg zu vermeiden, und dann mehr als seinen Teil dazu beigetragen, ihn zu gewinnen. Wenn Malriel von Haus Aren vor dem Senat sprach und ihm erklärte, dass sie nicht sicher sein würden, bis die Menschen, die Etor Garts Vorgehen billigten, zur Vernunft gebracht wurden, dann würde man ihr Gehör schenken.

Es war merkwürdig. Eryn fühlte sich seltsam beflügelt von der Vorstellung, nach Pirinkar zurückzukehren, wo sie eigentlich erwartet hätte, dass sie ein Ende dieser ganzen Angelegenheit herbeisehen und rasch in ihr altes oder vielmehr neues Leben zurückkehren würde. Doch die Angelegenheit war noch nicht hinreichend zu Ende gebracht worden. Nicht für sie selbst und ebenso wenig für die Loman Ergen oder Neled.

In Wahrheit standen Horam zwei Optionen offen – entweder in ein Leben im Verborgenen zurückzukehren, da es kaum eine Chance gab, dass sich irgendjemand in Kar verpflichtet fühlen würde, Etor Garts Versprechen einzuhalten, oder die Gelegenheit zu nutzen und die Regierung zu stürzen, jetzt, wo sie auf ausreichend Unterstützung zurückgreifen konnte für eine realistische Chance auf Erfolg.

Es war gut, dass Malriel sich dafür aussprach, den beiden Frauen beizustehen. Doch Eryn kam nicht umhin sich zu fragen, ob es dafür nicht einen Preis zu bezahlen gab. Malriel war erfahrungsgemäß keine Frau, die dafür bekannt war, ausschließlich von philanthropischen Motiven geleitet zu sein.

“Sollten wir in der Lage sein, euch bei der Einnahme von Kar von Nutzen zu sein”, wandte sich die führende Triarchin mit einem Lächeln an Horam und Neled, “sollten wir uns darüber unterhalten, ob ihr eure sehr fortschrittlichen Technologien und euer Wissen mit uns teilen wollt.”

Ah ja, dachte Eryn mit grimmiger Genugtuung darüber, dass sie Malriel richtig eingeschätzt hatte – da war er auch schon, der Preis.

*  *  *

“Wo ist Großmutter eigentlich?” erkundigte sich Eryn bei ihrer Mutter, als sie die Arbil Residenz verließen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Da die meisten Bewohner noch auf dem Weg zurück in die Stadt waren, brannten nur wenige Lichter. “Ich habe sie nicht gesehen, als ich mich vor ein paar Stunden zuhause umgezogen und gewaschen habe. Ich nehme an, sie hat sich bei uns einquartiert?” Wo sonst sollte sie unterkommen, nun wo der Familiensitz nicht länger stand? Auch eine Rückkehr zu ihrem eigenen Anwesen kam nicht in Frage, da das ebenfalls zerstört worden war.

“Sie sagte mir, sie wolle die Ruinen unseres Hauses inspizieren, um zu sehen, ob die unterirdische Struktur noch intakt ist.”

Eryn nickte. Das leuchtete ein. Das verborgene Gewölbe unter dem Gebäude war schließlich der Aufbewahrungsort für den Großteil des Goldes von Haus Aren. Und auch für die privaten Rücklagen des Oberhauptes, von denen im aktuellen Fall allerdings nicht mehr viel übrig war, nachdem das meiste davon vor einigen Jahren in den Bau eines Waisenhauses geflossen war…

Zwar stünde die Familie auch bei einem unwiederbringlichen Verlust der Rücklagen kaum am Rande des Bankrotts, doch der Bau eines neuen Wohnsitzes würde in diesem Fall dann vorerst wohl mit anderen Mitteln finanziert werden müssen.

Die zahlreichen Unternehmen und Produktionsstätten von Haus Aren boten ein verlässliches und sicheres Einkommen, so dass keines der Häuser zögern würde, einen Kredit zu gewähren. Allen voran Haus Vel’kim, ebenso auch Haus Arbil, sofern es ihren gegenwärtigen finanziellen Möglichkeiten entsprach. Ram’an hatte das Haus seit dem Tod seines Vaters rehabilitiert und mit klugen, umsichtigen Investitionen in eine finanziell stabile Situation geführt, dennoch würde es bis zur Wiederherstellung des ursprünglichen Wohlstandes noch einige Jahre dauern.

Und dann war da noch der Gefährte des zukünftigen Oberhauptes des Hauses, der eine solche Summe mühelos aufzubringen vermochte. Und das mehr als bereitwillig. Schließlich war er selbst Mitglied des Hauses und hatte die Absicht, in der neu zu errichtenden Residenz zu leben.

Trotzdem. Auf Hilfe angewiesen zu sein, war für kein Haus wünschenswert. Deshalb war die Frage nach den intakten Reserven unter dem Gebäude durchaus von Bedeutung.

“Der schlimmste denkbare Fall”, meinte Enric, “wäre eigentlich, dass das Gewölbe eingestürzt ist und wir es ausgraben müssen, um das Gold zu bergen. Es wäre uns nicht entgangen, wenn Etor Gart jemanden mit einer beträchtlichen Menge des Aren-Goldes nach Pirinkar zurückgeschickt hätte. Mehrere prall gefüllte Truhen sind schwer zu transportieren, selbst für Magier. Man bräuchte einen ganzen Konvoi dafür, da kein Wagen mehr als zwei Truhen auf einmal transportieren kann, wenn überhaupt so viele.”

“Er hätte das Gold holen und es irgendwo anders in dem Teil der Stadt verstecken können, den er kontrolliert”, widersprach Eryn.

“Warum sollte er so etwas tun? Das hätte ihm keinerlei Nutzen gebracht”, runzelte Malriel die Stirn.

Eryn zuckte mit den Schultern. “Um uns zu verhöhnen. Es hätte uns erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wenn wir es nicht wiederfänden. Ich würde es ihm durchaus zutrauen, das Gold zu verstecken, auch wenn er selbst keinerlei Nutzen daraus gezogen hätte.”

Enric nickte. Diese Überzeugung teilte er.

In stillem Einverständnis schlugen sie die Richtung ein, die zu den Aren-Ruinen und damit zu Malhora führte.

Eryn kaute einen Moment lang auf ihrer Lippe, dann sah sie ihre Mutter an. “Gestern hast du etwas erwähnt. Als wir auf der Lauer lagen, falls irgendwelche von Etor Garts Männern die Flucht ergreifen würden. Etwas, das Malhora getan hat, sei Grund für diese Distanz zwischen euch. Kannst du mir sagen, was zwischen euch beiden vorgefallen ist? Man hat mir immer wieder gesagt, es sei typisch für die Aren-Familie, dass Mütter und Töchter nicht miteinander auskämen, weil unsere Mütter unsere stärksten Widersacherinnen seien und uns so lehren, wie man eine starke Anführerin ist. Selbst wenn das wahr wäre und nicht nur ein weiterer Teil des Aren-Bildes, das alle hochhalten, muss es da trotzdem noch mehr zwischen euch beiden gegeben haben. Wirst du mir davon erzählen?”

Malriels Kiefermuskeln spannten sich sichtlich an, während sie weiterging und den Blick nach vorne gerichtet hielt. “Das war vor langer Zeit, Maltheá. Sogar noch vor deiner Geburt. Damals ist etwas vorgefallen, das mich schwer getroffen hat. Trotzdem würde ich mir nicht wünschen, dass dies deine Beziehung zu ihr zerstört. Ich bin froh, dass du und sie ein Maß an Nähe gefunden habt, das mir nicht gegeben war. Das missgönne ich euch beiden nicht, zumindest heute nicht mehr. Ich gebe zu, dass es für mich schwer zu mitanzusehen war, dass ihr beide euch so gut verstanden habt, während du meine Gesellschaft nicht einmal ertragen konntest.”

“Das ist schön und gut, Mutter, aber du solltest mich inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass ich es nicht dulde, wenn man mir zu meinem eigenen Besten Informationen vorenthält.”

Enric nickte. “Das kann ich bestätigen.”

“Wenn meine Beziehung zu Malhora davon abhängt, dass ich nicht weiß, was sie dir angetan hat, dann ist sie ohnehin zerbrechlich. Und es ist nur eine Frage der Zeit. Jetzt wo ich weiß, dass es etwas herauszufinden gibt, werde ich nicht eher ruhen, bis ich es herausfinde.”

Die Triarchin seufzte müde. “Lass es vorerst gut sein, Maltheá. Eines Tages, wenn sich die Dinge wieder normalisiert haben, werden wir uns zusammensetzen und reden.”

Eryn knirschte mit den Zähnen. Wie ein Kind auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft vertröstet zu werden, war frustrierend. Und es zeigte ihr, dass sich Malriel und sie aus der Perspektive ihrer Mutter nicht auf Augenhöhe gegenüberstanden. Das würde sich als interessant erweisen, sobald Eryn Haus Aren übernahm. Da Malriel eine Triarchin war, konnte sie nicht einfach auf ein abgelegenes Anwesen verbannt werden, wie es andere Häuser mit ihren ehemaligen Anführern zu tun pflegten. Sie sah in ihrer unmittelbaren Zukunft die Notwendigkeit voraus, dem ehemaligen Oberhaupt von Haus Aren stets aufs Neue ins Gedächtnis zu rufen, dass es nicht gut ankam, wenn sie ihrer Nachfolgerin über die Schulter blickte. Zumindest nicht unaufgefordert.

Enric nahm ihren Arm und zog sie etwas näher zu sich heran, so dass er murmeln konnte: “Denk an den Abend vor der Schlacht im Hügelland zurück.”

Sie blinzelte. Was für eine merkwürdige Sache, sie hier und jetzt daran zu erinnern. “Du meinst, in der Badewanne, als du und ich…?”

Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. “Nein, Liebste, nicht das. Das, worüber wir am Feuer gesprochen haben. Mit Golir.”

Eryn blieb plötzlich stehen und klatschte sich mit der Handfläche gegen die Stirn. Einmal mehr war sie dämlich gewesen. Sie verfügte bereits über alle nötigen Informationen, und es fehlte ihr allein an der Fähigkeit, die einzelnen Stücke miteinander zu verbinden. Zum Glück war Enric darin viel besser als sie. Ihn würde sie auf jeden Fall in ihrer Nähe behalten, sobald sie ein mächtiges Hausoberhaupt war.

Das Geräusch ließ Malriel ihren Kopf drehen. Ihre Augen verengten sich eine Spur. Offensichtlich ahnte sie, dass Eryn auf eine mögliche Erklärung gestoßen war.

“Omed von Haus Tokmar”, rief Eryn aus. “Dein Vater!” Sie verfluchte sich dafür, dass sie bei dieser Schlussfolgerung nicht früher angelangt war und erinnerte sich daran, dass sie sich sogar gefragt hatte, ob Malhoras sich Rolle beim Ableben ihres Gefährten irgendwie auf die Beziehung zu ihrer Tochter ausgewirkt haben mochte, ob dies vielleicht etwas mit der Distanz zwischen ihnen zu tun hatte.

Malriels Gesicht verriet ihr, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

“Lass es gut sein, Maltheá. Ich werde nicht darüber sprechen. Wenn du deine Neugier befriedigen willst, schlage ich vor, du fragst deine Großmutter nach all dem.” Damit wandte sich Malriel um und beschleunigte ihre Schritte.

Nach einigen Minuten schweigenden Marsches erreichten sie den Hügel, auf dem bis vor kurzem noch ein prächtiges Bauwerk gethront hatte, das vom Erfolg des Hauses zeugte. Vor ihnen sahen sie mehrere brennende Fackeln, deren Licht schwach von den Trümmern reflektiert wurde. Malhora befand sich also noch immer dort oben.

Als sie die Ruinen praktisch erreicht hatten, fanden sie sie, die Scharfrichterin feindlicher Anführer, auf dem Boden kniend, während sie ein mächtiges Mauerstück von der unscheinbaren Tür entfernte, die den Eingang zu einem Raum markierte, der von innen wie ein Wurzelkeller aussah, in Wahrheit aber als Vorraum diente, der den Zugang zu einer geheimen Gewölbetür ermöglichte. Vorausgesetzt, man gehörte zu den wenigen Eingeweihten, die wussten, wonach sie suchen mussten.

“Ah, Kinder”, grinste die alte Frau und winkte sie näher heran.

Kinder, dachte Eryn mit einem nachsichtigen Lächeln. Sie selbst war keine große Freundin davon, von Malriel mit Kind angesprochen zu werden, und für ihre Mutter musste es noch irritierender sein, wenn man bedachte, dass sie Mitte fünfzig war. Im Moment wirkte Malhora wie eine rüstige Großmutter, verstaubt und aktiv, keineswegs wie die in Stoff gehüllte Verkörperung von Vergeltung mit einem bluttriefenden Dolch in einer Hand.

“Ich habe gute Nachrichten: Der Boden unter den Ruinen ist unversehrt, das Gewölbe wurde also weder entdeckt noch ist es eingestürzt. Die Reichtümer von Haus Aren sind in Sicherheit”, verkündete die alte Frau feierlich.

Malriel nickte, aber ohne zu lächeln. Es schien, als sei sie noch immer leicht erschüttert von dem Gespräch mit ihrer Tochter vor wenigen Minuten.

“Es ist eine Schande”, seufzte Malhora und sah sich um. “Es war ein beeindruckendes Gebäude. Ich selbst habe es im Laufe der Jahre mehrfach modernisieren lassen. Ich habe nie eine sentimentale Bindung an veraltete Dinge gehegt, wenn neue Entwicklungen und Entdeckungen mehr Komfort boten.”

“Ja”, murmelte Malriel, “sentimental warst du nie, das kann man dir kaum vorwerfen.”

Malhoras Augen verengten sich leicht. “Ich nehme an, wir sprechen hier nicht mehr über die Residenz. Heraus mit der Sprache, Malriel. Du weißt, ich habe wenig Geduld für kryptische Bemerkungen. Entweder du sagst, was du zu sagen hast, oder du hältst den Mund. Mit allem dazwischen verschwendest du meine Zeit.”

“Oh nein”, murmelte Enric. “Das sieht ganz danach aus, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen.”

Eryn nickte, fasziniert davon, wie sich die Atmosphäre plötzlich zu etwas gewandelt hatte, das sich dezent prekär anfühlte. Zwei furchterregende Frauen, stur, stolz, gefährlich und stark in ihrer Magie, standen inmitten der vom Feuer erleuchteten Trümmer dessen, was jede von ihnen viele Jahre lang als ihr Zuhause betrachtet hatte. Irgendwie drängte sich das Gefühl auf, als schreie diese dramatische Kulisse förmlich nach einer epischen Konfrontation. Und beide schienen in der richtigen Stimmung zu sein, um den Umständen Rechnung zu tragen. Niemand konnte einer Aren vorwerfen, sie würde sich eine fabelhafte Gelegenheit für einen Konflikt entgehen lassen.

“Ja”, erwiderte Eryn trocken, “gut, dass das Gebäude bereits in Trümmern liegt.”

Falls eine der beiden Frauen diese Bemerkung gehört hatte, verzichteten sie auf eine Reaktion.

Malriel hob den Kopf. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. “Auf unserem Weg hierher wollte deine Enkelin wissen, was genau du getan hast, das zu diesem Bruch zwischen dir und mir geführt hat. Möchtest du das beantworten, Mutter?”

“Ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage, Tochter. Aber du hast mir nie gesagt, was genau du mir vorwirfst.”

Malriels erwiderndes Lachen war bitter. “Ja, ich habe dich nie damit konfrontiert, nicht wahr? Ich war so überzeugt davon, dass es eine Beleidigung für dich gewesen wäre, etwas so Offensichtliches in Worte zu fassen.” Sie deutete auf ihre Tochter. “Sie hat es erraten, und es fällt mir schwer zu glauben, dass du, begabt mit einem der größten Köpfe unserer Zeit, das mehr als drei Jahrzehnte lang nicht vermocht hast.”

Malhora seufzte und wirkte plötzlich müde und von einem Moment auf den anderen deutlich älter. “Drei Jahrzehnte… Sag mir bloß nicht, dass es dabei um deinen Vater geht.”

“Warum sollte es nicht um meinen Vater gehen? Bist du enttäuscht, dass ich nicht so sorglos mit dem Töten anderer umgehe wie du?” Sie warf die Hände in die Luft und rief in den Himmel: “Malhora von Haus Aren, Schlächterin der Feinde ihres Volkes – und untreuer Gefährten!”

Malhora stand einige Sekunden lang still, bevor sie mit ruhiger Stimme, die im krassen Gegensatz zu Malriels Schrei stand, erwiderte: “Du bist eine Närrin, Malriel. Ich hätte nie gedacht, dass ich dir erklären muss, dass du nicht auf die Gerüchte hereinfallen sollst, die für die Öffentlichkeit geschaffen wurden. Gerüchte, die sowohl dem Ruf unseres Hauses als auch dem deines Vaters geholfen haben. Mehr als fünfunddreißig Jahre lang bist du einem Irrtum unterlegen. Und anstatt mich zu konfrontieren und die Sache mit einem Streit aus der Welt zu schaffen, hast du beschlossen, es köcheln zu lassen und zuzulassen, dass es uns entzweit. So habe ich dich nicht erzogen.”

Malriel sah aus, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten.

Eryn empfand ein gewisses Mitleid mit ihr, doch gleichzeitig tröstete sie die Tatsache, dass Malhora die gleiche Macht über ihre Tochter hatte wie Malriel über Eryn – die Macht, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie wäre klein und unsicher. Und im Fall von Malriel von Haus Aren wollte das durchaus etwas heißen.

Malhora schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, was ihre Tochter ihr gerade vorgeworfen hatte. “Du hast also wirklich gedacht, ich hätte deinen Vater getötet. Was für ein unfassbarer Schwachsinn.”

“Er hat dich betrogen!” rief Malriel, als ob sie verzweifelt versuchte, sich zu rechtfertigen. “Ein Mann, der einer mächtigen Aren untreu ist – das hat er sich selbst zuzuschreiben, nicht wahr? Er hat es gewagt, in den Armen einer anderen Frau etwas zu suchen, was er in deinen offensichtlich nicht gefunden hat!”

“Setz dich hin, du Idiotin”, knurrte Malhora.

Eryn zuckte leicht zusammen. Dieser Ausdruck war vermutlich etwas harsch, wenn man ihn auf eine Frau anwandte, die so aussah, als stünde sie kurz davor, die Fassung zu verlieren.

Malriel verschränkte nur die Arme und blieb stehen.

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern und nahm auf einem halbwegs eben aussehenden Stück Wand Platz. “Wie du willst. Welch Ironie, dass wir die Trümmer unserer Beziehung inmitten derer unseres Zuhauses besprechen.” Sie holte tief Luft, dann begann sie: “Du weißt, wie ich mit dir schwanger wurde – daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich habe deinen Vater benutzt, um mich aus einer Kommitment-Vereinbarung zu befreien, zu deren Einhaltung mich meine eigene Mutter gezwungen hätte. Dieser Ansatz, unsere jungen Leute selbst entscheiden zu lassen, ist moderner als zu meiner Zeit. Ich habe deinen Vater ausgewählt, weil er ein ansehnlicher, umgänglicher Mann war. Ich werde dich nicht anlügen und vorgeben, ich wäre in ihn verliebt gewesen. Es war eine Entscheidung, die ich mit klarem Verstand getroffen habe, nicht unter dem Einfluss einer flüchtigen Vernarrtheit. Und ich habe es nie bereut. Ich wusste schon viel länger als alle anderen von seinen Liebschaften.”

Malriel lächelte grausam. “Und natürlich hattest du keinerlei Einwände dagegen.”

“Warum sollte ich? Ich hatte ebenso meinen Anteil an Liebhabern. Wir waren uns einig, diskret zu sein, um unseren Ruf zu schützen. Und damit auch dich. Omed hat vielleicht nie mehr als körperliche Leidenschaft für mich empfunden, aber dich hat er wahrhaftig geliebt. Ich habe deinen Vater respektiert, Malriel. Ihm wurde ein Kind zuteil, das er keinerlei Absicht hatte zu zeugen, aber er vermittelte mir nicht ein einziges Mal das Gefühl, dass er mir das übel genommen hätte. Und ich weiß gewiss, dass er dir nie das Gefühl gegeben hat, unerwünscht zu sein. Wir haben uns sogar gelegentlich ein Bett geteilt.” Sie lächelte bei der Erinnerung daran. “Es war, als hätte ich eine Affäre mit meinem eigenen Gefährten. Manchmal haben wir zusammen ein Glas Wein getrunken und dann die Nacht im selben Bett verbracht. Unsere Beziehung war bis zum Schluss geprägt von Zuneigung, auch wenn wir nie ineinander verliebt waren. Dass du das Verhältnis zwischen deinem Vater und mir als weitgehend spannungsfrei und vergleichsweise harmonisch wahrgenommen hast, lag nicht an meiner Unwissenheit in Bezug auf seine Affären. Es war das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen Erwachsenen, das für alle Beteiligten von Vorteil war.”

Eryn starrte ihre Großmutter an, fasziniert von der Enthüllung solch unerwarteter Aspekte ihres Lebens. Auch Malriel schien ein wenig erschüttert zu sein, wahrscheinlich aufgrund der Erkenntnis, dass die Beziehung ihrer Eltern so vollkommen anders funktioniert hatte, als sie bisher dachte.

“Wie ist er dann gestorben?” Eryn konnte sich die Frage nicht verkneifen. “Wenn du ihn nicht umgebracht hast…”

“Du wirst das vielleicht nicht glauben, aber er starb eines natürlichen Todes”, seufzte Malhora traurig. “Unnötigerweise, wenn du mich fragst. Ich habe ihn ständig gedrängt, sich regelmäßig in der Klinik untersuchen zu lassen, zumal er reichhaltigem Essen und Wein nicht abgeneigt war. Aber er lachte nur und nannte mich übervorsichtig. Aber ich nehme an, er ist so gestorben, wie er es sich gewünscht hätte – in den Armen eines hübschen jungen Mädchens. Sie trafen sich in einem der Weinkeller, die seinem Haus gehörten. Sein Herz ließ ihn im Stich. Hübsch und jung mag seine kleine Geliebte gewesen sein, doch jemand mit einem klaren Kopf und grundlegenden Heilfähigkeiten hätte ihm in dieser Situation besser gedient. Das Mädchen rannte zum Oberhaupt seines Hauses und berichtete hysterisch, was geschehen war, anstatt einen Heiler aufzusuchen. Als sie im Weinkeller ankamen, war er bereits tot. Sie riefen mich an den Schauplatz. Ich hatte eine lange Diskussion mit dem damaligen Oberhaupt von Haus Tokmar. Wir waren uns einig, dass wir die Fakten rund um seinen Tod für die Öffentlichkeit anpassen mussten. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass das kleine Roal-Mädchen den Mund hält.”

Eryn hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. “Roal?”

Malhora schnaubte. “Du glaubst doch nicht wirklich, dass unser Groll gegenüber Haus Roal bis heute auf nichts anderem beruht als auf diesem kleinen Betrugsfall vor einhundertfünfzig Jahren, Maltheá? Mach dich nicht lächerlich.”

Ihre Enkelin schüttelte verwirrt den Kopf. “Aber wenn du von der Affäre wusstest und kein Problem damit hattest – warum solltest du das Haus Roal dann verübeln? Oder ist das Ganze wieder nur für die Öffentlichkeit bestimmt?”

“Es gab hinterher einen handfesten Streit, aber nicht wegen der Affäre selbst. Vielmehr wegen der Art und Weise, wie seine Gespielin und infolgedessen ihr Haus sich nach dem Tod von Omed gebärdet haben. Ich und das Oberhaupt von Omeds Haus waren uns einig, dass wir, da es unwahrscheinlich war, dass die Affäre geheim gehalten werden konnte, etwas tun mussten, um den Ruf unserer beiden Häuser zu wahren. Den von Haus Tokmar, denn Omed hatte offiziell gegen die Bedingungen unseres Kommitments verstoßen, was bedeutete, dass sein Haus verpflichtet war, mir Schadenersatz zu leisten. Hätte ich auf mein Recht, eine solche Zahlung zu verlangen, verzichtet, hätte das merkwürdig ausgesehen. So wollte Haus Aren nicht wahrgenommen werden – verraten und nicht einmal bereit, eine Entschädigung dafür zu akzeptieren. Also sprengte ich mit der Erlaubnis von Haus Tokmar den Weinkeller mit Omeds Leiche in die Luft. Seine kleine Roal-Geliebte hatte keine Ahnung, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, und verbreitete überall das Gerücht, dass seine rachsüchtige Gefährtin ihn getötet habe, weil er außerhalb ihres kalten, lieblosen Bettes Befriedigung suchte. Und genau hier liegt der Grund für unseren Groll gegenüber Haus Roal – ihr Oberhaupt hat es nicht nur versäumt, sie zur Räson zu bringen, sondern hat sie sogar dabei unterstützt, eine gründliche Untersuchung gegen mich einzufordern und zu versuchen, mich wegen Mordes an meinem eigenen Gefährten verurteilen zu lassen. Omeds Hausoberhaupt und ich haben uns mit den Triarchen unterhalten und sie über die wahren Umstände informiert und sie gebeten, diese vertraulich zu behandeln.” Malhora hob die Hände. “Und das war alles, Malriel. Dein Vater starb eines natürlichen Todes, und ich habe einen Weinkeller in die Luft gejagt, um uns alle zu schützen. Es lag nie in meiner Absicht, dass die Leute sich fragen, ob ich ihn getötet habe oder nicht. Die Geschichte sollte lauten, dass ich von seinem Tod erfuhr und so wütend war, dass ich die Kontrolle über mich verlor. Aber diese idiotische Frau hat darauf bestanden, dass er noch lebte, als ich den Weinkeller in die Luft sprengte – und dabei unterschlagen, dass sie gar nicht in der Lage war, so etwas zu wissen, da sie nicht mehr vor Ort war, als ich eintraf.”

Malriel schloss die Augen. Schließlich nahm sie doch Platz, lehnte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie saß mehr als eine Minute lang in dieser Position, bevor ihre gedämpfte Stimme hinter ihren Händen hörbar wurde: “Und du hast nie daran gedacht, mir gegenüber irgendetwas davon zu erwähnen?”

Malhora blickte zum Himmel, als ob sie um Ratschläge für den Umgang mit ihrer unverbesserlichen Tochter bitten wollte. “Ich hätte es getan, wenn ich geahnt hätte, dass du eher auf das Geschwätz eines schwachsinnigen Mädchens hörst, als deiner eigenen Mutter zu vertrauen, dass sie nicht so etwas Törichtes anstellt wie deinen Vater umzubringen.”

Der Schmerz in der Stimme ihrer Mutter ließ Malriel aufblicken. “Was hätte ich denn denken sollen, Mutter?”

“Ich kann dir nicht sagen, was du hättest denken sollen, aber Denken wäre ein guter Anfang gewesen. Du hättest anfangen können, die Ungereimtheiten in den Aussagen dieser Frau vor dem Senat selbst zu untersuchen, anstatt ihr zu glauben, weil es so viel einfacher war, den Tod deines Vaters auf mich zu schieben, als dich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass das Leben manchmal grausam und ungerecht ist.”

Eryn erstarrte beim dem Anblick, wie Malriels Schultern zu zittern begannen, während stumme Tränen über ihr Gesicht liefen. Malriel von Haus Aren, die von ihren Gefühlen überwältigt wurde, nachdem ihr bewusst geworden war, dass sie ihre eigene Mutter dreieinhalb Jahrzehnte lang ohne triftigen Grund abgelehnt hatte. Was für ein Anblick!

Malhora betrachtete ihre Tochter, offensichtlich unsicher, wie sie auf diesen ungewöhnlichen Ausdruck von Trauer und Verletzlichkeit bei einer Tochter reagieren sollte, die so viele Jahre lang nie gewagt hatte, irgendeine Form von Schwäche zu zeigen.

Enric stupste Eryn in die Seite und flüsterte: “Sag etwas.”

Entsetzt blickte sie zu ihm auf. “Was soll ich denn sagen?”

“Sie sind beide hilflos, wie sie im Moment miteinander umgehen sollen. Was auch immer du sagen wirst, wird eine Erleichterung für sie sein”, beharrte er.

Eryn sah die beiden Frauen an. Er hatte Recht. Malhora sah aus, als wolle sie ihre Tochter umarmen, wagte es aber nicht, aus Angst, weggestoßen zu werden, und Malriel erweckte den Eindruck, als hätte sie genau diese Umarmung bitter nötig. Sie räusperte sich.

“Ich hoffe, ihr habt beide etwas daraus gelernt”, ermahnte sie die beiden streng und verschränkte die Arme. “Ihr seid beide Idioten! Ich meine – die eine von euch hegt aufgrund eines Gerüchts einen Groll und macht sich nicht die Mühe, ihre eigene Mutter damit zu konfrontieren, und die andere merkt, dass ihre Tochter sich von ihr entfernt, ohne nach den Gründen zu forschen. Die Schuld für diese unglaubliche Dummheit könnt ihr zu gleichmäßig zwischen euch aufteilen.”

Beide blickten mit einem Stirnrunzeln zu ihr auf.

Enric schüttelte schwach den Kopf. “In Ordnung, ich bekenne meinen Irrtum. Du hast es geschafft, sie beide zu verärgern. Was für eine Leistung.”

Eryn schnitt eine Grimasse. “Das funktioniert normalerweise!”

“Nur wenn man zwei Leute davon abhalten will, sich zu streiten, indem man ihre Wut auf sich selbst lenkt. Sie haben sich nicht gestritten. Bis berade eben waren sie noch nicht einmal wütend.”

“Also schön, oh großer Friedensbringer, was schlägst du dann vor? Eine Gruppenumarmung?”

Er grinste. “Das würde mir gefallen.” Kurzerhand schritt er auf die beiden Frauen zu und zog sie in eine Umarmung. Dann sah er seine Gefährtin an. “Kommst du?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Nein. Ich will zuerst sehen, ob du das überlebst.”

Malriel seufzte und streckte ihre Hand aus. “Komm schon, Maltheá! Das ist eine derart absurde Situation, dass du dich ebenso gut anschließen kannst.”

“Genau”, mischte sich Enric ein. “Ohne dich werden sie keine Balladen über die Nacht singen können, in der ich auf den traurigen Überresten der Aren Residenz stand und die drei beeindruckendsten Frauen des ganzen Landes in meine Arme schloss.”

Sie musste grinsen und trat schließlich auf die seltsame Gruppe zu, spürte, wie sich warme Arme um sie schlossen und sie heranzogen.

Malhora, die noch ein paar Sekunden lang eine etwas steife Haltung beibehielt, entspannte sich schließlich und schüttelte den Kopf, soweit das möglich war. “Du bist ein sonderbarer Zeitgenosse, Enric von Haus Aren.”

“Sei nett zu ihm, Großmutter. Dank ihm gibt es neues Blut in der Aren-Linie. Ich wette, nach weiteren hundert Jahren hätte uns diese ganze Zuchtpolitik zusätzliche Ohren oder überschüssige Zehen beschert”, murmelte Eryn.

“Halt die Klappe, du vorlautes Ding, und sag mir lieber, wie du unsere Residenz wieder aufzubauen gedenkst.”

“Das werde ich – im Austausch dafür, dass du mir erzählst, wie du den Angriff auf dein Anwesen überlebt hast und bei einem Wüstenstamm gelandet bist.”

Sie lösten die Umarmung, und Malriel nickte, während sie sich lächelnd eine Träne von der Wange wischte. “Ja, ich muss zugeben, das würde mich auch sehr interessieren.”

Malhora zuckte mit den Schultern. “Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich wurde bei dem Angriff verletzt, konnte mich aber auf dem Dach verstecken. Als sie weg waren, habe ich mich so gut wie möglich geheilt und mich in die Wüste begeben. In der Nähe gibt es einen Brunnen, von dem ich weiß, dass die Wüstennomaden dort gerne ihre Wasservorräte auffüllen. Also habe ich gewartet, bis sie endlich auftauchten. Ich habe mit ihrem Häuptling ausgehandelt, dass er mir für eine Weile ein paar seiner jungen Männer überlässt, und dann habe ich mich auf die Suche nach dem Kerl gemacht, der die unter meinem Schutz Stehenden getötet hat, um es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.”

Eryn begann zu lachen. “Du hast einfach einen Wüstenstamm übernommen und hast dich auf die Jagd begeben?”

“Nicht den ganzen Stamm, nur einen Teil davon, und das auch nur für kurze Zeit”, berichtigte ihre Großmutter achselzuckend. “Sie waren willig genug, sich zu fügen, da ich regelmäßig mit ihnen Handel treibe und meine Türen für sie offen halte, wenn sie während eines Sandsturms in der Nähe sind und Schutz brauchen. Sie haben mir sogar ihren kleinen Trick beigebracht, wie man sich unter der Oberfläche bewegt. Dazu braucht man natürlich Magie, und einige von ihnen haben zumindest ein wenig davon. Wir sind ihm eine ganze Weile gefolgt, aber dann erreichte er Takhan, nachdem er sich von einem Teil seiner Truppe abgespalten hatte. Ich beschloss, abzuwarten und festzustellen, ob er versuchen würde zu fliehen. Zehn meiner Männer behielten die gesamte Umgebung der Stadt im Auge und informierten mich, sobald er aus der Barriere heraustrat. Und auf sandigen Untergrund.” Sie hob die Brauen. “Und nun zur Residenz.”

Eryn atmete aus, sah sich um und nahm den deprimierenden Anblick dessen, was ihr Zuhause hätte werden sollen, in sich auf. “Nun, ich werde sie natürlich wiederaufbauen lassen. Aber dieses Mal werde ich dafür sorgen, dass der Platz richtig genutzt wird. In diesen übermäßig ausgedehnten Gärten lassen sich problemlos zwei Wohngebäude unterbringen. Eines für das Oberhaupt des Hauses und das andere für den Fall, dass ein anderes Mitglied unserer Familie in den Rang eines Triarchen aufsteigt und eine Unterkunft benötigt, die diesem Status angemessen ist.”

Malriel starrte sie mit offenem Mund an. “Willst du mir sagen, Maltheá, dass du bereit bist, auf demselben Stück Land zu leben wie ich?”

Eryn lächelte, froh, dass es ihr gelungen war, ihre Mutter aus ihrer gedrückten Stimmung zu reißen. “Ja. Aber gib dich keinen Illusionen hin – dein Gebäude wird so weit wie nur irgendwie möglich von meinem entfernt sein. Wir werden uns einen Garten teilen, aber sicher keinen Haushalt. Und wenn du meinst, alle paar Tage einen deiner lästigen gesellschaftlichen Anlässe veranstalten zu müssen, dann sorge dafür, dass sie nicht in meine ruhige und harmonische Residenz überschwappen.”

Malriel bedurfte ein paar Augenblicke, um sich von dieser Ankündigung zu erholen, dann lächelte sie. “Soweit ich weiß, wäre das das erste ruhige und harmonische Aren-Zuhause überhaupt. Aber ich nehme deinen Vorschlag gerne an. Natürlich wirst du an meinen geselligen Zusammenkünften teilnehmen. Und zwar mit Freuden. Das Oberhaupt von Haus Aren wird sich nicht in seiner Höhle verkriechen, sondern seinen Pflichten nachkommen, zu denen auch die Pflege von Bündnissen mit anderen Häusern und anderen nützlichen Kontakten gehört.”

“Ich bin sicher, es wird mehr als genug Gelegenheiten geben, das zu diskutieren.”

Malriel lächelte. “Darauf darfst du dich getrost verlassen.”

“Wenn mir nicht gefällt, was du sagst, könnte ich dich allerdings rauswerfen.”

“Das wirst du nicht tun. Es würde auch bedeuten, deinen Vater hinauszuwerfen. Dazu wärst du niemals imstande.”

Eryn winkte ab. “Gewiss nicht. Er kann natürlich bleiben.” Sie spürte, wie das Geplänkel ihr eigenes Herz erleichterte, als ob das Festhalten an etwas, das ihr in den letzten Jahren so vertraut geworden war, seltsam tröstlich war, ungeachtet der Tatsache, dass der feindselige Unterton nun fort war. Malriels Miene verriet ihr, dass es ihr ebenso erging.

“Ich hatte gehofft, Haus Roal mit dem Bau beauftragen zu können.”

Malhora verschränkte die Arme. “Nein. Ich bin entsetzt, dass du das überhaupt in Erwägung ziehst, nachdem, was ich dir gerade offenbart habe.”

Eryn straffte die Schultern. Sie würde lernen müssen, sich gegen die beiden ehemaligen Oberhäupter von Haus Aren zu behaupten, wenn sie die Familie jemals so führen wollte, wie es ihr angemessen erschien. Und kein Zeitpunkt war dafür so geeignet wie die Gegenwart.

“Sie haben jetzt ein anderes Hausoberhaupt – und ich habe keinen Grund zu glauben, dass Amgil von Haus Roal unvernünftig ist. Ich werde ihm eine Möglichkeit anbieten, die Angelegenheit zu regeln, indem er einer Entschädigungszahlung für die Handlungen seines Hauses in der Angelegenheit mit meinem Großvater zustimmt. Wenn er sich darauf einlässt, kann er auch in Naturalien zahlen, indem er uns einen besonders vorteilhaften Preis für den Wiederaufbau unserer Residenz anbietet.”

“Meine Ehre wurde damals beleidigt”, schniefte Malhora. “Das ist nichts, was sich mit irgendeiner Menge an Gold begleichen lässt.”

Malriel rollte mit den Augen. “Was für eine unfassbare Behauptung, Mutter! Was willst du von ihnen, um das zu regeln? Eine öffentliche Entschuldigung?”

Eryn seufzte. Noch bevor sie offiziell das Amt übernahm, versprach ihre künftige Position bereits eine Herausforderung zu werden. “Ich werde sehen, was ich tun kann.”

“Fordere eine höhere Entschädigungszahlung, als du ursprünglich vorhattest”, schlug Malriel vor, “und biete dann an, sie im Gegenzug für eine öffentliche Entschuldigung zu senken.”

Eryn seufzte. “Ja, Mutter. Natürlich, Mutter. Danke für die Annahme, dass ich mit den elementarsten Verhandlungsprinzipien nicht vertraut bin. Du weißt, dass der zweite Wohnsitz noch nicht gebaut ist, und ich meine Pläne zu diesem Zeitpunkt problemlos ändern kann, nehme ich an? Vielleicht hat mein Gefährte ohnehin Vorbehalte dagegen, so nahe bei dir zu wohnen. Vor allem, wenn du nicht aufhörst, mich wie ein Kind zu behandeln.”

Malhora begann, die Fackeln zwischen den Trümmern zu löschen. “Lasst uns zu eurem Haus zurückkehren. Ich bin müde. Ich habe natürlich das große Schlafzimmer bezogen.”

Malriel grinste, während Eryn resigniert die Augen schloss. Diese Frau kannte keine Grenzen. Keine von beiden. “Natürlich, Großmutter.”

Sie musste dafür sorgen, dass Malhoras Anwesen so rasch wie nur irgendwie möglich wiederaufgebaut wurde.

 

Kapitel 2

Eine königliche Überraschung

Mit jeder verstreichenden Minute spürte Enric, wie seine Ungeduld ein Stück weit wuchs. Schon vor einiger Zeit hatten sie die ersten Schiffe am Horizont gesichtet, die nach mehreren Wochen die aus Takhan evakuierten Bewohner zurückbrachten. Darunter Pe’tala und damit auch ihr neugeborener Sohn – sofern er seinen Aufenthalt in dem zwar komfortablen, aber letztendlich doch etwas beengten Quartier nicht über Gebühr verlängerte.

Auf den Schiffen würden auch die Senatoren von Takhan zurückkehren, die nur einen Tag Zeit hatten, sich in ihren Wohnstätten einzufinden, bevor sie aufgerufen waren, sich gegen oder für den Einmarsch in Pirinkar zu entscheiden. In seiner Funktion als Anführer des Ordens stand es für ihn außer Frage, ob dies eine vernünftige Vorgehensweise war oder nicht. Die Bedrohung war noch immer nicht vollständig abgewendet, so dass die Rückkehr der Truppen nach Anyueel das Risiko eines weiteren Krieges in absehbarer Zeit in sich barg.

Doch als Vater war der Gedanke an eine verlängerte Trennung von seinem Sohn quälend. Der Anblick der zahlreichen Kinder und ihrer Wiedervereinigung mit ihren Familienangehörigen, während er sich selbst genau danach sehnte, erleichterte ihm die Sache nicht unbedingt.

Er und Eryn standen in der Menge, ausnahmsweise nicht in ihrer offiziellen Funktion als Ordensleitung, und das war eine Erleichterung. Die Triarchie und der König standen in der vordersten Reihe und waren die ersten, die die Rückkehrer willkommen hießen.

Valrad rieb sich eifrig die Hände. “Das erste Schiff sollte jeden Moment anlegen! Ich hoffe, unsere Familie ist an Bord! Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen und mich zu vergewissern, dass es ihnen allen gut geht. Und mein neuestes Enkelkind kennenzulernen.”

“Ja”, kommentierte sein Sohn, “das hoffe ich auch, sonst muss ich dich ausschalten, damit du nicht so ungeduldig herumzappelst.”

“Das kannst du natürlich versuchen, mein Sohn, aber da ich jetzt damit rechne und nebenbei auch stärker bin als du, könnte das zu einem anderen Ergebnis führen als dem, das du beabsichtigt hast”, drohte sein Vater, wandte sich aber sogleich wieder den herannahenden Schiffen zu.

“Ihr wisst nicht einmal, ob er schon auf der Welt ist”, bemerkte Eryn. “Pe’talas Bauch könnte immer noch riesig und sie selbst noch reizbarer sein als zuvor.”

“Welch erfreulicher Gedanke”, seufzte Rolan neben ihr, dem vor dieser Möglichkeit unverkennbar graute.

“Wenn das Kind noch immer nicht da ist, werde ich die Geburt einleiten”, erwog Valrad. “Ich missgönne einem Baby keine zwei zusätzlichen Wochen, wenn es sie braucht, aber alles, was darüber hinausgeht, führt nur zu Komplikationen während der Geburt.”

Enric lächelte milde. “Ich bezweifle kaum, dass Pe’tala es geschafft hätte, die Heiler um sie herum zu überreden, ihrem Sohn in diesem Fall einen freundlichen Schubs zu verpassen.”

Eryn erinnerte sich, dass Heiler auf so etwas für gewöhnlich nicht allzu freundlich reagierten. In ihrem eigenen Fall hatten die Überredungsversuche – und gelegentlich auch Drohungen – gegenüber ihren Heilerkollegen nicht den Zeitpunkt der Geburt betroffen, da Vedric ein wenig zu früh aufgetaucht war. Aber sie hatte hitzige Diskussionen darüber geführt, wie lange sie den goldenen Gürtel danach tragen sollte, damit sie nicht in Versuchung geriet, Energie und Substanz, die sie für das Stillen ihres Kindes brauchte, für die Beschleunigung eines Heilungsprozesses aufzuwenden, der gemächlich und in dem Zeitraum ablaufen sollte, den die Natur für angebracht hielt.

Enric fragte sich, wie Pe’tala auf die Nachricht reagieren würde, dass Malriel und Malhora vorerst, nämlich bis die neuen Aren-Residenzen bezugsfertig waren, ihr Zuhause teilen würden. Da die Vel’kim-Residenz die Heiler aus Anyueel beherbergte, gab es für Malriel und Valrad kaum einen anderen Ort, an dem sie unterkommen konnten. Zumindest nicht, wenn sie das Gerede der Leute vermeiden wollten. Malriel würde im Moment bei so ziemlich jedem Haus Unterschlupf finden, wenn sie bekannt gab, dass sie eine Bleibe benötigte – sogar bei den Häusern, die in Opposition zu Aren standen. Die derzeit mächtigste Person des Landes war jemand, dem jedes Hausoberhaupt und jeder Senator gefallen wollte – oder zumindest vermeiden wollte, ihren Unmut auf sich zu ziehen.

Aber wenn ihre eigene Tochter eine Residenz besaß, die geräumig genug war, um sie zusätzlich zu den beiden Familien, die sie bewohnten plus Malhora unterzubringen, würde es doch einen seltsamen Eindruck hinterlassen, wenn Malriel woanders logierte – ungeachtet dessen, wie angespannt die Situation mit drei Aren-Frauen unter demselben Dach mit der Zeit zwangsläufig werden musste.

Mit Malhora, das wusste Enric, hatte Pe’tala keine Schwierigkeiten. Malhora machte keine Unterschiede und behandelte Pe’tala mit der gleichen strengen Zuneigung wie ihre eigene Enkelin. Das Gleiche galt für deren Kinder.

Und auch wenn sich die Beziehung zwischen Pe’tala und Malriel im Laufe der letzten Jahre von offener Feindseligkeit zu einer Beziehung des Respekts und der vorsichtigen Zuneigung gewandelt hatte, war das Teilen eines gemeinsamen Haushalts doch noch einmal eine ganz andere Dimension.

“Wer wird es ihr sagen?” fragte Enric die Umstehenden.

“Wem was sagen?”, wollte Valrad verwirrt wissen. Allerdings war er der Einzige, dem unklar war, wer wovon unterrichtet werden musste.

Vran’el grinste. “Dass du und Malriel vorläufig in ihr Heim eingezogen seid.”

Der Heiler runzelte missbilligend die Stirn. “Ich glaube nicht, dass das Zusammenleben mit ihrem eigenen Vater und ihrer Stiefmutter eine dermaßen große Belastung für sie sein wird. Sie und Malriel haben sich in letzter Zeit ausgesprochen gut verstanden.”

“Das heißt aber nicht, dass das Zusammenleben deshalb besonders harmonisch sein wird”, widersprach Rolan.

Vran’el zuckte mit den Schultern. “Wahrscheinlich ist Pe’tala aber froh, in ein intaktes Haus in einer unbesetzten Stadt zurückzukehren und wird solche Kleinigkeiten wie einen ungebetenen Gast beiseite schieben.” Sein zweifelnder Ton verriet, dass er sich durchaus bewusst war, welch optimistischen Vorstellungen er sich hier hingab.

“Ja”, erwiderte Eryn langsam, “aber wir sprechen hier von Pe’tala. Sie wird unter Schlafentzug leiden, weil sie ihr Neugeborenes alle paar Stunden stillen muss. Von der verbleibenden Erschöpfung ganz zu schweigen. Kaum ein Zustand, in dem sie sich als übermäßig nachsichtig oder diplomatisch erweisen wird.”

“Ihr solltet euch schämen, eure Schwester so zu verleumden, wo ihr doch froh sein solltet, sie bald wieder bei euch zu haben”, tadelte Valrad, doch in seiner Miene lag ein Hauch von Sorge, der darauf hindeutete, dass er die Besorgnis seiner Kinder insgeheim teilte, sich aber verpflichtet fühlte, sein jüngstes Kind zu verteidigen.

Eryn und Vran’el warfen einander einen amüsierten Blick zu, enthielten sich aber in unausgesprochenem Einverständnis jeglichen Kommentars.

Sie alle beobachteten aufmerksam, wie das erste Schiff in den Hafen einlief und wenig später direkt vor ihnen am Pier anlegte. Die Minuten schienen sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, bis der Landungssteg geräuschvoll an seinen Platz geschoben wurde und die ersten Passagiere von Bord gehen konnten. Unter ihnen befanden sich bekannte Gesichter, nicht aber jene, nach denen sie Ausschau hielten.

Die Menschen um sie herum brachen in Jubel aus, sobald sie ihre Liebsten entdeckten, und drängten sich an denen vorbei, die noch immer angespannt warteten. Tränen flossen in Strömen, als Familienmitglieder einander in die Arme fielen, unsagbar erleichtert, einander lebend und unverletzt vorzufinden.

Nach einigen weiteren Minuten hatte der letzte Passagier den Steg überquert, so dass eindeutig feststand, dass Pe’tala und Intrea mit ihren Kindern nicht unter den Passagieren dieses Schiffes gewesen waren.

Sie folgten dem Hafen ein Stück weiter hinab zur nächsten Anlegestelle, wo gerade ein anderes Schiff vertäut wurde. An der Reling winkten Erwachsene aufgeregt, mehrere von ihnen mit Kindern auf einem Arm. Die Jüngeren, denen das Verständnis für die Situation noch fehlte, wirkten je nach persönlicher Veranlagung entweder verwirrt angesichts des ganzen Trubels oder ließen sich mitreißen und ritten auf der Welle der Ausgelassenheit und Freude.

“Siehst du sie?”, fragte Rolan und ließ seinen Blick über die Menschen schweifen, die begierig darauf warteten, von Bord zu gehen.

“Nein”, antwortete Eryn, ebenso ungeduldig.

Es erwies sich, dass auch dieses Schiff nicht das gesuchte war.

Sie bewegten sich zur nächsten Anlegestelle weiter flussabwärts, wo gerade ein weiterer Steg vorbereitet wurde, um ein Schiffsdeck mit der Anlegestelle zu verbinden.

“Da! Ich sehe sie!”, rief Rolan plötzlich, wobei er ungeduldig das nächste verfügbare Handgelenk packte, das er blind fand – jenes von Vran’el – und sich rücksichtslos an den Menschen vorbeidrängte, die sich in tränenreichen Umarmungen befanden, wobei er nicht einmal davor zurückschreckte, mitten durch wiedervereinigte Familien zu pflügen, die gezwungen waren, entweder flink zur Seite zu weichen oder zu Kolateralschäden zu werden.

Enric lächelte, als er sie entdeckte, wie sie an der Reling stand, in einem Arm etwas, das wie ein kleines Bündel aussah, das genau die richtige Größe für ein Baby hatte, während der andere Arm auf Rolan deutete. Direkt vor ihr war der Kopf eines Kindes erkennbar, das gerade groß genug war, um über das Geländer zu spähen. Ihre Tochter Zahyn, die aufgeregt auf und ab zu springen begann, als sie ihren Vater in der Menge entdeckte. Ihre Mutter drehte sich vorsichtig zur Seite, um den kleinen Jungen davor zu schützen, vor Aufregung von unten gestoßen zu werden.

Intrea, die direkt neben Pe’tala stand, zeigte auf Vran’el, woraufhin das Gesicht ihrer eigenen Tochter beim Anblick ihres Vaters aufleuchtete.

Rolan wurde plötzlich seltsam ruhig und schloss die Augen.

Enric legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Ist alles in Ordnung mit dir?”

Der jüngere Mann nickte. “Es geht ihnen gut. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich wurde von bösen Träumen geplagt, in denen die Geburt schief ging oder ihr Unterschlupf von feindlichen Truppen entdeckt wurde…” Er sah erschöpft aus, als sei es vor allem die Anspannung gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatte. Eine Anspannung, die nun von ihm abfiel und durch eine ungeheure Erleichterung ersetzt wurde, die auch mit dem Verlangen des Körpers nach etwas Ruhe einherging, jetzt, wo klar war, dass seine schlimmsten Befürchtungen unbegründet gewesen waren. Rolan richtete sich auf, eindeutig noch nicht bereit, diesem Verlangen nachzugeben. Er wollte seine kürzlich erweiterte Familie willkommen heißen.

Nach einer weiteren quälend langen Wartezeit schritt Pe’tala schließlich auf sie zu, wobei sie darauf achtete, nicht von den ungeduldigen Rückkehrern um sie herum angerempelt zu werden und ihr kostbares Bündel sicher zu transportieren.

Dann stand sie vor ihnen und lächelte ihren Gefährten an, der seine Arme mehrmals wortlos hob und senkte, während sich Feuchtigkeit zwischen seinen Augenlidern sammelte.

Pe’talas Gesichtsausdruck wurde weich, als sie ihren Sohn in Enrics Hände drückte. “Nimm ihn mir kurz ab, ja?”

Dann zog sie Rolan in ihre Arme, drückte ihn an sich und wurde ebenfalls fest umarmt.

“Ich habe mir solche Sorgen gemacht…”, flüsterte er.

“Und ich mir um dich”, erwiderte sie und drückte ihre Wange an seine. “Wir haben keine Nachricht von Takhan erhalten, und ich hatte Alpträume, dass du verletzt sein könntest…”

Rolan löste seine Umarmung lange genug, um seine Tochter mit einem Arm hochzuziehen, damit er sie beide gleichzeitig halten konnte.

Eryn schluckte angesichts der Freude und Erleichterung, des vollkommenen Glücks, und schob den Gedanken beiseite, was sie dafür geben würde, jetzt ihren eigenen Sohn in die Arme schließen zu können. Stattdessen betrachtete sie das Bündel in Enrics Armen.

“Meine Güte”, seufzte sie, “ich vergesse immer wieder, wie winzig sie anfangen. Sieh nur, wie viele Haare er schon hat!”

Valrad neben ihr war hin- und hergerissen zwischen dem Warten darauf, dass seine Tochter ihren Gefährten losließ, um ihren Vater zu begrüßen, und der Hinwendung zu diesem Enkelkind. Nach einigen Sekunden der Ungewissheit entschied er sich schließlich, das neueste Familienmitglied zu untersuchen.

“Gib ihn mir, ja?”, bat er Enric und lächelte, als sich die blauen Augen zu ihm erhoben und sich die kleinen rosafarbenen Lippen wie vor Erstaunen öffneten.

Vran’el hatte in der Zwischenzeit Intrea und Obal erreicht, hob seine Tochter in die Luft und bedeckte ihre Wangen und Stirn mit Küssen. “Mein kleiner Wildfang – ich bin so froh, dich endlich wiederzuhaben! Es war furchtbar ruhig und langweilig ohne dich in der Stadt!”

Das zwölfjährige Mädchen kicherte. “Aber du hattest doch Krieg hier! Ruhig kann es also gar nicht gewesen sein!”

Vran’el schüttelte den Kopf, sein Blick war todernst. “Nachdem ich an dich gewöhnt war, mein kleiner Wirbelwind, habe ich von der Aufregung des Krieges kaum etwas bemerkt.”

Intrea lächelte Vran’el an und küsste ihn auf die Wange, nachdem sie von ihren Familienmitgliedern, die zur Verteidigung Takhans geblieben waren, umarmt worden war. “Wie immer ein Charmeur, Vran. Ich bin so froh, dich unversehrt vorzufinden. Hast du den Feind im Alleingang in die Flucht geschlagen, mein tapferer Gefährte?”, erkundigte sie sich grinsend.

“Gewiss – in diesem Moment komponieren sie Balladen über meine Heldentaten”, erwiderte er und nahm eine Pose ein, die er für heroisch hielt, indem er mit erhobenem Kinn und aufgeblähter Brust in die Ferne blickte.

“Ist das wahr, Eryn?” rief Obal in Richtung ihrer Tante.

Eryn wackelte mit dem Kopf, um anzuzeigen, dass ihr Bruder vielleicht etwas übertrieben hatte. “Vielleicht nicht ganz allein. Wir haben ein wenig geholfen. Aber dein Vater war ein tapferer Mitstreiter, der keinerlei Furcht gezeigt hat. Du hast auf jeden Fall Anlass, stolz auf ihn zu sein.”

Zufrieden schlang ihre Nichte ihre Arme um ihren Vater, den Kriegshelden.

Pe’tala, Rolan und Zahyn hatten sich endlich voneinander gelöst und waren nun bereit, den Rest der Familie zu begrüßen.

Pe’tala umarmte ihre Schwester und seufzte. “Ich bin so erleichtert, dass Enric es geschafft hat, dass dir nichts passiert ist. Diese Idioten bestehen darauf, dich in die Schlacht zu schicken, obwohl das weder deinen Wünschen, noch deinen Fähigkeiten entspricht.”

Eryn antwortete nicht darauf, sondern genoss die Wärme und Nähe ihrer kleinen Schwester. Dies war kein guter Zeitpunkt um zu erwähnen, dass sie sich im Krieg deutlich tüchtiger erwiesen hatte als ihr lieb war.

“Ich gebe dir zehn Goldstücke, wenn du mir den goldenen Gürtel abnimmst”, flüsterte Pe’tala ihr ins Ohr.

Eryn lachte, zog sich zurück und schüttelte den Kopf. “Nein, Teuerste – Vaters Rache in Kauf nehmen zu müssen ist kaum zehn Goldstücke wert.”

“Wie viel Gold wäre es denn wert?”, fragte die jüngere Schwester mit einem schiefen Grinsen.

“Mehr als du besitzt, fürchte ich.”

Valrad, der seinen Enkel nur widerwillig an Rolan weitergegeben hatte, wandte sich seiner Tochter zu und zog sie in eine feste Umarmung. Doch nicht ohne sie zu belehren.

“Wenn man bedenkt, dass du eine Heilerin bist, Tala, sollte ich dich nicht daran erinnern müssen, warum das Tragen des goldenen Gürtels eine wichtige Vorsichtsmaßnahme für frischgebackene Mütter ist, die zufällig Magierinnen sind. Wie du sehr wohl weißt, gibt es eine gewisse Tendenz zu…”

Eryn lachte leise und zwinkerte ihrer Schwester zu. “Willkommen zurück.”

*  *  *

Angenehm gesättigt schloss Eryn die Augen und lehnte sich auf den Sitzkissen in ihrer Residenz zurück, zufrieden mit sich und der Welt. Um sie herum schnatterte das lebhafte Geschwätz ihrer Familie und Freunde, neben ihr Vern, der gerade mit Stift und Papier beschäftigt war und Pe’tala zeichnete, während sie ihren Sohn stillte.

Die Aromen der Mahlzeit, die sie gerade beendet hatten, hingen noch in der Luft. Ein wenig von dem goldenen Licht des Abends, das den weiten Raum durchflutete, drang durch ihre geschlossenen Augenlider, leicht rötlich gefärbt durch die winzigen Blutgefäße darin.

Im Hintergrund hörte sie das fröhliche Geschrei ihrer Nichten Zahyn und Obal, die trotz ihres Altersunterschieds immer noch gelegentlich ein Spiel fanden, das sie beide erheiterte. Sie stellte sich vor, dass Vedric draußen bei ihnen war, im Garten herumlief und sich hinter Büschen und Bäumen versteckte.

Die Rückkehr der Kinder in die Stadt ließ sie die Abwesenheit ihres Sohnes noch schmerzlicher spüren. Es war leichter zu akzeptieren, dass sie getrennt sein mussten, solange Takhan kein sicherer Ort war, doch das war jetzt nicht mehr der Fall. Die Kinder waren zurück. Alle außer Vedric.

Sie versuchte, sich einen Grund auszudenken, warum es vernünftig und logisch sein sollte, nach Anyueel zurückzukehren, bevor sie nach Pirinkar marschierte. Die Tatsache, dass es alles andere als vernünftig oder logisch war, erleichterte die Sache nicht. Es war nichts weiter als ein verzweifelter Versuch, ihren Sohn wiederzusehen.

Warme Finger schlossen sich um ihre Hand, und sie lächelte, weil sie spürte, wie Enrics bloße Berührung ihr immer noch Trost zu spenden vermochte.

Das Essen war lebhaft gewesen, da alle abwechselnd Pe’tala über die Geschehnisse des Krieges informiert hatten, bis hin zu den unglaublichen Ereignissen, die ihn beendet hatten. Nämlich das Auftauchen von angeblicher Verstärkung für Etor Gart, die sich dann als Neleds Verbündete herausgestellt hatte, und das Erscheinen von Malhora, die die dramatischste Rückkehr von den Toten vollzogen hatte, die auch nur entfernt vorstellbar war – indem sie den Schurken persönlich beseitigte. Und zwar nicht mit einem magischen Blitz aus der Ferne, sondern auf so persönliche und spektakuläre Weise, die den Stoff für Legenden bot.

Eryn fragte sich, ob Enric es vorgezogen hätte, den Mann persönlich ein Ende zu setzen. Hätte er es auf kurze und leidenschaftslose Weise getan? Sie vermutete es. Er war kein Mann, der sich am Leid eines anderen ergötzte, unabhängig davon, womit der Betreffende es verdient hätte.

Und sie selbst? Sie hatte davon geträumt, Etor Gart zu beseitigen. Auf unzählige unterschiedliche Arten. Ihn über eine Klippe zu stoßen, ihn in einem Fluss zu ertränken, ihn in einem luftdichten Schild zu ersticken, ihn mit einem mächtigen Magieblitz zu erschlagen, ihm aus einer Distanz, die nahe genug war, um ihm in die Augen zu sehen und den Schmerz darin zu erkennen, goldene Pfeile in die Brust zu schießen… Sie war froh, dass dieser Mann sein Ende gefunden hatte, ohne dass sie sich einem weiteren Abgrund annähern musste, der ihr das gesamte Ausmaß an Grausamkeit offenbart hätte, zu dem sie imstande war. Sie wusste, dass die Versuchung, jenen Mann zu foltern, der Enric diese furchtbaren Dinge angetan hatte, möglicherweise zu groß gewesen wäre, um ihr zu widerstehen.

Doch nun war er tot, und sie musste nicht länger mit sich ringen, ob sie ihn schnell töten und sich ihrer Rache berauben oder es hinauszögern und in den nächsten Jahrzehnten mit ihrer Tat leben sollte.

Sie öffnete die Augen wieder, und ihr Blick wanderte zu Malhora, die wie eine zufriedene Großmutter inmitten ihrer Familie thronte. Keine Spur mehr von der tödlichen Feindin, in die sie sich verwandelt hatte, als es galt, die unter ihrem Schutz Stehenden zu rächen, die zu Schaden gekommen waren. War sie nicht einen einzigen Moment lang versucht gewesen, seinen Todeskampf in die Länge zu ziehen, ihren Rachedurst durch seine Qualen zu stillen?

Malhoras Blick traf den ihren, und sie hob eine fragende Augenbraue. “Was geht dir durch den Kopf, Maltheá?”

Die Frage war in leisem Ton gestellt worden, doch die kleinen Unterhaltungen um sie herum verstummten, als ahnten alle Anwesenden, dass etwas Bedeutsames folgen würde.

Eryn empfand in der plötzlichen Stille um sie herum einen Hauch von Unbehagen. Sie hätte es vorgezogen, sich in einem privateren Rahmen darüber zu unterhalten. Aber sie befand sich unter Menschen, die sich um sie sorgten, sie liebten.

“Als du Etor Gart getötet hast, hast du ihm einen schnellen Tod gewährt.”

Ihre Großmutter lächelte leise. “Und du hättest das nicht getan?”

Für einige lange Momente begegneten sich ihre Blicke, dann senkte Eryn den ihren. “Ich weiß es nicht. Mein Wunsch ihn zu quälen wäre womöglich zu mächtig gewesen.”

Malhoras Gesichtsausdruck wandelte sich für einen Moment und drückte solch immensen Schmerz und Zorn aus, dass Eryn der Atem im Hals stecken blieb. Innerhalb eines Wimpernschlages war es vorbei, nicht mehr als eine kurze Sekunde, doch es sagte ihr alles, was sie wissen musste. Malhora hätte nichts lieber getan, als das Leiden dieses elenden Mannes hinauszuzögern, ihn zehnfach für das Elend und den Kummer büßen zu lassen, den er ihr und denen, die unter ihrem Schutz standen, zugefügt hatte und noch zufügen wollte. Ungeheure Charakterstärke und die Beherrschung ihrer eigenen Triebe, so erkannte Eryn, hatten Malhora zurückgehalten und ihr geholfen, das zu überwinden, was sie dem Mann, dessen Leben sie auszulöschen beschlossen hatte, ein klein wenig ähnlicher gemacht hätte. Sie hatte nicht zugelassen, dass Etor Garts Taten sie zu etwas formte, das sie nicht sein wollte, wollte nicht erlauben, dass er ihr Erbe korrumpierte, indem ihre Tochter und ihre Enkelin mitansehen mussten, wie sie sich in ein Monster verwandelte.

“Die Frage ist, welchen Preis du dafür zu zahlen bereit bist, dass du solchen Gelüsten nachgibst, Maltheá”, antwortete ihre Großmutter. “In was du dich durch sie verwandeln lässt.” Sie sah ihre Tochter an. “Malriel, ich hoffe, du erinnerst dich daran, was ich dir gesagt habe, was das Wichtigste an einer Position als Anführerin ist?”

Falls die mächtige Obertriarchin der Westlichen Territorien sich daran störte, dass man sie wie ein Schulmädchen aufforderte, ihr Wissen kundzutun, so zeigte sie es nicht. Stattdessen antwortete sie: “Führung beginnt bei einem selbst. Du kannst nicht erwarten, dass andere sich deinen Prinzipien beugen, wenn du selbst keine hast.”

Zufrieden lächelte Malhora. “Sehr wahr.” Sie wurde wieder ernst. “Diesen Mann zu töten war eine Notwendigkeit. Und genau so musste ich es behandeln. Manchmal mag es keinen anderen Weg geben, als Leiden zu verursachen, aber es darf nur sein, um noch größeres Leid zu verhindern. Du darfst niemals zulassen, dass es zu deiner eigenen Befriedigung geschieht. Ganz gleich, wie sehr du dich danach sehnst. Sobald du diesen Weg beschreitest, bist du nicht mehr geeignet, eine Anführerin zu sein.”

Orrin nickte anerkennend. “Wir sollten dich einladen, unsere jungen Ordensmitglieder zu unterrichten, Malhora.”

Eryn schluckte. “Was, wenn… was, wenn es sich als einfacher erweist, andere zu verletzen, als es sein sollte?”, zwang sie sich zu fragen.

Malhoras Augen verengten sich. “Dann musst du dich noch strenger im Griff haben, Kind.”

“Es gibt keinen Grund, dich über Gebühr zu sorgen, Maltheá”, fügte Malriel sanft hinzu. “Ich habe dich oben in Kar beobachtet. Und auch seither ständig. Du hast dich ausgezeichnet im Griff, Tochter. Und du selbst vertraust dir weniger als alle anderen, die dich kennen. Deshalb hast du auch das Heilen aufgegeben.”

“Wie war das?” erkundigte sich Pe’tala leise, aber scharf, und bedeckte sich, nachdem ihr Sohn nun schon zum zweiten Mal während des Essens eingeschlafen war.

Eryn atmete aus, denn sie wusste, dass ihre anfängliche Bemerkung gegenüber Malhora über die Gewährung eines schnellen Todes letztlich dazu führen musste, dass sie denjenigen, die ihr am nächsten standen, das dunkelste ihrer Geheimnisse verriet. Es war eine Entscheidung, die sie getroffen hatte, indem sie das Thema verfolgte. Jetzt musste sie im Grunde nur noch den Mut aufbringen, das zu bestätigen, was diejenigen, die es noch nicht wussten, nun ohnehin bereits zu vermuten begannen.

Den Mut, sich zu ihrem Handeln zu bekennen. Die Kraft, die Konsequenzen zu tragen, die darin bestanden, wie ihre Freunde und Familie sie von nun an sehen würden.

Sie spürte Malriels Blick auf sich und hob ihre Augen, um ihm zu begegnen. Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen ihrer Mutter.

Malhora hatte keine Angst davor, anderen zu zeigen, wozu sie fähig war, und Malriel ebenso wenig. Und Eryn war ihre Erbin, nicht nur eines Namens und einer Position, sondern von etwas, das mehr bedeutete als der Ruf, zu Wutausbrüchen und Familienfehden zu neigen – von einer Reihe von Werten und der Entschlossenheit, sich ihnen zu beugen, sie sich zu eigen zu machen und sie so zu führen, wie ein Ordensmagier gelernt hatte, ein Schwert zu führen. Das war es, was es wirklich bedeutete, Aren zu sein. Die Erkenntnis legte sich über sie und beruhigte ihre innere Anspannung, wie Wasser brennenden Durst stillt.

Sie hob den Kopf. Und sah ihre Schwester an, als sie sich an alle wandte: “Ich habe jemanden gefoltert. Zweimal. Um Informationen zu erhalten, die für den Schutz anderer wichtig waren. Dabei habe ich gegen die Grundsätze des Heilens verstoßen. Ich bin nicht stolz auf das, wozu ich fähig bin. Aber ich werde mich auch nicht dafür entschuldigen.” Dieser letzte Satz war eine Warnung gewesen.

Pe’tala sah sie an, dann nickte sie. “Also gut, Schwester. Ich behaupte nicht, dass ich in der Lage bin zu beurteilen, ob diese Situationen anders hätten gelöst werden können. Ich behaupte auch nicht, dass ich unter solchen Umständen anders gehandelt hätte. Dennoch stimme ich zu, dass du nicht länger eine Heilerin bist.”

Diese letzten Worte zu hören, war schmerzhaft. Eryn antwortete nicht. Bislang hatte sie sich vormachen können, dass dies nur ihre persönliche Meinung war, aber zu hören, dass Pe’tala ihr zustimmte, machte es zur Realität. Sie sah Valrad an, der ihr ein trauriges Lächeln schenkte, was bedeutete, dass er seiner jüngsten Tochter zustimmte.

Sie wusste, dass es eine Tatsache war, ohne darauf vorbereitet zu sein, wie sehr es schmerzte. Und sie erkannte, dass sie sich erst jetzt vollkommen davon verabschiedete, jemals wieder Patienten zu behandeln. Bis sie dem Oberhaupt der Heiler in ihrer zukünftigen Heimat ihre Taten gebeichtet hatte, hatte es noch immer die Möglichkeit gegeben, eines Tages zu dem Beruf zurückzukehren.

Sie stellte fest, dass da nicht nur Schmerz war, sondern auch ein Gefühl von tiefer Erleichterung und Freiheit. Sich anderen gegenüber verletzlich zu machen, war ein mächtiger Akt – einer, den nur die Starken wagten.

Enric hob ihre Hand zu seinem Gesicht und drückte seine Lippen auf ihre Handfläche. “Ich wäre heute vielleicht nicht mehr am Leben, wenn du dich entschieden hättest, an diesen Prinzipien festzuhalten, anstatt mit ihnen zu brechen und schließlich das Heilen aufzugeben. Das ist ein Opfer, das ich niemals vergelten kann. Ich kann mir nur vornehmen, es dich nie bereuen zu lassen.” Er blickte zu den anderen auf. “Die Bendan Ederbren haben einen Begriff für solche Leute. Sie sprechen von einem wahren Krieger. Im Gegensatz zu unserem Verständnis in Anyueel ist ein wahrer Krieger nicht jemand, der sich bereitwillig in die Schlacht stürzt, um sein Leben für sein Land zu geben, wenn es sein muss, und dabei möglichst viele Feinde mitnimmt. Es ist jemand, der sich den Notwendigkeiten beugt, auch wenn es ihn persönlich viel kostet. Sie glauben, dass ein solcher Mensch eine Seltenheit ist. Ich gebe zu, dass ich zuerst ein wenig eifersüchtig war, als sie Eryn zu einer wahren Kriegerin erklärten, aber nur so lange, bis ich verstand, was es wirklich bedeutet und wie gut es sie beschreibt.”

Eryn spürte, wie ihr Herz warm wurde bei diesen anerkennenden Worten, bei diesem Beweis für seine tiefe Zuneigung zu ihr.

“Das ist eure Chance”, verkündete sie und sah jeden von ihnen nacheinander an. “Wenn ihr etwas zu meinen Taten zu sagen habt, dann tut es jetzt.”

Stille trat ein, dann räusperte sich Vern und zuckte mit den Schultern. “Sollte ich jemals gefangen genommen und an einen unbekannten Ort verschleppt werden, könnt ihr meine Entführer gerne foltern. Ich will das nur angemerkt haben.”

“Dem schließe ich mich an”, fügte Vran’el hinzu, wodurch sich die Stimmung wieder etwas löste.

Sie hörten ein Klopfen an der Eingangstür, und Eryn zuckte zusammen. Unangenehme Nachrichten tauchten für gewöhnlich während der Mahlzeiten auf, auch wenn sie streng genommen bereits fertig gegessen hatten.

Enric sprang mit verdächtigem Schwung auf, sodass sich seine Gefährtin fragte, ob er jemanden erwartete.

Der Trubel, der beim Öffnen der Eingangstür von unten hörbar wurde, ließ vermuten, dass mehr als nur eine Person eingetroffen war.

“War das Ram’ans Stimme?”, fragte Vern.

“Und die von Golir, wenn ich mich nicht irre”, fügte Valrad hinzu.

Wenig später tauchte Enric wieder auf, hinter ihm tatsächlich Golir und Ram’an sowie Kilan.

Der Gastgeber lächelte und streckte Eryn seine Hand entgegen, um sie auf die Füße zu ziehen. “Meine liebste Gefährtin, es gibt eine Kleinigkeit, bei der es mir ein Bedürfnis ist, mich jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorüber ist, darum zu kümmern. Ich möchte unser Kommittmentband dritten Grades wiederherstellen und habe mir erlaubt, unsere engsten Freunde und Familienmitglieder einzuladen. Golir hat sich erneut bereit erklärt, die Zeremonie durchzuführen. Vorausgesetzt, du hast keine Einwände. Das wäre sonst etwas peinlich für mich.”

Eryn starrte ihn einen Moment lang völlig überrascht an, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie zog seinen Kopf nach unten und küsste sein Gesicht. “Das fände ich ganz fantastisch.”

Golir sah zu Malriel und Vran’el. “Ich nehme an, die beiden haben die Erlaubnis ihrer jeweiligen Oberhäupter?”

“Natürlich”, stimmte Vran’el für seine Schwester zu.

Malriel bestätigte ihr Einverständnis für Enric mit einem huldvollen Nicken.

“Gut”, fuhr Golir fort. “Wir benötigen eine Menge Magie, die jene der beiden zu verbindenden Personen übersteigt. Was in diesem speziellen Fall keine Kleinigkeit ist. Wer von den Anwesenden möchte sich an der Herstellung des Bandes beteiligen, indem er seine Magie beisteuert?”

Jede einzelne Hand im Raum wurde erhoben. Der Triarch nickte. “Das sollte genügen. Auch wenn es ein wenig eng werden könnte. Gut, dann bitte ich alle, sich zu erheben. Wir sollten uns kurz fassen und die Zeremonie nicht zu sehr in die Länge ziehen, denn es ist bereits das dritte Mal, dass ich euch beide miteinander verbinde. In einem Bund, der eigentlich bis ans Ende eures Lebens bestehen sollte”, fühlte er sich bemüßigt zu betonen.

Eryn unterließ es, darauf hinzuweisen, dass dies kaum ihre Schuld war. Beim ersten Mal hatte Enric es aufgelöst, weil er nach Pirinkar gereist war, um Malriel zu retten, und beim zweiten Mal war es anlässlich des Krieges, den sie gerade gewonnen hatten.

Nachdem sie sich in einem Kreis aufgestellt hatten, der groß genug war, damit alle Platz fanden, aber klein genug, damit sie sich in der Mitte die Hände reichen konnten, sah Golir Eryn an.

“Ich nehme an, du bist bereit, den Bund einzugehen?”

“Das bin ich.”

“Enric, du auch?”

“Von ganzem Herzen.”

“Gut. Ich werde nun meine Magie fließen lassen, und alle anderen folgen meinem Beispiel. Lasst einfach eure Magie einfließen, ich werde sie entsprechend lenken und das Band schmieden.”

Einen Moment später spürte Eryn, wie Wärme in ihre Haut eindrang, durch die Hand, auf die Golir seine eigene gelegt hatte – und auf die auch alle anderen ihre platziert hatten.

Einige Sekunden später ließ die Wärme nach und Golir trat einen Schritt zurück und aus dem recht dicht gedrängten Kreis von Menschen heraus. “Es ist vollbracht. Ich gratuliere. Wieder einmal. Ich erwarte aufrichtig, dass es das letzte Mal sein wird. Ich hoffe, das erscheint nicht unhöflich, aber ich würde jetzt sehr gerne zu meiner Familie zurückkehren.”

Enric nickte. “Vielen Dank, Golir, dass du an deinem ersten Abend mit deiner Familie hierher gekommen bist. Es tut mir leid, dass ich dir einen Teil davon stehlen musste, aber ich war ungeduldig und wollte das erledigt haben.”

Golir lächelte. “Keine Sorge, Enric, es war mir ein Vergnügen.”

Als er weg war, räusperte sich Ram’an. “Ich habe ebenfalls nicht viel Zeit, da meine Töchter auf meine Rückkehr warten, aber ich denke, dieser Anlass rechtfertigt ein Glas des ausgezeichneten Weins, von dem ich weiß, dass Enric ihn hinten in seinem Keller versteckt. Dafür habe ich sicherlich ein paar Minuten Zeit.”

Enric seufzte in gespielter Resignation. “Offensichtlich habe ich ihn nicht gut genug versteckt, wenn du weißt, wo er zu finden ist, Arbil.”

*  *  *

Enric beobachtete von einem der Gästestühle im hinteren Teil des Senatssaals aus, wie sich sowohl die Senatoren, die während des Krieges in der Stadt geblieben waren, wie auch jene, die gerade erst zurückgekehrt waren, auf den Weg zu den ihnen zugewiesenen Plätzen begaben. Dabei hielten sie häufig inne, um Kollegen zu begrüßen, die sie eine Weile nicht mehr gesehen hatten, und freuten sich, sie lebend und unversehrt vorzufinden. Er bemerkte, dass sogar Senatoren aus verfeindeten Häusern ein Lächeln, ein Nicken und ein paar Worte austauschten. Der Krieg hatte erreicht, was in Friedenszeiten nur selten gelang – die Menschen gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinen. Das Hochgefühl eines gut geführten und gewonnenen Krieges machte die Menschen etwas zugänglicher, und das Gefühl von ‘wir’ und ‘sie’ verstärkte sich. Nichts verband die Menschen so stark wie ein rechtschaffener Grund, diejenigen abzulehnen, die nicht zu uns gehörten.

Enric wusste, dass dieses Gefühl in der nächsten Zeit nachlassen würde, da die Erinnerung an die äußere Bedrohung im Laufe der Zeit kaum mehr als das sein würde – eine Erinnerung. Sobald die Schäden in der Stadt und auf den Ländereien der Häuser behoben waren und alles wieder in gewohnten Bahnen verlief, und die Häuser und andere Geschäftsinhaber ihre Verluste wieder ausgleichen konnten, würden die Häuser wieder in erster Linie mit denjenigen verkehren, die ihren eigenen Interessen dienten, und sich an die kleinen Zwischenfälle und Beleidigungen erinnern, die sie veranlasst hatten, sich von bestimmten Personen und den mit ihnen verbundenen Kreisen fernzuhalten. Es würde nicht lange dauern, bis die Stadtmauer als einziges sichtbares Zeichen des Krieges zurückbleiben würde, und die neue Generation und die folgenden würden aufwachsen, ohne Takhan jemals als eine Stadt ohne Befestigungen kennengelernt zu haben.

Aber noch war die Zeit dafür nicht gekommen. Der Feind war noch frisch im Gedächtnis, und die Chancen standen gut, dass der Senat beschließen würde, dass der Krieg noch nicht zu Ende war, dass der endgültige Abschluss darin bestehen musste, Pirinkar klarzumachen, wie wenig wünschenswert ein weiterer Angriff – in ihrem eigenen Interesse.

Er wusste, dass die Chancen für eine Entscheidung zugunsten eines Angriffs auf Pirinkar gut standen – vor allem, wenn bekannt wurde, dass er selbst und Malriel dies unterstützten. Dennoch. Er hatte gelernt, sich nie zu sehr auf ein wünschenswertes Ergebnis zu verlassen. Sich vorschnell zurückzulehnen und darauf zu vertrauen, dass alles so laufen würde, wie er es sich vorstellte, konnte den Weg für unangenehme Überraschungen ebnen. Vor allem, wenn der König involviert war.

Ihm war klar, dass König Folrin, auch wenn er sich nicht offen gegen die Idee aussprach, die Weisheit einer Invasion in Pirinkar mit einer gewissen Skepsis beurteilte. Wofür er auch vernünftige Argumente vorbringen konnte. Sie wussten nur sehr wenig über die Verteidigungsanlagen von Kar – lediglich, dass das scheinbare Fehlen einer Stadtmauer nur irreführen sollte, denn die erste Reihe der Häuser, die wie Wohnhäuser wirkten, war in Wirklichkeit eine geschickt getarnte Festung mit einer Reihe von Kriegsmaschinen. Aber sie wussten nicht, wie groß Pirinkars Armee war, wie groß der Anteil, der in den Süden geschickt worden war – und wie viele davon noch übrig waren, um das Land zu verteidigen. Ein weiterer Punkt war, dass die Unterstützung von Neled und Horam bei ihrem Plan, die Priester aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, bedeutete, eine Seite in einem Bürgerkrieg zu unterstützen, was einen Verstoß gegen die Souveränität eines Landes darstellte. Dieser letzte Punkt war etwas, das König Folrin nur ungern auf sich nehmen würde, da er dies in Anyueel selbst unbedingt vermeiden wollte und daher zögerte, dies auch anderen aufzuerlegen.

Aus Enrics Sicht waren Souveränitätsvorstellungen jedoch kein gültiges Gegenargument mehr, wenn es um ein Land ging, das ohne eine echte Provokation einen Krieg gegen sie angestrengt hatte. Und er hatte noch weniger Verständnis für die königlichen Bedenken hinsichtlich der Bewahrung etablierter Machtstrukturen.

Eryn ließ sich auf einen Platz direkt neben ihm fallen und zeigte wie immer keinerlei Bedenken, wenn es darum ging, auf die Art von Eleganz zu verzichten, die sich Malriel zu eigen gemacht hatte.

“Sollten sie nicht schon angefangen haben?”, fragte sie und sah sich nach den Senatoren um, die sich noch immer unterhielten. “Wo ist diese übertriebene Pünktlichkeit, die sie normalerweise an den Tag legen?”

“Viele von ihnen sind gerade aus den Bergen zurückgekehrt”, erklärte Enric. “Man muss ihnen ein wenig Nachsicht entgegenbringen. Es sind schließlich außergewöhnliche Umstände. Bis vor kurzem wusste niemand, ob es jemals wieder eine Senatssitzung geben würde.”

“Ich weiß”, seufzte sie. “Aber im Moment wäre es mir lieber, wenn sie mit einer gewissen Eile vorgehen würden, denn ich möchte meinen Sohn wiedersehen. Und das wird nicht geschehen, bevor wir uns um Pirinkar gekümmert haben.”

“Vorausgesetzt, sie entschließen sich zu diesem Schritt”, fügte Enric bedächtig hinzu.

“Ja, das immer vorausgesetzt. Allerdings ist ihnen nicht mehr zu helfen, falls sie sich anders entscheiden.”

“Der König hat immer noch ein oder zwei gute Argumente dagegen.”

Eryn schnaubte. “So sehe ich das ganz und gar nicht. Er will nur nicht, dass die Leute auf die Idee kommen, dass der Umsturz existierender Herrschaftsverhältnisse manchmal eine gute Sache sein könnte. Vor allem nicht in einem Königreich, in dem Magier zwar nicht in der Weise unterdrückt werden, wie es in Pirinkar geschieht, aber dennoch gezwungen sind, dem Orden beizutreten.”

Enric lächelte. Da hatte sie nicht ganz unrecht. Ihm selbst und seinen Mitmagiern war beigebracht worden, dass die Zugehörigkeit zum Orden ein großes Privileg sei, und dass die Unterwerfung unter ein paar mickrige Regeln ein so winziges Zugeständnis sei, dass man es nicht einmal als Preis dafür ansehen könne. Aber die Freiheit, die die Magier in Takhan genossen, hatte die Magier in Anyueel dazu gebracht, darüber nachzudenken, warum sie selbst keine Wahl hatten, wo sie leben und welchen Beruf sie ausüben wollten. Zwei Punkte, die einen erheblichen Eingriff in die Willensfreiheit darstellten. Wenn man also genau diese Ordensmagier aussandte, um andere Anwender von Magie aus der Unterdrückung zu befreien, konnte das zu bestimmten Forderungen und Notwendigkeiten nach Veränderungen im Orden führen. Orrin würde in den kommenden Jahren zweifellos viel Freude bei der Führung dieser Institution haben.

“Du warst die Erste, die… überredet werden musste, dem Orden beizutreten. Alle anderen sind von sich aus eingetreten”, bemerkte Enric, aber eher um des Argumentes willen als um ihr zu widersprechen. Sie war tatsächlich in den Orden gezwungen worden, egal wie euphemistisch man es auch immer umschreiben wollte. Es hatte Verhandlungen gegeben, aber sie in Gold zu fesseln und an einen Ordensmagier zu binden um sicherzustellen, dass sie den Orden nicht verlassen konnte, hatte sicher nicht dazu beigetragen, Eryns Entscheidung zu einer freiwilligen zu machen. Für sie war es lediglich das geringere Übel gewesen.

“Ja, sicher”, knurrte sie, verstummte aber mit den anderen, als die drei Triarchen von rechts den Saal betraten und sich zügig auf das Podium und ihre Plätze zubewegten.

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde Golir den mittleren Stuhl einnehmen, doch er zog ihn nur mit einer höflichen Geste für Malriel zurück. Malriel würde also vorerst weiter auf ihrem Platz bleiben. Aber der Krieg als solcher war schließlich noch nicht ganz vorbei.

Torke’na war erneut diejenige, die alle begrüßte und die Versammlung eröffnete.

“Willkommen zurück, geschätzte Kollegen! Ich kann meine Dankbarkeit und Erleichterung gar nicht in Worte fassen, dass wir alle wieder hier sind und in in einer Stadt zusammenkommen können, die zwar ein wenig Schaden genommen hat, aber lange nicht zerstört oder unbewohnbar ist. Ich bedaure, dass wir euch nicht mehr Zeit einräumen konnten, um euch wieder in euer Leben einzufinden, sondern dass wir euch hierher gerufen haben, kurz nachdem ihr entweder selbst zurückgekehrt seid oder eure Familien wieder willkommen geheißen habt. Es gibt jedoch eine wichtige Entscheidung zu treffen, und die Triarchie kann sie nicht ohne euch treffen. Wir haben eine schwierige Zeit hinter uns, doch manche meinen, dass die Herausforderung des Konflikts mit unserem Nachbarn noch nicht vorüber ist. Wir haben uns heute hier versammelt um zu entscheiden, ob die Gefahr eines weiteren Angriffs aus dem Norden groß genug ist, um einen so extremen Schritt wie die Invasion Pirinkars zu wagen.”

Eryn zuckte leicht zusammen. Der letzte Teil war ein klarer Hinweis darauf gewesen, dass Torke’na solche Pläne nicht befürwortete. Und dass sie als Erste gesprochen hatte, bedeutete, dass sie in der Lage gewesen war, den Leuten die Idee zu vermitteln, dass die Invasion ein zu extremer Schritt sei.

“Sie ist dagegen”, flüsterte sie Enric zu.

Er nickte. “Auf jeden Fall. Leider hatte ich keine Gelegenheit, vor der Versammlung mit Malriel zu sprechen. Ich weiß also nicht, wo Golir steht. Zwei Triarchen, die gegen den Plan sind, könnten die Überzeugung des Senats zu einer beachtlichen Herausforderung für Malriel machen.”

Torke’na allein wäre nicht in der Lage, den Senat umzustimmen, aber Golir war eine völlig andere Sache.

Malriel ergriff als Nächste das Wort, entschied sich jedoch, nicht von ihrer erhöhten Position aus zum Senat zu sprechen, sondern erhob sich von ihrem Stuhl, um in den Kreis in der Mitte des Raumes zu treten und dem Senat in die Augen zu blicken.

“Senatoren”, begann sie mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, “lasst mich ehrlich zu euch sein. Innerhalb der Triarchie gibt es unterschiedliche Meinungen; wir sind uns nicht einig, was die richtige Vorgehensweise ist. Aber das soll euch nicht beunruhigen, denn Meinungsvielfalt ist ein kostbares Gut, das wir in diesen Hallen immer respektiert haben. In einer Gesellschaft, in der wir gemeinsam entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen, in der wir uns entwickeln und wachsen wollen, kann ein Konsens niemals selbstverständlich sein, sondern muss durch harte Arbeit und Anstrengung erreicht werden. Heute sind wir hier, um eine solche Anstrengung zu unternehmen, und ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende zu einer guten Entscheidung kommen werden. Wir haben beschlossen, euch die Vor- und Nachteile der einzelnen Optionen darzulegen und anschließend eine Diskussion zu führen, bevor wir darüber abstimmen. Ich muss mich dafür entschuldigen, dass wir euch nicht mehr Zeit einräumen können, um über diese wichtige Frage nachzudenken, denn die Zeit drängt. Ich bin dafür, nach Pirinkar zu gehen. Erlaubt mir darzulegen, weshalb.”

*  *  *

Die zwei Stunden hatten sich in die Länge gezogen, und Eryn fand die Besucherstühle von Minute zu Minute unbequemer und rutschte hin und her, um eine halbwegs erträgliche Position zu finden.

Malriel hatte ihre Argumente vorgetragen, dann hatte Torke’na gesprochen und auf die Nachteile hingewiesen. Beide hatten Gäste geladen, die vor dem Senat aussagen sollten. Malriel hatte Kommandantin Neled und Horam eingeladen, um über ihre eigenen Pläne zu sprechen und darüber, wie sie ihre Magierkollegen von dem Joch befreien wollten, unter dem diese seit Jahrhunderten litten. Nachfolgend war Enric aufgefordert worden, für den Orden zu sprechen. Und schließlich Orrin als Oberhaupt der Krieger.

Torke’na war nicht in der Lage gewesen, eine so beeindruckende Reihe von Unterstützern für ihre Seite zu mobilisieren, doch gab es eine Person, deren Worte sicherlich Gewicht haben würden: König Folrin. Er hatte betont, dass er weder dafür noch dagegen sei, Kommandantin Neled und Horam in ihren Bemühungen zu unterstützen, sondern sich der Entscheidung des Senats beugen würde, wie auch immer diese ausfallen möge. Um eine gewisse Balance herzustellen, hatte er jedoch beschlossen, einige Themen anzusprechen, die Beachtung verdienten, aber Gefahr liefen, vernachlässigt zu werden.

Die anschließende Diskussion begann höflich, wurde aber bald hitziger, und es kam häufig zu Ordnungsrufen, als die Emotionen überhand zu nehmen drohten und Stimmen erhoben wurden.

Malriel und Enric wurde unterstellt, nur zum Zweck eines Vergeltungsfeldzugs zu einer Invasion aufgerufen zu haben, und bereit zu sein, für ihren persönlichen Wunsch nach Rache alle in Gefahr zu bringen.

Die Gegner der Invasion wurden als Feiglinge und kurzsichtige Narren bezeichnet.

Ram’an wurde beschuldigt, sich allein deshalb auf die Seite von Haus Aren zu stellen, weil er noch immer Gefühle für die frühere – und zukünftige – Maltheá von Haus Aren hegte.

Mehrere Senatoren erklärten großspurig, dass sie sich weigern würden, Mitglieder ihres Hauses zur Teilnahme an einem solchen Unsinn zu zwingen – nur um es sich dann wieder anders zu überlegen, als man ihnen die schwerwiegenden Folgen einer Missachtung eines Senatsbeschlusses vor Augen führte.

“Entweder ich verschwinde hier auf der Stelle, oder ich lasse das Dach des Senats noch einmal einstürzen”, zischte Eryn leise. “Sie zanken sich wie kleine Kinder, anstatt wie Erwachsene darüber zu diskutieren! Ich bin froh, dass Vedric nicht hier ist, um das mit anzusehen – es wäre unmöglich, ihm hinterher Manieren beizubringen oder ihm zu erklären, warum Respekt eine wichtige Sache ist.”

“Du wirst eine von ihnen sein, sobald du Haus Aren übernommen hast”, erinnerte Enric sie sanft und fand, dass sich das hier nicht allzu sehr von einer Ratssitzung in Anyueel unterschied.

“Ich kann es kaum erwarten”, seufzte sie und schüttelte den Kopf.

Sie bewunderte, wie ruhig die Triarchen in der hitzigen und bisweilen alles andere als sachlichen Diskussion geblieben waren. Vor allem Malriel, die mehr als einmal persönlich angegriffen worden war, aber allen Anschuldigungen nur mit einer steinernen Miene begegnete und nicht so tief sank, die Verleumdungen zu würdigen indem sie sich verteidigte. Eryn vermutete jedoch, dass sie sich sehr genau merken würde, wer welche Äußerungen getätigt hatte. Und dass sie diese zu gegebener Zeit wieder aufgreifen und in ihre Überlegungen einbeziehen würde, wenn irgendwann in der Zukunft Anfragen an die Triarchie gestellt werden sollten. Eryn empfand bei diesem Gedanken eine grimmige Befriedigung und dachte darüber nach, wie sehr sich diese Vorgehensweise von dem unterschied, was der Orden als Reaktion auf einen verbalen oder sonstigen Angriff für angemessen hielt.

Wann immer eines der Ratsmitglieder sich geweigert hatte, ihr den Respekt zu erweisen, der ihr aufgrund ihres Ranges gebührte, hatten Enric und Tyront darauf bestanden, dass sie zeitnahe reagierte, um dem Ganzen ein Ende zu setzen und allen anderen zu signalisieren, dass dieses Verhalten inakzeptabel war und zu bestrafen sei. Sie fragte sich, ob dies einer der Aspekte war, die es Enric so schwer gemacht hatten, Oberhaupt eines Hauses und Senator in Takhan zu sein. Und ob sie selbst in absehbarer Zeit in der Lage sein würde, sich von den entschlossenen und schnellen Schritten zu distanzieren, die der Orden als Tugend erachtete.

Eine der drei Doppeltüren, die in den Senatssaal führten, wurde plötzlich geöffnet und ließ eine einsame Gestalt in das helle Mittagslicht treten, das von hinten hereinströmte. Die Erscheinung hielt einen Moment inne, als ob sie sich des Effekts bewusst war und ihn nutzte, dann setzte sie sich in Bewegung und schritt die Treppe hinab in Richtung des Tisches, an dem die Senatoren von Haus Aren saßen. Malhora vom Haus Aren.

Im Saal wurde es still, als alle auf die Frau blickten, die im Alleingang und ohne zu zögern den Mann erschlug, der ihnen allen so viel Kummer bereitet hatte. Die beiden Aren-Senatoren sprangen eilig auf und überließen Malhora die Wahl, auf welchem ihrer Stühle sie Platz nehmen wollte. Sie war zwar keine Senatorin, aber niemand in diesem Raum – die Triarchen eingeschlossen – würde es wagen, ihr vorzuschlagen, sie solle sich auf einen der Gästestühle setzen, wenn sie der Verhandlung folgen wolle.

Eryn verbarg ein Grinsen. Diese Frau wusste, wie man einen Auftritt hinlegte. Und von nun an würden die Leute sehr viel vorsichtiger sein, wenn sie entweder Haus Aren oder Malriel selbst irgendwelche niederen Beweggründe unterstellten.

Malhora nahm Platz und blickte dann auf, als bemerkte erst jetzt die Stille, die ihrer Ankunft gefolgt war.

“Bitte, lasst euch von mir nicht unterbrechen”, sprach sie, als hätte sie irgendetwas anderes als gebührend und angemessen erachtet.

Die Diskussion wurde langsam wieder aufgenommen, wenn auch von einer Minute auf die andere wesentlich unaufgeregter als zuvor.

“Es besteht die realistische Chance, dass sie erkannt haben, dass wir nicht so leicht zu besiegen sind”, meinte ein Senator von Haus Feral. “Wenn sie nicht die Absicht haben, erneut anzugreifen, dann wären wir die Aggressoren.”

Ohne Vorwarnung erschien ein Schild über Malriel, die immer noch im Kreis vor den Tischen stand. Auf ihm erschien ein Bild. Ein Gebäude, das vor seiner Zerstörung augenscheinlich ein beeindruckendes Anwesen gewesen war. Es folgten mehrere weitere Bilder, die jeweils lange genug gezeigt wurden, damit alle Anwesenden die Eindrücke aufnehmen konnten. Abgebrannte Bäume, vernichtete Ernten, zerstörte Nebengebäude. Und wie ein allgegenwärtiges Detail in all diesen Bildern waren Körper mit weit aufgerissenen Augen zu sehen, deren Gesichter in einem Ausdruck des unendlichen Entsetzens erstarrt waren.

Die meisten Senatoren erkannten die Überreste der Residenz von Malhora wieder, da ihnen einst das Privileg zuteil geworden war, an der jährlichen Jagd dort teilzunehmen. Es war also klar, wessen Erinnerungen sie gerade verfolgten.

Eryn zwang sich, die Augen nicht abzuwenden. Ein Teil von ihr fragte sich, wann Malhora die Zeit gefunden hatte, sich die Fähigkeit anzueignen, Bilder auf einem Schild darzustellen.

“Das ist wahr, mein junger Freund”, erklang Malhoras Stimme in der Stille, die erneut eingetreten war. Ihre sanfte Stimme bildete einen seltsamen Kontrast zu den grausigen Bildern, die sie durch ihre Magie mit ihnen teilte. “Doch die Frage ist, was das größere Risiko darstellt – zu hoffen, dass auch ohne irgenwelche Vorkehrungen zur Gewährleistung eurer Sicherheit keine eurer Ländereien das gleiche Schicksal erleidet wie meine eigenen, oder zu handeln und dafür zu sorgen, dass Pirinkar auf seiner Seite der Berge bleibt.”

“Die Leute da oben abzuschlachten ist dafür auch keine Garantie”, wagte sich ein besonders mutiger Senator vor. “Ganz im Gegenteil – das könnte sie dazu verleiten, sich zu rächen und anzugreifen, obwohl sie das ursprünglich nicht getan hätten.”

“Entschlossenes Handeln bedeutet nicht, dass wir uns auf eine Mission begeben, ihr Land zu plündern und niederzubrennen”, erwiderte Eryn darauf.

Alle Augen waren nun auf sie gerichtet.

“Meine Güte, Haus Aren trägt viel zur heutigen Versammlung bei”, witzelte das Oberhaupt von Haus Finran, “vor allem diejenigen, die nicht wirklich Mitglieder des Senats sind und daher eigentlich nicht das Recht haben zu sprechen, sondern von denen erwartet wird, dass sie still zuhören, ohne zu unterbrechen.”

Eryn lächelte nachsichtig. “Die Tatsache, dass du mich bereits als Mitglied von Haus Aren ansiehst, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch zu Haus Vel’kim gehöre, zeigt mir, dass du dir meiner Absicht bewusst bist, Haus Aren zu übernehmen und noch früh genug in deinen erlauchten Kreis einzutreten. Ihr mögt nun beschließen, mir wegen einer Formalität das Wort zu verbieten, aber ich rate euch, daran zu denken, dass es ein Zeichen der Wertschätzung für die Institution wäre, der ich angehöre und die euren Sieg ermöglicht hat – indem sie das Leben ihrer Mitglieder für euch aufs Spiel gesetzt hat. Und auch ein Zeichen des Respekts für eure zukünftige Kollegin.” Sie verschränkte die Arme und wartete. Hatte sie sich wirklich gerade auf den Orden berufen, um das Wort ergreifen zu dürfen? Sie unterdrückte ein Schaudern.

Vran’el räusperte sich. “Ich bitte um die Erlaubnis, Maltheá von Haus Vel’kim vor dem Senat das Wort zu erteilen. Ich denke, dass ihre einzigartige Position als hochrangige Vertreterin des Ordens, als zukünftiges Oberhaupt des Hauses und auch als jemand, der die Prinzipien des Helfens und nicht des Abschlachtens vertritt, es sicherlich wert sein wird, dass man ihr zuhört.”

Eryn war froh, dass ihr Bruder das Wort ergriffen hatte. Sonst hätte Ram’an es mit absoluter Sicherheit getan. Aber es sah erheblich besser aus, wenn ihr eigenes Hausoberhaupt um Erlaubnis bat, sie sprechen zu lassen.

Malriel drehte sich um und blickte zu den beiden anderen Triarchen auf. “Darf ich euch ersuchen, über diese Anfrage zu entscheiden? Ich fürchte, es hat wenig Sinn vorzugeben, als sei ich nicht zu Maltheás Gunsten befangen.”

Torke’na und Golir tauschten einen kurzen Blick aus, dann nickte Torke’na Eryn zu. “Du magst sprechen, Maltheá.”

Eryn erhob sich von ihrem Platz. “Trotz einiger Dinge, die ich getan habe, trotz der Menschen, die ich im Kampf getötet habe, bin ich kein Freund von unnötigem Blutvergießen. Unnötig bedeutet für mich, jemanden zu töten, der nicht darauf aus ist, mein eigenes Leben zu beenden. Und das ist derzeit in Pirinkar nicht der Fall. Ich schlage nicht vor, dorthin zu gehen, um ein Massaker zu begehen, sondern um dazu beizutragen, Umstände zu schaffen, unter denen wir sicher sein können, dass unsere Nachbarn nicht nur vorsichtig sind, wenn es darum geht, uns anzugreifen, sondern sich aktiv dagegen entscheiden – oder besser gesagt, es gar nicht erst in Betracht ziehen. Solche Umstände könnten geschaffen werden, indem wir Kommandantin Neled und Horam bei ihrem Vorhaben unterstützen. Die Magier oder Priester, wie man sie dort nennt, zu befreien, bedeutet, Menschen ein Mitspracherecht einzuräumen, die uns nicht als ihren Feind betrachten werden. Wir wollen keine Leute an der Macht haben, die Etor Garts Pläne entweder unterstützt oder zumindest geduldet haben. Und selbst wenn es uns nicht gelingt, ihre Führer zu stürzen, würden wir ihnen zeigen, dass wir uns nicht zurücklehnen, nachdem wir angegriffen wurden, sondern dass wir eine Kraft sind, mit der man rechnen muss – ein Land, das nicht willens ist, eine solche Behandlung einfach hinzunehmen. Keine Reaktion zu zeigen würde ihnen signalisieren, dass es nichts zu verlieren gibt, wenn sie uns angreifen – unabhängig davon, ob sie Erfolg haben oder nicht. Wir wollen ihnen zu verstehen geben, dass sie mehr zu verlieren als zu gewinnen haben, wenn sie gegen uns marschieren.” Eryn sah den Senator an, der darauf hingewiesen hatte, dass er wahlloses Abschlachten nicht unterstützte. “Ich stimme dir zu – Töten ist eine schreckliche Sache, und wer mich persönlich oder vom Hörensagen kennt, dem sollte meine Haltung in dieser Frage bewusst sein. Wir haben es sogar unterlassen, feindliche Soldaten im Kampf zu töten, wann immer es möglich war. Aus diesem Grund haben wir derzeit eine beträchtliche Anzahl von Gefangenen in unserem Gewahrsam. Gefangene, die wir als Geste des guten Willens in ihre Heimat zurückbringen wollen. Und als Mittel in einer Verhandlung nutzen wollen, von der ich zugeben muss, dass ich nicht erwarte, dass sie vollkommen friedlich verlaufen wird. Ich kann euch jedoch versichern, dass ich in meiner derzeitigen Funktion als zweite Befehlshaberin des Ordens weder dafür stehe, Zivilisten durch einen Angriff auf ihre Hauptstadt zu schaden, noch dafür, ihre Soldaten zu töten, wenn es einen anderen Weg gibt. Ebenso wenig bin ich allerdings bereit, eine solche Bedrohung für das Volk, das mir am Herzen liegt, zu akzeptieren.”

Torke’na nickte. “Ich danke dir, Maltheá.” Dann sah sie die Senatoren an. “Gibt es sonst noch einen Beitrag in dieser Angelegenheit? Wenn nicht, werden wir mit der Abstimmung fortfahren.” Als keine weiteren Wortmeldungen folgten, fuhr sie fort: “Handzeichen, wenn ihr für den Angriff auf Pirinkar stimmt.”

Achtzehn von vierundzwanzig Händen hoben sich, und Eryn ließ sich auf ihren Stuhl sinken und atmete aus. Das war eine klare Mehrheit – vor allem, da Golirs und Malriels Hände ebenfalls erhoben waren, was bedeutete, dass jeder von ihnen zwei Triarchenstimmen hinzufügte, anstatt nur die Stimme eines Senators.

Torke’na zeigte keine Anzeichen von Enttäuschung oder Ärger über das Ergebnis, sondern fuhr mit ihrer gewohnt kontrollierten Stimme fort: “Der Senat hat eine Entscheidung getroffen. Wir werden Vergeltung üben.”

“Das hätte nicht dermaßen schwierig sein sollen”, bemerkte Eryn leise, während sich um sie herum das übliche Gemurmel erhob. “Es war eine ziemlich offensichtliche Entscheidung, wenn du mich fragst.”

Enric zuckte mit den Schultern. “Von deinem Standpunkt aus mag sie offensichtlich sein, aber wir sollten nicht vergessen, dass wir uns immer noch in einem Land befinden, das schon lange keine Kriegsvorbereitungen mehr für nötig gehalten hat und daher kaum erpicht darauf ist, in so kurzer Zeit einen weiteren Krieg zu beginnen. Das Ergebnis ist eigentlich ein gutes. Ein klares Bekenntnis statt einer knappen Entscheidung.” Als Torke’nas Stimme über das Getümmel hinweg ertönte, um zu verkünden, dass die Versammlung nun beendet sei, stand Enric auf. “Komm, lass uns sehen, wie die Triarchie weiter vorgehen will. Ich denke, dass wir in den kommenden Nächten nicht viel Schlaf bekommen werden. Es gibt eine Menge vorzubereiten.”

Er wollte die wenigen Stufen zu Malriel hinabsteigen, die immer noch im Kreis stand, umgeben von mehreren Senatoren.

“Lord Enric, Lady Eryn”, veranlasste eine vertraute, schneidende Stimme sie, sich umzudrehen. König Folrin bedeutete ihnen, sich ihm zu nähern. “Die Triarchie wird Euch in Kürze über unser nächstes Treffen informieren. Ich schlage vor, dass Ihr in der Zwischenzeit zu Eurer Residenz zurückkehrt.”

Beide sahen ihn verdutzt an.

“Ist alles in Ordnung?” fragte Eryn vorsichtig.

“Gewiss, meine Lady. Ich verabschiede mich für den Moment von Euch.” Damit wandte er sich ab und schritt auf die Triarchie zu.

“War das eben ein Befehl?” fragte Eryn, unsicher.

“Ich denke schon, ja”, antwortete Enric langsam und sah dem Monarchen nach, wie er sich von ihnen entfernte.

“Warum schickt er uns nach Hause?” Ihre Augen verengten sich. “Er will uns aus irgendeinem Grund aus dem Weg haben.”

“Das ist durchaus möglich”, räumte ihr Gefährte ein. “Aber da wir einen Befehl erhalten haben, haben wir kaum eine andere Wahl. Komm.”

Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Residenz erreicht hatten, und Eryn seufzte erleichtert auf, als sie das Gebäude betraten und die unerbittliche Mittagshitze draußen ließen.

Ein Geräusch aus dem oberen Stockwerk ließ sie verstummen und einen Blick tauschen. Einen Moment später erwachten sie gleichzeitig aus ihrer Starre und eilten die Treppe empor, begierig zu sehen, ob ihre Ohren sie getäuscht hatten.

Das hatten sie nicht.

Direkt vor ihnen, auf den Sitzkissen, saß ihre Nichte Zahyn und spielte ein Brettspiel. Mit ihrem Cousin Vedric.

Seine Augen weiteten sich, als er seine Eltern erblickte, die ihn anstarrten, als wären sie über seinen Anblick zutiefst erstaunt.

“Da seid ihr ja!”, rief er, der Vorwurf in seiner Stimme unüberhörbar.

Eryn atmete aus und sank auf die Knie, als ihr plötzlich schwindelig wurde. “Vedric?”, flüsterte sie, als könne sie nicht glauben, dass ihr sehnlichster Wunsch soeben ohne jede Vorwarnung oder vernünftige Erklärung erfüllt worden war.

Einen Moment später wurde sie durch die Kraft von Vedrics Umarmung nach hinten gestoßen. Nur Enrics schnelles Eingreifen verhinderte, dass ihr Kopf auf dem Steinboden aufschlug. Dann war auch er auf den Knien, schlang die Arme um seine Gefährtin und seinen Sohn und fragte sich für eine kurze Sekunde, ob es sich dabei um eine Art Illusion handelte, in der er gefangen war, eine Blase, die gleich platzen würde, um ihn in einem Kerker zurückzulassen, frierend und hungrig. Das hier entbehrte immerhin jeglicher Plausibilität.

“Warum bist du hier?”, fragte er seinen Sohn, ohne von seiner Familie abzulassen.

“Weil der König gesagt hat, dass wir kommen dürfen”, berichtete er und löste seine Arme viel früher vom Hals seiner Mutter, als sie bereit war, ihn loszulassen. Stattdessen klammerte er sich nun an seinen Vater.

Eryn und Enric wechselten einen verwunderten Blick.

“Deshalb hat er uns gerade nach Hause geschickt!”, hauchte sie und fühlte sich schuldig, weil sie ihm unlautere Motive unterstellt hatte, obwohl er in Wahrheit so etwas Unglaubliches für sie getan hatte.

“Ah, da seid ihr ja!”, rief eine weitere unerwartete Stimme fröhlich.

Enric benötigte einen Moment, um sie zu erkennen, denn die Vorstellung, sie hier an diesem Ort zu hören, war eine so seltsamer Bruch mit dem für ihn gewohnten Kontext.

Langsam drehte er sich um. “Mutter?”

*  *  *

Enric lächelte über das Bild, das sich ihm bot. Pe’tala saß auf Kissen auf der Terrasse, die in den späten Morgenstunden noch im Schatten lag, und stillte ihren kleinen Jungen, der in diesem Stadium seiner Entwicklung kaum andere Prioritäten als Schlafen, Essen und… nun ja, Verdauen hatte.

Neben ihr saßen Gerit und Malriel und beobachteten das Treiben im Garten mit einem nachsichtigen Lächeln.

Seit seiner Ankunft am Vortag hatte Eryn jede einzelne Minute mit ihrem Sohn verbracht, abgesehen von dem Treffen mit der Triarchie und dem König am Abend, bei dem die weiteren Schritte bezüglich Pirinkar besprochen worden waren. In diesem Moment spielte sie mit ihm und ihrer Nichte Verstecken und verbarg sich hinter einem Gebüsch, während Zahyn einen Bereich absuchte, wo Vedric auf einem niedrigen Ast hockte und wahrscheinlich jeden Moment entdeckt werden würde.

Enric wusste, dass dieser sorglose Zeitvertreib, das ausgelassene Herumtollen, seiner Gefährtin ebenso gut tat wie den Kindern, wahrscheinlich sogar noch mehr.

“Ich habe Orrin und seine Familie eingeladen, mit uns zu Mittag zu essen”, informierte er drei der vier Frauen, die derzeit unter seinem Dach lebten. Seine Nichte nicht mitgerechnet.

Seine Mutter und sein Sohn waren nicht die einzige Familie, die der König nach Takhan hatte bringen lassen. Junar und Téa waren unter ihnen, ebenso wie Familienmitglieder der gefallenen Soldaten. Und seine eigene Gefährtin, Königin Del’na’bened von Anyueel. Heute Abend veranstaltete die Triarchie ein Bankett im Senatssaal, um die Königin gebührend willkommen zu heißen.

Zuvor jedoch mussten er und Eryn noch eine Sache erledigen, eine schwierige Aufgabe, vor der ihm regelrecht graute. Sie mussten Vyril gegenübertreten und ihr die Einzelheiten des Todes ihres Gefährten schildern. Der König hatte es auf sich genommen, sie schriftlich über Tyronts Ableben zu informieren, als er sie einlud, nach Takhan zu kommen, um seine sterblichen Überreste abzuholen, doch er hatte nicht dargelegt, wie genau sich die Dinge zugetragen hatten. Das oblag Eryn, da sie diejenige war, die es aus nächster Nähe miterlebt hatte.

Eine weitere Sache, die Enric Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Eryns Beliebtheit bei den Ordensmitgliedern zu schwinden schien, seit Etor Gart vor aller Ohren verkündet hatte, sie sei der Grund, weshalb Tyront sein Leben geopfert hatte. Ordensmagier waren trotz ihrer privilegierten Stellung nicht weniger anfällig für Klatsch und Tratsch als alle anderen Menschen. Enric hatte die Information erhalten, dass unschmeichelhafte Spekulationen und Anschuldigungen im Umlauf waren. Dass Eryn endlich einen Weg gefunden habe, den Mann loszuwerden, der sie vor Jahren gezwungen hatte, dem Orden beizutreten. Eine andere Variante war, dass sie ihrem Gefährten den Weg an die Spitze geebnet hatte. Abgesehen von der Behauptung, Enric würde seine Gefährtin für eine derart ungeheuerliche Tat benutzen, war er bestürzt darüber, dass es unter ihren Untergebenen tatsächlich Leute gab, die ihr eine solche Ehrlosigkeit unterstellten, nach allem, was sie für das Königreich und auch in diesem Krieg geleistet hatte.

All diese Anschuldigungen würden sich in Luft auflösen, sobald bekannt wurde, dass Eryn und Enric den Orden für immer verlassen und nach Takhan umziehen wollten, womit klar wäre, dass sie in keiner Weise von Tyronts Tod profitieren würden. Aber bis dahin mussten sie eine Institution leiten, in der einige ihrer Mitglieder begonnen hatten, das Vertrauen in ihre Vorgesetzten zu verlieren. Dies waren keine idealen Voraussetzungen für einen bevorstehenden Feldzug.

Er rang mit sich, ob er Eryn darüber informieren sollte. Wieder einmal sah er sich zwischen den beiden Rollen in ihrem Leben gefangen. Objektiv gesehen war sie seine rechte Hand, und er konnte ihr diese Art von Informationen nicht einfach vorenthalten, zumal sie selbst davon betroffen war. Jedoch als ihr Gefährte wusste er, welche Art von Schmerz er ihr damit bereiten würde. Diese Anschuldigungen, das wusste er, würden bei ihr auf fruchtbaren Boden fallen.

“Du siehst besorgt aus, mein Junge”, bemerkte Gerit leise und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Er zwang sich zu einem Lächeln und drückte sie. “In meiner Position gibt es immer etwas, worüber man sich Sorgen machen kann, Mutter.”

“Du zerbrichst dir doch nicht den Kopf über das Wiedersehen zwischen Eryn und Junar, oder? Ich bin sicher, dass sie sich freuen werden, einander zu treffen, egal, was zu Hause zwischen ihnen vorgefallen ist.”

Enric unterdrückte ein Seufzen. Er war nicht wirklich beunruhigt, dass es während des Essens zu Auseinandersetzungen kommen könnte, sondern eher über die Distanz und Höflichkeit zwischen den beiden Frauen. Er schob den Gedanken beiseite und weigerte sich vorerst, sich im Geiste weitere problematische Situationen auszumalen.

Er zog seine Mutter an der Hand und lud sie ein: “Ich fange jetzt an, unser Essen zu kochen. Willst du mir dabei helfen? Ich könnte dir etwas über die hiesige Küche und die Zutaten beibringen, die hier verwendet werden. Wie du weißt, ist es bei uns üblich, dass der Gastgeber für seine Gäste kocht, anstatt das den Dienern zu überlassen. Es wird als Privileg betrachtet.”

Gerit nickte eifrig. “Dann wird es mir eine Ehre sein, dir bei dieser wichtigen Aufgabe meine helfende Hand zu reichen.”

*  *  *

“Eryn! Eryn! Eryn!” rief Téa an der Treppe zum Hauptraum und rannte auf die Person zu, die sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. “Sieh dir meine neuen Kleider an! Die sehen genauso aus wie deine!” Sie wirbelte herum und demonstrierte stolz ihre neue kleidsame Eleganz, die ihr die Schnitte und Stoffe aus den Westlichen Territorien verliehen.

Eryn grinste und nickte anerkennend. “Das tun sie wirklich! Und du siehst darin sehr gut aus – fast wie eine Eingeborene mit deinem braunen Haar.”

Erfreut über das Kompliment, wandte sich Téa sofort in Vedrics Richtung und lief auf ihn zu, als wäre ihr letzter Kontakt schon Monate und nicht erst einen Tag her.

Eryn machte sich darauf gefasst, Junar zu begrüßen, jetzt, da ihre Tochter nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.

Mit einem leicht angespannten Lächeln begrüßte sie die Schneiderin und ihren Gefährten. “Junar, Orrin, ich freue mich sehr, dass ihr hier seid. Wollt ihr nicht Platz nehmen und mir sagen, was ich euch zu trinken anbieten kann?”

Junar antwortete mit einem Lächeln, das genau so herzlich aussah, wie es gemeint war – nämlich überhaupt nicht. “Und wir danken euch für die freundliche Einladung in euer reizendes Haus. Ich nehme ein Glas von dem gelben Saft, wenn du welchen hast.”

“Wasser für mich”, fügte Orrin hinzu, ein wenig resigniert, als hätte er auf eine etwas weniger zurückhaltende Begrüßung zwischen den beiden Frauen gehofft.

Eryn teilte dieses Gefühl bis zu einem gewissen Grad. Ihre eigenen früheren Versuche, sich Junar zu nähern, waren mehrmals zurückgewiesen worden, so dass sie nicht wirklich die Kraft hatte, diesen in ihren Augen vergeblichen Kampf fortzusetzen. In letzter Zeit hatte es so viele Kämpfe gegeben, und es würde wahrscheinlich noch mehr geben, sobald sie sich nach Pirinkar wagten. Sie hatte keinerlei Lust, sich in einen weiteren Konflikt zu stürzen, der so wenig Aussicht auf Erfolg bot. Und Junar schien nicht genug Freude darüber zu empfinden, Eryn lebendig und gesund wiederzusehen, um den Groll zu überwinden, den sie während des vergangenen Jahres angesammelt hatte.

Plötzlich fühlte sich Eryn des Ganzen überdrüssig. Nach allem, was sie in letzter Zeit durchgemacht hatte, schien dies eine so unbedeutende, unnötige Sache zu sein, mit der sie sich nicht belasten wollte. Sie würde Junar die angemessene Höflichkeit und Gastfreundschaft erweisen, und sei es nur um Orrins willen. Junar hatte aus irgendeinem Grund beschlossen, dass sie keine Freunde mehr sein konnten, und sich sogar geweigert, den Grund dafür zu nennen, also würde Eryn es akzeptieren und keine Energie mehr darauf verschwenden, sich darüber zu grämen. Junar hatte sich von einer guten Freundin in jemanden verwandelt, dem sie einst nahe gestanden hatte, aber nicht mehr als das. Damit war sie eine Person weniger, die sie nach ihrem Weggang von Anyueel vermissen würde.

Sie spürte, wie diese Entschlossenheit, diese Bereitschaft, etwas zu akzeptieren, was sie bisher als unreifes und unfaires Verhalten abgelehnt hatte, ihr das Herz etwas leichter werden ließ, und sie fand, dass es nun etwas weniger beschwerlich war, Junar anzulächeln, als sie ihr das Getränk servierte.

“Was ist denn mit euch beiden los?” flüsterte Pe’tala, als Eryn sich neben sie auf die Kissen gesetzt hatte, scharfsinnig wie eh und je.

“Manche Dinge dauern einfach nicht für immer an”, antwortete ihre ältere Schwester leichthin, nicht gewillt, diese private Angelegenheit vor so vielen Anwesenden zu diskutieren. Nicht, dass Pe’tala, neugierige Nervensäge, die sie war, aufgeben würde.

Enric kam aus der Küche und brachte einen Stapel leerer Schüsseln.

Er grüßte die Neuankömmlinge und runzelte dann die Stirn. “Wo ist Vern?”

“Er untersucht die Gefangenen um festzustellen, ob sie medizinische Versorgung benötigen”, erklärte Orrin. “Viele von ihnen sind von der Hitze etwas überwältigt. Er sollte in Kürze zu uns stoßen.”

Valrad und Malriel betraten den Raum und trugen jeweils eine dampfende Schale zu dem niedrigen Tisch inmitten der Kissen, bevor sie ebenfalls Platz nahmen und die Gäste mit einem Lächeln begrüßten.

“Junar”, begrüßte die Triarchin sie, “wie schön, dich nach all dieser Zeit wiederzusehen. Téa hat sich zu einer so lebhaften jungen Dame entwickelt. Es wärmt mir das Herz, sie in diesen entzückenden Kleidern zu sehen, die du ihr genäht hast und die an ihren Geburtsort erinnern.”

Téa stürmte in diesem Moment auf ausgesprochen undamenhafte Weise in den Raum, als sei sie entschlossen, Malriel zu beweisen, dass ihre Einschätzung nicht der Wirklichkeit entsprach. Sie klatschte aufgeregt in die Hände, als sie die Schüsseln entdeckte, und rief über ihre Schulter: “Vedric, komm! Das Essen ist endlich fertig! Es wird auch Zeit!”

Sie erweckte den Anschein, als hätte sie schon eine Ewigkeit gewartet, obwohl sie tatsächlich gerade erst eingetroffen war.

Pe’tala, die sich bei spitzen Bemerkungen kein Blatt vor den Mund nahm, wenn sie es für angemessen hielt – was in jeder gegebenen Situation eher die Regel als die Ausnahme war – zog die Augenbrauen hoch. “Charmant. Téa, ich bitte dich zu bedenken, dass jemand Zeit und Energie aufgewendet hat, um für dich ein schmackhaftes Essen zuzubereiten. Dankbarkeit wäre also eine angemessenere Reaktion als sich darüber zu beschweren, dass es nicht schon auf dem Tisch stand, als du eingetroffen bist.”

Eryn war hin- und hergerissen zwischen der Zustimmung zu Pe’talas Direktheit und der Unruhe angesichts der Reaktion, die dies auslösen würde. Junar war nicht unbedingt jemand, der in der Vergangenheit besonders gut auf Kritik am Verhalten ihrer Tochter reagiert hatte.

Junar antwortete mit einem schmalen Lächeln. “Danke für den Hinweis, Pe’tala. Ich frage mich allerdings, wo deine eigene Tochter im Moment ist? Ich hätte gedacht, dass jemand, der so viel Wert auf gutes Benehmen legt wie du, seinem eigenen Kind nahelegen würde, so viel Rücksicht zu üben, dass es pünktlich zu den Mahlzeiten erscheint, anstatt anderen aufzubürden, dass sie warten müssen.”

Wie aufs Stichwort kam Zahyn aus der Küche und setzte mit äußerster Vorsicht einen Fuß vor den anderen, um kein Wasser aus der Karaffe zu verschütten, die sie trug.

“Was soll ich sagen? Ich sollte mich schämen”, lächelte Pe’tala sanft und fügte dann hinzu: “Möchtest du etwas von dem Wasser, das meine rücksichtslose Tochter gerade für uns alle bringt?”

Junars Gesicht verfärbte sich rot, nachdem ihr Angriff so spektakulär fehlgeschlagen war. Alle anderen am Tisch vermieden es sorgsam, sie anzusehen.

Eryn war in einer Mischung aus widersprüchlichen Gefühlen gefangen. Sie war überrascht und bestürzt über Junars Verhalten gegenüber Pe’tala, das eindeutig allem entbehrte, was man von einem Ehrengast in den Westlichen Territorien erwartete. Zwar ließe sich argumentieren, dass Pe’tala eine Grenze überschritten hatte, indem sie ein Kind zurechtwies, das nicht ihr eigenes war. Da Junar selbst allerdings keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich selbst darum zu kümmern, hatte sich Pe’tala die Freiheit genommen, die Regeln in ihrem eigenen Haus durchzusetzen. Eryn empfand jedoch auch Bedauern für Junar, weil sie plötzlich nicht länger zu den Menschen zu passen schien, mit denen sie sich vor sieben Jahren angefreundet hatte, als sie all die Monate in Takhan verbracht hatte. Und Traurigkeit über die Feindseligkeit gegenüber Pe’tala, die als eine Art Substitut für Eryn herhalten musste.

Es war unverkennbar, dass keiner der Anwesenden von ihrem Verhalten besonders angetan war. Malhoras Lippen waren missbilligend zusammengepresst, Valrad strahlte Unbehagen aus, Malriel verbarg ihre Bestürzung hinter einer höflichen Maske, Rolan hatte ein plötzliches Interesse an seinem Getränk entwickelt, Gerits Stirn war in Sorgenfalten gelegt, und Orrin wirkte hilflos – ein Gefühl, das er verabscheute. Und dann war da noch etwas anderes. Zorn, der Eryns Brust von innen her erwärmte. Allerdings nicht ihr eigener.

Sie sah zu Enric, der das Essen austeilte. Es gab kein sichtbares Zeichen einer Emotion, keine Anspannung in seinen Schultern, kein Zucken der Lippen oder zusammengekniffene Augen. Nur die ersten zarten Anzeichen in ihrem Kopf, dass das Geistesband sich allmählich wieder etablierte. Schade nur, dass dies die erste Emotion war, die sie durch die Verbindung wahrnahm.

Vedric kletterte über die Kissen, um sich neben seine Mutter zu setzen, und grinste zu ihr hoch, glücklich, wieder mit seinen Eltern vereint zu sein. Eryn strich mit einer Hand über sein dunkles Haar und fand, dass es unbedingt geschnitten werden sollte. Viele Geschäfte hatten bereits wieder geöffnet, ebenso die Märkte. Vielleicht würde sie ihn in den nächsten Tagen zu einem Friseur bringen. Oder sie würde Enric mit ihm losschicken. Er konnte sich ebenfalls die Haare schneiden lassen und gleichzeitig etwas wertvolle Zeit mit seinem Sohn verbringen.

Das Gespräch während des Essens plätscherte gemächlich vor sich hin. Gelegentlich wurde sogar versucht, Junar einzubeziehen, die jedoch nur mit einsilbigen Antworten oder höflichem Lächeln reagierte und sich weigerte, aktiv daran teilzunehmen. Es war offensichtlich, wie deplatziert sie sich fühlte. Eryn fragte sich, ob sie dieses Beisammensein als einen Preis betrachtete, den sie für das Wiedersehen mit ihrem Gefährten zahlen musste.

Als alle mit dem Essen fertig waren, zupfte Vedric am Ärmel seiner Mutter. “Können wir bald in ein Teehaus gehen? In das, in dem du dich manchmal mit Ram’an triffst?”

Eryn lächelte. “Das würde ich gerne. Wir müssen sehen, ob es schon wieder geöffnet ist. Wenn ja, können wir morgen Nachmittag vor meinem Treffen mit der Triarchie und König Folrin hingehen.” Sie sah Junar an. “Vielleicht hat Téa Lust, uns zu begleiten? Ich könnte mir vorstellen, dass sie diese Erfahrung genießen würde.”

Junar bedachte sie erneut mit einem höflichen Lächeln. “Das ist sehr freundlich von dir, aber wenn sie möchte, werde ich sie selbst mitnehmen.”

“Was ist los mit dir, Junar?” erkundigte sich Pe’tala barsch. “Ich erkenne dich kaum wieder.”

“Du bist unhöflich, Tala”, murmelte Eryn, die nicht gewillt war, eine angespannte Situation in einen offenen Konflikt zu verwandeln. Wenn es zu einer Konfrontation mit Junar kommen musste, dann brauchte sie dafür keine Zeugen. Und ganz gewiss würde sie ihn nicht ihre Schwester an ihrer Stelle ausfechten lassen.

Doch ganz so einfach ließ sich Pe’tala nicht zum Schweigen bringen.

“Und du findest, dass mehr als eine unhöfliche Person auf einmal zu viel ist?”, erwiderte sie, verschränkte die Arme und funkelte Junar an. “Du hast genug Zeit hier verbracht, um zu wissen, welch hohen Stellenwert wir Gastfreundschaft beimessen – und was wir als angemessenes Verhalten bei unseren Gästen ansehen. Es ist keineswegs das, was du gerade an den Tag legst!”

Die drei Kinder starrten die drei Frauen abwechselnd an.

“Können wir das bitte nicht hier austragen?” zischte Eryn und wünschte, sie könnte ihre Schwester einfach mit einem Magieblitz zum Schweigen bringen und die Sache damit beenden. Damit würde sie die Situation allerdings lediglich eskalieren.

Pe’tala presste einen Moment lang die Lippen aufeinander, augenscheinlich alles andere als zufrieden, aber sie nickte. “In Ordnung, Schwester. Ich werde deine Wünsche respektieren. Für den Moment.” Ihr feindseliger Blick richtete sich wieder auf Junar. “Eryn ist mehr als einmal in die Schlacht gezogen – unter großen persönlichen Opfern, möchte ich hinzufügen – weshalb sie wahrscheinlich ein so großes Bedürfnis nach Frieden hat, zumindest in ihrem Haus. Deshalb werde ich nichts weiter sagen.”

“Ja, und dass sie in die Schlacht gezogen ist, ist auch anderen teuer zu stehen gekommen”, konterte Junar. “Frag Vyril!”

Das Schweigen, das zuvor lediglich angespannt gewesen war, wandelte sich nun zu etwas Unheilvollem.

“Verzeihung?” fragte Malriel leise.

Junar reckte ihr Kinn in die Höhe. “Jeder weiß, dass Lord Tyront noch leben würde, wenn sie nicht gewesen wäre! Jeder im Orden redet davon – dass dies ihre Chance war, ihn endlich aus dem Weg zu räumen und ein Mitspracherecht bei all den Dingen zu haben, die er verweigert hat! Ihre Chance, die Macht zu ergreifen! Die Magier haben kein Vertrauen mehr in sie, sie glauben, sie hat es mit voller Absicht getan!”

Eryn schloss die Augen und atmete tief durch, als der unerwartete schmerzliche Stich sie erschütterte. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, wie Enric mit den Zähnen knirschte und Orrin einen Blick zuwarf, der keiner näheren Deutung bedurfte. Es war ein unausgesprochener, aber dennoch klarer Befehl, seine Gefährtin sofort zu entfernen oder die Konsequenzen zu tragen. Eryn spürte, wie sein Zorn in ihr brodelte und darum flehte, herausgelassen zu werden. Sie wusste, dass dies nur ein Bruchteil dessen war, was er im Moment fühlen musste, dass das Geistesband noch nicht zu seiner früheren Stärke zurückgekehrt war.

Orrin nickte fast unmerklich, dann stemmte er sich in die Höhe. Sein Gesicht war eine starre Maske, ein Versuch, seine eigene Bestürzung zu verbergen. Obwohl Eryn nicht wusste, über wen – Pe’tala, weil sie so heftig reagiert hatte? Junar für ihr feindseliges Verhalten? Enric, weil er ihn vor die Tür setzte? Eryn aus irgendeinem anderen Grund?

“Téa, wir gehen”, informierte der Krieger seine Tochter. Seine Stimme war sanft, aber bedrohlich. Es war die Art von Stimme, die Gehorsam verlangte oder versprach, andernfalls im Handumdrehen von sanft auf durchsetzungsfähig umzuschlagen.

Seine Tochter war jedoch entweder zu jung, um auf solche Feinheiten zu reagieren, oder sie hatte einfach beschlossen, sie auf eigene Gefahr zu ignorieren und ihre eigenen Wünsche über die Anordnung ihres Vaters zu stellen.

“Ich will nicht weg!”, jammerte sie. “Wir sind doch gerade erst gekommen! Ich will draußen im Garten spielen!”

Orrin warf ihr einen langen Blick zu, aber es schien, dass die Disziplin, die er ihr einst beigebracht hatte, während seiner Abwesenheit von Anyueel und unter der nachsichtigen Obhut ihrer Mutter ihren Einfluss auf sie verloren hatte.

“Lass sie hier und geh. Sofort.” Jedes von Malhoras Worten war wie ein Peitschenhieb. “Und bring deine Gefährtin nicht noch einmal hierher zurück. Sie ist nicht länger willkommen.”

“Großmutter”, sprach Eryn ruhig und kämpfte um Fassung. Sie wollte nicht, dass die Kinder mitansehen mussten, wie Junar aus diesem Haus verbannt wurde, schon gar nicht ihre kleine Namensvetterin. “Das hier ist mein Haus. Du wirst stets willkommen sein an jedem Ort, den ich mein Zuhause nenne, aber du kannst nicht entscheiden, wem der Zutritt verwehrt werden soll.”

Enric erhob sich. Seine imposante Größe wirkte jetzt in seinem kalten Zorn noch beängstigender. “Aber ich kann es. Junar, anders als dein Gefährte und deine Tochter, bist du in meinem Haus von nun an nicht länger ein willkommener Gast.”

Junar starrte ihn an und ihre Lippen teilten sich, als wolle sie etwas erwidern, aber es kam nicht ein Wort hervor. Orrin nahm ihre Hand und zog sie mit sich zur Treppe.

“Nein – Mutter! Geh nicht!” jammerte Téa plötzlich, als ihre Eltern die Treppe hinabstiegen.

“Aber sie muss! Sie war böse!” erklärte Vedric streng mit verschränkten Armen und zeigte wenig Mitgefühl oder Erbarmen für die missliche Lage seiner Freundin. Er war sich nicht ganz sicher, was genau soeben vorfallen war, aber ihm war klar, dass es etwas Gravierendes sein musste, wenn sein Vater Junar mitteilte, dass sie nie wieder in sein Haus zurückkehren sollte.

“Sie war nicht gemein!” beharrte Téa, hin- und hergerissen zwischen den Optionen, mit ihrem Fuß aufzustampfen, um ihrer Aussage mehr Nachdruck zu verleihen, und ihren Eltern hinterherzulaufen.

“Das war sie sehr wohl!” widersprach Vedric und schrie fast. “Sie hat gesagt, meine Mutter hat Lord Tyront getötet!”

Eryns Herz raste, und sie wünschte sich, alle würden den Mund halten und ihr etwas Zeit geben, um mit dieser Situation zurecht zu kommen. Mitanhören zu müssen, wie Vedric und Téa nun denselben Streit zwischen sich ausfochten, war eine grässliche Sache.

“Vedric, ich weiß es zu schätzen, dass du mich so eifrig verteidigst. Aber es hat keinen Sinn, sich zu streiten. Das ist keine Sache zwischen dir und Téa, sondern zwischen ihrer Mutter und mir. Keine von uns möchte, dass ihr beide da hineingezogen werdet.”

Vedric stieß die beschwichtigende Hand seiner Mutter von sich und ignorierte ihre Versuche, ihn zur Vernunft zu bringen.

“Aber sie hat es getan! Jeder weiß es!” schrie Téa.

“Halt die Klappe, du Dummkopf!” brüllte Vedric und sprang auf. Einen Moment später wurde er mit voller Wucht in die Kissen zurückgestoßen, als zwei magische Blitze aus seinen Handflächen schossen, von denen einer ein Fenster zerschmetterte und der andere Téa genau an der Schulter traf, sodass sie zu Boden sackte.

Nach einem Moment entsetzter Stille, den alle Anwesenden teilten, brach hektische Betriebsamkeit aus.

Valrad beugte sich eilig zu dem Mädchen hinunter, um den Schaden zu beurteilen. Eryn zog ihren Sohn in ihre Arme und hielt seine Handflächen zu Boden gerichtet, falls seine unbändige Wut noch nicht abgeklungen war.

Hastige Schritte waren von der Treppe aus zu hören, als Orrin und Junar zurückkehrten, nachdem sie vernommen hatten, was ganz eindeutig der Einschlag eines magischen Blitzes gewesen war.

“Mein Baby!” kreischte Junar und stolperte fast über ihre eigenen Füße, als sie ihre Tochter in Valrads Armen erblickte. “Was hast du getan?”

“Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Junar, es geht ihr gut”, erklärte Valrad mit einer entspannten, sanften Stimme, die ihm seit vielen Jahren gute Dienste leistete, wenn Patienten und Angehörige beruhigt werden mussten.

Kurzerhand zog Junar ihre bewusstlose Tochter in die Arme und verließ fluchtartig den Raum. Orrin, der müde und resigniert aussah, folgte ihr, und wenig später hörten sie, wie sich die Eingangstür unten mit einem Knall schloss.

Einige Augenblicke lang saßen sie alle schweigend da und tauschten Blicke aus.

Dann seufzte Valrad. “Was für ein Zeitpunkt für deine Magie, um sich zu manifestieren, mein Junge.”

Gerit fügte mit einem zittrigen Lachen hinzu: “Genau wie sein Vater. Er schlug damals seinen jüngeren Bruder bewusstlos, und wir hatten nicht den Luxus, einen Heiler in der Nähe zu haben, so dass wir uns stundenlang Sorgen machen mussten, ob Noren jemals wieder aufwachen würde.”

“Sitzt nicht so herum”, forderte Malhora mit einem breiten Grinsen im Gesicht, “bringt den Wein! Wenn die Magie in einem Kind erwacht, ist das ein Grund zum Feiern!”

Rolan nickte. “Ich könnte ein Glas gebrauchen, um ehrlich zu sein. Mir ist vorhin fast das Herz stehen geblieben!”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln. Ihr war nicht nach Feiern zumute, nachdem die Feindseligkeiten zwischen ihr und Junar einen neuen Höhepunkt erreicht hatten und sie erfahren musste, dass die Mitglieder des Ordens Tyronts Tod im günstigsten Fall für ihre Schuld und im schlimmsten Fall für ihre Absicht hielten.

“Es tut mir so leid”, flüsterte Vedric, der mit geweiteten Augen auf dem Schoß seiner Mutter herumzappelte. “Ich wollte ihr nicht wehtun! Oder das Fenster zerbrechen!”

“Keine Sorge”, beruhigte ihn Eryn. “Es war ein Versehen. Du hast ihr nicht wirklich wehgetan, du hast sie nur schlafen geschickt. Und wir werden das Fenster einfach reparieren lassen.”

Er starrte stumm vor sich hin, während er sich mit dem auseinandersetzte, was er gerade getan hatte. Dann veränderte sich seine Miene und wurde nachdenklich. “Bin ich jetzt ein Magier?”

Enric setzte sich neben ihn und gab Pe’tala ein Zeichen, Platz zu machen. “Das bist du, mein Sohn. Und ein mächtiger noch dazu. Lass das, was gerade passiert ist, deine erste Lektion im Umgang mit Magie sein – benutze sie mit besonderer Vorsicht, damit niemand aus Versehen verletzt wird.”

Pe’tala grinste. “Obwohl ich das Ziel passend finde. Da die Mutter nicht im Raum war, kam das Mädchen als Empfängerin seines allerersten magischen Blitzes sicher am besten in Frage.”

Verärgert schüttelte Eryn den Kopf über ihre Schwester. “Das ist nicht witzig. Du wärst nicht so unbekümmert, wenn sein Blitz Zahyn und nicht Téa getroffen hätte. Und Téa ist kaum Schuld an den… Trugschlüssen ihrer Mutter.” Sie sah Enric an. “Stimmt es, was Junar gesagt hat? Denken sie, ich hätte ihn getötet, um die Kontrolle über den Orden zu erlangen?”

Er zwang sich zu nicken. Auch wenn er in Erwägung gezogen hätte, ihr das zu verschweigen, um ihr den Schmerz zu ersparen, brachte er es nicht über sich, sie auf ihre ausdrückliche Nachfrage hin anzulügen. “Einige scheinen das zu glauben, ja.”

Sie schluckte. “Und warum hast du es bisher versäumt, mir diese Kleinigkeit mitzuteilen? Warum wurde ich mit einer solchen Tatsache völlig unvorbereitet konfrontiert?”

“Ich hatte vor, es dir zu sagen, bevor wir uns auf den Weg zu Vyril machen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir jemand zuvorkommt und du es auf diese Weise erfährst.” Er sah Vedric an und lächelte. “Wir werden anfangen müssen, die Kontrolle über deine Magie zu trainieren. Du wirst ein ungeheuer mächtiger Magier sein, doch mit großer Kraft kommt auch große Verantwortung.”

Vedric nickte und rümpfte die Nase. Verantwortung. Schon wieder dieses Wort. Er wusste in etwa, was es bedeutete – und dass es Schuld daran war, dass viele vergnügliche Dinge ruiniert wurden und er einige unangenehme Dinge ertragen musste. Zum Beispiel, sich zu entschuldigen. Was in der Regel die unangenehme Folge davon war, dass er sich etwas Vergnügliches gegönnt hatte – und somit traf es ihn gleich doppelt.

“Es hätte weitaus schlimmer kommen können”, bemerkte Rolan mit einem für ihn ungewöhnlichen Anflug von Optimismus. “Er hätte stattdessen den König ausschalten können.”

Enric nickte. “Da hat er nicht ganz Unrecht.” Er stand auf und streckte die Hand nach seinem Sohn aus. “Komm mit mir in den Garten, ja? Ich möchte dir gerne ein paar Dinge zeigen.”

Er empfand ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit, als er die kleine, warme Hand seines Sohnes in der seinen spürte und mit ihm zur Terrassentür ging.

An den Vorfall, den seine Mutter erwähnt hatte, erinnerte er sich noch gut. Nachdem er seine Magie mehr als zwei Jahre lang im Verborgenen hielt, hatte er bei diesem einen Mal die Kontrolle über sie verloren und damit bei seinen Eltern und allen anderen in seiner Umgebung Panik und Angst ausgelöst. Angst vor dem, wozu er noch fähig sein mochte. Sein Vater hatte ihn angebrüllt, dabei aber einen Abstand gewahrt, den er fälschlicherweise für sicher hielt. Und ihn in sein Zimmer eingesperrt, bis die Kutsche aus der Stadt eintraf, die Enric zum Orden der Magier brachte und ihn im Alter von zwölf Jahren seinem Zuhause entriss. Es war ein alles andere als harmonisches Zuhause und ein sicherer Hafen, aber das einzige, das er damals gekannt hatte.

Für seinen eigenen Sohn würde alles ganz anders verlaufen, und er dankte den Sternen, dass Vedrics Magie in einer Situation zum Vorschein gekommen war, in der er von Menschen umgeben war, die ihn liebten und Erfahrung mit solchen Dingen hatten. Und er war froh, dass es genau zu diesem Zeitpunkt geschehen war, kurz nach dem Wiedersehen mit seinen Eltern, so dass sie für ihn da sein und ihn in diesem wichtigen Lebensmoment anleiten konnten.

Anders als Enric selbst würde Vedric nicht gezwungen sein, sich jahrelang zu verstecken und sich zu fragen, was genau mit ihm nicht stimmte. Er würde lernen, mit seiner Magie umzugehen, sich das Wissen aneignen, das er brauchte, um sie richtig zu nutzen – und das alles, ohne von seinen Eltern getrennt und gezwungen zu werden, sich einer Institution anzuschließen, die in ihm in erster Linie einen Aktivposten für den Krieg sah.

Er setzte sich ins Gras, klopfte auf einen Platz neben sich und wartete, bis Vedric seinem Beispiel gefolgt war. Das erste, was er seinem Sohn beibringen würde, war nicht das Errichten von Schutzschilden. Oder seine Muskeln für Stärke oder Schnelligkeit zu verstärken. Das Erste, so beschloss er, würde etwas Unterhaltsames sein. Etwas, bei dem er sich nicht zurückzuhalten brauchte.

Er hob die Hand und ließ einen Blitz aus Magie in die Luft steigen. Einen Moment später explodierte er. Da es Tag war, waren die berstenden Lichter vor dem hellen Himmel noch nicht zu erkennen. Das würde sich in der Nacht ändern. Dann würde das, was jetzt nur ein lautes Geräusch erzeugt hatte, eine hübsche Lichteruption sein, die einem kleinen Jungen große Freude bereiten würde.

Vedric sah mit großen Augen zu. “Kann ich das auch?”

Enric lächelte. “Ich weiß es nicht. Kannst du?”

Kapitel 3

Schwierige Gespräche

Neben seinem eigenen Unbehagen spürte er durch ihr Band auch Eryns noch ausgeprägteres. Er war unendlich froh, dass ihre Verbindung mit jeder Auflösung und Wiederherstellung ihres Bandes schneller zurückkehrte, als würde ein fehlendes Stück in ein Loch mit genau der richtigen Form zurückfallen – mühelos und ohne Reibung. Doch in diesem Moment beschloss er, sich besser abzuschirmen.

Enric selbst hegte immer noch Schuldgefühle wegen Tyront. Nach zwei Jahrzehnten Freundschaft – mit gelegentlichen Spannungen – waren die jüngsten Entwicklungen nicht eben förderlich für ihre Beziehung als Ganzes gewesen. Aber vor Eryns Ankunft in der Stadt hatte es auch nicht allzu viel Anlass für Streit gegeben. Tyront war ein eifriger Akteur des politischen Spiels gewesen, um seine Machtbasis zu erhalten und auszubauen, während sich Enric in dieser Hinsicht nur im erforderliche Minimum involviert hatte, um seine Aufgaben in einem Amt erfüllen zu können, das er nie angestrebt hatte. Enric hatte seine Befriedigung in seinen geschäftlichen Unternehmungen als Gegengewicht zu den trockenen politischen Intrigen gesucht, so dass die beiden Männer nie wirklich Widersacher in diesem Machtspiel gewesen waren. Das war für eine harmonische Beziehung zweifellos förderlich gewesen. Enric hatte keinerlei Ambitionen zur Übernahme des Ordens gehegt – ganz im Gegenteil. Es gab gewisse Freiheiten, die er sich nur leisten konnte, weil die volle Verantwortung für den Orden auf anderen Schultern als seinen eigenen lastete.

Tyront hatte auf Maßnahmen zurückgegriffen, vor allem in Bezug auf Eryn, die seine und Enrics Freundschaft nachhaltig beeinträchtigt und sie am Ende sogar so weit geschwächt hatten, dass nicht mehr viel von ihr übrig geblieben war. Doch seine letzte Tat, das Opfern seines eigenen Lebens, um das ihre zu retten – wie dumm auch immer die Entscheidung gewesen sein mochte, sie in diese Schlacht überhaupt erst mitzunehmen – hatte ihn in Enrics Augen von allem entlastet, was er sich vorher ihr gegenüber hatte zu Schulden kommen lassen.

Er versuchte, sich einzureden, dass es möglicherweise am besten war, so wie die Dinge jetzt standen. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, wie Tyront darauf reagiert hätte, wenn ihm die Verantwortung für den Orden entzogen worden wäre. Welche Erklärung sich der König auch immer einfallen hätte lassen, um die Öffentlichkeit in dem Glauben zu lassen, es handele sich um etwas anderes als einen Vertrauensentzug, für Tyront wäre es jedenfalls eine enorme Schande gewesen, das erste Oberhaupt zu sein, das auf diese Weise abgesetzt wurde. Es hatte in der Vergangenheit Attentate auf Ordensführer gegeben, sei es durch Ratsmitglieder, ehrgeizige Untergebene oder sogar Könige. Doch kein einziger Ordensführer war jemals seines Kommandos enthoben worden und durfte – oder war wohl eher gezwungen – am Leben bleiben, um einer Zukunft ohne die gewohnte Macht entgegenzusehen. Zumindest nahm Enric an, dass König Folrin die Absicht hatte, Tyront am Leben zu lassen. Er wollte glauben, dass sie alle nun in zivilisierteren Zeiten lebten.

Eryns eigene Beziehung zu Tyront, so wusste Enric, war schon immer zwiespältig gewesen. Wie ein Pendel waren die Spannungen zwischen den beiden zeitweise so gut wie nicht vorhanden, nur um bei der nächsten Gelegenheit wieder in die Höhe zu schnellen. Genau wie Enric selbst war auch Tyront zunächst einer ihrer Bewacher, und die Tatsache, dass er die Institution geleitet hatte, der beizutreten man sie gezwungen hatte, hatte ihren Eindruck diesbezüglich im Laufe der Jahre nur verändert, jedoch niemals wirklich aufgelöst. Tyront hatte sie zwar hin und wieder beschützt, aber nur in dem Maße, wie es seinen eigenen Zielen diente. Wenn es stattdessen in seinem Interesse lag, sie zu benutzen, dann hatte er genau das getan.

Doch es lag nicht in Eryns Natur, einen Groll gegen einen toten Mann zu hegen, um ihre eigenen Schuldgefühle in Bezug auf die Umstände seines Todes zu mildern. Enric wünschte, sie würde nur dieses eine Mal diesen Weg wählen, um sich ihr eigenes Leben ein wenig leichter zu machen. Doch gleichzeitig wusste er, dass dies völlig untypisch wäre und wahrscheinlich ein noch größerer Grund, sich um sie zu sorgen.

Sie kamen zum Stehen und starrten auf die Tür der Botschafterresidenz, in der sich sowohl das Königspaar als auch Vyril aufhielten.

“Jemand sollte anklopfen”, meinte Eryn.

“Ja, ich nehme an, das würde helfen”, erwiderte er, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, den Worten die Tat selbst folgen zu lassen.

Sie hörten Schritte von drinnen, dann wurde die Tür aufgezogen, und Kilan sah sie mit ernster Miene an.

“Wollt ihr reinkommen, oder braucht ihr noch eine Minute?”, fragte er sanft, sichtlich im Wissen um ihren inneren Kampf.

“Nein, danke, wir sind bereit”, erwiderte Enric. Seine Hand auf Eryns Rücken schob sie vorwärts, so dass sie keine andere Wahl hatte, als einen Schritt nach vorne zu tun. Auch wenn Kilan ein langjähriger Freund war, so war er doch im Moment noch ein Untergebener, was bedeutete, dass es nicht angebracht war, in seinem Beisein Schwäche zu zeigen. So weit war die Ausbildung des Ordens in seinem Denken noch präsent.

“Wie geht es ihr?” murmelte Eryn, wohl wissend, dass sie damit nicht die intelligenteste aller Fragen stellte.

“Gefasst”, antwortete der Botschafter, “ruhig.” Er ging voraus und die Treppe hinauf. “Sie erwartet euch in meinem Arbeitszimmer.” Er hielt inne und drehte sich um. “Bedient euch ruhig aus dem Schrank, falls ihr einen steifen Drink braucht.”

Enric drückte Kilans Schulter, dann legte er die letzten Schritte bis zur Tür des Arbeitszimmers zurück und klopfte.

“Kommt herein”, antwortete Vyrils gedämpfte Stimme.

Sie folgten der Aufforderung und schlossen die Tür hinter sich wieder. Vyril stand vor dem Fenster und blickte hinaus, ohne sich umzudrehen. Trotz der Wärme war sie in eines ihrer Kleider aus Anyueel gewandet. Sie besaß keine Kleidung, die für das Wüstenklima geeignet war, doch Junar hätte ihr gewiss umgehend etwas genäht, hätte Vyril darum gebeten. Aber im Moment hatte sie andere Sorgen als ihre Garderobe.

Enric und Eryn standen vor dem Schreibtisch und warteten schweigend, bis Vyril bereit war, sich ihnen zuzuwenden. Zwei weitere Minuten verstrichen, bis sie sich schließlich zu ihnen umdrehte.

Ihr Gesicht wirkte blass und hager, als hätte sie sich seit dem Erhalt der schrecklichen Nachricht nicht wirklich um regelmäßige Nahrungsaufnahme gekümmert. Sie sah erschöpft und unsagbar traurig aus, doch ihre Augen waren trocken. Möglicherweise waren keine Tränen mehr übrig.

Eryn spürte, wie ihre eigenen Augen zu brennen begannen. Sie würde nicht weinen, schwor sie sich. Sie würde Vyril nicht in die unmögliche Lage bringen, jemand anderen trösten zu müssen, während sie selbst von Trauer überwältigt war.

“Ich bin froh, euch beide zu sehen”, begrüßte Vyril sie schließlich mit rauer Stimme, die klang, als sei sie in letzter Zeit nicht oft benutzt worden. Sie räusperte sich. “Ich weiß, es muss schwer für euch sein, hier zu stehen.”

Sie lächelte und trat auf Enric zu, wobei sie ihre Hand an seine Wange legte. “Er war so stolz auf dich. Auf den großartigen Mann, zu dem du dich entwickelt hast. Gegen Ende waren die Dinge zwischen euch beiden nicht mehr so, wie sie einmal waren, aber ich möchte, dass du weißt, dass er in dir den Sohn gesehen hat, der ihm niemals vergönnt war. Du hast es geschafft, eine Leere in seinem Herzen zu füllen, als wir nicht in der Lage waren, eigene Kinder zu haben. Er war nicht immer sanft zu dir, manchmal sogar grausam, aber ich weiß, dass das nicht seiner wahren Natur entsprach. So wurde er selbst erzogen und ausgebildet. Der ewige Kampf um die Macht war das, was ihm als würdige Aufgabe für sein Leben vermittelt worden war. Aber dank dir hatte er begonnen zu verstehen, dass es noch mehr als das gab. Du hast ihn dazu gebracht, über Dinge, die er für in Stein gemeißelt gehalten hatte, hinauszuschauen.”

Enric schloss die Augen und drehte seinen Kopf leicht, damit er ihre Handfläche küssen konnte. “Es tut mir so leid, Vyril”, murmelte er, unfähig, mit bedeutsameren Worten aufzuwarten. Was konnte man auch sagen? Die Worte klangen selbst für seine eigenen Ohren banal, doch ihm fiel nichts ein, das seine wahren Gefühle angemessener zum Ausdruck gebracht hätte.

Vyril zog ihre Hand zurück und sah Eryn an. “Und du, meine Liebe, warst seine größte Herausforderung. Er war so froh, dass Enric eine so tiefe Bindung zu dir aufgebaut hat, und machte sich Sorgen, ob du das mit der Zeit erwidern würdest. In einer Welt, in der die Erlangung von Informationen nur eine Frage der Fähigkeit ist, mit Gold zu bezahlen, hast du es geschafft, ihn zu überraschen. Regelmäßig. Er gab stets vor, über jede einzelne deiner Entdeckungen oder Ideen beunruhigt zu sein, aber in Wahrheit liebte er sie, weil sie ihn dazu zwangen, seinen wendigen Verstand richtig zu gebrauchen, während er normalerweise durch die Leitung des Ordens unterfordert war. Nach so langer Zeit war dies für ihn kaum mehr als Routine. Ich habe ihn nie so lebendig erlebt wie in der Zeit seit deiner Ankunft in der Stadt. Ich weiß, er hatte eine seltsame Art, es zu zeigen, aber er schätzte dich sehr. Ich will nicht sagen, dass deine regelmäßigen Abwesenheiten nicht förderlich dafür waren, die Lage zwischen euch beiden zu entspannen, aber nach ein oder zwei Monaten begann er schon, euch beide zu vermissen und freute sich auf eure Rückkehr.”

Eryn spürte, wie das Festhalten an ihrem Vorsatz, nicht zu weinen, fast unmöglich wurde, und verschloss kurzerhand ihre Tränenkanäle mit Magie. Sie hatte mit Wut, unvorstellbarem Kummer, Vorwürfen, vielleicht sogar mit Nichtbeachtung gerechnet, doch die Güte, mit der Vyril ihnen begegnete, war so viel schwerer zu ertragen. Schließlich musste sie von den Gerüchten gehört haben.

“Es ist nicht wahr, was sie sagen”, flüsterte Eryn, “ich wollte nicht, dass er ums Leben kommt.”

Vyril nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und trat einen Schritt näher, so dass sich ihre Stirne berührten. “Ich weiß, Kind. Wer so etwas behauptet, hat keine Ahnung, wer du bist und wofür du stehst. Damals hättest du nicht einmal diese Apotheker hinrichten lassen. Ich weiß, du wolltest nie, dass er stirbt, nur um dich vom Einfluss des Ordens zu befreien.”

Eryn verspürte bei diesen Worten eine so tiefe Erleichterung, dass ihre Knie nachgeben wollten.

Vyril trat einen Schritt zurück und ging auf einen Stuhl zu, auf den sie sich setzte. Eryn bemerkte das Glas auf der Fensterbank, das halb voll war mit etwas, das wie ein starkes Getränk aus dem Schrank aussah, den Kilan ihnen angeboten hatte. Eryn nickte in Richtung des Glases.

“Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich…?”

Vyril schüttelte den Kopf. “Nein, Liebes. Bediene dich. Ich selbst bin im Moment jenseits von solch belanglosen Sorgen wie der richtigen Tageszeit zum Trinken. Ich fürchte, ich bin im Begriff, in eine eher ungesunde Gewohnheit zu verfallen, aber im Moment kümmert mich das wenig.”

Sie gab Enric ein Zeichen, er möge ihr das Glas von der Fensterbank reichen, und er folgte der Aufforderung bereitwillig.

Sie starrte auf den kunstvoll geknüpften Teppich an der Wand und fuhr fort: “Wisst ihr, wenn ich zurückblicke, dann habe ich vermutlich nicht damit gerechnet, Tyront lebend wiederzusehen, nachdem er an Bord dieses Schiffes gegangen war.”

Die Worte ließen Eryn mitten im Einschenken erstarren. Was?

Enrics Augen verengten sich, aber keiner von beiden drängte sie zum Weitersprechen. Sie würde fortfahren, sobald sie dazu bereit war.

Vyril blickte zu Enric auf. “Er wusste von den Plänen des Königs, ihn zu ersetzen.” Sie nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Glas. “Nicht offiziell, natürlich. Es war alles Teil des Spiels, das die beiden seit mehr als zwanzig Jahren spielten. König Folrin versteckte Informationen, von denen er wollte, dass Tyronts Spione sie finden, an einem Ort, der nicht gerade offensichtlich oder leicht zugänglich war, wo sie aber dennoch von Leuten mit den Fähigkeiten, für die Tyront bezahlte, gefunden werden konnten.” Sie lächelte schwach. “Der König hatte sogar vor, Tyront selbst auf sein Amt verzichten zu lassen, damit er sein Gesicht nicht verliert. Dann hätte Tyront das Leben wählen können, das er sich gewünscht hätte. Er hätte um Kilans Position als Botschafter in Takhan bitten oder ein Berater des Königs werden können. Oder einfach einen Platz auf dem Lande wählen können, um ein Leben weit abseits all dieser Verpflichtungen und politischen Spiele zu genießen. Aber das war nicht Tyront. Er sah nur die Schande darin, ersetzt zu werden, damit leben zu müssen, als unzulänglich betrachtet zu werden.”

Eryn schloss die Augen. Tyront war sich dessen also wahrhaftig bewusst gewesen. Und Vyril schien zu glauben, dass er den Krieg als bequemes Mittel zum Selbstmord benutzt hatte. Auf eine Weise, die kein schlechtes Licht auf seine Gefährtin werfen würde. In der Schlacht fallen. Mit all dem Ruhm, den die Menschen mit dieser Art von Tod zu verbinden pflegten. In der Schlacht gefallen, vom Feind niedergestreckt, sein Leben für genau das hingegeben, wofür der Orden ursprünglich gegründet worden war.

“Er hätte nicht gewollt, dass die Leute dir die Schuld an seinem Tod geben, Eryn, oder dass sie über solch unschmeichelhafte und völlig unwahre Motive spekulieren. Leider neigen die Menschen dazu, Fakten zu ignorieren und versäumen zu bedenken, dass sie nicht im Besitz von allem sind, was wissenswert ist. Stattdessen schenken sie eifrig jeder Unterstellung Glauben, die gerade den größten Unterhaltungswert hat. Der Orden ist da keine Ausnahme – egal wie groß seine Anstrengungen sind, die Magier auszubilden.”

Eryn schluckte bei der Bemerkung, dass Ordensmagier kaum mit dem Ziel ausgebildet wurden, ihnen eigenständiges Denken beizubringen, sondern eher mit dem Wissen, das sie brauchten, um nützliche – und vor allem gehorsame – Werkzeuge zu sein.

“Die Tatsache, dass sie ihren Fehler erst erkennen werden, wenn ihr beide den Orden verlassen habt und gänzlich nach Takhan umgezogen seid, ist im Moment natürlich ein schwacher Trost für euch”, fuhr Vyril fort. “Leider könnt ihr es ihnen jetzt nicht mitteilen, denn das sähe aus, als würdet ihr den Orden in einer Zeit der Not im Stich lassen. Ich habe gehört, dass ihr gegen Pirinkar marschieren werdet. Dafür seid ihr auf die Loyalität des Ordens angewiesen. Sie über eure Rolle bei Tyronts Tod spekulieren zu lassen, ist immer noch das kleinere Übel anstatt ihnen zu sagen, dass ihr im Begriff seid zu gehen.”

Enric beobachtete Vyril neugierig. Seit er sie kannte, hatte sie es immer vermieden, sich zu den politischen Vorgängen rund um den Orden zu äußern. Er – das große strategische Genie, für das ihn die Leute und bis zu einem gewissen Grad auch er selbst hielten – hatte den Fehler gemacht, zu glauben, dass sie entweder nicht interessiert war oder dass Tyront sie so gut behütet hatte, dass sie kaum mit den Geschehnissen um sie herum in Berührung kam. Aber ihre einsichtsvollen Worte soeben hatten ihn eines Besseren belehrt – sie war weder uninformiert, noch unfähig, etwas beizutragen. Sie hatte sich lediglich dafür entschieden, nichts beizusteuern – trotz ihrer Fähigkeit, die Vorgänge mit so wenig offensichtlicher Anstrengung treffend zu analysieren.

Er bedauerte, dass er sich irgendwie nie die Zeit genommen hatte, sie genauer zu betrachten, mehr in ihr zu sehen als die Frau in Tyronts Schatten, die ihm ein angenehmes Heim bieten wollte, in das er sich nach einem weiteren Tag anstrengender Ordensarbeit zurückziehen konnte. Sie war die besonnene, wohlberatene Art von Frau, die immer unterschätzt wurde, weil sie so ruhig war, obwohl sie es sicherlich wert war, dass man ihr zuhörte. Allerdings bot das Königreich Anyueel kaum ein Umfeld, in dem intelligenten Frauen auf einer Ebene Gehör geschenkt wurde, auf der sie Einfluss auf die Staatsgeschäfte hatten. Zumindest nicht direkt. Ihre einzige Chance, etwas beizutragen, bestand darin, auf eher verborgene Maßnahmen zurückzugreifen, etwa einen einflussreichen Gefährten zu finden und ihm ins Ohr zu flüstern.

Abgesehen von gelegentlichen Königinnen war Eryn die einzige Frau, der diese Art von Macht jemals zuteil geworden war, und das war allein ihrer Magie zu verdanken.

“Du brauchst dich nicht über die Art und Weise zu grämen, wie er gestorben ist, Eryn”, fuhr Vyril fort. “Es gab mehrere Aspekte. Es ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Zum einen hätte er unter keinerlei Umständen deinem Gefährten gegenübertreten wollen, nachdem er deinen Tod zugelassen hat. Zum anderen hast du einen Sohn, der auf dich angewiesen ist. Und drittens hatte er es noch nicht aufgegeben, dass Enric in Anyueel bleibt und den Orden übernimmt. Er wusste, dass dies niemals geschehen würde, sobald der Krieg erst vorbei war und ihr beide Anyueel für immer verlassen habt.” Sie sah Enric an. “Seine einzige Chance war, dich zu zwingen, den Orden schon vorher zu übernehmen, damit du erkennst, wie gut du dieser Herausforderung gewachsen bist. Er rechnete damit, dass du nicht mehr zurücktreten würdest, wenn du erst einmal an der Macht wärst.” Sie lächelte. “Dieser Plan hat nicht funktioniert, oder? Das hatte ich auch nicht erwartet. Du bist immer noch entschlossen, Anyueel zu verlassen. Ich glaube, er war so geblendet von dem, was er sich wünschte, dass er nicht bedacht hat, dass du nie wirklich Ambitionen in dieser Richtung hattest. Doch in all den Jahren warst du so gut als seine rechte Hand, dass es ihm entfallen sein muss. Er hätte es als ultimatives Versagen seinerseits betrachtet, sein Amt abzugeben, ohne seine Pflicht getan zu haben, indem er für einen würdigen Nachfolger sorgt.”

Eryn schnitt bei diesem letzten Satz eine Grimasse und warf den Kopf in den Nacken, um die starke Spirituose auf eine entschieden weniger damenhafte Weise als Vyrils zierliche Schlucke hinunterzukippen.

“Es wird einen würdigen Nachfolger geben”, erklärte sie und kümmerte sich in diesem Moment wenig darum, dass sie diese Information eigentlich nicht nach eigenem Gutdünken verbreiten sollte.

“Orrin, natürlich”, nickte Vyril, indem sie Eryn vorgriff. “Stimmt. Ich habe das Gefühl, dass Tyront ihn immer unterschätzt hat. Ich habe gesehen, wie Orrin sich einen Ruf aufgebaut hat. Nicht als ein Gegner, mit dem man auf dem politischen Spielfeld rechnen muss, als jemand, der so weit vom Alltag entfernt ist, dass seine Persönlichkeit schwer zu fassen ist, sondern als ein Mann mit Prinzipien, hart wie Stahl, unbestechlich und selbstlos. Einem solchen Mann werden die Menschen folgen. Er ist ein so enormer Gegensatz zum König.” Sie hielt einen Moment inne und blickte auf und um sich. “Obwohl ich so etwas wahrscheinlich nicht sagen sollte, da es impliziert, dass ich Seine Majestät unterstelle, er sei für weit weniger bewundernswerte Eigenschaften bekannt. Wenn es um einen Mann geht, von dem ich weiß, dass er überall Informanten hat und der in diesem Moment sogar unter demselben Dach wie ich weilt, ist man gut beraten, sich etwas besonnener auszudrücken.”

Enric ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre beiden Hände in seine. “Sag mir, was ich für dich tun kann. Ich würde alles tun.”

Sie hob ihre Hand und ließ ihre Finger durch sein goldenes, von ein paar nur aus nächster Nähe erkennbaren silbernen Strähnen durchzogenes Haar gleiten.

“Das werde ich. Obwohl du natürlich weißt, dass ich gut versorgt bin. Dafür hat Tyront gesorgt. Und der Orden würde mich auch nicht in Lumpen sehen wollen. Das wäre nicht gut für seinen Ruf. Ich denke darüber nach, aus dem Palast auszuziehen und vielleicht von nun an im Waisenhaus zu wohnen. Wenn man von Kindern umgeben ist, bleibt nur wenig Zeit, um die Gedanken schweifen zu lassen. So muss ich mich meinem Kummer nur nachts stellen, bis er irgendwann erträglich wird.”

“Du musst uns regelmäßig besuchen kommen”, schlug Enric vor. “Ich würde deine Gesellschaft sehr schätzen.”

“Das würde ich gerne. Ich habe noch nicht viel von Takhan gesehen, aber es scheint ein anmutiger und exotischer Ort zu sein. Allerdings bin ich im Moment nicht in der richtigen Verfassung, um das angemessen zu würdigen.” Sie erhob sich. “Aber ich weiß, dass ich das vielleicht in einem Jahr sein werde.”

Enric nutzte die Gelegenheit, um sich ebenfalls aufzurichten. “Werden wir dich heute Abend beim Bankett sehen?”

Vyril schüttelte den Kopf. “Nein. Ich bin zwar eingeladen, aber ich habe beschlossen, nicht zu gehen. Die Zeiten, in denen ich an solchen Anlässen teilgenommen habe, in offizieller Funktion zu sehen war, gelächelt und als Lockvogel fungiert habe, um bestimmte Leute mit irgendwelchem belanglosen Geschwätz abzulenken, damit Tyront mit anderen Leuten sprechen konnte, sind vorbei. Zumindest diesen Teil werde ich nicht vermissen. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen, wen ich vor den Kopf stoßen könnte, denn jetzt gibt es keine Konsequenzen mehr, die das politische Gleichgewicht stören oder Tyronts Pläne gefährden könnten.”

Eryn staunte über die Einblicke, die Vyril in ihr Leben an Tyronts Seite gewährte, und war dankbar dafür, dass ihre eigene Rolle an Enrics Seite sich davon so stark unterschied.

“Dann musst du uns bald bei uns zu Hause besuchen”, beharrte Eryn. “Und du musst dich von mir in ein Teehaus ausführen lassen. Ich werde dir zumindest ein paar der netteren Dinge hier zeigen und alles tun, was ich kann, um dich zu überreden, bald wieder hierher zurückzukehren.”

Vyril nickte. “Natürlich.” Es war offensichtlich, dass ihre Kräfte zu schwinden begannen und es ihr von Minute zu Minute mehr Mühe bereitete, ihre tapfere Fassade aufrechtzuerhalten. “Danke, dass ihr mich besucht habt. Wir werden uns bald wiedersehen.”

Sie verließen Kilans Arbeitszimmer und schlossen leise die Tür hinter sich. Kilan trat an sie heran und wandte sich an Eryn. “Seine Majestät fragt, ob du ein paar Minuten für ihn hast.”

“Tut er das. Und wenn ich antworten würde, dass ich in Wirklichkeit keine Zeit habe? Dass ich einfach nur von hier weg will, weil ich gerade mit der Frau gesprochen habe, deren Gefährte sein Leben gegeben hat, um meines zu retten, und dass ich ein wenig mit meinen Gedanken allein sein möchte?”, fragte sie, wohl wissend, dass es zwecklos war, doch getrieben von dem Bedürfnis, ihrer Frustration Luft zu machen.

Kilan schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. “Dann muss ich dich daran erinnern, dass die Bitte eines Königs kaum jemals eine Bitte ist, egal wie höflich er sie formuliert.”

Enric drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Ich werde im Hauptraum auf dich warten. Kilan kann mir Gesellschaft leisten. Sei vorsichtig. Du weißt, wie gerne er verwundbare Gefühlszustände für seine Zwecke ausnutzt.”

*  *  *

Noch immer erschüttert von dem Gespräch mit Vyril, betrat Eryn das Hauptschlafzimmer, das sie von ihrem eigenen Aufenthalt hier vor einigen Jahren mit Botschafter Enric von Anyueel in Erinnerung hatte. Sie würde also den Monarchen in seinem Schlafgemach aufsuchen. Großartig. Es schien, als würden sie sich nicht länger mit solch nebensächlichen Überlegungen wie Angemessenheit aufhalten. Allerdings musste sie zugeben, dass die Auswahl an Zimmern etwas begrenzt war. Vyril hielt sich immer noch im Arbeitszimmer auf, und der König wollte offensichtlich etwas Privatsphäre haben, weshalb er sich nicht im Hauptraum unterhalten wollte. Außerdem besaß die Residenz keinen richtigen Garten, sondern nur einen Innenhof, so dass auch kein Spaziergang außerhalb des Gebäudes zur Auswahl stand.

Sie klopfte an und trat ein, ohne zu warten, bis sie hineingerufen wurde. Es war kleinkariert, das war ihr bewusst, doch solche kleinen Akte der Rebellion wirkten Wunder für ihren Seelenfrieden. Vorausgesetzt, sie ereigneten sich ohne Zeugen. Andernfalls konnte es sich der König nicht leisten, ihr diesbezüglich mit Nachsicht zu begegnen, sondern musste sie entsprechend maßregeln.

“Kommt doch herein,” kommentierte König Folrin trocken, als sie die Tür hinter sich schloss. “Ich erschaudere, wenn ich daran denke, was für ein Verhalten ich von Euch zu erwarten habe, wenn Ihr nicht länger meine Untertanin seid.”

Eryn lächelte strahlend. “Da ich davon ausgehe, dass Ihr mich dann nicht länger als solche behandelt, werde ich Euch mit der gleichen Höflichkeit behandeln, die Ihr mir entgegenbringt.”

In eine vergleichsweise einfache dunkelgrüne Tunika und hellbraune Hosen gekleidet, trat er auf sie zu und musterte sie. “Ihr seht etwas verärgert aus. Ich nehme an, Euer Gespräch mit Vyril kein einfaches.” Es war keine Frage. Lediglich eine seiner kleinen Beobachtungen, die kaum Antwort oder sonstige Bestätigung erforderten.

“Was kann ich für Euch tun, Eure Majestät?”, fragte sie höflich und wollte damit signalisieren, dass sie nicht länger als unbedingt nötig zu verweilen gedachte. Dieser Tag war bis jetzt alles andere als erfreulich verlaufen, und das bevorstehende Bankett am Abend würde auch nicht gerade zu ihrer Entspannung beitragen.

“Ihr könnt mir erzählen, wie es Euch im Moment ergeht.”

Eryn verschränkte die Arme. “Weil Ihr Euch vergewissern wollt, dass ich mich in einer Verfassung befinde, die mich für Eure geplanten Manipulationsversuche empfänglich macht?”

“Euer Misstrauen verwundet mich zutiefst”, seufzte er und platzierte eine Hand auf seinem Herzen.

“Ein bisschen mehr nach rechts.”

“Verzeihung?”

“Das Herz. Entgegen der landläufigen Meinung befindet es sich nicht ganz so weit links. Es liegt mehr in der Mitte der Brust. Ich finde, darauf sollte ich hinweisen.”

Er hob eine Augenbraue. “Dann nehme ich das zur Kenntnis und bedanke mich dafür, dass Ihr die Akkuratheit meiner dramatischen Gesten erhöht habt.”

“Stets zu Euren Diensten”, erwiderte sie mit einer kleinen Verbeugung.

“Lasst uns darauf zurückkommen, wie es Euch derzeit ergeht. Wie ich höre, hattet Ihr bisher einen durchaus schwierigen Tag. Eure Auseinandersetzung mit Junar während eines Essens, das, wie ich annehme, als geruhsame Mahlzeit gedacht war, dann das unerwartete Hervorbrechen der Magie Eures Sohnes und schließlich die Begegnung mit Vyril. Letztere war, wie ich annehme, so ruhig und zivilisiert, wie Vyril sie zu gestalten vermochte. Sie ist eine wahre Lady, selbst wenn sie in ihrem Kummer ertrinkt. Und ich bin mir gewiss, dass sie sich nicht so weit herablassen würde, den Spekulationen über das Ableben ihres Gefährten Glauben zu schenken, die derzeit im Orden so populär sind.”

Eryn atmete aus. Und beschloss dann, selbst eine Frage zu stellen. Dies kam ihr langsam wie eine seiner kleinen Lektionen in politischer Strategie vor, und bei solchen Gelegenheiten erwartete er sogar, dass sie sich aktiv beteiligte.

“Ihr habt dafür gesorgt, dass Tyront erfährt, dass Ihr ihn ersetzen wollt. Warum eigentlich? Wolltet Ihr, dass er einen glorreichen Tod in der Schlacht sucht, um Euch die Mühe zu ersparen, ihn seines Amtes zu entheben?”

Der König schien diese Frage vorausgesehen zu haben. Er trat an einen kleinen, runden Tisch mit zwei bequem aussehenden Stühlen direkt vor dem Fenster. Eryn vermutete, dass der König sie herbringen hatte lassen, da Kilan vermutlich nicht die Gewohnheit pflegte, Gäste in seinem Schlafzimmer zu empfangen. Zumindest nicht die Art von Gäste, die sich lieber an einen Tisch setzen, als es sich auf dem Bett bequem zu machen.

“Das war keineswegs mein Wunsch. Doch ich kannte Lord Tyront schon lange und ahnte, dass dies die Art von Ende sein könnte, die er selbst bevorzugen würde. Die Leitung des Ordens war viele Jahre lang sein wichtigster Lebensinhalt. All seine Energie war diesem Ziel gewidmet. Ihm diese Position zu entziehen, bedeutete für ihn viel mehr, als es für, sagen wir, Euren Gefährten der Fall wäre. Lord Enric hat dem Orden nie mit der gleichen ungeteilten Aufmerksamkeit gedient wie sein früherer Vorgesetzter. Er verfolgte persönliche Interessen, zerstreute sich in zahlreichen Unternehmungen, wagte sich immer wieder in neue Gefilde, wenn er ein weiteres zu seiner Zufriedenheit gemeistert hatte oder es ihn nicht entsprechend herausforderte. Und sein Leben wurde durch seinen Sohn und seine geschäftlichen Interessen hier in Takhan zusätzlich bereichert. Anders als Lord Tyront war er also keineswegs auf den Orden angewiesen, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Beraubt man einen Mann dessen, kann ihn das in eine schwere Krise stürzen.”

“Und dennoch habt Ihr Euch entschlossen, die Sache weiterzuverfolgen, obwohl Ihr wusstet, welche Auswirkungen das haben könnte.”

“Ich wünschte, ich könnte mir den Luxus leisten, meine Entscheidungen ausschließlich auf das emotionale Wohlbefinden jedes einzelnen meiner Untergebenen zu stützen. Ihr, meine liebe Eryn, werdet mit der Zeit lernen, dass dies nicht möglich ist, wenn Ihr erst einmal Haus Aren übernommen habt. Manchmal gilt es Opfer zu bringen, um das übergeordnete Wohl zu sichern.” Er hielt inne und wartete. “Wollt Ihr nicht Platz nehmen? Oder möchtet Ihr mir zu verstehen geben, wie dringend Ihr diesen Raum verlassen wollt? Mit mir allein in meinem Schlafzimmer zu sein, beunruhigt Euch nicht, hoffe ich? Ihr könnt versichert sein, dass meine… Neigungen Euch gegenüber von vor einigen Jahren sich zu etwas gewandelt haben, das Ihr als deutlich weniger bedrohlich ansehen würdet. Und selbst wenn das nicht der Fall wäre, würden mein Respekt und meine Zuneigung zu meiner Gefährtin es mir unmöglich machen, diesbezüglich irgendwelche Handlungen zu setzen. Nehmt also Platz, damit wir unser Gespräch in einer entspannteren Atmosphäre fortsetzen können.”

Eryn setzte sich. Irgendetwas an seinen Worten verärgerte sie, aber sie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Er hatte angedeutet, dass sie dachte, er fühle sich immer noch zu ihr hingezogen. Was nicht der Fall war. Seit jenem schicksalhaften Tag, an dem er sie geküsst hatte, hatte er ihr keinen Grund zu der Annahme gegeben, dass er in ihr mehr als eine vergnügliche Zerstreuung sah.

“So eingebildet bin ich nicht”, erwiderte sie schließlich ein wenig verärgert. “Der Grund dafür, dass ich mich kurz fassen möchte, ist nicht, dass ich glaube, dass Ihr mich auf dieses Bett werfen wollt, sondern weil ich weiß, dass ich mich derzeit in einem anfälligen Geisteszustand befinde für das Spiel, das Ihr vermutlich mit mir zu spielen gedenkt.”

Er lachte. “Gut gesagt, Eryn. Es freut mich zu sehen, dass Ihr aus der Vergangenheit gelernt habt. Doch ich kann Euch versichern, dass ich nicht hier bin, um Euch für einen meiner finsteren Pläne zu benutzen. Ihr habt mein Wort.”

Eryn schürzte ihre Lippen. Sein Wort. Sie wusste, dass er es nicht leichtfertig gab, aus dem simplen Grund, weil er es sich nicht leisten konnte, es zu brechen. Sie spürte, wie sie sich ein wenig entspannte.

“Ich will nicht, dass Ihr mich für grausam und gleichgültig gegenüber dem Schicksal haltet, das Lord Tyront für sich selbst gewählt hat. Ich trauere um ihn. Wir sind nun schon seit geraumer Zeit denselben Weg gegangen. Mal waren wir Verbündete, mal Gegner. Dennoch haben wir einander stets mit dem Respekt behandelt, der dem jeweils anderen gebührte. Jeder von uns war sich bewusst, dass wir beide darauf bedacht waren, das zu tun, was wir letztlich als das Beste für das Königreich ansahen, auch wenn wir uns nicht immer über die Mittel einig waren, die letztlich zu diesem Ziel führen würden. Es war dieser Respekt vor ihm, der mich dazu veranlasste, ihn über meine Pläne zu seiner Absetzung von seinem Amt zu informieren, damit er seine Wahl treffen konnte. Ich bin mit seiner Entscheidung nicht zufrieden, will aber zugeben, das ich so etwas erwartet hatte.”

“Er hätte sich zumindest für Umstände entscheiden können, die meinem Seelenfrieden weniger abträglich sind.” Die harschen Worte entwichen Eryns Mund, bevor sie sie zurückhalten konnte. Sie schloss die Augen. “Können wir vergessen, dass ich das gesagt habe?”, fragte sie mit wenig Hoffnung, dass er ihrer Bitte nachkommen würde. Bei ihrer Ankunft hatte er sich erkundigt, wie es ihr erging, und bis jetzt war sie ihm eine Antwort schuldig geblieben. Dies war die ehrlichste Antwort, die er sich erhoffen konnte.

“Ich nehme an, das hätte er ebenfalls vorgezogen”, antwortete der König und ignorierte ihren Wunsch, ihre Worte zu revidieren. “Wie ich Lord Tyront kenne, hat er nicht einfach die erste Gelegenheit ergriffen, sein Leben zu lassen, um das Risiko, den Krieg zu überleben, zu verringern. Ich nehme an, dass er ursprünglich die Absicht hatte, mehr zum Gesamtergebnis beizutragen. Wie habt Ihr persönlich sein Verhalten in der Schlacht wahrgenommen?”

Sie benötigte einige Sekunden, um über diese Frage nachzudenken. Als sie zurückblickte, sah sie vor ihrem inneren Auge, wie er seinen Männern voran auf den Feind zugerannt war, sein Schwert im Anschlag. Er hatte sich nicht dafür entschieden, zurückzubleiben und alles von der Stadtmauer aus zu dirigieren. “Wagemutig. Bereit, Risiken einzugehen.”

“Sind das Attribute, die Euch üblicherweise in den Sinn gekommen wären, wenn man Euch vor dem Krieg aufgefordert hätte, Lord Tyront zu beschreiben?”

Ohne zu zögern schüttelte sie den Kopf. Definitiv nicht. “Nein.”

“Ein Mann, der nicht nur glaubt, dass er nichts zu verlieren hat, sondern aktiv versucht, das Überleben zu vermeiden, ist in einem Kampf wesentlich unvorsichtiger, wenn es darum geht, sich zu schützen”, wies der König auf das Offensichtliche hin. “Er hat sich nicht entschieden, sein Leben zu opfern, um das Eure zu retten, möchte ich vermuten. Er hat lediglich in der neuen Rücksichtslosigkeit für seine eigene Sicherheit gehandelt, die er sich angeeignet hatte. Ich glaube nicht, dass er die Absicht hatte, Euch mit seinem Opfer Kummer zu bereiten, weder persönlich im Sinne von Schuldgefühlen noch für Euren Ruf aufgrund von Spekulationen über etwaige Ambitionen Eurerseits, sein Leben zu beenden.”

Eryn seufzte. “Natürlich nicht.” Sie kam sich dumm vor, weil sie so etwas laut ausgesprochen hatte, sodass er es mitanhören konnte. Doch wie es gelegentlich mit solchen ungeplanten Äußerungen der Fall war, hatte sie etwas erkannt, dessen sie sich nicht bewusst gewesen war – dass neben ihren Schuldgefühlen auch ein gewisser Groll gegen Tyront in ihr brodelte. Was nicht gesund war, wenn man sich vor Augen führte, dass das Ziel dieser Gefühle verstorben war und nicht als Gegenpart für die Lösung dieses Problems zur Verfügung stand.

Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht. “Ihr seid gut mit solchen Dingen. Ihr könntet Iklan Konkurrenz machen. Solltet Ihr jemals beschließen, dass Ihr keine Lust mehr habt, ein König zu sein, wendet Euch an ihn. Ich bin sicher, er hätte Verwendung für Euch.”

“Ein wirklich verlockender Vorschlag. Ich werde ihn in Betracht ziehen, sollte ich des Regierens jemals überdrüssig werden. Die Trauer und die Schuldgefühle sind etwas, mit dem Ihr selbst zurechtkommen müsst. Doch das Problem, die Loyalität des Ordens zu bewahren, ist eine dringendere Angelegenheit, die eine sehr reale Gefahr für unseren bevorstehenden Feldzug darstellt. Wir können es uns nicht leisten, dass die moralische Integrität der Ordensführer in Frage gestellt wird. Das mindert die Bereitschaft der Soldaten, ihren Befehlen zu folgen.”

Eryn ließ den Kopf zurücksinken und starrte auf die kunstvoll bemalte Decke. Verschiedene Muster, bestehend aus komplizierten blumenartigen Ornamenten, die sich immer wieder ineinander verschlangen, bis die Augen des Betrachters zu verschwimmen begannen bei dem Versuch zu bestimmen, wo ein Element endete und das nächste begann.

“Ihr könntet Enric und mich mit unmittelbarer Wirkung aus dem Orden entlassen und Orrin sofort die Leitung übernehmen lassen”, schlug sie vor.

“Auf keinen Fall”, erwiderte König Folrin. “Das wäre weder in meinem noch in Eurem Interesse. Der Orden würde von einem weiteren Wechsel an der Spitze in einer so kritischen Phase nicht profitieren. Und es käme einem Schuldeingeständnis gleich. Schlimmer noch – entließe ich Euch aus Euren Ämtern, würde ich offen kommunizieren, dass ich Euch dessen für schuldig erachte, was so viele glauben wollen. Und das würde nicht einfach verschwinden, nachdem Ihr den Orden verlassen habt und hierher gezogen seid, ganz gleich, was Eure früheren Verdienste sind oder die Tatsache, dass Ihr ein Abkömmling von Haus Aren seid. Alles, was Ihr in den letzten Jahren erreicht habt, all das Gute, das Ihr für diejenigen vollbracht habt, die es jetzt so eilig haben, Euch zu verurteilen, wird im Angesicht der Anschuldigungen verblassen.”

Eryns Kiefermuskeln verkrampften sich. Sie wollte vor Frustration schreien. Er hatte Recht. Der Orden war Veränderungen unterworfen gewesen, die seinen Mitgliedern im Laufe der Zeit und auch in Zukunft mehr Freiheit gewähren würden – Veränderungen, für die sie selbst gekämpft hatte. Und jetzt drehten sich die Nutznießer ihrer Bemühungen bei der ersten Gelegenheit um und zeigten mit dem Finger auf sie – ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihren Ruf zerstörten, obwohl sie nicht einmal den allergeringsten Beweis vorliegen hatten.

“Es ist schmerzhaft, nicht wahr?” Die Stimme des Königs war sanft. “Das war etwas, das ich in meinen ersten Jahren auf dem Thron nur sehr schwer begreifen konnte. Gerade die Menschen, nach deren Wohlergehen man strebt, sind diejenigen, die einen am liebsten fallen sehen würden – ohne erkennbaren Grund. Sie würden einen in den Staub treten, rücksichtsloser als selbst die eigenen Feinde. Die menschliche Natur ist eine seltsame Sache, nicht wahr? Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb Haus Vel’kim nie die Führung des Landes angestrebt hat – ihre Nähe zu den Menschen aufgrund ihrer Neigung zum Heilen bringt sie in so engen Kontakt mit der menschlichen Natur in ihrer unverfälschten Form, dass sie beschlossen, dass es die Mühe nicht wert ist.”

Eryn lächelte leise. Diese Erklärung würde Valrad mit Sicherheit zurückweisen. Er würde darauf bestehen, dass die wahre Motivation hinter dieser Zurückhaltung etwas Edelmütiges war, etwa der Drang, den Menschen auf eine unmittelbarere Weise zu dienen, den Bedürftigen näher zu sein, als es der Posten eines Triarchen ermöglichte.

“Was schlagt Ihr stattdessen vor, um uns zu rehabilitieren?”

“Daran arbeite ich. Ich möchte es zuerst mit der Königin besprechen und ihre Meinung dazu hören.”

“Es freut mich zu sehen, dass Ihr das Prinzip des gemeinsamen Regierens mit so wenig Aufwand anzunehmen scheint, nachdem Ihr all die Jahre die ultimative Macht allein in Euren Händen hattet.”

Er nickte. “Ich gebe zu, das ist wahr. Aber ich denke, dass es umso einfacher ist, die Macht zu teilen, wenn man die richtige Person an seiner Seite hat. Del’na’bened passt hervorragend zu meiner Persönlichkeit und meiner Position.”

Eryn hob die Brauen. “Das ist gefährlich nahe an einer Liebeserklärung. Es ist gut, dass Malriel so gut für Euch gewählt hat.”

“In der Tat. Ich werde für immer in ihrer Schuld stehen. Obwohl ich darauf hinweisen sollte, dass die Entsendung meiner Truppen zu ihrer Hilfe sicherlich dazu beigetragen hat, diese Schuld etwas zu reduzieren.”

“Sind wir jetzt fertig? Falls nicht, ist es mir ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass es in diesem Land aufgrund der Hitze üblich ist, einem Gast etwas zu trinken anzubieten. Selbst diejenigen, die man lieber mit einer Schaufel schlüge, als sie zu bewirten.”

“Verzeiht meine Nachlässigkeit”, entschuldigte sich König Folrin und stand auf, um den Raum zu verlassen und wenig später mit einem Tablett mit einer Karaffe Wasser und zwei Gläsern zurückzukehren.

Sie nahm die Gläser und füllte beide. Nun, das beantwortete zumindest ihre Frage, ob sie fertig waren oder nicht. Aber sie hatte das Gefühl, dass er vorerst nicht weiter über Tyront sprechen wollte.

“Apropos Gäste, die man am liebsten mit einer Schaufel erschlüge, wie Ihr es in Eurer von mir so geschätzten Offenheit so treffend formuliert habt…”

Nachdem sie das Glas zur Hälfte geleert hatte, stellte Eryn es auf den kleinen Tisch. “Ihr bezieht Euch ganz offensichtlich auf Junar. Ihr habt bereits erwähnt, dass Ihr wisst, was heute Morgen passiert ist. Wer hat Euch davon berichtet? Malriel?”

Er nickte zur Bestätigung. “Ja. Sie kam vor kurzem für einen schnellen Besuch vorbei.”

“Mir war nicht bewusst, dass meine persönlichen Probleme mit einer Frau, die ich einst als Freundin betrachtet habe, eine derart wichtige Angelegenheit sind. Eine, die sogar mein König als bedeutsam betrachtet.”

“Das ist nicht mehr nur eine rein persönliche Angelegenheit, Eryn.”

Dreimal, zählte sie im Stillen. So oft hatte er sie seit ihrer Ankunft ohne ihren Titel angesprochen.

“Wie das, teuerster Folrin?”

“Weil Ihr ein hochrangiges Mitglied des Ordens seid und Junar die Gefährtin der Nummer Fünf und des Oberhauptes der Krieger ist. Der Bruch zwischen Euch ist einigen Leuten bekannt, wenn auch nicht allen. Doch so wie die Dinge zwischen Euch beiden stehen, ist dies nur eine Frage der Zeit. Und gerade jetzt ist ein schlechter Zeitpunkt, um eine solche Tatsache publik zu machen.”

Eryn öffnete den Mund, um zu fragen, wovon er genau sprach, hielt sich aber zurück. Er hatte Recht – sie hatte nicht bedacht, dass sich die Dinge seit den Anfängen ihrer Freundschaft erheblich verändert hatten. Damals war Junar eine unbekannte Näherin gewesen, ein Mitglied der Arbeiterklasse ohne jegliche Verbindungen zu den höchsten Kreisen des Königreichs. Und Eryn eine Gefangene ohne Einfluss oder auch nur die Freiheit zum Durchschreiten der Stadttore. Damals waren die Dinge persönlich. Aber jetzt waren sie viel mehr als das. Junar war mit dem Mann verbunden, der in naher Zukunft zum zweitmächtigsten Mann des Königreichs avancieren würde. Und Eryn befand sich bereits in genau dieser Position – zusätzlich zu ihrem eigenen hohen Rang. Orrin war als enger Freund und Unterstützer Eryns bekannt – und wenn Junar öffentlich ihr Misstrauen bekundete, würden die Leute sofort annehmen, dass dies auch Orrins eigene Position widerspiegelte. Wenn die Menschen dachten, sie hätte Orrins Unterstützung verloren, wäre das ein schwerer Schlag in ihrer gegenwärtigen Situation.

Eryn spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog. Von einem Moment zum nächsten war Junar plötzlich gefährlich geworden. Das Problem war, dass sie keine Ahnung hatte, wie Orrin reagieren würde, wenn bekannt wurde, dass Junar an Eryns Unschuld bezüglich Tyronts Tod zweifelte. In der Vergangenheit hatte er sich zurückhaltend gezeigt, war seinem Wunsch gefolgt, Streitigkeiten zu vermeiden, die seiner Meinung nach mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Eryn nahm ihm das nicht übel. Geteilte Loyalitäten waren eine schwierige, zermürbende Sache. Allerdings barg dies die Gefahr, dass er sich weiterhin für diesen Weg entschied, solange seine Gefährtin betroffen war.

“Ich würde ja versuchen, das zu ändern, wirklich”, flüsterte sie. “Aber ich wüsste nicht, wie. Ich habe das Gefühl, dass Junar sich schon seit einiger Zeit von mir entfernt hat, dass es kaum mehr als einer vermeintlichen Beleidigung bedurfte, um auch das letzte Band zwischen uns zu zerschneiden. Das alles ist für mich nicht greifbar, und ich habe keine Ahnung, wie ich es reparieren kann. Nach allem, was zwischen Junar und mir passiert ist, weiß ich nicht einmal, ob ich das überhaupt noch möchte.”

König Folrin beobachtete sie eine Weile, dann bot er ihr an: “Ich könnte Euch vielleicht behilflich sein, wenn Ihr es hören wollt. Zumindest, was die Ursache für die Kluft zwischen euch beiden angeht.”

Sie blinzelte. Gab es irgendetwas, für das er sich nicht interessierte oder über das er keine Informationen sammelte? Aber andererseits war ihr gerade klar geworden, dass ihre Beziehung zu Junar schon lange nicht mehr so unerheblich für ihr Umfeld war, wie sie gedacht hatte. Natürlich hatte er das frühzeitig erkannt und seine Spione entsprechend instruiert – was bedeutete, dass er inzwischen wohl im Besitz einer ansehnlichen Sammlung an Details war.

“Nur zu. Ich bin ganz Ohr”, lud sie ihn ein, resigniert darüber, dass sie nun höchstwahrscheinlich einige Neuigkeiten über ihre frühere Freundschaft erfahren würde. Es war gut, dass sie den Punkt hinter sich gelassen hatte, an dem eine solche Absurdität, wie vom König eine weitere intime Erkenntnis über sich selbst vermittelt zu bekommen, sie beunruhigt hätte.

“Die Antwort ist eigentlich recht einfach. Ich gehe davon aus, dass Ihr selbst zu gegebener Zeit darauf kommen würdet, jetzt, da Ihr Euch und Junar nicht mehr als die einzigen Akteure oder vielmehr Interessenten an Eurer Freundschaft betrachtet. Ihr wisst, in welchen Kreisen sich die Ratsmitglieder und deren Gefährtinnen bewegen. Sie zeichnen sich durch Opportunismus und somit durch das Streben nach vorteilhaften Allianzen aus. Diese reichen von lukrativen Geschäftsbündnissen bis hin zu persönlichen Beziehungen unter den Gefährtinnen der Machthaber. Sogar bis hin zu Beziehungen unter den Dienern und Zulieferern der Reichen und Mächtigen, aber das ist für den vorliegenden Fall nicht relevant. Man stelle sich nun eine Frau vor, die aus bescheidenen Verhältnissen stammt und der es durch bestimmte Umstände gelungen ist, in diese Kreise vorzudringen. In Kreise, deren elitärer Charakter naturgemäß mit einem sehr begrenzten Zugang verbunden ist. Was wäre Eurer Meinung nach eine logische Reaktion solcher Kreise auf einen Neuankömmling, den sie kaum für würdig halten, den sie aber nur schwer oder gar nicht wieder loswerden können?”

“Ablehnung”, murmelte Eryn und erinnerte sich daran, dass dies damals durchaus ein Problem für Junar gewesen war. Deshalb hatte sie bestimmte Veranstaltungen gemieden oder nur dann besucht, wenn Eryn mit ihr gemeinsam dort aufgetaucht war. Aber Eryn war gezwungen gewesen, Anyueel jedes Jahr für sechs Monate zu verlassen, was bedeutete, dass Junar allein zurückgeblieben war, anfällig für alle hinterhältigen Angriffe und Intrigen, die sich diese Frauen ausgedacht hatten. War es das, was Junar letztlich so sehr verändert hatte? Die Bitterkeit, die aus dem Gefühl resultierte, immer wieder zurückgelassen zu werden, ohne den Schutz ihrer mächtigen Freundin?

“Genau. Ablehnung erzeugt den starken Wunsch, akzeptiert zu werden, vor allem, wenn man niemanden hat, an den man sich wenden kann. Ständige Kritik und Ablehnung können dem menschlichen Geist Schlimmes zufügen. Er beginnt, den Dingen, die andere behaupten, Wahrheit zuzuschreiben. Wenn wir etwas oft genug hören, beginnen wir es irgendwann zu glauben – trotz unserer ursprünglichen Überzeugung, dass es unwahr ist.”

Eryn war dieses Konzept bekannt. Es war ein Grund, warum positive Bestätigung und Aufmerksamkeit bei der Erziehung eines Kindes so essenziell waren. Ein Kind, das wusste, dass es geliebt und anerkannt wurde, würde mit der Zeit aufblühen. Während ein anderes, das damit aufwuchs, dass ihm gesagt wurde, es sei wertlos und unzulänglich, sich zu einem Erwachsenen entwickeln würde, dessen Selbstwertgefühl genau darauf basierte.

Der Gedanke, dass Junar eine solche Behandlung erfahren hatte, ließ sie erschaudern.

Der König fuhr fort: “Als diese Frauen schließlich merkten, dass Junar gekommen war, um zu bleiben, änderten sie ihre Strategie. Nachdem sie Junar lange genug mit Unfreundlichkeit traktiert hatten, damit sie glaubte, sie hätte es verdient, war es nicht schwer, sie zu ködern. Je stärker die Ablehnung, desto stärker der Wunsch, ihr zu entkommen und als würdig angesehen zu werden. Die Möglichkeit, sich plötzlich den eigenen Angreifern anschließen zu dürfen, ist nichts weniger als ein wahr gewordener Traum.”

Eryns Herz hatte begonnen, in ihrer Brust zu hämmern. Warum hatte sie nichts von alledem mitbekommen? Immerhin war sie die Hälfte der Zeit vor Ort gewesen!

“Ah, ich kann die Frage in Euren Augen so deutlich lesen, als hättet Ihr sie ausgesprochen. Ich versichere Euch, dass es keinen Grund gibt, Euch Vorwürfe zu machen. Ihr habt die unglückliche Neigung, die Verantwortung für alles und jeden in Eurer Umgebung übernehmen zu wollen. Lasst mich Euch sagen, dass dies keine gesunde Einstellung ist. Sie waren scharfsinnig genug, um ihre Bemühungen hauptsächlich in Eurer Abwesenheit fortzusetzen. Das war die Zeit, in der Junar am empfänglichsten dafür war. Die Trennung von euch beiden war ein wichtiges Ziel. Zunächst war es ein Mittel, um Junar verwundbarer zu machen, aber mit der Zeit wurde ihnen klar, dass Orrin in der Zukunft des Ordens eine wichtige Rolle spielen würde, was bedeutete, dass auch Junars Einfluss zunehmen musste. Zu diesem Zeitpunkt diente Eure Distanzierung von Junar einem anderen Zweck – einem von ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich als enge Freundin von ihr zu etablieren, um Euch zu ersetzen und von dieser Position zu profitieren. Nach mehreren Jahren dieses Spiels bedurfte es schließlich nur noch eines geringfügigen Meinungsunterschieds zwischen euch beiden, um Junar glauben zu machen, dass alles, was man ihr über Euch erzählt hatte, wahr sei.”

Eryn knirschte mit den Zähnen und spürte, wie die Benommenheit allmählich durch Zorn ersetzt wurde. “Was haben sie ihr über mich erzählt?”

“Kleinigkeiten hier und da, zuerst nur Andeutungen, aber mit der Zeit immer dreistere Kritik und schließlich offene Lügen. Dass Ihr Junar benutzt und bei Lord Orrin platziert habt, um sie zu einem wertvolleren Werkzeug für Euch zu machen. Dass Ihr dafür gesorgt habt, dass sie schwanger wurde, um ihre Beziehung zu Lord Orrin zu festigen. Dass Ihr ihr Eure moralischen Werte aufzwingt, weil Ihr sie für nicht viel mehr haltet als für die Gefährtin Eures Untergebenen, die dankbar sein sollte für jede Führung, die sie von einem höheren Wesen wie Euch erhalten kann. Dass sie für Euch ein bequemes Mittel ist, um eine Dienerin zu behalten, die Eure Befehle ausführt und weiterhin Eure Kleider herstellt. Soll ich fortfahren? Ihr wirkt ein wenig aufgewühlt. Atmen, Eryn. Ich möchte weder, dass Lord Enric hier hereinstürmt, weil er vermutet, dass ich wer weiß was mit Euch anstelle, noch würde ich es begrüßen, wenn dieses ansprechende Gebäude mich unter sich begrübe.”

Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihre Unterlippe zitterte. Diese niederträchtigen, heimtückischen, unmöglichen Aasgeier!

“Es gibt noch etwas, was sie ihr gesagt haben. Etwas, das für sie besonders schwer zu verkraften gewesen sein muss. Man ließ sie glauben, dass Lord Orrins persönliches Interesse an Euch anfangs deutlich weniger harmlos gewesen sei, dass er Euch begehrte. Besonders hinterhältig war es, ihr mitzuteilen, dass er am Abend Eurer Verlobung sogar im Begriff war, Euch für sich zu beanspruchen. Nur das Eingreifen von Lord Tyront hat ihn davon abgehalten. Der letzte Teil von Lord Orrins beabsichtigter Intervention ist die Wahrheit – doch wie Ihr und ich wissen, geschah dies aus ganz anderen Gründen, als mit dem Motiv, Euch für sich zu gewinnen. Er erkannte lediglich, dass Ihr unter Zwang standet und wollte die Zeremonie lange genug hinauszögern, um einen Ausweg zu finden. Eine weitere Tatsache ist, dass Lord Enric eine Zeit lang ziemlich eifersüchtig auf Lord Orrin war, wie Ihr zweifellos wisst. Obwohl wir Eurem Gefährten verzeihen mögen, dass er damals von der Angst angetrieben wurde, Euch zu verlieren. Dass seine Gedanken von Eifersucht getrübt wurden, ist das, was einige Jahre später mit Junar geschah. Jede spielerische und freundliche Interaktion zwischen Lord Orrin und Euch wurde plötzlich zu einer Bedrohung für ihre Beziehung. Vor allem, als Malriel Lord Orrin bat, nach Takhan zu kommen, um Euren Sohn zu beschützen. Ihr dürft den Sternen danken, dass Vedric seinem Vater stark genug ähnelt, als dass sich glaubwürdig behaupten ließe, er sei in Wahrheit Lord Orrins Sohn. Andernfalls würde ich es diesen reizenden Damen durchaus zutrauen, Junar diesen Gedanken in den Kopf zu setzen und zuzusehen, wie er sich entfaltet. Der menschliche Verstand ist eine wunderbare Sache. Er kann im Laufe der Zeit trainiert und gezwungen werden, sich eine bestimmte Art des Schlussfolgerns und Denkens anzueignen. Aus diesem Grund neigen verschiedene Berufsgruppen dazu, ein Problem auf eine bestimmte Art und Weise anzugehen, die der Denkweise entspricht, in der sie ausgebildet wurden. Deshalb machen Euch Eure Fähigkeiten in unterschiedlichen Disziplinen zu einer so begabten Frau, Eryn. Aber vergebt mir, ich schweife ab. Ich wollte darauf hinweisen, dass Junars Verstand mit der Zeit von ganz allein auf bestimmte Verdachtsmomente gestoßen sein muss. Vormals harmlose Dinge müssen sich plötzlich in Hinweise auf ein weiteres finsteres Motiv Eurerseits verwandelt haben – jedes Grinsen eine Beleidigung, jeder vorsichtige Blick eine Kritik, jeder Witz oder Scherz, den Ihr mit Lord Orrin geteilt habt, ein Beweis für sein glühendes Verlangen nach Euch. Und so neigte sich die Waage.”

“Und warum, wenn ich so kühn sein darf, so etwas zu fragen”, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, “habt Ihr es nie der Mühe wert gefunden, mich über solche Dinge zu informieren? Warum habt Ihr zugesehen, wie eine enge Freundin von mir gegen mich aufgewiegelt wurde, anstatt mich zu warnen? War es so unterhaltsam, dabei zuzusehen? Oder profitiert Ihr in irgendeiner Weise von dem Ende meiner Freundschaft mit Junar?”

Irgendwie wurde die Liste der Leute, denen sie an den Kragen wollte, von Minute zu Minute länger. Jetzt befand sich sogar ein König auf der Liste.

“Wie hättet Ihr auf eine solche Warnung von mir reagiert, frage ich Euch?”, meinte er ruhig. “Hättet Ihr ihr sofort Glauben geschenkt? Oder hättet Ihr mich eher verdammt, weil ich Eure Freundin ausspioniert habe? Und mich beschuldigt, ihre Intelligenz zu beleidigen, indem ich ihr unterstellte, sie würde wirklich auf ein solches Komplott hereinfallen, selbst wenn es so etwas Lächerliches gäbe? Hättet Ihr von mir verlangt, dass ich meine Observierung unverzüglich einstelle? Und mein Interesse an Eurer Freundin auf meinen Wunsch zurückgeführt, Informationen zu sammeln, mit dem einzigen Ziel, Euch zu benutzen?”

Eryn wollte aus ganzem Herzen widersprechen. Es tat fast weh, wie sehr sie ihm vorwerfen wollte, dass er sich gründlich irrte. Und es tat noch viel mehr weh, dass sie es nicht konnte, weil er so absolut und vollkommen Recht hatte. Sie wäre wütend geworden, aber auf ihn und nicht auf die fraglichen Frauen. Solange ihre Freundschaft mit Junar intakt war – oder zumindest so lange, wie sie den Eindruck hatte, dass sie es war – hätte alldem keinem Glauben geschenkt.

“Nun gut, nehmen wir an, Ihr hättet Recht und ich hätte in dieser Weise reagiert. Aber eine negative Reaktion meinerseits war für Euch noch nie ein Grund, mir unangenehme Informationen vorzuenthalten. Ganz im Gegenteil. Es macht Euch Freude, mich zu beobachten und zu analysieren, vor allem in meinen weniger kontrollierten Gemütszuständen. Es muss also mehr dahinterstecken.” Sie verengte ihre Augen und starrte in die seinen. “Ihr wolltet, dass ich diesen Verlust erleide, weil Ihr glaubt, dass ich auf diese Weise meine Lektion am effektivsten lerne. Damit ich begreife, dass meine Vorstellung von der Abscheulichkeit, zu der normale, scheinbar harmlose Menschen fähig sind, viel zu naiv ist.”

“Das ist alles zutreffend”, gab der König ungerührt zu. “Doch wenngleich ich dies ursprünglich als reine Bildungsmaßnahme gedacht hatte, erfordern der Tod Lord Tyronts und der Schaden, den Junar anrichten könnte, indem sie ihr Misstrauen gegen Euch öffentlich macht, ein sofortiges Handeln von Eurer Seite.”

Eryn stieß ein hohles Lachen aus. “Gewiss. Denn vor Eurer Enthüllung war ich bereit, sie gewähren zu lassen, zu akzeptieren, dass ich nichts dagegen unternehmen kann, mich zurückzuziehen und meine Wunden zu lecken. Aber jetzt nicht mehr. Das ist nicht das erste Mal, dass Ihr meine Empörung nutzt, um mich zu lenken und zum Handeln zu bringen.” Sie erhob sich von ihrem Stuhl. “Es wird Euch freuen zu hören, dass ich zu handeln gedenke. Ich bin genau in der richtigen Stimmung dafür. Ich weiß noch, wie Ihr mir offenbart habt, mit offenen Karten zu spielen und trotzdem zu gewinnen, sei die Meisterklasse. Glückwunsch! Ein weiterer Sieg für Euch.”

“Nicht so schnell!”, befahl der König barsch und hielt sie davon ab, sich abzuwenden und zur Tür zu stürmen. Er erhob sich von seinem eigenen Stuhl und trat auf sie zu. “Ihr müsst in der Tat handeln. Und Euer Zorn gibt Euch die Energie, die Ihr für diese Konfrontation braucht, auf die Ihr Euch sonst nur widerwillig eingelassen hättet. Doch ich erwarte von Euch, dass Ihr Euren Zorn für Eure Zwecke einsetzt, anstatt Euch von ihm auffressen zu lassen und etwas Unüberlegtes zu tun. Das ist ein Luxus, den Ihr nicht besitzt. Ihr seid noch immer die Nummer Zwei im Orden, und als solche befehle ich Euch, ihn und seinen Ruf zu schützen und ihn für die vor uns liegende Aufgabe funktionsfähig zu halten. Ihr werdet Lord Enric als Begleitung mitnehmen. Das ist ein Befehl. Ihr dürft Euch nun entfernen. Wie ich sehe, haben wir nach all den Jahren immer noch diese kleine Schwierigkeit mit Eurer Unfähigkeit zu warten, bis ich Euch entlasse.”

Ohne ein Wort oder eine Verbeugung wirbelte sie herum und riss die Tür so fest auf, dass die Scharniere beinahe zu Bruch gingen.

“Enric!”, rief sie. “Seine Majestät empfiehlt freundlicherweise, dass wir einen kleinen Gesellschaftsbesuch absolvieren.”

Ihr Begleiter erhob sich mit einer einzigen fließenden Bewegung von den Sitzkissen. Er hatte den Zorn schon seit einigen Minuten durch das Geistesband empfangen und war darauf gefasst, dass ihr Erscheinen mit einer außerordentlich üblen Laune einhergehen würde. Aber das war ganz eindeutig keine Gemütsverfassung, um sie auf jemanden loszulassen.

“Du sollst aber niemanden in seinem Namen ermorden, oder?”, fragte er nur halb im Scherz.

“Nein, aber vielleicht ändere ich meine Meinung darüber während des Besuchs”, knurrte sie, “Du bist aufgerufen mitzukommen und genau das zu verhindern.”

“In Ordnung, das kann ich tun. Wen werden wir mit unserem Besuch beglücken?”

“Junar.”

Er stieß langsam die Luft aus. Nun, das zumindest versprach interessant zu werden.

*  *  *

Es hatte Haus Tokmar nur wenige Tage abverlangt, seine Hauptresidenz nach den Schäden, die sie während der Kampfhandlungen erlitten hatte, wieder instand zu setzen. Das Oberhaupt des Hauses war mit seiner Familie zurückgekehrt und hatte großzügig angeboten, Orrin und seine Familie für die Dauer ihres Aufenthalts bei sich zu aufzunehmen.

Wäre er allein, so hätte das Oberhaupt der Krieger bei den Soldaten Unterkunft bezogen, doch in Anwesenheit seiner Gefährtin und seiner Tochter war dies unmöglich. Bei Eryn und Enric unterzukommen, kam ebenfalls nicht in Frage, und das aus mehr als einem Grund. Da Pe’tala und die Kinder zurück waren und auch Malhora, Malriel und Valrad dort wohnten, beherbergte die Residenz bereits eine ganze Reihe von Bewohnern. Und dann war da noch die Kleinigkeit, dass Eryn und Junar aus irgendeinem Grund nicht miteinander auskamen, den Orrin immer noch nicht richtig erfassen konnte. Einmal hatte er Junar darauf angesprochen, aber seine Gefährtin hatte ihm etwas entgegengeschleudert und war schließlich in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Weinend. Er hatte nicht noch einmal nachgefragt. Doch nach dem Mittagsmahl vor ein paar Stunden wusste er, dass er dem Sturm trotzen musste, den ein erneuter Ausforschungsversuch voraussichtlich auslösen würde. Die Situation wurde allmählich unerträglich, und er war mit seiner Geduld fast am Ende.

Es klopfte an der Tür des Gästezimmers, das dem er und Junar bewohnten. Er ließ den Bericht, den er gerade las, sinken.

“Orrin?”, erkundigte sich eine Stimme. Weiblich, jung. Die jüngste Tochter von Uvel, dem Oberhaupt von Haus Tokmar.

“Ja, Neád?”, rief er aus.

“Du hast Besuch”, informierte sie ihn durch die geschlossene Tür.

Er stand auf, öffnete die Tür und blickte auf die hübsche Sechzehnjährige herab. “Danke.”

Auf dem Weg zum Hauptraum runzelte er die Stirn beim Anblick der Gruppe von Leuten, die dort warteten. Sie verhießen keine guten Nachrichten. Zumindest Eryn nicht. Sie versprühte Ärger. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb ihr Begleiter sie so genau im Auge behielt. Außerdem waren Golir und Iklan anwesend. Der Triarch wirkte verwirrt, als wäre er hierher gerufen worden, ohne dass man ihm mitgeteilt hätte, was es damit auf sich hatte. Und der Heiler legte eine fröhliche Neugier an den Tag, als wüsste er auch nicht genau, was er zu erwarten hatte, freute sich aber darauf, es herauszufinden.

Eryns Blick blieb an Orrin hängen. “Wo ist Junar?”, fragte sie ohne Begrüßung, ihr barscher Tonfall schon beim ersten Wort deutlich.

“Draußen im Garten mit Téa”, antwortete Orrin, dessen Besorgnis mit jeder Sekunde wuchs. “Ist irgend etwas nicht in Ordnung?”

“Ja”, antwortete sie nur, ohne eine weitere Erklärung abzugeben, und wandte sich dann an Uvels Tochter. “Wie viele von deiner Familie sind derzeit zu Hause?”

“Nur ich und mein Bruder”, antwortete das Mädchen. “Meine Eltern sind in der Residenz der Landreds, um dort vor dem Bankett noch etwas zu trinken.”

“Gut.” Eryn zog zwei Goldstreifen aus einer Tasche. “Nimm deinen Bruder und Téa und geht in ein Teehaus eurer Wahl. Kauft, was immer ihr wollt. Bleibt mindestens zwei Stunden weg. Ist das möglich?”

Neád nickte, leicht verwirrt, aber keineswegs ablehnend gegenüber einer Einladung in ein Teehaus. Sie lief los, um an eine Tür zu klopfen, woraufhin ein junger Mann erschien, der knapp älter war als sie selbst. Er hörte ihr einen Moment lang zu, zuckte dann mit den Schultern und folgte ihr in den Garten.

Es dauerte nicht lange, bis Junar durch die Terrassentür in den Hauptraum stürmte. Der unerwartete Anblick der Neuankömmlinge ließ sie einen Moment innehalten, dann marschierte sie auf ihren Gefährten zu und verlangte zu wissen: “Sie sagen, sie wollen Téa in ein Teehaus ausführen – was hat das alles zu bedeuten?” Sie deutete mit dem Kinn auf Eryn. “Will sie das? Hat sie jetzt auch noch das Sagen in unserer Familie? Darf sie entscheiden, mit wem unsere Tochter ausgeht? Nachdem sie sie erst vor ein paar Stunden niedergestreckt hat?”

“Wäre es dir lieber, wenn sie bleibt?” fragte Eryn kühl. “Ich bin sicher, sie wird ihren Freunden eine tolle Geschichte erzählen können, wenn ihr wieder in Anyueel seid.”

Junar sah Golir an, dann Iklan. “Was soll das hier?”

Eryn ignorierte sie und gab Neád und ihrem Bruder, der Téas Hand in der seinen hielt, ein Zeichen, zur Treppe und nach draußen zu gehen. Erst als sich die Eingangstür mit einem hörbaren Geräusch geschlossen hatte, trat Eryn auf Junar zu.

“Ich hatte gerade ein höchst aufschlussreiches Gespräch mit König Folrin und kann es kaum erwarten, meine neuen Erkenntnisse mit dir zu teilen.”

“Ich habe überhaupt kein Interesse an deinen Erkenntnissen, also kannst du genauso gut gehen und mich in Ruhe lassen”, zischte Junar. “Ich habe genug von deinen Machtspielchen! Verschwinde!”

“Worum geht es hier, Eryn?” Orrin schloss sich seiner Gefährtin mit der Forderung nach einer Erklärung an.

Eryn wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. “Orrin, du musst mir vertrauen. Ich schwöre dir, dass ich ihr nichts antun werde. Aber wir haben hier eine Situation, die eingedämmt werden muss. Und ein Problem, das schon seit geraumer Zeit dringend angegangen hätte werden müssen. Sie wird protestieren und vielleicht sogar versuchen zu fliehen, aber du musst mich fortfahren lassen.”

Der Krieger sah ihr einen langen Moment in die Augen, presste dann die Lippen aufeinander und nickte kurz. “Lass mich das nicht bereuen.”

“Das werde ich nicht”, versprach sie.

“Orrin!” wimmerte Junar, “Du kannst ihr nicht trauen! Wenn du all die Dinge wüsstest, die ich…”

“Ja, Junar”, unterbrach Eryn sie, “tatsächlich bin ich deshalb hier – um über die Dinge zu sprechen, von denen du überzeugt bist, sie über mich zu wissen. Ich bin sehr daran interessiert, darüber etwas zu erfahren.”

Junars Augen weiteten sich vor Panik. “Orrin! Du musst mich beschützen!”

“Das wäre nicht sehr sinnvoll, fürchte ich”, zuckte Eryn mit den Schultern. “Du weißt doch, dass ich stärker bin als er. Aber ich kann dich beruhigen – derjenige, der dafür verantwortlich ist, dich vor allen bösen Anwandlungen zu beschützen, die mich spontan überkommen könnten, ist Enric. Und die Tatsache, dass wir auch einen Triarchen und einen angesehenen Heiler hier haben, sollte dir zeigen, dass ich kaum vorhabe, dir Schaden zuzufügen. Und wenn dir das nicht Beruhigung genug ist, kannst du dich darauf verlassen, dass man mich im Anschluss zumindest streng bestrafen würde.” Eryn deutete auf die Sitzkissen hinter Junar. “Warum setzt du dich nicht?”

Junar verschränkte die Arme und blieb mit starrem, feindseligem Blick stehen.

“Na gut, dann steh, wenn du das vorziehst. Aber du wirst mir erlauben, mich zu setzen.” Eryn wählte ein buntes Kissen und lehnte sich zurück. Mit einer trägen Bewegung ihrer Finger zog sie Barrieren vor jedem Fenster und jedem Ausgang hoch, um Junar an einem vorzeitigen, unerwünschten Abgang zu hindern.

“Im Moment machst du keinen besonders kooperativen Eindruck, und da ich nicht die Absicht habe, dich einem gewaltsamen Verhör zu unterziehen, schlage ich Folgendes vor: Ich werde reden, während du zuhörst. Und wenn ich fertig bin, tauschen wir.”

“Ich habe nicht die geringste Absicht, zu…”

“Junar – bitte. Ich habe Orrin versprochen, dir nichts zuleide zu tun. Dazu stehe ich. Aber ich muss dir sagen, dass ich die Beeinträchtigung deiner Stimmbänder für eine kurze Weile nicht als Leid für dich ansehen würde. Entweder hältst du den Mund oder ich bringe dich dazu.”

Die Schneiderin presste die Lippen zusammen und hielt sich mit einer Hand die Kehle zu, als ließen sich ihre Stimmbänder auf diese Weise irgendwie schützen.

“Wo war ich? Ah, ja – eine Geschichte. Ich muss dich warnen – es ist keine fröhliche Geschichte. Nun, vielleicht am Anfang. Aber sie wird schnell genug düster. Das Gute daran ist, dass das Ende noch nicht feststeht, es also noch Hoffnung gibt. Bist du bereit? Ich verstehe diesen tödlichen Blick als Aufforderung, anzufangen. Also, legen wir los. Vor einigen Jahren wurde in einem nicht allzu weit entfernten, aber dennoch nicht gerade um die Ecke liegenden Königreich eine Frau gefangen genommen. Nicht, weil sie etwas verbrochen hatte, sondern weil sich herausstellte, dass sie nicht aus der Gegend stammte. Als man dann auch noch herausfand, dass sie Magie beherrschte, eine Fähigkeit, die man bei Frauen für unmöglich hielt, wurde sie freundlich gebeten, ihren Aufenthalt in der Hauptstadt des Königs zu verlängern. Freundlich gebeten ist ein Euphemismus dafür, dass man sie in goldene Fesseln legte und sie im Schwertkampf ausbilden ließ, weil man dachte, es wäre eine feine Idee, sie in ihrem Verein für kleine Jungen zu haben. Da sie nicht wusste, ob sie jemals wieder freigelassen werden würde, ertrug sie die Hiebe mit den Schwertern und die Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. Nur zwei Dinge hielten sie davon ab, wahnsinnig zu werden – die Aussicht, eines Tages ihren Entführern zu entkommen, und die beiden Freunde, die sie gefunden hatte. Der erste Freund war ein Junge mit gutem Herzen und dem erstaunlichen Talent, die wunderbarsten Bilder zu malen, die man sich vorstellen kann. Und der zweite war eine Frau mit der Fähigkeit, aus einfachen Stoffballen die unglaublichsten Kleider zu zaubern. Ihr Leben war nicht immer glücklich verlaufen, doch sie hatte sich in ihrem Herzen immer noch genug Güte bewahrt, um aus einer Geste der Dankbarkeit für die Heilung ihrer Schwester eine Freundschaft mit einer Gefangenen entstehen zu lassen. Die Magierin war überglücklich, denn sie erlebte zum ersten Mal in ihrem Leben das Geschenk, nicht nur einen, sondern zwei Freunde zu haben, wo sie doch mehr als zwei Jahrzehnte lang gezwungen gewesen war, sich von allen Menschen fernzuhalten, um das Geheimnis ihrer Magie zu wahren. Die Freundschaft zwischen der Magierin und der Schneiderin wuchs stetig und verband sie mit einem Band, das beide sehr schätzten. Doch die Dinge begannen sich zu ändern. Die Magierin wurde in das Land geschickt, aus dem sie ursprünglich stammte, und traf dort auf eine Familie, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte und die sie so verzweifelt zurückhaben wollte, dass sie versuchte, sie zum Bleiben zu bewegen. Hin- und hergerissen zwischen den beiden Ländern, wurde sie schließlich gezwungen, zwischen ihnen hin- und herzureisen und ihre Zeit zu gleichen Teilen aufzuteilen. Die beiden Frauen wussten es noch nicht, aber dieses Arrangement sollte sich als das Hindernis erweisen, an dem ihre Freundschaft zerbrechen würde. Es geschah nicht mit einem Schlag, sondern allmählich im Laufe der Zeit. Denn jedes Mal, wenn die Magierin mit ihrer Familie das Königreich für mehrere Monate verlassen musste, musste die Schneiderin bei den anderen Frauen zurückbleiben, von denen sie ohne eigenes Verschulden abgelehnt wurde. Sie schikanierten und beleidigten sie, gaben ihr das Gefühl, nicht würdig zu sein, zu ihnen zu gehören, in den Kreis aufgenommen zu werden, den sie für so erlaucht hielten. Jedes Mal, wenn die Magierin in das Königreich zurückkehrte und die beiden Freundinnen wieder vereint waren, zogen sich die böswilligen Frauen wieder zurück und warteten geduldig, bis die Magierin wieder abreiste, um erneut ihr Gift zu verbreiten. Die Schneiderin war eine sanftmütige Seele, die unter dieser Behandlung litt, bis sie zu resignieren anfing und den Worten Glauben schenkte, die sie über sie sagten und sie glauben ließen, sie sei weniger würdig als die anderen. Sie sehnte sich nach einem Zeichen der Anerkennung, und in der Abwesenheit der Magierin fühlte sie sich so verloren und allein, dass sie sogar nach einem Gefühl der Zugehörigkeit unter den gemeinen Frauen suchte. Da der Gefährte der Schneider ein mächtiger und angesehener Mann war, begannen sie zu begreifen, dass es auf Dauer nicht zielführend war, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Es war viel erfolgversprechender, sie bei sich aufzunehmen und ihren Einfluss zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Also begannen sie, sie zu einer von ihnen zu machen. Doch dazu musste sie ihre Verbindung zu der Magierin kappen, die bisher nur hilflos zugesehen hatte, wie sich ihre Freundin immer weiter von ihr entfernte, ohne zu wissen, was die Kluft zwischen ihnen immer weiter vergrößerte. Die bösen Frauen waren listig in ihren Bemühungen. Sie erzählten der Schneiderin Lügen. Und in Lügen verpackte Wahrheiten. Alles, um sie dazu zu bringen, die Gültigkeit des Freundschaftsbandes zwischen den beiden Frauen in Frage zu stellen. Für nichts davon gab es Beweise, und doch gelang es ihnen, in der Schneiderin den Samen des Zweifels zu säen. Sie fütterten sie mit immer mehr Unwahrheiten, bis die Saat aufging und die Frau sogar in ihrem eigenen Kopf begann, diese Lügen und diesen Verrat zu vermuten, wo es in Wahrheit keine gab.”

Eryn hielt inne und sah Junar an, die mit aufgerissenen Augen und wer atmend dastand.

“Hör auf damit”, flüsterte sie, dann wandte sie sich an ihren Gefährten und flehte: “Orrin! Bitte!”

Doch die Augen des Kriegers hatten sich verengt, und sein eindringlicher Blick sprang von Eryn zu Junar und wieder zurück. “Welche Lügen?”, fragte er nur.

Eryn blickte zur Decke empor. “Dass die Magierin die Schneiderin nie wirklich als ihre Freundin betrachtet, sondern sie lediglich als Spielball für ihre eigenen Zwecke benutzt hat. Sie schaffte es, sie emporzuheben, indem sie dafür sorgte, dass sie mit einem hochrangigen Magier verbunden wurde. Dann plante sie insgeheim, ihre Bindung zu festigen, indem sie ihnen ein Kind aufzwang. Sie erzählten ihr, dass ihr Gefährte sich in Wahrheit nach der Berührung der Magierin sehnte, was in der Schneiderin die Angst weckte, ihren Geliebten zu verlieren, und sie mit Eifersucht erfüllte. Jede Interaktion zwischen ihrem Gefährten und der Magierin wurde in ihren Augen zum Beweis für deren heimliche Liebe.”

Orrins Gesichtsausdruck hatte sich verfinstert, als er sich langsam Junar zuwandte. Er bewahrte den Abstand zwischen ihnen, als könnte er sich selbst nicht trauen, dass er ihr nichts antun würde.

“Ist das wahr, Junar? Hat man dir solche Dinge über mich erzählt? Dinge, die du freiwillig glaubst?” Sein Ton war so leise, dass nur die völlige Stille im Raum das Verstehen der Worte ermöglichte.

Junars Mund öffnete und schloss sich einige Male, aber es kam kein Wort heraus.

“Ich verstehe”, kommentierte der Krieger und drehte sich um, um zur Treppe zu gehen. Ein starker Blitz aus einer Handfläche ließ Eryns Schild zusammenbrechen. Er war nicht besonders stark, denn sein Zweck bestand darin, eine Nichtmagierin am Fortgehen zu hindern.

“Orrin”, hauchte Junar und wollte ihm nachlaufen, aber Eryn errichtete eilig einen weiteren Schild direkt vor ihr, um sie zurückzuhalten. “Nein, du bleibst. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Enric, bitte geh Orrin hinterher.”

“Lass mich raus!” jammerte Junar. “Ich muss ihm folgen! Ich muss mit ihm reden, es ihm erklären!”

“Du hast es bereits so lange versäumt, mit ihm zu reden”, erwiderte Eryn unbarmherzig. “Ich bin sicher, das kann noch eine halbe Stunde warten. Außerdem habe ich den Eindruck, dass er gerade jetzt eine Auszeit von dir braucht. Lass uns zu unserer Geschichte zurückkehren, ja? Bist du sicher, dass du dich nicht setzen willst?”

“Ich will mich nicht setzen!”, schrie sie Eryn an. “Ich muss hinter Orrin her! Lass mich gehen!” Sie wirbelte zu Golir herum. “Golir! Du bist stark – bitte hilf mir! Hol mich hier raus! Bitte!”

Der Triarch sah besorgt aus und wusste offensichtlich nicht, wie er reagieren sollte. Junar befand sich ganz eindeutig in großer Aufregung und wurde festgehalten, doch Eryn hatte ihm mitgeteilt, dass sie ihn hier brauchte, um eine erhebliche Gefahr für die Loyalität des Ordens gegenüber seinen Anführern und damit für einen erfolgreichen Abschluss ihres Feldzugs gegen Pirinkar zu beseitigen. Bis jetzt verstand er nicht, wie genau die Vorgänge an diesem Ort darauf Einfluss haben sollten, aber er war Malriels Tochter den Vertrauensvorschuss schuldig.

“Ich denke, du solltest sie anhören, Junar”, antwortete der Triarch leise.

“Ich will nichts mehr von ihren Lügen hören”, schluchzte die Schneiderin.

Eryn auf den Sitzpolstern klatschte zweimal in die Hände. “Golir, das war dein Stichwort. Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich in meiner Botschaft an dich etwas kryptisch ausgedrückt habe. Der Grund, warum du hier bist, ist, einen Lügenfilter auf mich anzuwenden und Junar damit zu beweisen, dass meine Geschichte keinerlei Lügen enthält.” Als Junar sie anstarrte, fügte sie hinzu: “Ich bin davon ausgegangen, dass du diese Aufgabe weder Enric noch Ram’an anvertrauen würdest, die zwar beide stärker als ich sind, mir aber auch sehr nahe stehen. Bleibt noch Golir, der keinen Grund hat vorzugeben, ich würde die Wahrheit sprechen, wenn es nicht der Fall ist. Falls du Golir nicht für eine verlässliche Person hältst, um die Wahrheitssperre anzuwenden, rate ich dir, einen guten Grund zu finden, um seine Integrität in Frage zu stellen. Immerhin ist er ein verdammter Triarch.” Sie hob ihre Hand in Richtung Golir und wartete, bis er sie in die seine genommen hatte und seine Magie einsetzte, um den Wahrheitsblock zu errichten. “Nun, Junar, das ist deine Gelegenheit. Frag los. Ich kann dich nicht anlügen, sondern nur die Antwort verweigern. Was an sich schon aufschlussreich genug sein kann, wenn du die richtigen Fragen stellst. Ich bin jetzt in deinen Händen.”

“Woher weiß ich überhaupt, dass das funktioniert?” fragte Junar in misstrauischem Tonfall.

Iklan trat eifrig vor. “Ich glaube, ich kann dir hier helfen, wenn du es erlaubst.” Er lächelte Eryn an. “Du bist für deinen Sohn eine Vereinbarung für ein Kommitment mit der jüngsten Tochter von Haus Arbil eingegangen. Trägst du dich mit der ehrlichen Absicht, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um die Erfüllung dieser Vereinbarung zu unterstützen?”

Eryn starrte ihn verblüfft an. “Du bist hier, um zu helfen, verdammt!”

“Ich helfe doch!”, protestierte der Heiler.

“Nein, du bringst mich in Schwierigkeiten! Wir befinden uns in der Gegenwart eines Triarchen, falls dir das entgangen sein sollte!”

Iklan grinste. “Genau aus diesem Grund nehme ich an, dass du deine vermutlich kontroverse Antwort lieber für dich behalten möchtest. Gibt es einen besseren Weg, die Wirksamkeit des Lügenfilters zu demonstrieren, als eine Wahrheit zu erzwingen, die du sonst vor einem Triarchen nicht preisgeben würdest?”

Eryn schloss für einen Moment die Augen und seufzte. “Du bist ein brillanter Mann, Iklan, aber im Moment mag ich dich nicht besonders. So sei es denn. Nein, ich habe nicht die Absicht, meinen Sohn zu überreden, sich aus keinem anderen Grund als dem des finanziellen Wohlstands und der Erzeugung starker Nachkommenschaft mit einer Frau verbinden zu lassen.”

Golir schürzte die Lippen. “Das bedeutet, dass du bei der Triarchie eine Kommitmentvereinbarung eingereicht hast, die du mit voller Absicht brechen wirst. Ich denke, wenn das alles vorbei ist, werden du, Ram’an und ich uns hinsetzen und ein langes Gespräch führen.”

Eryn knirschte mit den Zähnen, dann sah sie zu Junar auf. “Zufrieden?”

Die Schneiderin nickte und kam näher. “War irgendetwas an deiner Geschichte falsch, absichtlich irreführend oder übertrieben?”

“Nein”, antwortete Eryn sofort.

Junar schluckte. “Woher hast du diese Informationen?”

“Das sagte ich bereits – ich hatte ein Gespräch mit dem König. Er hat mir von all dem erzählt. Jeder weiß, dass er ein dichtes Netz von Spionen hat, die jeden Happen an Informationen sammeln, den er für nützlich halten könnte.”

“Der König spioniert mir nach?”

“Ja.”

“Warum?”

“Weil du die Gefährtin eines wichtigen Ordensmagiers bist. Des nächsten Ordensführers, um genau zu sein.” Und drei weitere Personen, die beiläufig über diese kleine Tatsache informiert wurden…

Junar starrte sie an. “Was?”

“Orrin wird befördert werden, sobald der Krieg vorbei ist.”

“Aber… aber… was ist mit Enric?”

“Enric und ich sind dabei, nach Takhan umzuziehen. Ich trete erneut Haus Aren bei und werde dessen Oberhaupt.”

Es folgten ein paar Sekunden, während derer die Schneiderin diese Neuigkeit verdaute. “Du wirst Anyueel für immer verlassen? Und auch den Orden?”

“Ja. Nun, ich werde natürlich für gelegentliche Besuche zurückkehren. Aber Enric, Vedric und ich werden für immer nach Takhan umziehen.”

“Aber der Tod von Tyront…” Nun nahm Junar endlich Platz. “Warum ihn töten, wenn du nicht einmal im Orden bleibst?”

Eryn atmete langsam aus. “Junar, ich sage dir das mit dem höchsten Maß an Respekt, das mir derzeit möglich ist – nämlich gar keinem: Du bist offensichtlich von allen guten Geistern verlassen. Sonst würdest du begreifen, dass es absolut keinen Sinn macht, dass ich Tyronts Tod geplant haben soll, wenn weder ich noch mein Gefährte in der Lage sind, davon zu profitieren. Ganz zu schweigen davon, dass ich die Tatsache, dass du mir einen kaltblütigen Mord zutraust, nicht besonders schmeichelhaft finde.”

“Hast du jemals ein Verlangen nach Orrin verspürt?” fragte Junar nun scharf.

“Ja, öfter, als ich zählen kann.” Als Junar nach Luft schnappte, fügte Eryn hinzu: “Das Verlangen, ihn zu erdrosseln, zu treten, aus dem Fenster zu werfen… im Grunde die ganze Palette an Gewaltfantasien, die eine Gefangene hegt, wenn sie sich Tag für Tag zahlreiche blaue Flecken einhandelt.”

“Was ist mit Orrin?”

“Ich kann nicht für Orrin sprechen, aber ich kann dir sagen, dass ich nie auch nur einen einzigen Moment den Eindruck hatte, dass er ein unangemessenes Interesse an mir hat. Er behandelt mich so sehr wie eine Tochter, dass mein eigener Vater eifersüchtig war, als er uns zum ersten Mal zusammen sah.”

Junars Gesicht war eine Maske des Elends.

“Obwohl wir beide wissen, dass es nach Orrins Reaktion vorhin ziemlich überflüssig war, mir diese Fragen zu stellen”, fügte Eryn hinzu.

“Ich würde ihm nachgehen, aber jemand hält mich in diesem Raum gefangen!” zischte Junar.

“Ja. Weil du und ich mit dem hier noch nicht fertig sind.”

“Was soll ‘das hier’ denn sein? Willst du mich etwa zwingen, mich bei dir zu entschuldigen? Das werde ich nicht! Einiges von dem, was sie mir erzählt haben, mag falsch gewesen sein, aber anderes, was ich selbst bemerkt habe, ist es ganz sicher nicht! Du hast mich immer dafür verurteilt, wie ich meine Tochter erziehe! Nur weil ich nicht so streng und unbarmherzig mit meiner Tochter umgehe, wie du es mit deinem Sohn tust!”

“Deine Tochter hat keine Manieren und nimmt wenig Rücksicht auf die Wünsche anderer Menschen – das ist eine Tatsache. Aber das ist nicht mein Problem, sondern deins und mit der Zeit auch ihr eigenes. Wenn du glaubst, dass du den perfekten Weg gefunden hast, um ein Kind zu erziehen, dann mach nur weiter! Wer bin ich, dass ich dir sagen könnte, was du tun sollst? Ich erlaube mir jedoch, von ihr zu verlangen, dass sie sich in meinem Haus an bestimmte Regeln hält, so wie dies auch für jedes andere Kind, das mich besucht, gilt.”

“Deine Grausamkeit gegenüber deinem eigenen Sohn wird ihn eines Tages zu einem gewalttätigen Mann machen – einem äußerst gefährlichen Mann mit seinen immensen magischen Kräften!”

Eryn ließ ihren Kopf nach hinten kippen. “Bist du ganz allein auf diese wunderbare Theorie gekommen oder haben dich deine intriganten Freundinnen entsprechend beraten?” Sie runzelte die Stirn, als Junar nur die Lippen zusammenpresste, ohne zu antworten. Eryn starrte sie an. “Du machst wohl Witze! Sag mir nicht, dass du Ratschläge zur Kindererziehung von Frauen annimmst, die vielleicht eine halbe Stunde am Tag damit verbracht haben, ein wenig mit ihren Kindern zu spielen und dann die eigentliche Arbeit an Dienerinnen delegiert haben? Ist das wirklich die Quelle, aus der du deine Informationen beziehst? Es ist leicht, ein nachsichtiger Spielkamerad für seine Kinder zu sein, wenn die Dienerinnen diejenigen sind, die streng sein müssen, wenn sie ihnen beibringen, keine Steine gegen Fenster zu werfen, die Hände vom Feuer fernzuhalten oder sich vor dem Schlafengehen ordentlich zu schrubben. Das ist nicht die Art von Mutter, die ich bin – und du bist es auch nicht! Wenn wir die gesamte Arbeit alleine machen, müssen wir sie auch disziplinieren!” Sie warf die Hände in die Luft. “Das ist lächerlich! Ernsthaft, warum diskutiere ich das überhaupt mit dir? Mach mit deiner Tochter, was du willst! Es gibt etwas viel Wichtigeres, worüber ich sprechen sollte. Nämlich, dass die Tatsache, dass du dein Gehirn ausgeschaltet hast, um andere für dich denken zu lassen, dich in der gegenwärtigen Situation gefährlich macht. Wenn du nicht den Mund hältst über die Dinge, von denen man dir erzählt, dass ich sie getan habe, um die teuflischen Pläne voranzutreiben, die ich anscheinend umzusetzen gedenke, wird der Orden bald im Chaos versinken, weil die Magier Enric und mir nicht mehr vertrauen. Wenn du den Orden und die Menschen, die er schützen soll, nicht schätzt, dann denke wenigstens an deinen Gefährten. Bedenke, dass er wahrscheinlich nicht einen Trümmerhaufen übernehmen will.”

“Was? Ich…”

“Du bist derzeit eine Belastung, Junar! Für deinen Gefährten, für den Orden und für die Westlichen Territorien! Wenn du etwas Dummes sagst, dann wird man annehmen, dass Orrin diese Meinung teilt.” Auf Junars erschrockenen Blick hin fügte sie hinzu. “Ich kenne das Gefühl, glaub mir. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu lernen, dass ich mich nicht so leicht von Leuten manipulieren lassen darf, die mich gegen Enric benutzen wollen. Aber als Gefährtin des zukünftigen Ordensführers ist das etwas, was du lernen musst! Und zwar möglichst sofort. Als erstes musst du dich vom Einfluss dieser Frauen befreien! Sie sind genauso schlimm wie ihre Gefährten, bei denen man allerdings darauf vorbereitet ist, ihnen zu misstrauen.”

“Ich… ich… das ist alles zu viel!” Tränen liefen Junar über die Wangen. “Du sagst, sie haben mich die ganze Zeit angelogen… aber… was, wenn… ich meine…”

Eryn befreite sich aus Golirs Griff. “Danke, Golir, du warst eine große Hilfe.” Dann sah sie Iklan an. “Ich glaube, jetzt bist du an der Reihe. Kannst du ihr dabei helfen, ihr Gehirn wiederzufinden?” Sie klopfte mit den Fingerknöcheln gegen Junars Kopf. “Es müsste noch irgendwo da drin sein.”

“Das war extrem unsensibel”, jammerte Junar zwischen immer heftigeren Schluchzern.

Eryn nickte und erhob sich. “Ja, ich weiß. Es war ein langer Tag, und ich muss noch eine langweilige Abendveranstaltung hinter mich bringen. Dafür muss ich mir meine ganze Sensibilität aufsparen. Sprich mit Iklan. Wenn dir jemand helfen kann, zu dir selbst zu finden, dann ist er es. Ich schlage vor, dass du dich für das heutige Bankett entschuldigst. Ich muss nach Hause und mich in die Lady verwandeln, von der jeder weiß, dass ich es nicht bin. Auf Wiedersehen, Junar.”

Sie flüchtete geradezu aus dem Haus und spürte, dass sie erst wieder richtig atmen konnte, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Das war intensiv und anstrengend gewesen. Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob Junar am Ende zur Vernunft kommen würde oder ob sie es vorzog, wieder in diesen zerstörerischen, aber bequemen Zustand zu verfallen, sich von anderen leiten zu lassen.

Sie hoffte, dass Enric noch bei Orrin war. Der Krieger neigte dazu, sich zu betrinken, wenn er schwierige Nachrichten hörte. Da er im Gegensatz zu Junar nicht den Luxus hatte, sich von dem langweiligen Abendessen freizumachen, musste er sich entweder in Zurückhaltung üben oder auf nicht allzu sanfte Weise ausgenüchtert werden.

*  *  *

“Ist dir aufgefallen, dass es viel einfacher wird, sich zu betrinken, je älter man wird?” sinnierte Enric, während er auf ein kleines, buntes Glas mit winzigen künstlerischen Gravuren starrte. Es handelte sich um ein Etablissement der gehobenen Klasse, in dem die Gläser teuer waren, denn die Getränke waren kostspielig genug, um die Kosten für das gelegentlich durch eine unkoordinierte Bewegung zerbrochene Stück zu decken.

Er erinnerte sich dunkel daran, dass das winzige Glas vor einem Moment noch voll gewesen war.

“Ja”, erwiderte Orrin, “und wenn du das bemerkt hast, kannst du davon ausgehen, dass mir das schon vor langer Zeit aufgefallen ist. Ich bin einige Jahre älter als du.”

“Weißt du, ich glaube, der Altersunterschied wird weniger signifikant, je älter man wird”, trug Enric weise bei und konzentrierte sich darauf, seine Zunge dazu zu bringen, die Worte richtig zu formen. Er war stolz darauf, dass signifikant überhaupt nicht undeutlich geklungen hatte.

“Ist das so?”

“Sicher. Weißt du noch, als ich dein Schüler war? Zwanzig Jahre waren damals ein enormer Unterschied. Sie haben den Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem ausgemacht. Heutzutage sind wir beide erwachsen und haben eine Familie. Im Orden waren Alter und Erfahrung nie ein wichtiges Kriterium für die Vergabe hoher Ränge. Welche Rolle spielt es also in unserem Fall?”

“Sich zu betrinken ist heute viel preiswerter als früher”, stellte Orrin fest und schloss damit den Kreis zu Enrics früherer Bemerkung.

“Im Allgemeinen ist das doch gar nicht so schlecht, oder? Ich meine, das ist gespartes Geld und kommt somit der Familie zugute.”

“Ja, die Familie…” Orrin lehnte den Kopf zurück und leerte sein eigenes kleines Glas. “Genau die Leute, die die Macht haben, dich mit ein paar Worten zu vernichten.”

Durch den Dunst des Alkohols erkannte Enric, dass es ihm gelungen war, was er eigentlich erreichen wollte – nämlich Orrin dazu zu bringen, über dieses Thema zu sprechen. Bei Orrin erforderte das immer ein gewisses Maß an Zeit und Geduld. Und einen Grad der Berauschung, der ihn in einen Zustand versetzte, in dem er nicht mehr so wortkarg war wie sonst und in dem er sich wohl genug fühlte, um seinen Kummer zu teilen.

Er wog seine Möglichkeiten ab. Im Idealfall würde er sich eine Minute Zeit nehmen und in der Toilette verschwinden, um zumindest einen Teil des Alkohols loszuwerden und mit ein wenig Heilmagie einen klaren Kopf zu bekommen. Doch damit war die Gefahr verbunden, dass Orrin bei seiner Rückkehr nicht mehr gesprächig sein würde.

Also würde er bleiben und sein Bestes tun, um ein halbwegs sinnvolles Gespräch mit dem Krieger zu führen, in der Hoffnung, dass er sich hinterher an das meiste davon erinnern konnte.

Er hob die Hand, um den Blick einer der adretten Kellnerinnen zu erhaschen, die darauf bedacht waren, ihre wohlhabenden Gäste mit allem zu versorgen, was sie wünschten.

“Ja, Enric?”, fragte ihn eine Schönheit mit dunkelgrünen Augen mit einem verführerischen Lächeln. “Was kann ich für dich tun?”

Beeindruckend, dachte Enric. Sie machten sich sogar die Mühe, die Namen ihrer Gäste herauszufinden.

“Eine Karaffe Wasser, bitte. Und alles, was ihr auf Lager habt, um den Leuten beim Ausnüchtern zu helfen.”

“Kommt sofort.” Sie berührte leicht seinen Unterarm und hob eine anzügliche Augenbraue. “Wir könnten deinen leicht beschwipsten Zustand aber auch nutzen, wenn du das möchtest. Wir haben sehr gemütliche kleine Zimmer im hinteren Bereich.”

Enric starrte sie einen Moment lang an. “Ich wusste gar nicht, dass ihr diese Art von Dienstleistung hier anbietet!”

“In manchen Fällen können wir das”, säuselte sie. “Kann ich dich für meine Gesellschaft erwärmen, Enric? Ich war noch nie mit einem hellhaarigen Mann zusammen.”

“Du kennst meinen Namen. Weißt du zufällig auch, mit wem ich verbunden bin?”, fragte er beiläufig und fand diese Unterhaltung äußerst amüsant.

“Nein… ich gebe zu, ich weiß es nicht. Man nennt uns nur die Namen unserer Gönner”, antwortete sie.

“Du hast sicher schon von Maltheá von Haus Aren gehört, nehme ich an?”

Die junge Frau schluckte. “Aren? Malriels Tochter?”

“Genau die. Ihre Großmutter, Malhora, hat einen Weinkeller in die Luft gesprengt, als sie ihren betrügerischen Gefährten dort vorfand”, informierte er sie.

Das Lächeln der Kellnerin hatte einen etwas kränklichen Ausdruck angenommen. “Dann werde ich mich wohl besser damit begnügen, dir etwas zu trinken zu servieren.”

Enric nickte bedächtig. “Eine sehr umsichtige und lebenserhaltende Entscheidung.”

Orrin schnaubte, nachdem die junge Frau eilig abgezogen war, als befürchte sie, Enric könnte es sich anders überlegen und noch auf das doch recht riskante Angebot eingehen.

Da der Krieger schwieg, überlegte Enric, wie er auf das Thema Junar zurückkommen sollte und wie sehr ihr Misstrauen gegenüber ihrem Gefährten Orrin erschüttert hatte.

“Ich erinnere mich, wie ich Eryns Zellentür abschließen ließ und ihre Habseligkeiten in mein Quartier im Palast brachte. Das war ein paar Tage vor unserem Kommitment auf diesem Ball. Aber sie zog bei dir ein und nicht bei mir, und ich war so eifersüchtig, dass ich dich am liebsten erwürgt hätte.”

“Ein törichter Gedanke. Ich hatte niemals irgendwelche derartigen Absichten.”

“Das weiß ich jetzt. Aber damals habe ich beobachtet, wie sich ihr Hass auf dich in etwas ganz anderes verwandelt hat, wie sie zu dir gerannt ist, als sie eine Bleibe brauchte. Und mein Neid und meine Eifersucht taten ihr Übriges. Genau wie in Junars Fall, obwohl es so aussieht, als hätte sie viel Hilfe dabei gehabt, zu diesem Schluss zu kommen.”

Mit einem dankbaren Lächeln erhielt er von einem jungen Mann eine gebogene Glasflasche mit Wasser und ein passendes Glas sowie ein weiteres kleines Glas, das dem bereits vor ihm stehenden ähnelte. Der Inhalt allerdings roch und sah deutlich anders aus. Wie eine Art Kräutermischung. Er zuckte mit den Schultern und kippte es hinunter. Immerhin hatte er etwas bestellt, das ihm helfen sollte, nüchtern zu werden. Die zähflüssige Substanz schmeckte bitter und hinterließ auf dem Weg zu seinem Magen ein leichtes Prickeln, was darauf schließen ließ, dass bei ihrer Herstellung irgendeine Art von Magie zur Anwendung gekommen war.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er die Wirkung zu spüren begann. Zunächst verspürte er einen kurzen Anflug von Übelkeit, der aber schon einen Moment später wieder verschwunden war und ihn mit einem heftigen Verlangen nach Wasser zurückließ. Als sich sein Kopf nicht länger benebelt anfühlte, zwang er sich, Wasser in ein Glas zu schenken, anstatt die Flasche einfach an die Lippen zu heben und sie in einem Zug zu leeren. Das war ein mächtiges Gemisch, dachte er, und fragte sich, ob die Urheber vielleicht bereit wären, ihm das Rezept für eine großzügige Summe zu überlassen. Das war etwas, das er auf jeden Fall in Anyueel vermarkten konnte.

“Ich hatte keine Ahnung, dass sie so behandelt wird”, murmelte Orrin und starrte mit leerem Blick vor sich hin. “Sie hat nie etwas gesagt. Aber sie hätte zumindest nicht glauben dürfen, was sie über mich geredet haben. Ich habe ihr nie einen Grund gegeben, an meiner Zuneigung oder Treue zu zweifeln. Sie hätte mich damit konfrontieren müssen.”

Enric zuckte mit den Schultern und füllte sein Wasserglas nach. “Ich weiß nicht. Viele Menschen würden lieber davon absehen, die Person direkt anzusprechen, von der sie vermuten, dass sie sie betrogen hat.” Erfreut stellte er fest, dass er wieder in der Lage war, ausgefeiltere Formulierungen zu benutzen. Allerdings musste er aufpassen, dass er Orrin nicht verlor, der für einen Fremden zwar nicht betrunken wirkte, aber für Enrics geschultes Auge durchaus Anzeichen von Alkoholeinfluss erkennen ließ. Wie beispielsweise ausladendere Handgesten.

Der Krieger presste die Handballen beider Hände gegen seine geschlossenen Augen. “Ich habe mit dem Gedanken gespielt, sie zu verlassen.”

Enric nahm einen weiteren Schluck Wasser, um seinen Schock zu überspielen. Orrin war ihm immer als besonders solider Mann erschienen, als jemand, der es eher vorzog zu leiden, als das zu missachten, was er als seine Pflicht ansah.

“Ich habe keine Angst davor, Téa allein großzuziehen. Das habe ich schon einmal geschafft.” Er atmete aus und ließ seine Hände wieder sinken. “Es gab so viele Situationen, in denen ich keine andere Möglichkeit sah, als zu schweigen, nachdem Junar wieder einmal etwas Unverschämtes gesagt hatte. Ich weiß, dass ich den Eindruck erweckt haben muss, dass ich ihr zustimme. Schweigen hat den Nebeneffekt, dass es manchmal als Zustimmung fehlinterpretiert wird. Ich habe es gehasst. Es war sogar noch unangenehmer als die Diskussionen mit Junar zu Hause, die nach jedem solchen Vorfall folgten. Dennoch war ich hin- und hergerissen, ob ich meiner Gefährtin beistehen oder mich auf Eryns Seite stellen sollte, die gewöhnlich das Ziel ihrer hasserfüllten Bemerkungen war. Eryn hat mir mein Schweigen nie übel genommen, hat mich nicht dafür verurteilt, dass ich Junar nicht öffentlich ermahnt habe. Zumindest nicht offen. Ich möchte gar nicht daran denken, wie enttäuscht sie wahrscheinlich war. Auf jede einzelne dieser Begebenheiten ist ein Streit gefolgt, sobald Junar und ich allein waren.”

Enric hörte schweigend zu, betrübt darüber, dass Orrins Beziehung zu seiner Gefährtin in den letzten Jahren so sehr gelitten hatte, dass er sogar in Erwägung zog, sie zu verlassen. Und er bedauerte, dass ihm das entgangen war. Orrin war immer ein verschlossener Mensch gewesen, der sich nur unter besonders schwierigen Umständen öffnete. Eryn war diejenige, die den besseren Einblick zu haben schien, doch das änderte sich, nachdem Junar mit ihr gebrochen hatte.

“Und jetzt bin ich wieder einmal hin- und hergerissen.” Er hob sein Glas über seinen Kopf, ohne aufzublicken, in der Gewissheit, dass ihn sicher jemand bemerken würde. Kaum zehn Sekunden später wurde sein leeres Glas gegen ein volles ausgetauscht. “Ich bin erleichtert, endlich zu wissen, was hinter all dem steckt. Und ich bin wütend darüber, was sie Junar angetan haben, wie sie sie behandelt haben. Sie hat mir gegenüber nie etwas davon erwähnt. Das macht mich wütend auf Junar. Einmal, weil sie mir nicht genug vertraut hat, um mit mir über den Kummer zu sprechen, den sie ihr bereitet haben, und noch mehr, weil sie diese ungeheuerlichen Dinge über mich und Eryn geglaubt hat. Ich möchte glauben, dass ich Junar nie einen Grund gegeben habe, an meinen Gefühlen für sie zu zweifeln.”

“Es ist nicht ganz so einfach, fürchte ich”, seufzte Enric. “Du und ich, wir sind in einer Welt aufgewachsen, wo selbst denen zu vertrauen, die man für Freunde hält, ein Luxus ist, den man sich gut überlegen muss. Auf Eryn und Junar trifft das nicht zu. Eryn musste das rasch lernen, und das tat sie auch. Nicht ohne Rückschläge, wie du nur zu gut weißt. Das Problem ist, dass du davon ausgegangen bist, dass Junar von diesen Spielen verschont bleibt, weil sie nicht direkt in all das verwickelt ist. Ich gebe zu, ich selbst bin ebenfalls verblüfft, wozu die Gefährtinnen unserer edlen Kollegen fähig sind. Ich konnte Eryn wenigstens im Umgang mit den Ratsmitgliedern helfen, aber mit den Frauen dahinter wäre ich überfordert gewesen. Du solltest Junar nicht böse sein, dass sie ihren Intrigen zum Opfer gefallen ist, sondern überlegen, wie du ihr helfen kannst, sich aus diesem Sumpf zu befreien. Die Dinge werden nicht gerade einfacher für sie werden, wenn du den Orden erst übernommen hast.”

Orrin nickte mürrisch. “Ja, du hast Recht. Es ist nicht fair, ihr die Schuld zu geben. Doch was soll ich deiner Meinung nach tun? Sie in politischer Strategie unterweisen lassen?”

Enric schürzte die Lippen, als er über diese Idee nachdachte, obwohl Orrin sie eindeutig nicht ernst gemeint hatte. “Weißt du, das ist eigentlich gar kein so schlechter Gedanke. Wer weiß? Als Gefährtin des künftigen Ordensführers wird der König ihr vielleicht selbst die eine oder andere Lektion erteilen, so wie er es mit Eryn getan hat.”

“Ich sollte zu ihr zurückkehren. Es gibt vieles, worüber wir reden müssen.”

“Nicht heute Abend, fürchte ich. Wir haben kaum Zeit, uns für das Festmahl fertig zu machen.”

Der Krieger starrte ihn an. “Wir können heute Abend nicht zu dem Bankett gehen! Ich bezweifle ernsthaft, dass Junar dazu in der Lage ist, nachdem Eryn mit ihr fertig ist.”

“Deshalb hat sie auch Iklan mitgebracht. Er wird sich um Junar kümmern. Wir werden sie entschuldigen. Aber du mußt dabei sein. Du bist eine Schlüsselfigur bei all dem, und die Leute müssen sich daran gewöhnen, dich zu sehen. Wenn du meine Nachfolge antrittst, sollte das neue Oberhaupt des Ordens ein Gesicht sein, das den wichtigen Leuten hier bereits bekannt ist, und nicht nur den Soldaten, die du in die Schlacht geführt hast. Das Bankett ist eine ideale Gelegenheit dafür.”

Orrin schnitt eine Grimasse. “Ich bin nicht in der Verfassung, an einem solchen Abend teilzunehmen. Sieh mich an!”

Enric hob erneut einen Arm, um einen Angestellten dieses Etablissements herbeizurufen, und nur einen Moment später erschien vor ihm derselbe junge Mann wie zuvor. Von der jungen Dame, die ihm zuvor ihre Gesellschaft angeboten hatte, war nichts mehr zu sehen.

“Noch so ein ernüchterndes Gebräu für meinen Freund hier”, befahl er, und wenig später wurde Orrin ein weiteres kleines Glas gereicht. Bevor der Mann wieder gehen konnte, ergriff Enric seinen Unterarm. “Ich habe mich gefragt, ob der Besitzer dieses charmanten Lokals hier bereit wäre, über eine Kopie des Rezepts für dieses sehr hilfreiche Getränk zu verhandeln. Ich bin bereit, einen guten Preis zu zahlen.”

“Ich fürchte, sie wäre dazu nicht in der Lage, selbst wenn sie es wünschte”, antwortete der Kellner mit sichtlichem Bedauern. “Wir mischen es nicht selbst, sondern lassen es uns regelmäßig von unserem Lieferanten zustellen.”

“Und wer ist dieser Lieferant?”

“Das wäre Haus Vel’kim.”

Enric lachte amüsiert auf. Ja, natürlich. Heilende Kräuter und Magie. Das hätte er sich denken können.

Er gab ein großzügiges Trinkgeld und erhob sich von seinem Kissen. “Ich danke dir.”

“Sie haben das Rezept noch nie verkauft, soweit ich weiß”, warnte der junge Mann. “Und sicher nicht, weil es an Interessenten mangelt.”

Orrin kippte ein Glas Wasser hinunter, dann antwortete er: “Ich glaube, sie sind im Begriff, eine Ausnahme zu machen.”

Enric nickte. Entweder das, oder Vran’el würde einen höheren Preis für bestimmte Waren aus Anyueel zahlen müssen, mit denen sein Haus gerne handelte.

*  *  *

“Ihr seid spät dran”, kritisierte Eryn den Ordensleiter und das Oberhaupt der Krieger, ohne ihre Lippen zu bewegen, während sie ihr Lächeln aufrechterhielt. “Keine gute Sache in diesem Land.”

“Die Wahl war entweder das oder betrunken und verschwitzt aufzutauchen”, konterte Enric. “Aber da das Festessen noch nicht begonnen hat und Orrin und ich sehr wichtige Personen sind, wird man uns vermutlich verzeihen.”

“So funktioniert das hier nicht, und das weißt du auch. Je höher deine Position in der Gesellschaft ist, desto eher wird von dir erwartet, dass du ein Vorbild für die Einhaltung der lokalen Werte bist.”

Er seufzte. “Ich nehme alles zurück.” Er hob ihre Hand an seine Lippen. “Verzeih uns, oh Hüterin des angemessenen Verhaltens, zu der du plötzlich mutiert bist.”

“Enric, Orrin.” Malriels Stimme veranlasste sie, sich umzudrehen. Sie trug eines von Eryns Kleidern und begrüßte die Neuankömmlinge mit einem Lächeln, das nicht bis zu ihren Augen reichte. “Wie schön, dass ihr euch uns anschließt. Ich habe mich schon gefragt, welche dringenden Angelegenheiten euch aufgehalten haben mögen.” Der Stachel war besser versteckt als in dem deutlicheren Vorwurf ihrer Tochter, aber dennoch nicht zu überhören.

Einen Augenblick später ertönte der Gong, der das Ende des zwanglosen Beisammenseins der Gäste ankündigte und ihnen signalisierte, dass sie sich in den Nebenraum begeben sollten, in dem man das Abendessen auftragen würde.

Orrin hob seinen Arm, damit Eryn ihn ergreifen konnte, während Malriel den von Enric akzeptierte.

“Wie geht es dir?” fragte Eryn den Krieger leise, während sie zu den Doppeltüren schlenderten, die von zwei Dienern offen gehalten wurden.

“Ich erfreue mich bester Gesundheit”, antwortete er mit übertriebener Förmlichkeit. “Und selbst?”

Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. “Zwing mich nicht, dir wehzutun. Wie ging es Junar, nachdem du von der Sauftour zurückgekehrt bist, auf der dich mein Gefährte begleitet hat?”

“Sie hat sich noch mit Iklan unterhalten, als ich zurückkam. Das ist ein gutes Zeichen, nehme ich an.”

“Auf jeden Fall. Iklan hat eine Art, die Dinge hervorzuholen, die man lieber für sich behalten oder nicht wahrhaben will.”

Sie näherten sich den Sitzgelegenheiten. Anders als bei ihrem allerersten Bankett hier vor mehr als sieben Jahren waren die Kissen und Tische nicht in Form eines Halbmondes angeordnet, sondern in Form des Buchstabens U.

“Gibt es jemanden, den du meiden oder neben dem du sitzen möchtest?” fragte Orrin.

“Bring mich da rüber, zu dem Mann in der schwarzen Tunika.”

“Welcher? Es gibt zwei.”

“Der mit den silbernen Stickereien an den Ärmeln und um seinen Hals.”

Der Krieger runzelte die Stirn. “Moment… Ist das nicht das Oberhaupt von Haus Roal?”

“Ja, genau der.”

“Ich glaube nicht, dass du dich zu ihm setzen solltest. Du erinnerst dich doch daran, dass sein Haus und dasjenige, das du übernehmen sollst, nicht gerade freundschaftlich miteinander verkehren? Willst du Malriel wieder provozieren? Ich dachte, ihr beide würdet euch jetzt gut verstehen.”

Eryn seufzte. “Warum fragst du mich überhaupt, wo ich sitzen möchte, wenn du nicht bereit bist zu tun, was ich sage?”

“Vielleicht hatte ich für heute genug Aufregung und würde einen ruhigen Abend ohne Feindseligkeiten vorziehen.”

“Ich verspreche, dass ich nicht die Absicht habe, Malriel Kummer zu bereiten. Dies ist lediglich eine günstige Gelegenheit, um Amgil von Haus Roal beiläufig darauf hinzuweisen, dass es vielleicht einen Weg gibt, die Spannungen zwischen unseren Häusern zu unserem beiderseitigen Vorteil beizulegen.”

“Also gut. Lass Malriel aber unbedingt wissen, dass es nicht meine Idee war, mich neben ihn zu setzen, sondern dass ich hier nur deine Anweisungen befolgt habe.”

“Sag mir nicht, dass du Angst vor der zierlichen, eleganten Malriel hast, mächtiger Krieger?”, kicherte sie.

“Vor etwa einer Stunde hat sich ein hübsches kleines Ding Enric angeboten. Er ließ den Namen Aren fallen, und das arme Ding floh und kehrte nicht mehr zurück. Ich werde sicher nicht den Fehler machen, mich mit denen anzulegen.”

Eryn wollte gerade fragen, in welchem Lokal sie getrunken hatten, in dem solche Optionen auf der Getränkekarte standen, schluckte aber ihre Frage herunter, da sie nun nahe genug waren, um von anderen Gästen gehört zu werden.

Ihr Blick fiel auf das Oberhaupt von Haus Roal, das ihre Annäherung mit einer Mischung aus Neugierde und Besorgnis beobachtet hatte.

Sie lächelte ihn an. “Amgil, erlaubst du mir, mich zu dir zu setzen?”

Er legte den Kopf schief. “Es wäre mir ein Vergnügen, Eryn. Oder wünschst du nun wieder mit Maltheá angesprochen zu werden?”

“Eryn wird für den Moment ausreichen.”

Eryn ignorierte die überraschten Blicke um sie herum. Sie hatte sich tatsächlich entschlossen, sich zu den eingeschworenen Feinden von Haus Aren zu setzen, obwohl es noch genügend andere Plätze gab. Auch wenn sie offiziell kein Mitglied des Hauses war, so sollte sie als ehemaliges Mitglied doch genug Respekt davor zeigen, um sich nicht mit jenen einzulassen, zu denen das Haus Abstand bewahrte.

“Darf ich fragen, welchen glücklichen Umständen ich das Privileg verdanke, heute Abend deine Gesellschaft genießen zu dürfen?”

Sie lächelte Amgil an und dachte, dass es ihr zum Vorteil gereichen könnte, so viele Zeugen zu haben. Vorausgesetzt, er war mehr an einem lukrativen Arrangement interessiert, als diese Gelegenheit zu nutzen, um allen zu zeigen, dass er keine Angst davor hatte, die Tochter der mächtigen Malriel zu verärgern. Was in Anbetracht der Umstände nicht allzu schlau wäre. Malriel war noch nie in ihrem Leben so mächtig gewesen wie zu diesem Zeitpunkt, und die anderen Anführer der Häuser verkehrten nur ungern mit Verbündeten, die nicht zumindest ein Mindestmaß an Besonnenheit an den Tag legten.

“Ich habe an meine Zusammenarbeit mit deinem Bauunternehmen vor einigen Jahren gedacht.”

Er nickte. “Das Waisenhaus. Ich erinnere mich selbstverständlich.”

“Ich war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und jeder, mit dem ich spreche, bestätigt, dass dein Haus die beste Qualität bietet, wenn es um Bauarbeiten geht.”

Amgil lächelte milde. “Ich verstehe. Und da sowohl die Aren Residenz als auch Malhoras Anwesen wieder aufgebaut werden müssen, möchtest du die Dienste des besten Anbieters, den du finden kannst, in Anspruch nehmen. Und vielleicht die Gelegenheit nutzen, um allen – auch oder gerade deinen Vorgängerinnen – zu zeigen, dass du keine Angst hast, von ihren Prinzipien abzuweichen und neue Wege einzuschlagen?”

Eryn seufzte innerlich. Alle ahnten also schon, was noch nicht offiziell war: dass sie im Begriff war, Haus Aren zu übernehmen. Und wenn man bedachte, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, machte es wenig Sinn, etwas anderes zu behaupten. “Es mag dich enttäuschen, aber meine Motivation ist etwas weniger kompliziert. Ich möchte lediglich Zugang zur besten Qualität haben, die es gibt, anstatt mich mit der zweitbesten zu begnügen. Warum sollte ich Nachteile in Kauf nehmen, die sich aus Konflikten ergeben, an denen weder du noch ich selbst je persönlich beteiligt waren? Du bist dir aber ebenso wie ich bewusst, dass mir ein kleines Hindernis im Weg steht. Oder besser gesagt, in unserem Weg, denn auch dein Haus würde davon profitieren.”

“Du spielst nicht zufällig auf die Rolle an, die mein Haus in Bezug auf gewisse Anschuldigungen bezüglich des Todes deines Großvaters gespielt hat, oder etwa doch?” Er warf einen kurzen Blick in Richtung der Stelle, an der Malriel saß, als wolle er herausfinden, ob sie wusste, was ihre Tochter im Schilde führte.

Eryn spürte, wie die Stimmung leicht kippte. Sein Verhalten hatte sich auf subtile Weise verändert. Es war mehr ein Gefühl als etwas, das sie genauer hätte benennen können.

“Stimmt”, bestätigte sie ruhig und wartete auf das, was als Nächstes kommen musste.

“Soweit ich weiß, war das Verhalten meines Hauses in dieser Angelegenheit nicht zu beanstanden. Es wurde ein Verbrechen begangen, und wir haben darauf bestanden, dass es untersucht wird – unabhängig davon, ob ein Oberhaupt eines Hauses das Vergehen begangen hat. Ich weiß, dass Haus Aren dazu eine andere Auffassung hatte – und sehr wahrscheinlich immer noch hat. Ich erinnere mich, dass die Akten des Falles anscheinend… irgendwann verloren gegangen sind.”

Ihre Augen verengten sich. Sie war sich ihrer Zuhörerschaft bewusst. Alle hier wussten mit Sicherheit oder vermuteten zumindest stark, dass sie im Begriff war, die Leitung von Haus Aren zu übernehmen, so dass es eigentlich keine Rolle spielte, dass sie derzeit noch nicht in dieser Funktion agierte. Was immer sie jetzt tat oder sagte, würde Konsequenzen für ihr Haus haben, so dass es kaum einen Unterschied machte, ob sie bereits eingesetzt worden war oder nicht. Sie war gerade herausgefordert worden, und ihre Reaktion darauf würde darüber entscheiden, ob einige der anwesenden Oberhäupter von Häusern, die diesem kleinen Wortwechsel jetzt gespannt zuhörten, auch in Zukunft bereit sein würden, ihre Beziehungen zu Haus Aren aufrechtzuerhalten oder nicht.

“Wie wäre es mit einer kleinen Wette, Amgil?”, antwortete sie ruhig und mit einem leisen Lächeln.

“Eine Wette, kleine Maltheá?” Jetzt provozierte er sie, indem er sie zuerst fragte, welchen Namen er benutzen sollte, nur um dann zu dem anderen zu wechseln.

“Du bist vielleicht zehn Jahre älter als ich? Nicht, dass ich irgendeinen Altersunterschied für bedeutend genug hielte, um mich von jemandem herablassend behandeln zu lassen.” Sie warf einen trägen Blick in Malriels Richtung, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Sie hatte oft genug bewiesen, dass sie nicht einmal bereit war, sich von der mächtigen Malriel von Haus Aren mit Herablassung behandeln zu lassen.

“Ich entschuldige mich”, erwiderte Amgil mit einem Lächeln und zeigte sich wieder charmant. “Dann erzähl mir von der Wette, die du im Sinn hast.”

“Wenn ich dir beweise, dass das Verhalten meiner Großmutter in Bezug auf das Ableben ihres Gefährten über jeden Zweifel erhaben war und dass dein damaliges Oberhaupt des Hauses nur aufgrund der unbegründeten und unwahren Behauptungen einer jungen Frau gehandelt hat, wirst du dich öffentlich entschuldigen und Wiedergutmachung in Form eines großzügigen Rabatts auf den Bau von drei Aren-Anwesen leisten.”

Seine Augen verengten sich. “Wenn du solche Beweise in der Hand hast, warum hat Malhora sie nicht schon vor fünfunddreißig Jahren vorgelegt?”

“Wer sagt, dass sie es nicht getan hat? Nimm meine Wette an, Amgil, und ich werde dir alles sagen, was du wissen willst, um deinen Fehler zu erkennen.” Sie beugte sich zu ihm, nah genug, um den schwachen Duft seiner Seife zu riechen. “Du hast jetzt keine andere Wahl. Du kannst meiner Herausforderung nicht aus dem Weg gehen, ohne wie ein Feigling dazustehen. Außerdem biete ich dir nichts Geringeres als die Wahrheit an. Und solltest du dich weigern, sie zu prüfen, weil du fürchtest, dass das fragwürdige Verhalten deines Vorgängers aufgedeckt wird, wird das deinem Ruf weit mehr schaden, als wenn du mutig das Risiko eingehst, dass er sich geirrt haben könnte und tust, was angemessen ist – nämlich Haus Aren zu entschädigen. Du weißt, dass mein Angebot mehr als großzügig ist.” Sie lehnte sich wieder zurück. Laut genug, damit die interessierten Zuhörer sie hören konnten, fragte sie: “Was sagst du, Amgil? Haben wir eine Wette? Oder hast du Grund, die Wahrheit zu fürchten?”

“Gewiss nicht, Maltheá. Ich freue mich darauf, die von dir versprochenen Beweise vorgelegt zu bekommen.”

Eryn hob ihre Hand und lud ihn ein, sie zu ergreifen. “Es wird mir ein Vergnügen sein. Sollen wir die Vereinbarung besiegeln?”

Einen Moment später lag Amgils leicht kühle Hand auf der ihren, dann floss Magie, um ein Kommitment erster Ebene zu errichten, mit dem sie einander versicherten, dass beide Parteien die ehrliche Absicht hatten, die Wette zu ehren.

Nachdem dies geschehen war, lehnte sich Eryn mit allen Anzeichen von Zufriedenheit zurück und erlaubte Amgil, ihr eine Portion des Essens zu reichen, das die Diener zu bringen begonnen hatten.

Er hielt die Schüssel noch einen Moment länger fest, als sie danach griff, um sie entgegenzunehmen. “Warum willst du drei Gebäude errichten lassen, Maltheá, wenn nur zwei zerstört wurden?”

“Auf unserem kleinen Hügel hier in Takhan wird es zwei Wohnsitze geben statt eines einzigen”, erklärte sie.

Er lachte aufrichtig und amüsiert. “Ich würde dir schon allein deshalb einen beträchtlichen Preisnachlass gewähren, um beobachten zu können, wie das Zusammenleben von dir und Malriel in so unmittelbarer Nähe verläuft.”

Eryn zog die Schale an sich, als er sie endlich losließ, und widerstand dem Drang, ihm den Inhalt über den Kopf zu kippen.

*  *  *

“Malriel sieht ein wenig angespannt aus, wie ich nicht umhin komme zu bemerken”, kommentierte Vran’el mit einem Anflug von unangebrachter Heiterkeit. “Aber ich muss sagen, dass sich Eryn gut genug geschlagen hat. Ich gehe davon aus, dass sie wirklich im Besitz der Beweise ist, die sie angeblich vorlegen kann? Alles andere wäre immens töricht gewesen. Wir schätzen das Selbstvertrauen unserer Hausoberhäupter, aber nicht, wenn es auf Treibsand aufbaut.”

Enric nickte. “Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Inzwischen solltest du wissen, dass deine Schwester keine leeren Versprechungen macht. Oder Drohungen, was das betrifft.”

Es gab mehr als eine Möglichkeit, Amgil gegenüber Malhoras Unschuld zu beweisen. Die erste war, Malhora einem Wahrheitsfilter zu unterziehen. Das würde ihr zwar keineswegs zusagen, aber sie würde dem wahrscheinlich zustimmen, da eine Verweigerung der Kooperation zur Bestätigung eines Abkommens, das die zukünftige Anführerin ihres Hauses eingegangen war, den Namen Aren beflecken würde. Die Chancen standen jedoch gut, dass dies nicht notwendig sein würde. Es war zwar zutreffend, dass man die Akten vor dreieinhalb Jahrzehnten hatte verschwinden lassen, aber er bezweifelte sehr, dass sie vernichtet worden waren. Es war viel wahrscheinlicher, dass sie weggeschlossen waren – beispielsweise in dem Kellergewölbe unterhalb der Aren Residenz, das glücklicherweise von der oberirdischen Zerstörung verschont geblieben war.

“Es gibt etwas, das ich dich fragen wollte”, wandte er sich an den Bruder seiner Gefährtin. “Orrin und ich haben ein Lokal gleich hinter der alten Künstlerakademie besucht. Dort wurde uns ein sehr interessantes Gebräu serviert. Eines, das unsere Köpfe in kürzester Zeit wieder klar hat werden lassen. Es war, als würden wir innerhalb weniger Minuten sämtliche Phasen der Ausnüchterung durchlaufen – und das bei nur sehr leichten Symptomen. Mir wurde gesagt, dass Haus Vel’kim der Lieferant ist. Warum habe ich davon nichts gewusst? Und warum habe ich dich mehr als einmal unter den Folgen von übermäßigem Alkoholgenuss leiden sehen, wenn du im Besitz eines solchen Rezeptes bist?”

Vran’el lachte leise. “Ja, es ist fantastisch, nicht wahr? Ich bin erst vor kurzem über diesen kleinen Schatz gestolpert. Ich habe vor etwa zwei Jahren begonnen, die alten Unterlagen aus der Zeit meines Vaters als Oberhaupt des Hauses durchzusehen. Detaillierte Aufzeichnungen über Verträge, Berichte von jedem unserer Unternehmen, angenommene und abgelehnte Projekte… Unter letzteren fand ich einen Brief, der das Rezept enthielt. Eine meiner vielen Cousinen hatte es sich ausgedacht und es Vater als Geschäftsmöglichkeit präsentiert. Er hat es abgelehnt. Du weißt ja, wie er darüber denkt, die unangenehmen Folgen von übermäßigem Trinken wegzuheilen und die Leute lieber darunter leiden zu lassen, damit sie ihre Lektion lernen. Wenn man alt genug ist, um zu trinken, ist man auch alt genug, um die Konsequenzen zu tragen”, ahmte er seinen Vater nach.

Valrad, der nicht weit von ihm entfernt saß, drehte den Kopf und warf seinem Sohn einen skeptischen Blick zu, da er offensichtlich seine eigenen Worte wiedererkannte und nicht besonders erfreut darüber war, sie mit diesem genervten Unterton zitiert zu hören.

“Du solltest vielleicht etwas leiser sprechen”, murmelte Enric.

Vran’el zuckte mit den Schultern. “Zum Glück bin ich zu alt für Ausgangsverbote. Also, wo war ich?”

“Valrad hat den Vorschlag deiner Cousine abgelehnt.”

“Ah, ja. Wie du dir sicher vorstellen kannst, war ich begeistert. Ich habe mich mit ihr in Verbindung gesetzt und sie gebeten, den drei Häusern, die entsprechende Etablissements betreiben, ein paar Flaschen als Kostprobe zur Verfügung zu stellen.” Er schmunzelte. “Alle drei wollten das Rezept sofort kaufen, und dann kamen noch weitere Angebote dazu. Ich habe natürlich abgelehnt und stattdessen begonnen, Kaufverträge auszuhandeln. Der große Vorteil ist, dass jeder es anwenden kann, ohne einen Magier zur Hand zu haben – oder darauf angewiesen zu sein, dass dieser bereit ist, zu helfen, anstatt einem mit einem Anflug von Überlegenheit beim Leiden zuzusehen.” Er blickte mit missmutiger Miene in die Richtung seines Vaters.

“Ich stimme zu, das ist ein sehr nützliches Mittel. Deshalb wollte ich mit dir über den Kauf des Rezepts sprechen. Natürlich nicht für den ausschließlichen Gebrauch. Oder besser gesagt, nur für den exklusiven Gebrauch in Anyueel. Ich wäre bereit, einen guten Preis zu zahlen und biete dir darüber hinaus eine Gewinnbeteiligung an.”

Vran’el grinste. “Und warum sollte ich ein solches Angebot annehmen, wenn ich mein wundersames Heilmittel genauso gut an die Händler von Anyueel verkaufen und sowohl mein Rezept als auch den gesamten Gewinn behalten könnte, anstatt nur einen Anteil daran zu erhalten?”

Enric lächelte. “Weil ich auch nach meinem Weggang aus Anyueel einige meiner Geschäfte dort weiterführen und ein gutes Verhältnis zu König Folrin pflegen werde. Ich kann dir versichern, dass du auf unüberwindliche Hindernisse stoßen wirst, wenn du versuchst, in diesen Markt einzutreten. Zum Beispiel das Problem, jemanden zu finden, der deine Produkte transportiert, da ich derzeit noch im Besitz des einzigen Reedereibetriebs in Anyueel bin und einen Anteil an allen Unternehmen in Takhan besitze, die nach Anyueel verschiffen. Und selbst wenn es dir gelänge, jemanden zu finden, der deine Ware nach Anyueel bringt, würdest du feststellen, dass der Hafen sich weigert, deine Fracht zu übernehmen. Ich habe den Wiederaufbau des Hafens finanziert, nachdem wir den Handel mit eurem Land aufgenommen haben, also habe ich auch dort einen gewissen Einfluss.”

“Verdammt noch mal, Enric! Gibt es irgendetwas, wo du nicht mit drinhängst?”

Enric schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. “Derzeit? In dem Verkauf deines Zaubertranks, aber ich hoffe, dass ich das ändern kann. Was soll es denn nun sein, Vel’kim? Eine profitable Zusammenarbeit mit mir oder ein frustrierender Alleingang? Falls du dich für Letzteres entscheidest, mach dich darauf gefasst, dass einige deiner anderen Produkte aus Anyueel erst mit einer gewissen Verzögerung eintreffen werden. Und auf unvorhergesehene Preissteigerungen.”

“Ich kann nicht glauben, dass du mich auf diese Weise erpresst! Deine eigene Familie!”

“Du hast die Wahl, Vran. Du kannst erhobenen Hauptes beschließen, nicht so tief zu sinken, dass du dich erpressen lässt. Du musst nur bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. In Gold.”

Vran’el seufzte und schüttelte den Kopf. “Na gut, hier ist mein Angebot: Ich behalte das alleinige Eigentum an der Rezeptur und werde die Produktion ausweiten. In Anyueel ist das ohnehin nicht möglich, denn ihr braucht frische Kräuter, die nur in warmen Gefilden wachsen. Sie wären mehr oder weniger unbrauchbar, wenn man sie mehrere Tage lang transportierte. Du wirst als Vermittler fungieren und für deine Mühe einen großzügigen Anteil am Gewinn erhalten.”

Enric lehnte sich zurück. “Das klingt doch schon wesentlich vielversprechender, mein Freund. Du wirst sehen – wir werden bald in jedem Haushalt eine Flasche davon haben.”

Das Oberhaupt von Haus Vel’kim schnaubte. “Das wäre ein wahrgewordener Albtraum für meinen Vater. Also legen wir los!”

<<<<>>>> 

Buch 8 ist veröffentlicht!

Es hat gedauert – laaaaaange Zeit! Weil so viel dazwischen gekommen ist – zuerst eine Masterarbeit mit einer Deadline, und dann haben wir auch noch ein Haus gekauft. Oder etwas, aus dem Mal ein Haus werden soll. Rohbau nämlich. Da fließt auch Zeit & Energie rein.
Nur zur Info, warum es dieses Mal gar so lange gedauert hat.
Eigentlich war geplant, dass Buch 8 das letzte in der Serie wird. Als ich aber mit dem Zusammenkürzen beginnen wollte, weil ich die maximale Seitenzahl für die Druckversion schon überschritten hatte, hat mir ein lieber Freund einen Rat gegeben, der sich für mich absolut richtig und stimmig angefühlt hat: Ich soll lieber noch ein Buch dranhängen und dafür ein ordentliches, nicht überhastetes Ende schreiben. Weil so etwas eine ganze Geschichte ruinieren kann. Ich soll meinen Lesern ein langsames Ausgleiten gönnen. Wo man ein wenig Einblick in das Leben nach all der Action erhält.
Und somit gibt es ein Buch 9.
Dann ist aber wirklich Schluss.
Versprochen!

„Gekreuzte Klingen“ – Der Orden: Buch 8

Kapitel 1

Wieder Zuhause

Sobald das Schiff am Pier der königlichen Stadt Anyueel vertäut und der Landungssteg positioniert war, ging König Folrin ohne viel Aufhebens von Bord. Sein Ärger jedoch, der seinen Schritten eine gewisse Energie und seiner Miene mehr als nur einen Hauch von Grimmigkeit verlieh, war unverkennbar.

Königin Del’na’bened, nunmehr in festlicheren Gewändern als in ihrer Reisekleidung, die sie noch vor einer Stunde getragen hatte, folgte ihm eilig.

Vern, Junar, Téa und Temina verfolgten überrascht, wie das königliche Paar auf die wartende Kutsche zuschritt, ohne ihre Umgebung auch nur eines Blickes zu würdigen.

“Folrin, das war doch nicht ihre Absicht”, schnappten sie die Worte der Königin auf, die ihren Gefährten zu beruhigen versuchte.

Jede erkennbare Wirkung auf ihn blieb aus. Seine Lippen zu einer dünnen Linie gepresst, trat er lediglich zur Seite, um seine Gefährtin als Erste in das Gefährt einsteigen zu lassen. Dann warf er Eryn, die gerade den Pier betrat, einen letzten vernichtenden Blick zu, bevor er – ohne dafür auf den Kutscher zu warten – die Tür nachdrücklich hinter sich schloss, um sich von ihr fort und zu seinem Palast bringen zu lassen.

Eryn atmete aus und umklammerte Vedrics Hand um sicherzugehen, dass er nicht auf die wartende Gruppe zulaufen konnte. Es war ihm nicht erlaubt zu laufen, wenn die Gefahr bestand auszurutschen oder zu stolpern und im Fluss zu landen. Doch das pflegte er jedes Mal zu vergessen, wenn er jemanden erblickte, den zu begrüßen er ganz erpicht war.

Enric und Orrin folgten ihr. Orrins gesamte Haltung veränderte sich mit jedem Schritt, mit dem er die Distanz zwischen sich und seiner Familie, die er seit Monaten nicht gesehen hatte, verringerte. Und doch versäumte er nicht, als Vorbild aufzutreten, so wie es von ihm erwartet wurde. Daher nahm er davon Abstand, auf sie zuzulaufen wie er es vorgezogen hätte. Nein, er bewegte sich lediglich raschen Schrittes auf sie zu und demonstrierte so den beiden Kindern, dass auf einem Pier nicht gerannt werden durfte, während sein Blick fest auf Junar und das Mädchen an ihrer Seite gerichtet blieb.

Eryn spürte, dass sie nun, wo der König fort war und sie für den Moment von seiner Theatralik verschont blieb, unbeschwerter atmen konnte. Den gesamten vergangenen Tag über war er absolut unausstehlich gewesen. Wie konnte ein Mann, der ein ganzes Land zu regieren hatte, dermaßen zimperlich sein?

Sie beobachtete, wie Orrin endlich die wartende Gruppe erreichte und Junar in einer stürmischen Umarmung an sich zog. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, als sie ihn an sich drückte und ihr Gesicht in seinem Hals vergrub. Ihnen blieben nur wenige Sekunden, um ihre Wiedervereinigung ungestört zu genießen, bevor das Mädchen neben ihnen am Hemd ihres Vaters zupfte, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. Orrin hob sie mit einer schwungvollen Armbewegung hoch, dann setzten sie die Umarmung zu dritt fort.

Vern beobachtete die Szene lächelnd. Dann wandte er sich um und blickte Eryn, Enric und Vedric entgegen.

“Willkommen zurück”, grüßte er sie, dann nickte er mit dezent resignierter Miene in Richtung des Schiffsrumpfs. “Würdest du mir wohl erklären, warum im Rumpf dieses Schiffs ein Loch klafft? Das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, warum der König dermaßen pikiert ist?”

Eryn drehte sich in die Richtung, in die er deutete, und betrachtete die mächtige Lücke, die vom blassblauen Schimmern eines magischen Schildes überzogen war. Sie ermöglichte einen ungehinderten Blick in den Schiffsbauch. Kein alltäglicher Anblick. Was auch der Grund war, weshalb mehr und mehr Passanten anhielten um zu gaffen.

Temina grinste und nickte ihrer Tante zu. “Das warst du, nicht wahr? Die Königin hat so etwas erwähnt, glaube ich.”

Vedrics Gesicht wandelte sich zu einer Maske vorgetäuschten Entsetzens, doch das Glänzen in seinen Augen verriet ihn. “Es war entsetzlich! Ich habe geschlafen, und dann war da dieser wirklich, wirklich laute Knall! Und dann war überall Wasser! Alles war nass und kalt und alle haben geschrien und sind herumgelaufen!”

Eryn verzog das Gesicht. “Es gab da ein winziges Missgeschick.” So hatte sie sich ihre Rückkehr hierher wahrlich nicht vorgestellt – dass sie ihren jüngsten Akt der Zerstörung rechtfertigen musste.

Vern schnaubte und besah sich den Schaden erneut. “Winzig? Das Loch ist unschwer so groß wie ich! Ich bin nicht sicher, ob ich froh sein soll, dass ich nicht auf dem Schiff war und um mein Leben fürchten musste, oder ob ich es bedauern soll, dass mir dieses zweifellos beispiellose Spektakel entgangen ist.” Schließlich trat er auf sie zu. “Aber zuerst lass mich dich ordentlich begrüßen.” Er umarmte sie und fuhr fort: “Ganz egal, was du wieder angestellt hast, ich bin froh, dass du zurück bist.”

Temina begrüßte inzwischen ihren Onkel. Ihre Augen nahmen sein Gesicht in sich auf, und sie runzelte verwirrt die Stirn. “Enric, du siehst… verändert aus”, beendete sie den Satz etwas hilflos, da sie es nicht vermochte, die Veränderung auf den Punkt zu bringen.

Vern löste sich von Eryn und musterte Enric kurz. “Du hast ein wenig an Gewicht verloren. Und die Linien um deine Augen und auf deiner Stirn sind etwas tiefer als ich sie in Erinnerung habe”, analysierte er mit der Zügigkeit eines ausgebildeten Heilers. “Was ist dir widerfahren?” Er nickte zum Schiff hin. “Ich nehme an, dahinter steckt etwas mehr als das, was sie als ihr winziges Missgeschick bezeichnet?”

Eryn seufzte. Also hatte sich Enrics Entführung in Pirinkar noch nicht weit genug verbreitet, um in Anyueel allgemein bekannt zu sein. Aber das war nur eine Frage der Zeit – in Takhan wussten zu viele Leute darüber Bescheid, und es gab zahlreiche formelle und informelle Kontakte zwischen den Bürgern beider Länder. Das bedeutete, es würde nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben.

“Reden wir doch später darüber, ja?”, schlug sie vor, als Orrin sich gerade von seiner Gefährtin und seiner Tochter löste. Sein Gesichtsausdruck war weicher, so als hätte die Wiedervereinigung mit seiner Familie ihn um eine schwere Bürde erleichtert.

Eryn lächelte Junar an und wollte für eine Umarmung auf sie zugehen, doch die Worte der anderen Frau ließen sie mitten im Schritt innehalten.

“Du kehrst also wieder zurück – das Schiff in Trümmern, der König zornig und drei Länder im Krieg miteinander”, schleuderte ihr die Schneiderin ohne jede Vorwarnung entgegen, während ihre Stimme bebte. “Ich schätze, ich sollte dankbar sein, dass zumindest mein Gefährte unversehrt zurück ist.”

“Junar, das ist nicht fair”, erwiderte Enric ruhig. Er widerstand dem Impuls, Eryn seinen Arm um die Schultern zu legen. Damit würde er den Eindruck erwecken, sie wäre zu ihrer Verteidigung auf ihn angewiesen. Nun, zumindest noch mehr als seine Worte es ohnehin bereits nahelegten. “Aber das ist kaum ein geeigneter Zeitpunkt, um über das zu sprechen, was dir so viel Kummer bereitet. Wir sind gerade erst angekommen und würden gerne nach Hause zurückkehren, auspacken und uns dann etwas ausruhen.”

“Es ist nicht fair, dass du so etwas zu meiner Mutter sagst!”, pflichtete Vedric bei, verstummte aber auf den warnenden Blick seines Vaters hin. Es schien als wäre dies eine weitere dieser Situationen, wo es nur in Ordnung war, wenn ein Erwachsener etwas aussprach, nicht aber, wenn er das tat.

Orrin wirkte ebenfalls, als wollte er etwas loswerden, doch er besann sich eines Besseren. Er brachte es nicht über sich, seine Gefährtin für ihre harschen und wenig gerechtfertigten Worte zu schelten, nachdem er gerade erst zu ihr zurückgekehrt war.

“Ich denke, wir werden ebenfalls heimkehren”, verkündete der Krieger und nahm Junar und Téa jeweils an einer Hand.

Die kleine Familie ging auf die wartende Kutsche zu und war kurz darauf fort.

“Was hat sie denn für ein Problem?”, fragte Temina ungläubig und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter dorthin, wo sich Junar noch vor ein paar Augenblicken befunden hatte. “Ich meine, du bist gerade erst vom Schiff gekommen! Und es ist nicht deine Schuld, dass Orrin in Takhan festgesessen ist! Ich dachte, sie sei deine Freundin!”

Vern fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und antwortete: “Die Zeit ohne Vater war schwierig für sie. Sie hat ihn sehr vermisst. Und sie hat um sein Leben gefürchtet, besonders nachdem sie von dem Angriff auf Malriels Haus gehört hat. Und dass Téa immer schwieriger zu kontrollieren war, hat auch nicht gerade geholfen. Ihr Verhalten hat sich beträchtlich verbessert, nachdem Vater mit ihr zu trainieren begonnen hatte. Als er dann nicht mehr hier war, um ihr Grenzen zu setzen und Zeit mit ihr zu verbringen, ist sie wieder zu einigen ihrer vorherigen, weniger angenehmen Verhaltensweisen zurückgekehrt.”

Eryn seufzte, als sie zu verstehen begann. “Und für all das gibt sie mir die Schuld. Weil es meine Mutter war, die nach Orrin verlangt hat, um meinen Sohn zu beschützen.”

Vern wirkte gepeinigt, hin und her gerissen, die Gefährtin seines Vaters zu verteidigen und zuzugeben, wie irrational ihre Attacke auf Eryn gewesen war.

“Möglicherweise. Bis zu einem gewissen Grad. Obwohl sie weiß, dass du nicht wirklich daran Schuld bist – du hast nie darum gebeten, dass man euch nach Pirinkar schickt. Und wenn wir uns ansehen, wie sich die Dinge entwickelt haben, war es gut, dass Vater dort war, um Vedric zu beschützen. Sie hat nicht wirklich über ihre Worte nachgedacht. Sie musste nur irgendwie ihre Frustration loswerden.” Er räusperte sich und deutete auf das übel zugerichtete Schiff, bestrebt, das Thema zu wechseln. “Ich würde wirklich gerne wissen, wie das passiert ist. Warum hast du ein Loch in das Schiff gesprengt?”

“Tatsächlich war Enric derjenige, der das getan hat”, erwiderte sie müde. “Aber ich war sozusagen der Auslöser. Warum kommt ihr beiden nicht mit zu uns auf ein Getränk?”

 

*  *  *

 

Enric atmete aus und genoss den Akt des Schließens der Tür zu seinem Heim, mit dem er die Außenwelt aussperrte und nur jenen Zutritt zu seinem privaten Reich gewährte, deren Anwesenheit er dort auch wirklich schätzte. Für den Augenblick gab es keine Anordnungen, denen er sich zu beugen hatte – keine Befehle des Königs, keine Vorladung von Tyront. Sie waren einfach nur eine normale Familie, die von einer eher erschöpfenden Reise zurückkehrte. Mit dem König und der Königin. Auf einem Schiff, das beinahe in Stücke gesprengt worden war. All das dehnte den Begriff der normalen Familie womöglich etwas zu sehr.

Vern und Temina traten direkt hinter ihnen ein und stießen einen zufriedenen Seufzer aus, als wären sie ebenfalls gerade nach mehreren Monaten Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt.

Enric tauschte einen amüsierten Blick mit seiner Gefährtin.

Vedric kämpfte mit seinen Schuhbändern, schleuderte die Schuhe von seinen Füßen, ließ seinen Umhang zu Boden fallen und sauste dann zu den Stufen und in sein Zimmer hinauf.

Seine Mutter schüttelte den Kopf, während sein Vater die Unordnung beseitigte, die der Junge hinterlassen hatte.

Ungebeten, doch in dem Vertrauen, dass dies hier so etwas wie sein drittes Zuhause war – zusätzlich zu seinem Quartier und dem seines Vaters – ließ Vern sich auf ein Sofa fallen und klopfte auf den Platz neben sich als Signal für Temina.

Mit Interesse bemerkte Eryn, wie das Mädchen zu ihm ging und der Einladung ohne das geringste Zögern folgte. Diese beiden jungen Menschen fühlten sich wohl miteinander wesentlich wohler als noch vor ein paar Monaten, und sie fragte sich, welcher Natur ihre Beziehung wohl war. Freunde? Bettgenossen? Irgendetwas dazwischen? Das war der Nachteil dabei, wenn man für so lange Zeit fort musste – es entging einem so viel von dem, was vor sich ging, aber nicht spektakulär genug war, um es in einer Nachricht zu erwähnen. Es war ein wenig als müsste sie die Leute in ihrem Leben neu kennenlernen.

Was auf jeden Fall mehr als zutreffend war, wenn sie an ihre kurze, aber erschütternde Begegnung mit Junar dachte.

“Was möchtet ihr trinken?”, fragte Enric, während er an den Barschrank trat und nahtlos in die Rolle des aufmerksamen Gastgebers schlüpfte.

Vern bat um ein Glas Wein, und ebenso Temina, wenn auch mit einer etwas übertriebenen Lässigkeit, die nahelegte, dass sie darauf wartete, ob man ihrem Wunsch nachkommen würde.

Enric spitzte die Lippen. “Weiß deine Großmutter, dass du Alkohol trinkst?”

Seine Nichte seufzte, und ihre Schultern sanken ein wenig ein. “Nein.”

Eryn spürte seine Belustigung durch das Geistesband, wenngleich auf seinem Gesicht keine Spur davon erkennbar war.

“Ich verstehe.” Er nickte. “Und würde sie das gutheißen?”

“Dass du überhaupt fragen musst zeigt sehr deutlich, dass sie nicht diejenige war, die dich großgezogen hat, als du alt genug warst, um dich für Alkohol zu interessieren”, knurrte Temina.

Enric gab vor, einen Moment lang nachzudenken. “Ich schätze, aufgrund deiner Ehrlichkeit kann ich dir ein wenig Nachsicht zeigen.”

“Wo ist übrigens Plia?”, fragte Eryn, während Enric vier Gläser Rotwein einschenkte. “Normalerweise begrüßt sie uns am Pier.”

“Sie arbeitet”, antwortete Vern. “Wo sollte sie wohl sonst sein? Ich glaube, sie unterrichtet heute die neuen Apotheker.”

“Also eifrig wie eh und je. Wie sieht es mit dir aus? Jetzt, wo du wieder zum Heilen zurückgekehrt bist, hoffe ich nicht, dass du entdeckt hast, dass dir das Reinigen der Pferdeställe und Böden mehr Spaß macht als dein alter Beruf.”

Der junge Mann schnaubte und nahm das Glas entgegen, das Enric ihm reichte. “Ganz gewiss nicht! Obwohl Lord Poron es mir nach meiner Rückkehr nicht gerade leicht gemacht hat. Ich habe mehr als meinen Anteil an weniger beliebten Schichten abbekommen. Aber ich beklage mich nicht”, fügte er hastig hinzu.

Sie hoben ihre Gläser.

“Auf die Familie”, sprach Enric und hob das seine.

Die anderen drei lächelten und wiederholten seine Worte.

“Also”, begann Vern nach seinem ersten Schluck, “du hast versprochen, das Geheimnis hinter dem zerstörten Schiff zu lüften.”

“Zerstört”, wiederholte Eryn verächtlich und winkte ab. “Das ist doch bloß ein Kratzer.”

“Ich konnte hineinsehen!”, rief Temina aus. “Das Schiff ist ruiniert! Was ist passiert? Ihr wurdet doch nicht angegriffen, oder?”

Eryn rieb sich über die Stirn und nahm auf einem der Stühle Platz. “Nein, nicht wirklich. Es war ein Unfall.” Sie atmete aus und fragte sich, wo sie mit ihrer Erzählung beginnen sollte. “Ihr wisst, dass wir nach Pirinkar geschickt wurden.”

Beide nickten.

“Enric und ich waren… eine Zeitlang getrennt. Das hat zu der Entdeckung geführt, dass wir anscheinend dazu in der Lage sind, Magie durch unser Geistesband zu schicken”, fuhr sie fort und verschwieg sorgsam alles, worüber sie derzeit nicht wirklich sprechen wollte. “Allerdings kann keiner von uns sagen, wie das genau funktioniert. Als wir also auf dem Schiff waren und drei Tage lang nichts Besseres zu tun hatten als die Wellen anzustarren…”

Vern zog die Augenbrauen hoch. “Da dachtest du, du könntest die Zeit ebenso gut für ein paar Experimente nutzen? Obwohl der König und die Königin an Bord waren?”

“Nun, ja. Ich hatte nicht wirklich mit einem dermaßen dramatischen Resultat gerechnet”, verteidigte sie ihre unglückselige Entscheidung.

Der junge Mann sah zu Enric. “Und du hattest dazu überhaupt nichts zu sagen?”

“Ich wurde nicht konsultiert”, erwiderte er mit einem Seitenblick auf seine Gefährtin.

“Was bedeutet das Loch im Schiff nun?”, erkundigte sich seine Nichte. “Hat es funktioniert oder nicht?”

“Sagen wir einfach, wir haben etwas Neues gelernt, wenn auch nicht ganz so viel wie erhofft”, versuchte Eryn es auf neutrale Weise zu formulieren.

“Jetzt sag schon, wie ist es passiert? Das ist ja wie Zähne ziehen!”, beklagte sich Vern und zeigte erste Anzeichen von Ungeduld.

“Es war spät in der Nacht”, begann Eryn, “und außer der Mannschaft war ich die Einzige, die noch wach war. Ich habe einige Zeit damit verbracht, aufs Meer hinauszuschauen und nachzudenken. Es muss um Mitternacht herum gewesen sein, als ich zu überlegen begann, ob ich das, was oben in Pirinkar passiert ist, wohl wiederholen könnte. In kleinerem Maßstab. Also habe ich die Augen geschlossen und mich konzentriert. Ich dachte, ich müsste es bemerken, falls es funktioniert, weil Enric davon aufwachen würde. Nach einigen misslungenen Versuchen begannen meine Gedanken abzudriften zu… Dingen, die in Kar passiert sind. Erschütternde Dinge. Meine Vermutung ist, dass ich ein wenig eingeschlafen bin und meine dabei Gedanken irgendwie auf dem gleichen Pfad geblieben sind. So haben sich wohl aus meinen vorhergehenden Überlegungen recht unangenehme Träume ergeben. Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, als jemand über meine Beine gestolpert ist, und dieser unerwartete Zwischenfall in Kombination mit dem, was während des Schlafens in meinem Gehirn vorging, muss vollbracht haben, was ich in wachem Zustand nicht geschafft habe.”

“Was bedeutet, du hast irgendwie deine Magie an Enric geschickt?”, fragte Vern mit ungläubiger Miene. “Ich wusste nicht einmal, dass euer Geistesband so etwas kann! Es hat also funktioniert?”

“Sagen wir lieber, es gab einen unübersehbaren Effekt”, warf Enric ein. “Zu behaupten es hätte funktioniert wäre ein wenig zu hoch gegriffen, da es keine bewusste Bemühung war, die sich beliebig wiederholen ließe. Und vergessen wir nicht das gigantische Loch in der Schiffshülle. Das ist nicht gerade meine Vorstellung von Erfolg.”

“Enric hat meine Magie empfangen”, fuhr Eryn fort, “allerdings hat er zu dem Zeitpunkt geschlafen und war somit nicht wirklich in der Lage, sie zu kontrollieren. Also… kam sie einfach aus ihm heraus.” Sie untermalte ihren letzten Satz mit einer Handbewegung, die eine Explosion darstellen sollte.

“In Form eines Blitzes, der das Schiff getroffen hat”, fügte er der Vollständigkeit halber hinzu.

Vern erschauderte, als er sich das vorstellte. “Das muss ein böses Erwachen gewesen sein. Zum Glück hast du lediglich die Schiffshülle getroffen und keine Person.”

“Vedric hat auf der Pritsche gegenüber von mir geschlafen. Aber der Blitz hätte ihn nicht verletzt. Zumindest nicht stark. Er war mächtig genug, um Holz zu durchschlagen, hätte ihn aber nur umgeworfen. Der menschliche Körper kann magische Attacken recht gut wegstecken.”

“Ich weiß”, seufzte Vern. “Ein Großteil davon zerstreut sich entlang der Haut. Du erinnerst dich, dass ich sowohl ein Magier als auch ein Heiler bin?”

Eryn grinste, zufrieden, dass zur Abwechslung einmal jemand anderer als sie selbst die Aufmerksamkeit auf seine Tendenz zum übermäßigen Erklären lenkte.

Temina lehnte sich fasziniert vor. “Da muss dann aber eine Menge Wasser ins Schiff gelaufen sein, wenn ich an die Position des Lochs denke”, schlussfolgerte sie.

“Das stimmt”, bestätigte Enric. Noch einmal durchlebte er die fürchterlichen Sekunden, deren Beginn ein heftiger Schwall Wasser ins Gesicht gewesen war nur eine Sekunde nachdem die Magie, die aus ihm herausgebrochen war, ihn aus seinen Träumen gerissen hatte. “Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was vor sich ging, und in der Zwischenzeit war das Wasser in der Kabine knietief, und die Hülle hatte begonnen, Planke für Planke wegzubrechen. Der Mannschaft war aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Einerseits war da der Knall meines Blitzes gewesen, und dann begann das Schiff zu kippen.” Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. “Alle begannen herumzulaufen und zu schreien. Es war das reinste Chaos.”

“Ihr seht also – ein Missgeschick”, betonte Eryn einmal mehr. “Es ist nicht einmal passiert, während ich bewusst damit experimentiert habe, sondern erst hinterher. Ich sehe also nicht, weshalb der König mir die Schuld dafür gibt.”

“Ach nein?”, fragte Vern. “Normalerweise fließt keine Magie zwischen euch beiden, wenn ihr schlaft, also musst du irgendwas getan haben.”

“Ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich habe den letzten Tag an Bord damit verbracht, darüber nachzudenken.” Ihre Miene verfinsterte sich. “Dafür hatte ich eine Menge Zeit – weder der König noch die Mannschaft waren nach dem Vorfall besonders erpicht darauf, mit mir zu reden. Die Königin hat versucht, ihn zu besänftigen, aber ich habe gesehen, dass sie ebenfalls erschüttert war.”

“Unglaublich”, staunte Vern, “wie du es immer wieder schaffst, Dinge auf die spektakulärste Art und Weise zu zerstören. Zuerst die Senatshalle, und jetzt das Schiff mit dem König und der Königin an Bord…”

“Und eine Gebirgsfestung, die in massives Gestein gehauen war, wo sie gerade dabei war…”, murmelte Enric und nahm einen großen Schluck von seinem Glas.

Temina und Vern blickten ihn beide an als versuchten sie herauszufinden, ob er zu scherzen beliebte.

“Das ist Unsinn”, entschied der junge Mann schließlich, “niemand kann so etwas zerstören.”

Enric lächelte matt. “Willst du wetten?”

 

*  *  *

 

“Du hast eine Bergfestung zerstört”, murmelte Vern. Einen Tag später dachte er noch immer fassungslos an das, was Enric ihm mit Hilfe dieses raffinierten kleinen Tricks aus Pirinkar gezeigt hatte. “Du hast sie vollkommen vernichtet? Wie? Ich meine… wie?”

Eryn, die die letzten paar Schritte zur Klinik neben ihm zurücklegte, zuckte mit den Schultern. “Es war eine Art Eingebung. Ich bin einfach… mit dem Gestein unter mir in Kontakt getreten und mit meiner Magie darin eingetaucht, dann hat es mir gewissermaßen gezeigt, was zu tun ist.”

Vern bedachte sie mit einem skeptischen Blick, als hätte sie sich nun vollständig von ihrem Verstand verabschiedet. “Du hast dich mit den Steinen unterhalten? Und sie haben geantwortet?”

Vor der Eingangstür hielt sie inne. “Es klingt verrückt, wenn du es so ausdrückst. Ich bin nicht irre. Es war als hätte ich gespürt, was unter mir liegt, die unterschiedlichen Schichten übereinander, die Art und Weise, wie sie sich um mich herum ausgedehnt und gekrümmt haben… Was so eindrucksvoll aussieht, wenn Enric seine Erinnerungen projiziert, ist kein Kraftakt oder der Einsatz von brachialer Stärke. Es ist ein kleiner Anstoß mit einer unglaublich mächtigen Auswirkung. Ich habe lediglich Magie an einer der Schichten entlang geschickt und sie dort an die Oberfläche treten lassen, wo ich sie gebraucht habe – und damit die Struktur des Gesteins minimal verändert, damit es sich ausdehnt. Der Fels wurde formbar und war damit kein stabiler Untergrund mehr. Und plötzlich war diese Monstrosität von einer Festung in einer Wolke aus grauem Staub verschwunden.”

Verwundert schüttelte der junge Mann den Kopf. “Wie entdeckst du sowas bloß immer wieder? Niemand außer dir käme auf den Gedanken, Gesteinsschichten zu untersuchen, um etwas dem Erdboden gleichzumachen. Jeder andere würde einfach nur eine Menge Magie in Form von Blitzen loslassen.”

“Das würden Krieger tun. Und es wäre dämlich gewesen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich dafür ohnehin zu weit entfernt gewesen wäre, hätte es selbst bei einem starken Magier eine Ewigkeit gedauert, eine Struktur aus massivem Fels zu zerschlagen. Man hätte Stück für Stück von außen abtragen und mit jedem Blitz ein paar Brocken ablösen müssen. Selbst wenn Enric und Lord Tyront gemeinsam an die Sache herangegangen wären, wären sie nach kaum mehr als einer Stunde vollkommen erschöpft gewesen.”

“Und dann diese Sache mit dem Geistesband… Du hast gesagt, ihr wurdet in Pirinkar getrennt – warum? Hat das irgendetwas mit Enrics Veränderung zu tun?”

Eryn zwang sich, ihr Unbehagen mit einem Lächeln zu kaschieren. Da gab es so Vieles, das sie ihm nicht erzählen konnte, Dinge, von denen sie wusste, dass sie zuerst bei Tyront nachfragen musste, ob jemand davon erfahren durfte. So wie Enrics Entführung, die Tatsache, dass sie sich im Krieg befanden, oder sogar das Geheimnis der Kampftechnik der Bendan Ederbren, über das sie gestolpert war.

Sie war mehr als nur ein wenig überrascht, dass Enric Vern nicht nur seine neue Fähigkeit zum Projizieren von Bildern auf einen magischen Schild demonstriert, sondern ihm auch die Herangehensweise erklärt hatte – ohne vorher den Orden zu Rate zu ziehen.

Das war ungewöhnlich für einen Mann, der den Großteil seines Lebens hinweg gewisse Fertigkeiten für sich behalten hatte, um sich so in diesem Sumpf aus Magiern, Politikern und Spionen einen Vorteil zu sichern. Es schien, als hätte ihre eigene Herangehensweise im Umgang mit Wissen – als etwas, das mit dem Teilen wuchs – begonnen, auf ihn abzufärben.

“Ich fürchte, darüber kann ich dir noch nichts erzählen”, meinte sie, ihr Ton bedauernd, als sie zu der Unterhaltung zurückkehrte.

Eryn wollte gerade die Tür zur Klinik aufstoßen, da hielt er ihre Hand fest und sah sich prüfend um, ob sich jemand in der Nähe befand, bevor er flüsterte: “Es gibt Gerüchte, dass wir uns im Krieg befänden. Ich nehme an, darüber kannst du mir auch nichts sagen?”

“Ich fürchte, das kann ich nicht”, bestätigte sie, nickte ihm aber kaum merklich zu.

Er verstand und schluckte mit leicht geweiteten Augen. Die Bestätigung seines Verdachts beunruhigte ihn sichtlich.

Sie betraten das Gebäude, und es dauerte kaum länger als zwei Minuten, bis sich die Kunde von Eryns Rückkehr in der gesamten Klinik verbreitet hatte. Sie wurde willkommen geheißen, umarmt, nach dem Treiben im Westen befragt und schaffte es erst nach einer halben Stunde, sich zu befreien.

Die Arbeit kam vor dem Vergnügen, also würde sie Lord Poron aufsuchen, bevor sie an Plias Tür klopfte. Inmitten all der Kollegen hatten sie kaum mehr als ein paar Sekunden gehabt, um miteinander zu sprechen.

Sie hob ihre Faust, um an die Tür des Arbeitszimmers zu klopfen, wartete dann aber noch ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Das war der Tag, an dem sie ihren Ausstieg aus dem Heilen offiziell machen würde. Ganz egal, wie groß die Versuchung war, diese unangenehme Angelegenheit noch einen Tag oder zwei hinauszuschieben. Sie wusste, dass dies die Sache nicht vereinfachen würde. Sie musste es hinter sich bringen, und Lord Poron musste davon erfahren, bevor irgendwelche Pläne ausgearbeitet wurden, um sie in den Schichtplan miteinzubeziehen.

Streng genommen hatte sie bereits das Oberhaupt der Klinik in Takhan darüber informiert. Doch da dieser zufällig auch ihr Vater und der Anlass privater Natur war, zählte es nicht wirklich. Das hier musste offiziell ablaufen.

Der Raum hinter der Tür war derjenige, den sie selbst vor wenigen Jahren als Arbeitsplatz genutzt hatte, bevor der Orden beschloss, dass jemand anderer als sie selbst ihre Klinik führen würde. Mit Lord Poron hatte man durchaus eine gute Wahl getroffen – sie selbst war die Erste, die das zugeben würde. Doch es verblieb dennoch ein winziger Rest an Groll, der daran festhielt, dass es nicht deren Entscheidung hätte sein sollen, sondern allein die ihre. Doch mit individuellen Entscheidungen kam der Orden nicht gut zurecht. Oder zumindest nur, sofern die Person, die die Entscheidungen traf, auch der gesamten Institution vorstand.

Als sie schließlich anklopfte, wurde die Tür sofort geöffnet, und vor ihr stand Lord Poron, der dank verjüngender Heilermagie wesentlich weniger greisenhaft wirkte als er sollte.

“Eryn!”, grüßte er sie herzlich und zog sie in eine Umarmung, bevor er sie einzutreten bat. “Komm doch herein. Ich hatte gehofft, dass du dich heute Morgen ansehen lassen würdest. Obwohl mir natürlich bewusst ist, dass du zuerst Tyront aufsuchen solltest.” Er lächelte. “Aber diesen Besuch versuchst du nach deiner Rückkehr aus Takhan immer aufzuschieben.” Sobald er die Tür hinter ihr geschlossen hatte und beide saßen, wurde sein Gesichtsausdruck ernst. “Ich bin froh, dass du und Enric wohlbehalten aus dem Norden zurückgekehrt seid. Wie geht es ihm? Ich habe gehört, dass er entführt und sogar gefoltert wurde.”

Es überraschte Eryn nicht, dass er Bescheid wusste. In Abwesenheit von Eryn und Enric war Lord Poron nach Tyront der höchstrangige Ordensmagier.

“Soweit geht es ihm gut. Nach unserer Rückkehr nach Takhan hat er Iklan konsultiert. Mir ist daraufhin eine beträchtliche Verbesserung seiner Verfassung aufgefallen. Trotzdem schätze ich, dass es immer noch eine Weile dauern wird, bis er diese Erfahrung vollständig aufgearbeitet hat.”

Lord Poron lächelte schwach. “Ich bin froh zu hören, dass er sich an Iklan gewandt hat. Seit ich mich dem Heilen verschrieben habe, beginne ich zu verstehen, dass der Orden jungen Magiern keine allzu gesunde Haltung vermittelt, wenn es darum geht, sich den eigenen Schwächen zu stellen. Wir bringen ihnen bei, sich ihnen entgegenzustellen und sie zu bewältigen – oder wenn sie das nicht vermögen, sie verschwinden zu lassen, indem man ihnen keine Beachtung schenkt. Die Option Hilfe anzunehmen – oder noch schlimmer, sogar darum zu bitten – wurde nie gefördert, da es bedeuten würde, sich selbst jemand anderem gegenüber angreifbar zu machen. Und das widerspräche politischer Strategie.”

Eryn seufzte tief in ihrem Inneren, erwiderte aber nichts darauf. Politische Strategie. Das Thema, die Disziplin oder wie auch immer man es kategorisieren wollte, das ihr am meisten verhasst war. War es nicht großartig, wieder zurück zu sein…

“Es ist wichtig, dass Enric im Vollbesitz seiner Kräfte ist, jetzt, wo wir in einen Krieg eingetreten sind”, fuhr das Oberhaupt der Heiler fort. “Ihr beiden bekleidet nicht nur hohe Ränge im Orden, sondern verfügt auch über wesentliches Wissen über den Feind.”

“Ganz so weit würde ich nicht gehen”, widersprach Eryn und verzog das Gesicht. “Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es wesentlich mehr gibt, das wir nicht über sie wissen.”

Der Feind. Es fiel ihm leicht, diesen Begriff für die Menschen nördlich der Westlichen Territorien zu verwenden. Für ihn waren sie nichts als eine anonyme Masse ohne Gesichter. Für Eryn hatten sie nicht nur Gesichter, sondern auch eine Kultur, ihre eigene Sprache, Tempel, erstaunliche Technologien und waren – und das war das Allerwichtigste – Individuen mit Namen, Berufen, Bedürfnissen und Wünschen. Der Feind war kein Volk; soweit es sie betraf, war es ein einzelner Mann.

“Die Bendan Ederbren sind zweifellos geneigt, ihre Erkenntnisse mit uns zu teilen”, erwiderte Lord Poron, stets der Optimist.

“Ich bezweifle nicht, dass sie willens sind, doch ich frage mich, wie viel sie uns mitteilen können, wenn wir bedenken, dass sie gezwungen waren, ihr gesamtes Leben hinter Tempelmauern zu verbringen”, konterte Eryn.

“Das ist wohl wahr”, nickte der alte Mann, “doch da gibt es noch eine andere Gruppe, die nun seit mehreren Tagen befragt wird, soweit ich das verstehe: jene, die das Lager der Bendan Ederbren attackiert haben. Zumindest die wenigen, die der Wüstenstamm festzusetzen vermocht hat.”

“Die Loman Ergen?”, fragte Eryn und erinnerte sich erst jetzt wieder an die Gefangenen.

“Während ihr auf dem Weg hierher wart, haben wir eine Nachricht aus Takhan erhalten. Es handelte es sich um eine Gruppe von etwa fünfzehn Leuten, doch nur zwei von ihnen sind wahrhaftig Loman Ergen. Beim Rest handelt es sich lediglich um Soldaten, die entsprechend gekleidet waren, um diesen Eindruck zu erwecken.” Er runzelte die Stirn. “Was mich etwas überrascht. Hätte die gesamte Gruppe aus Magiern bestanden, die im Kundschaften ausgebildet sind, hätten sie ohne Zweifel beträchtlich größeren Schaden anrichten oder sogar alle Bendan Ederbren töten können. Warum schickt Etor Gart nur zwei von ihnen?”

Eryn knirschte mit den Zähnen. “Ich habe bisher nur eine kleine Gruppe der Loman Ergen getroffen, doch ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass sie besonders erpicht darauf waren, zum Töten anderer Magier eingesetzt zu werden – sofern das überhaupt auf irgendjemanden zutrifft. Vielleicht konnte er nicht genug von ihnen auftreiben, die bereit waren, auf diese grausige Mission zu gehen.”

Lord Poron nickte langsam. “Ich gehe davon aus, dass Etor Gart Zugeständnisse machen muss, wo er nun einen ganzen Tempel voller Krieger verloren hat. Da es Magiern im Allgemeinen nicht erlaubt war, sich Kampffertigkeiten anzueignen, wird es ihm schwerfallen, sie zu ersetzen. Aber lassen wir dieses Thema. Ich bin sicher, es wird mehr als genug Gelegenheiten geben, den Krieg in den Ratsversammlungen zu besprechen.” Er schenkte Eryn ein mitfühlendes Lächeln, als sich ihre Miene bei der Erwähnung dieser Leute verdüsterte.

“Der Gedanke erfreut mich doch gleich ganz besonders…”, knurrte sie.

“Dein Vater hat mir geschrieben”, schwenkte er auf ein anderes Thema um. “Er hat erwähnt, dass du zu beweisen versuchst, dass magisches Heilen langfristig schädliche Auswirkungen auf Patienten hat.”

Eryn presste sich Zeigefinger und Daumen auf die Nasenwurzel. “Es ist keineswegs mein Ziel, das zu beweisen – ich will lediglich herausfinden, ob diese Behauptung zutrifft oder nicht. Mir ist jedes Ergebnis recht; ich will nur sicher sein, dass Heiler nicht versehentlich ihre Patienten falsch behandeln. Er ist nicht allzu glücklich über meine Entschlossenheit, in diese Richtung zu forschen. Ich habe ihn sozusagen dazu gezwungen, es zu tolerieren, indem ich an die Triarchie herangetreten bin.”

Der Heiler schüttelte den Kopf. “Ich schätze, niemand könnte dir jemals vorwerfen, dass du deine Familie ungebührlich bevorzugst. Du versäumst es, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu betrachten, Eryn. Er sorgt sich darum, dass der Ruf seiner Heiler Schaden nehmen und die Arbeit, die sie leisten, abgewertet werden könnte.”

“Das weiß ich. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, die Wahrheit herauszufinden.”

“Das bedeutet es keinesfalls”, stimmte er zu. “Doch es mag sich eine etwas weniger… unerbittliche Herangehensweise empfehlen. Ich gehe davon aus, dass du in einem ersten Schritt in den Patientenakten nach wiederkehrenden Krankheiten suchen willst?”

Sie nickte.

“Wenn du denkst, dass die wenigen Jahre, die unsere Aufzeichnungen zurückreichen, dir in deinem Unterfangen helfen könnten, dann kannst du unsere Akten selbstverständlich nutzen. Sie gehen nicht so viele Jahre zurück wie jene in Takhan, wie du weißt, doch vielleicht ist es ein Anfang.”

Eryn lächelte ihn an, während das Gefühl von Zuneigung für ihn in ihrer Brust aufblühte. Er hatte sie noch niemals im Stich gelassen, und sie war zutiefst dankbar und erleichtert, dass er es auch jetzt nicht tat.

“Vielen Dank. Ich glaube, das ist ein ausgezeichneter Ausgangspunkt.”

“Es ist gut, dich zurück zu haben”, merkte er an. “Und auch Vern, obwohl ich noch immer versuche, ihm klar zu machen, dass wir ihm seinen Fehltritt verziehen, ihn aber keineswegs vergessen haben.”

Sie schluckte. Das war es, wovor sie zurückscheute – ihm zu sagen, dass er sie nicht wirklich zurück hatte. Zumindest nicht auf die Weise, wie er es erwartete.

“Ich glaube, Vern hat das durchaus begriffen. Zumindest war das mein Eindruck, als er mir von der Schichteinteilung erzählt hat. Da gibt es noch etwas, das ich bekanntgeben muss.”

Lord Poron zog seine Augenbrauen hoch, als sie zögerte. “Du weißt, dass du mir alles sagen kannst.”

Sie atmete aus und zwang sich dazu, die Worte auszusprechen. “Ich werde nicht länger als Heilerin arbeiten.”

Die Augenbrauen ihres Gesprächspartners zogen sich zusammen. “Verzeihung?”

“Ich habe entschieden, dass ich nicht länger in diesem Metier tätig sein kann. Es hängt mit einem Vorfall in Pirinkar zusammen. Ich… ich habe etwas getan, von dem ich geschworen hatte, es niemals wieder zu tun.”

Der Magier betrachtete sie eine Weile, dann nickte er langsam. “Natürlich werde ich deine Entscheidung respektieren, ganz egal, wie sehr ich sie bedaure. Wirst du mir sagen, was dich dazu bewogen hat, das Heilen aufzugeben? Ich möchte versuchen, es zu verstehen.”

Einen Moment lang rang Eryn mit sich, dann nickte sie schließlich. Ihm diese spezielle Tatsache mitzuteilen war aus irgendeinem Grund wesentlich einfacher als bei ihrer Familie. Es war nicht so, dass sie kein Vertrauen in den Rückhalt ihres Vaters hatte; er würde trotz ihrer verwerflichen Tat – dem Bruch ihres Eides – zu ihr stehen. Das Problem war eher, was es ihn kosten mochte. Was sie getan hatte, stand allem entgegen, wofür er stand; es entehrte alles, was er seit Jahrzehnten hochhielt.

Lord Poron war dem Heilen ähnlich stark verbunden, wenngleich er noch nicht ganz so lange darin tätig war. Doch er war auch vom Orden ausgebildet und seit früher Kindheit auf Krieg vorbereitet worden. Er wusste, dass es manchmal keine andere Möglichkeit gab als auf gewisse unliebsame und zuweilen unethische Maßnahmen zurückzugreifen.

Valrad wusste das ebenfalls, doch lediglich in einem Zusammenhang ohne Gewalt, sondern in Verbindung mit politischen Angelegenheiten oder schwierigen Entscheidungen, die das Oberhaupt eines Hauses zu treffen hatte.

Sie holte tief Luft. “Als man Enric entführt hatte, benutzte ich meine Magie und mein Heilerwissen dazu, einen Mann zu foltern, von dem ich vermutete, dass er etwas über seinen Verbleib wusste. Es war…” Sie schloss die Augen. “…einfacher als es hätte sein sollen.”

“Ich verstehe”, erwiderte Lord Poron sanft, in seiner Stimme nicht die geringste Spur von Verurteilung. “Nun, ich bin sicher, dass ein anderer Weg vor dir liegt, meine liebe Eryn. Und wenn wir deine Position im Orden betrachten und deine regelmäßigen Reisen nach Takhan, dann war es ohnehin ein großer Luxus, dich lediglich als bescheidene Heilerin bei uns zu haben. Dennoch werden wir dich enorm vermissen. Du bist nicht nur die erste Heilerin, die wir hier jemals hatten, sondern auch die Gründerin dieser Klinik.”

Sie war unendlich dankbar, dass er keinerlei Versuche startete, sie umzustimmen, sondern ihre Entscheidung und das, was sie diesem Priester angetan hatte, als etwas Unangenehmes aber womöglich Unvermeidliches – oder zumindest Verzeihliches – akzeptierte.

“Malriel hat mich gebeten, Haus Aren zu übernehmen.” Die Worte purzelten ungebeten aus ihr heraus. Es war, als wollte sie ihm versichern, dass eine andere Aufgabe auf sie wartete, wenn sie es wünschte, dass er sich nicht sorgen musste, dass sie verlassen und ohne einen Zweck in ihrem Leben dastehen würde.

Nun wirkte er besorgt. “Und du hast zugesagt? Du beabsichtigst, uns für immer zu verlassen?”

“Ich habe mich noch nicht entschieden. Es ist eine weitreichende Entscheidung, und ich will sie nicht überstürzen.”

Lord Poron stieß den Atem aus und schloss kurz die Augen. “Ich schätze, damit hätte ich rechnen sollen. Doch es war so viel einfacher, auf deine angespannte Beziehung zu Malriel zu vertrauen; und davon auszugehen, dass euch das davon abhalten würde, einen Schritt aufeinander zuzugehen – zumindest nicht in einem Ausmaß, wo sie dir ihr Haus anvertraut und du es tatsächlich in Betracht ziehst. Weiß Tyront schon davon?”

Sie zuckte mit den Schultern. “Bei Tyront lässt sich schwer sagen, wovon er weiß. Falls er noch nicht davon erfahren hat, vermutet er es womöglich. Ebenso der König, denke ich. Zumindest, seit er erfahren hat, dass ich Vedrics Adoption in Haus Aren vorläufig nicht annulliert habe.”

“Dein Sohn ist Mitglied von Haus Aren?” Dann tippte er sich mit einem Zeigefinger gegen seine Schläfe. “Ah. Eine Vorsichtsmaßnahme vor deinem Aufbruch nach Pirinkar, um ihm den Schutz von Haus Aren zu sichern. Ein gewitzter Zug. Und dass du ihn nicht rückgängig gemacht hast, ist ein recht vielsagendes Signal. Ich würde zustimmen, dass Tyront die Relevanz dahinter erraten wird. Ich empfehle, dass du ihn offiziell von dem Angebot unterrichtest. Und zwar bald. Das ist ein Zeichen von Respekt und gutem Willen. Und es wird ohnehin keine Neuigkeit für ihn sein, sondern lediglich die Bestätigung eines Verdachts, den er bereits hegt.”

Eryn nickte zögernd. Sie war nicht besonders versessen darauf, Tyront davon zu erzählen. Seinen Standpunkt in dieser ganzen Sache konnte sie sich lebhaft vorstellen. Und wie er darauf reagieren würde, wie sie in Worte kleidete, was er ohnehin bereits vermutete. Wenn sie Glück hatte, würde es lediglich auf gezwungene Höflichkeit hinauslaufen.

Doch Lord Poron hatte Recht – über all dies mit Tyront zu reden würde zumindest die Illusion von Offenheit schaffen.

Ein harsches Klopfen erklang an der Tür, die Lord Porons Arbeitszimmer mit dem seines administrativen Leiters verband, und einen Moment darauf wurde sie ohne Aufforderung geöffnet.

Da war ein kaum hörbares Schnauben, als Lofts Blick auf Eryn landete.

“Ah ja, der Tumult war ein Hinweis darauf, dass Ihr zurückgekehrt sein müsst”, brummte er. “Die Störung aller Ordnung und Disziplin ist in der Regel ein sicheres Anzeichen für Eure Ankunft.”

Eryn bedachte ihn mit einem kühlen Blick. “Und dass die Atmosphäre in wenigen Augenblicken bar jeder Freude ist, ist ein Anzeichen für deine”, schoss sie zurück.

“Ich gehe davon aus, dass ich den Dienstplan für den nächsten Monat umschreiben werde müssen, nachdem Ihr uns wieder mit Eurer Anwesenheit beglückt”, grummelte Loft. “Irgendwelche neuen Anforderungen dieses Mal? Ich genieße es ungemein, Euren eigenwilligen Prioritäten entgegenkommen zu müssen.”

“Zu freundlich”, erwiderte sie ausdruckslos. “Doch das wird nicht nötig sein. Ich werde deinen sorgsam erstellten Dienstplan nicht durcheinanderbringen. Niemals wieder.”

Er blinzelte. Zweimal. “Bedeutet das, Ihr werdet hier nicht länger als Heilerin arbeiten?”

“Meisterhaft erkannt. Jetzt geh und beschäftige dich mit deinen Papieren, damit die Erwachsenen reden können, ja?”

Loft war verdutzt genug, um dieser alles andere als höflichen Aufforderung Folge zu leisten, auf seinem Gesicht ein wundersames Lächeln, als er die Tür schloss.

“Ist das nicht nett?”, meinte sie müde. “Zumindest einer ist glücklich darüber.”

 

*  *  *

 

“Warum genau befindet sich ein klaffendes Loch in dem Schiff, dass euch aus Takhan hergebracht hat?”, war die erste Angelegenheit, über die Tyront informiert werden wollte, sobald Enric in seinem Arbeitszimmer Platz genommen hatte.

“Ich schätze, sie werden einfach nicht mehr so stabil gebaut wie früher”, äußerte Enrics Mund, bevor sein Gehirn einlenken konnte. Er räusperte sich, als sich Tyronts Blick verdüsterte. “Was sagen deine Informanten, was sich zugetragen hat? Ich weigere mich zu glauben, dass in dieser Monstrosität eines Schreibtischs nicht irgendwo mindestens ein Bericht darüber herumschwirrt.”

Zu spät erkannte er, dass diese Antwort bei seinem bereits leicht gereizten Vorgesetzten auch nicht viel besser ankam. Verdammt – Eryns Unverfrorenheit färbte langsam auf ihn ab. Er überlegte, ob er noch einen weiteren Versuch starten sollte, entschied sich aber dagegen. Selbstbewusste Respektlosigkeit war immer noch besser als tollpatschige Versuche, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Zumindest im Orden. Eine Bestrafung hoch erhobenen Hauptes entgegenzunehmen wurde als eine Art Tugend erachtet, doch jedem Versuch zu deren Vermeidung wurde in der Regel mit ungerührter Verachtung begegnet. Der Orden plädierte dafür, Leute für ihre Fehler zu bestrafen, und befürwortete weniger, dass diese rechtzeitig erkannt wurden. Aus Fehlern zu lernen war wichtig, also wurde die Vermeidung von Bestrafung im letzten Moment gleichgesetzt mit dem Unwillen, sich weiterzuentwickeln.

Tyront stützte sich mit den Ellbogen auf seinen massiven Schreibtisch und legte seine Fingerspitzen auf die für ihn so typische Weise aneinander. Und starrte Enric weiterhin an.

“Sollen wir es noch einmal versuchen, Enric?” Unter dem Deckmantel wohlwollender Nachsicht schwang nun auch eine gewisse… Kälte in Tyronts Stimme mit.

“Es war ein…” Missgeschick war das erste Wort, dass ihm in den Sinn kam. Doch Eryns bevorzugter verharmlosender Begriff für etwas, das mühelos das gesamte Schiff einschließlich dem Herrscherpaar hätte versenken können, würde Tyront nicht im Mindesten amüsieren. “…ein Unfall”, beendete er den Satz.

“Ein paar zusätzliche Details wären willkommen”, entgegnete Tyront ausdruckslos, als Enric nichts weiter preisgab.

Sein Vorgesetzter war ungeduldig, wie Enric bemerkte. Das musste bedeuten, dass die Berichte, die er bislang erhalten hatte, nicht zufriedenstellend gewesen waren.

“Ich bin selbst nicht sicher, wie es passiert ist. Eryn sagt, sie hat mit dem Geistesband herumexperimentiert.” Wusste Tyront überhaupt über die Einzelheiten Bescheid, wie Enric aller Wahrscheinlichkeit nach seiner Gefangenschaft entkommen war? Dass Eryn es irgendwie geschafft haben musste, ihm durch das Geistesband die Magie zu schicken, über die sie die Kontrolle verloren hatte – und so das goldene Band um seinen Hals in ein schwarzes, halb-geschmolzenes Metallstück verwandeln konnte? Enric selbst hatte in seinen Nachrichten keine Einzelheiten erwähnt, womöglich aber die Triarchie oder der König.

“Wie kann das dazu führen, dass ein Loch in der Größe eines Pferdewagens in das Schiff geschlagen wurde?”

Nun, diese Frage zeigte, dass ihm die Details noch nicht bekannt waren. Was bedeutete, dass zuerst einige Erklärungen fällig waren. Erklärungen, die erforderten, dass er über das sprach, was ihm während seiner Gefangenschaft widerfahren war. Möglichst in einer Weise, die Tyront nicht zeigte, wie schwer ihm das noch immer fiel. Er musste beiläufig klingen, jedoch nicht in einem Ausmaß, das Tyront glauben ließ, er strebe danach, etwas zu verheimlichen. Er würde versuchen, sich kurz zu fassen, nur das Minimum erwähnen, das erforderlich war, um den Vorfall auf dem Schiff zu erklären.

Enric nahm einen Schluck von der Tasse vor sich und wappnete sich innerlich. “Ich habe in meinem Bericht geschrieben, dass ich etwa zwei Wochen lang in einer Art Zelle im Inneren einer Gebirgsfestung eingeschlossen war. Mit einem goldenen Band um meinen Hals, sodass ich meiner Magie beraubt war. Das funktioniert auf die gleiche Weise wie unsere goldenen Handschellen oder die Gürtel in den Westlichen Territorien.”

Tyront seufzte. “Danke; bei dieser recht offensichtlichen Schlussfolgerung bin ich ebenfalls angelangt.”

Einen kurzen Moment lang fragte sich Enric, ob seine Gefährtin Recht hatte – tendierte er tatsächlich dazu, Dinge unnötig zu verdeutlichen?

Er schob den Gedanken beiseite und setzte fort: “Eines Tages habe ich es geschafft zu entkommen, weil das Halsband abfiel, als ich mich nach dem Aufwachen aufsetzte. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, es wäre eine weitere der Illusionen, mit denen ich gefoltert wurde. Somit war mir nicht klar, dass ich tatsächlich dabei war, mein Gefängnis zu verlassen.”

“Dieser Teil hat mich schon beschäftigt”, meinte Tyront stirnrunzelnd. “Warum sollte die Fessel einfach so von dir abfallen? Hast du jemals eine Erklärung dafür gefunden?”

“Da gibt es eine Theorie, der Eryn und ich den Vorzug geben. Eryn erlitt in der Stadt einen Zusammenbruch, im Tempel der Bendan Ederbren. Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt, von ihrer Angst und ihrem Kummer, und schaffte es nicht, sie für sich zu behalten.”

“Sie hat die Kontrolle verloren?” Der Anführer des Ordens wirkte beunruhigt. “Inmitten eines dicht besiedelten Gebiets?”

“Ja. Sie wurde ohnmächtig. Als sie jedoch wieder zu sich kam, erkannte sie, dass um sie herum keinerlei Zerstörung zu sehen war. Später fanden wir heraus, dass dieser Zusammenbruch zur gleichen Zeit passiert sein muss, als mein Halsband abfiel. Also vermuten wir, dass…”

“Ihr vermutet, dass die Kraft, die durch ihren Kontrollverlust freigeworden ist, irgendwie durch das Geistesband an dich übergegangen ist und dich von der goldenen Halsfessel befreit hat”, vollendete Tyront den Satz, dann lehnte er sich zurück und blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Decke.

“Genau.”

“Und dann hat sie mit dieser Kraft auf dem Schiff herumzuspielen begonnen und versehentlich ein Loch in das Schiff gesprengt”, schlussfolgerte er.

“Mehr oder weniger, aber im Detail verlief es ein wenig anders. Ich war derjenige, der den Blitz im Schlaf losgelassen hat”, korrigierte ihn Enric. “Obgleich sie zu diesem Zeitpunkt ihre Versuche bereits aufgegeben hatte. Sie war an Deck eingeschlafen, und als ein Mitglied der Mannschaft über ihre ausgestreckten Beine stolperte, schreckte sie aus dem Schlaf hoch und löste damit offensichtlich eine unbewusste Übertragung von Magie an mich aus – die ich nicht zurückhalten konnte, da ich geschlafen habe.” Er hob die Schultern. “Obwohl ich ehrlich gesagt zugeben muss, dass ich keine Ahnung habe, ob mir das in wachem Zustand gelungen wäre.”

“Eine weitere eurer kleinen Entdeckungen”, grummelte Tyront, “und zwar eine gefährliche. Eine, die ihr zu kontrollieren lernen müsst, damit ihr nicht zur Gefahr für alle um euch herum werdet. Die Frage ist, ob ihr Zusammenbruch diese Fähigkeit zum Teilen von Magie ausgelöst hat oder ob das schon immer möglich gewesen wäre. Sollte die erste Option zutreffen, dann hat sie womöglich…” Er nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um nach dem richtigen Wort zu suchen. “Dann hat sie womöglich etwas in euch aktiviert, das unbewusst ausgelöst werden kann. Oder sie hat schon die ganze Zeit über Magie an dich geschickt, und erst als sie erschrocken ist, passierte es versehentlich mit einer höheren Intensität als zuvor.”

Enric unterdrückte ein Lächeln ob der Veränderung in seinem alten Freund. Innerhalb von Minuten hatte er sich vom strengen Vorgesetzten zum neugierigen Forscher gewandelt.

Tyront wurde wieder ernst. “Wie dir klar sein muss, ist das eine recht gefährliche Sache. Es bedeutet, dass keiner von euch beiden zurückgehalten werden kann, solange nicht auch der andere in Gold gebunden ist. Und es bedeutet, dass ihr in der Lage sein könntet, euch aus dem Zugriff eines stärkeren Magiers zu befreien, wenn ihr es schafft, diese Verbindung bewusst zu eurem Vorteil einzusetzen.”

“Ja, das kam mir bereits in den Sinn”, erwiderte er gelassen und schluckte die Bemerkung, wer von ihnen beiden nun derjenige war, der sich in überflüssigen Erklärungen des Offensichtlichen erging.

“In deinem Bericht hast du noch eine weitere Fertigkeit erwähnt. Sogar drei. Noch dazu recht eindrucksvolle, wenn ich deinen Worten Glauben schenken darf. Das eine war das Umgehen der Erinnerungsblockade, wofür man wohl eine dritte Person benötigt, wie ich annehme. Doch für den Augenblick bin ich an der Sache mit den Erinnerungen interessiert. Golir schrieb, dass du es dem Senat demonstriert hast mit deiner Erinnerung, wie Eryn die Festung zerstört hat.”

Enric nickte und beschwor einmal mehr die Bilder herauf, an die er sich erinnerte. Tyront sah zu, unfähig, seine Faszination sowohl betreffend die Fertigkeit als auch die Bilder selbst zu verbergen.

Ein paar Minuten später schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme. “Unglaublich. Wie aufwändig ist es, sich diese Fähigkeit anzueignen?”

“Tatsächlich ist es recht einfach. Eryn hat es in nur ein paar Minuten erlernt, und ich selbst ebenfalls.”

“Dann wird es dir ein Vergnügen sein, es mir beizubringen, sobald unser Gespräch beendet ist.”

Enric nickte. “Selbstverständlich. Ich könnte es dir jetzt gleich zeigen, wenn du möchtest.”

“Zuerst gibt es da noch etwas anderes, von dem ich hören will. Diese andere Fertigkeit, von der du mir geschrieben hast. Diejenige, die in nicht-magischem Kampf eingesetzt wird. Obwohl wir diesen Begriff wohl neu definieren müssen, da zwar Magie mit im Spiel ist, aber nicht in Form von herumfliegenden Blitzen. Soweit ich verstanden habe, hast du das von den Bendan Ederbren erlernt.”

Enric lächelte voller Stolz, als er den Kopf schüttelte. “Das war nicht nötig. Eryn hat es ganz allein herausgefunden. Versehentlich, so wie auch sonst, wenn es um Kampffertigkeiten geht.”

Tyront schüttelte den Kopf. “Diese Frau treibt mich in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, was mich mehr stört – dass sie ständig über solche Dinge stolpert, ohne auch nur einen Funken an Interesse für die Disziplin zu zeigen, oder dass sie sich nicht die Mühe macht, dieses Talent sinnvoll zu nutzen.”

Darauf erwiderte Enric nichts. Er wusste, dass seine Gefährtin eine vollkommen andere Vorstellung davon hatte, was die sinnvolle Nutzung ihrer Talente betraf. Ganz bestimmt nicht das, was Tyront darunter verstand.

“Das könnte ich dir in der Arena zeigen, wenn du willst”, bot er zwanglos an.

“Nein, danke”, knurrte Tyront. “Ich erinnere mich an den Tag, als ich meine Kontrolle über den von ihr erdachten Doppelschild testen wollte – und dann auf recht schmerzvolle Weise von einer weiteren zufälligen Entdeckung ihrerseits erfahren habe. Nämlich, wie man ihn überwindet. Ich werde mich hüten, mich auf eine weitere öffentliche Demonstration einzulassen. Nein, du wirst es mir hier zeigen.”

Enric sah sich in dem Arbeitszimmer um. Es war zwar geräumig, doch keineswegs ausladend genug, um keinen Schaden zu erleiden, wenn zwei starke Magier ihre Kampffertigkeiten aneinander testeten.

“Bist du sicher?”, fragte er zweifelnd. “Da werden hier hinterher wohl ein paar Reparaturen nötig sein.”

Tyront stand von seinem Stuhl auf. “Dann gehen wir in den Salon. Falls wir versehentlich diese monströse rote Vase in der Ecke neben dem Eingang zertrümmern, die Vyril kürzlich erstanden hat, würde mich das keineswegs stören. Ich würde sogar so weit gehen, dir einen Gefallen zuzugestehen, wenn du die gesamte Schuld dafür auf dich nimmst.”

“Ich fühle mich benutzt”, murmelte Enric in vorgetäuschter Entrüstung, froh, dass sich die Stimmung seit seinem Eintreffen soweit gelockert hatte, dass sie miteinander scherzen konnten.

“Das geht schon in Ordnung – ich kann gut damit leben, und du wirst darüber hinwegkommen. Irgendwann.”

 

*  *  *

 

Plia ließ beinahe ihre – glücklicherweise nicht zerbrechlichen – Instrumente fallen, als Eryn ihr Labor betrat. Kurz darauf umarmten sich die beiden Frauen.

“Ich bekomme ein Kind!”, strahlte die jüngere Frau, sobald sie sich wieder voneinander gelöst hatten.

Eryn lächelte. Das waren nicht gerade unerwartete Neuigkeiten, da Plia kurz vor ihrem Kommitment ihren Schutz entfernen hatte lassen; doch Neuigkeiten waren es dennoch.

“Ich freue mich so für dich. Wie weit bist du denn schon?”

“Es ist mein vierter Monat, und mir ist es noch nie so gut gegangen!”

Eryn erinnerte sich an ihre eigene Schwangerschaft. Es war… in Ordnung gewesen. Leichte Magenbeschwerden am Anfang und Heißhunger auf süße Backwaren, aber nichts allzu Unbequemes. Junar hatte nicht ganz so viel Glück gehabt. Doch Plia strotzte geradezu vor Energie und Leben. Das mochte auch auf ihr Alter zurückzuführen sein. Mit einundzwanzig Jahren war sie ein ganzes Stück jünger als Junar und Eryn es gewesen waren.

Sie schob den Gedanken an Junar und die unangenehme Begrüßung beiseite, um davon nicht ihre Wiedervereinigung mit Plia überschatten zu lassen.

“Also keine Morgenübelkeit oder dergleichen?”

“Überhaupt nichts – nur eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen, aber das ist in meinem Beruf sogar hilfreich”, lachte die junge Frau.

“Wie kommt Rhys zurecht mit der Aussicht, bald Vater zu werden?”

“Er pendelt hin und her zwischen Phasen fieberhafter Aktivität, um alles fertigzubekommen, und anderen, wo er sich sorgt, ob er der Herausforderung gewachsen ist. Momentan baut er eine Wiege, da seine eigene nun seinem älteren Bruder für dessen Kinder gehört. Ich glaube, er hat mittlerweile schon dreimal von vorne begonnen, weil mit dem Ergebnis unzufrieden ist. Er redet davon, sie eines Tages an seine Enkel weiterzugeben.” Voller Staunen schüttelte sie den Kopf. “Wir haben unser Kind noch nicht einmal gesehen, und er redet schon von Enkeln!”

Eryn erinnerte sich, wie sie selbst immer wieder mit Magie nach ihrem ungeborenen Sohn gesehen und in ihrem Bauch nachgeschaut hatte um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Wie schade, dass Nicht-Magiern diese Möglichkeit verwehrt war.

Dann kam ihr ein Gedanke.

“Darf ich einen Blick hineinwerfen?”, fragte sie und nickte zu Plias Bauch hin.

“Sicher, nur zu.”

Eryn legte eine Hand auf den bereits leicht geschwollenen Unterleib unter der weiten Kleidung und schloss die Augen, bevor sie einen schwachen Impuls erkundender Magie losschickte. Sie fand den Fötus sofort und staunte einmal mehr darüber, wie weit ein menschliches Wesen bereits nach nur wenigen Wochen entwickelt war. Der Körper und die Gliedmaßen waren bereits geformt, nur die Proportionen würden sich noch verändern. Sogar die Gesichtszüge waren bereits erkennbar. Und natürlich das Geschlecht.

“Weißt du bereits, was es ist?”, fragte sie, ihre Augen noch immer geschlossen.

“Ja. Sie sagen, es ist ein Junge.”

Eryn nickte und öffnete die Augen, ihre Hand noch immer auf Plias Bauch. “Würdest du ihn gerne sehen?”

“Was? Wie denn? Ja!”

“In Ordnung. Ich kann dir aber nichts versprechen. Wenn ich in dich hineinschaue, dann passiert das Sehen durch meine Magie in Kombination mit meinem Gehirn, nicht durch meine Augen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich mich erinnern und es dann in einer Weise wiedergeben kann, dass deine Augen etwas erkennen können. Sei nicht enttäuscht, falls es nicht funktioniert. Das ist ein Experiment.”

Die Magierin errichtete vor ihnen eine Barriere in der Luft und konzentrierte sich darauf, die Informationen, die ihrem Gehirn ohne Umweg über die Augen vermittelt wurden, zu visualisieren. Zuerst wurden schwache schwarze und rote Flecken sichtbar, die dann Form anzunehmen begannen.

Plia schnappte nach Luft, als Details sichtbar wurden und vor ihren Augen ein mehr oder weniger exaktes Abbild ihres Kindes bildeten. Eine Hand bedeckte ihren Mund, während die andere empor reichte mit dem Drang zu berühren. Ihre Finger in der Luft vor dem winzigen Gesicht verursachten eine leichte Entladung an der schwachen magischen Barriere.

“Das ist unglaublich! Er sieht bereits wie eine richtige Person aus, mit Händen und Beinen und allem! Er hat meine Nase”, hauchte sie, ihre Augen weit aufgerissen und ihre Stimme voller Ehrfurcht. Ohne ihre Augen von dem Bildnis zu nehmen, fügte sie hinzu: “Ich hatte keine Ahnung, dass du so etwas kannst!”

Eryn zuckte mit den Schultern. “Ich wusste es auch nicht. Wie ich schon sagte – es war ein Experiment. Das Projizieren eines Bildes habe ich in Pirinkar gelernt, aber ich wusste nicht, dass es möglich ist, damit wirklich zu zeigen, was im Inneren des Körpers vor sich geht…” Sie verstummte allmählich, als sie daran dachte, wie sich das in der Ausbildung neuer Heiler einsetzen ließ – besonders bei Nicht-Magiern, die anders als ihre Magierkollegen keinerlei Möglichkeit hatten, einfach in einen Körper hinein zu blicken.

“Könntest du das den anderen Heilern beibringen?”, fragte Plia. “Stell dir vor, wie großartig es für Eltern wäre, einen Blick auf ihr ungeborenes Kind zu werfen!”

“Das sollte kein Problem sein, vorausgesetzt Lord Poron stimmt zu. Allerdings sehe ich nicht, was ihn davon abhalten sollte.”

Tränen glänzten in den Augen der jüngeren Frau, als sie weiterhin das Bild, das vor ihr in der Luft schwebte, bestaunte. “Er ist wunderhübsch. Ich kann kaum glauben, dass er in mir wächst. Danke – vielen, vielen Dank! Das ist das Erstaunlichste, was ich jemals gesehen habe!”

Eryn, stets etwas verlegen im Angesicht von Dankbarkeit – besonders, wenn sie so intensiv war und so wenig Mühe erfordert hatte – nahm die Worte nur mit einem Nicken zur Kenntnis und ließ das Bild noch schweben, damit sich Plia ein wenig länger daran ergötzen konnte.

Eine plötzliche Traurigkeit ergriff Besitz von Eryn, als sie an den bevorstehenden Krieg dachte, und dass dieser kleine Junge und all die anderen Kinder, die auf jeder Seite der Konfliktparteien geboren wurden, auf irgendeine Weise davon betroffen sein würden. Sie mochten ein Familienmitglied verlieren oder in einem Land aufwachsen, das von jenen verwüstet worden war, die man gemeinhin als den Feind bezeichnen würde. Menschen würden den Tod finden, und jene, die das Glück hatten zu überleben, würden wahrscheinlich von den Geschehnissen traumatisiert sein oder darunter leiden, dass sie in einer Nachkriegsumgebung leben mussten, wo Essen knapp war und Bitterkeit regierte.

Sie würde ihr Bestes tun, um diesen Ausgang irgendwie zu verhindern. Obgleich ihr bewusst war, dass die Menschen in Anyueel und den Westlichen Territorien stärker darauf konzentriert sein würden, allein die eigene Seite zu beschützen, war Eryn entschlossen, für sie alle einzustehen – einschließlich jener, die manipuliert, benutzt und geopfert wurden, um den Machtanspruch eines einzelnen Mannes zu zementieren, der nicht einmal davor zurückschreckte, seinen eigenen Bruder in den Kerker zu sperren.

Sie atmete etwas freier, nachdem sie sich dieser düsteren Gedanken entledigt hatte, nicht willens, sich davon diesen privaten Moment, den sorglosen Umgang mit Plia verderben lassen. Sie mutete so zauberhaft an, wie sie dastand, eine Hand auf ihrem Bauch, die andere noch immer zum Abbild ihres Sohnes erhoben. Sie war fest entschlossen, sich das Bild einzuprägen und es dann Vern zu zeigen, damit er es eines Tages zeichnen konnte, vielleicht als Geschenk für ihren Sohn, wenn er älter war. Auf diese Weise konnte er mit eigenen Augen sehen, welche Freude er seiner Mutter bereitet hatte, die Liebe, die er in ihr erweckte noch bevor er überhaupt geboren war.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und Eryn nahm ihre Hand vom Bauch ihrer Freundin, um zu sehen, wer gekommen war.

Onil stand vor der Tür, seine Augen weit aufgerissen, sein Gesicht fahl. Eryn schluckte. Wenn schlechte Neuigkeiten ein Gesicht hatten, dann hatte sie es jetzt gerade vor sich. Sie schlüpfte zur Tür hinaus und bedeutete Onil, ihr in einen leeren Unterrichtsraum zu folgen.

“Was ist passiert?”, verlangte sie zu wissen, ihre Stimme harscher als sie es beabsichtigt hatte.

“Etwas Schreckliches. Ein Unfall. Ein Gebäude ist eingestürzt und hat ihn unter einer Lawine von Ziegeln begraben… wir konnten nichts weiter tun, als seinen Körper freizulegen… Es tut mir so leid. Er war ein guter Mann.” Der letzte Satz war kaum mehr als ein Flüstern.

Eryns Magen verwandelte sich von einem Augenblick zum nächsten in einen soliden Eisblock. Enric. Nein…

Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich auf einem der vielen Tische abstützen. Ihre Bewegungen waren schwerfällig, so als hätte sich die Luft plötzlich zu Wasser verdickt und damit alles verlangsamt. Das konnte unmöglich stimmen – sie hatten nicht all das durchgestanden, nur damit er jetzt auf solche Weise sein Ende fand. Ihre Atmung wurde schwerer, und ihr Gesichtsfeld begann zu verschwimmen.

“Ich… ich kann es ihr nicht sagen.” Onils Worte waren beinahe ein Schluchzen. “Bitte, ich weiß, es ist nicht fair, dass ich dich darum bitte, nachdem du gerade erst angekommen bist, aber… könntest du es übernehmen? Bitte?”

In Eryns Kopf drehte sich alles. “Was?”

Teile ihres ertrinkenden Verstandes beharrten darauf, dass dies keinen Sinn ergab.

“Wem sagen?”, schaffte sie es irgendwie zu fragen, allerdings mehr aus einer lebenslangen Gewohnheit zum Aufklären unverständlicher Dinge heraus als aus tatsächlichem Interesse. Die Welt und alles darin hatte seine Bedeutung verloren.

Verzweifelt starrte Onil sie an, als wäre diese ganze Situation nicht bereits grässlich genug, ohne dass ihr Unverständnis alles noch aufreibender machte.

“Plia! Du musst ihr sagen, dass Rhys tot ist!”, verkündete er übermäßig deutlich, als befürchte er, sie hätte den Verstand verloren. “Verstehst du überhaupt, was ich dir sage? Plias Gefährte ist verstorben!”

Eryn begann zu zittern unter der mächtigen Welle der Erleichterung, die über sie hereinbrach, als sie begriff, dass nicht Enric derjenige war, der einfach von einem Moment zum nächsten zu existieren aufgehört hatte, sondern jemand anderer.

Dann kam ihr Verstand in der Gegenwart an, und sie schloss die Augen, als Tränen ihre Wangen hinabzulaufen begannen. Tränen des tiefempfundenen Kummers für ihre junge Freundin und ihren ungeborenen Sohn, die gerade einen Gefährten und einen Vater verloren hatten. Und Tränen der Erleichterung über die Tatsache, dass Enric am Leben war. Schmerzliche Tränen, die sich verräterisch und selbstsüchtig anfühlten, doch sie wollten nicht aufhören zu fließen.

Kapitel 2

Erste Vorbereitungen

Während Eryn am Tisch saß – die harte Lehne des Stuhl, bei dessen Herstellung Bequemlichkeit ganz klar keine Priorität gewesen war, in ihrem Rücken – brach die Erinnerung daran, wie Plia nach der Kunde vom Schicksal ihres Geliebten ohnmächtig zu Boden gestürzt war, über sie herein.

Eryn hatte sich versichert, dass die junge Frau beim Fall keinerlei Verletzungen davongetragen hatte und auch mit dem ungeborenen Kind alles in Ordnung war. Dann hatte sie sie hochgehoben und in Lord Porons Arbeitszimmer getragen, wo sie ihr ein provisorisches Bett eingerichtet hatten, auf dem sie ruhen konnte.

Daraufhin hatte Onil sie in den Raum geführt, in dem die Überreste von Rhys’ übel zugerichtetem Körper aufgebahrt lagen. In ihren vielen Jahren als Heilerin hatte Eryn ihren Anteil an grausigen Verletzungen und auch leeren menschlichen Hüllen zu Gesicht bekommen, doch das hier hatte ihrem Magen ordentlich zugesetzt.

Der Grund, weshalb der Anblick dermaßen verstörend für sie gewesen war, lag keineswegs an heraushängenden Organen, die sich im Inneren befinden sollten oder an einem erstarrten Gesichtsausdruck, der zeigte, wie sehr er im Augenblick seines Todes gelitten haben musste. Es war der Kontrast, ihn als lebendigen, gesunden jungen Mann gekannt zu haben, der so verliebt gewesen war und erst vor kurzer Zeit einen Kurs in seinem Leben eingeschlagen hatte, der ihm über Jahrzehnte hinweg Glück und Zufriedenheit bringen hätte sollen. Und jetzt lag er da, verstümmelt zu diesem… Klumpen an leblosem Fleisch, allem beraubt, was ihm zu dem gemacht hatte, der er gewesen war.

Sie war froh, dass seine Augen geschlossen waren, ganz egal, ob er so gestorben war oder ob jemand die Geistesgegenwart gezeigt und seine Lider nach seiner Freilegung nach unten gedrückt hatte. Auch noch die toten, zur Decke starrenden Augen sehen zu müssen wäre an diesem Tag zu viel gewesen.

“Wäre es zu kühn, Euch um Eure ungeteilte Aufmerksamkeit zu bitten, wenn man bedenkt, dass wir gerade etwas so Schwerwiegendes wie einen anstehenden Krieg besprechen, Lady Eryn?”, wurde sie von einer leicht verärgerten Stimme dorthin zurückgeholt, wo ihr Körper, wenn auch nicht ihre Gedanken, festsaßen. Lord Woldarn.

Eryn straffte ihre Schultern ein wenig und fragte sich, ob es ihr leerer Blick war, der sie verraten hatte, oder ob sie es versäumt hatte, auf eine Frage zu reagieren.

“Erst gestern hat eine enge Freundin von Lady Eryn ihren Gefährten verloren, also schlage ich vor, wir begegnen dieser kleinen vorübergehenden Unaufmerksamkeit mit Nachsicht”, kam unerwartete Unterstützung von Lord Seagon. War es nicht reizend, wie sich die Leute über die Vorgänge in ihrem Leben auf dem Laufenden hielten…

Sie war froh, dass nicht Enric derjenige war, der sie verteidigt hatte. Es hätte gewirkt, als wäre sie auf den Schutz ihres Gefährten angewiesen. Dass es von Lord Seagon kam, der dafür bekannt war, gewissermaßen jeden ihrer Schritte zu kritisieren, machte es weniger persönlich und sachlicher. Auf diese Weise wurde es zu einem Standpunkt, den der Anstand diktierte statt des Wunsches, eine geliebte Person zu beschützen. Somit wirkte sie selbst weniger wie eine zerbrechliche Blume, die es zu schützen galt, und mehr wie eine Person, die ein Anrecht darauf hatte, dass ihre Bedürfnisse in diesem Moment respektiert wurden.

“Da Ihr offenbar nicht in der Lage seid, auch nur eine Minute lang ohne meine Zuwendung auszukommen, Lord Woldarn, bin ich sehr daran interessiert zu hören, wozu Eurer Ansicht nach nur ich allein etwas beitragen kann”, wandte sie sich ruhig mit nur einem Hauch von erkennbarer Ungeduld an ihn.

Wie war es nur möglich, dass dieser Mann Onils Vater war? Einer ihrer besten Heiler stammte wahrhaftig aus der gleichen Familie wie dieser Mensch. Nun, vielleicht war es zuweilen wirklich ein Segen, dass die meisten reichen Leute die Erziehung ihrer Abkömmlinge an Diener delegierten. So zumindest hatten die Kinder die Gelegenheit, von angemesseneren Vorbildern etwas über gesunden Menschenverstand zu lernen.

Lord Woldarn wand sich einen Moment lang. Was bedeutete, dass es keine Frage gab, auf die sie versäumt hatte zu antworten. Er wollte sie lediglich bloßstellen. Gut zu wissen. Sollte sich eine Gelegenheit ergeben, würde sie ihm mit dem gleichen Mangel an Gefälligkeit begegnen.

Er räusperte sich, offenbar inspiriert von irgendeinem Vorwand. “Ich habe keinerlei Zweifel, dass wir alle sehr interessiert wären an einer Demonstration der neuen Fertigkeiten, deren kürzlich erfolgte Aneignung Ihr erwähnt habt.”

Vollkommene Stille folgte. Als wäre niemand an dem runden Tisch besonders erpicht darauf, zu diesem Zeitpunkt in wir alle miteinbezogen zu werden.

Eryn ging sicher, dass ihr überdrüssiges Seufzen gut hörbar war. “Mein Lord”, begann sie, in ihrer Stimme so viel Gönnerhaftigkeit, wie sie hineinzupacken vermochte, “erstens denke ich, dass die strategischen Überlegungen in Verbindung mit der Situation in den Westlichen Territorien und Pirinkar, über die Ihr gerade informiert worden seid, eine höhere Priorität einnehmen als Eure persönliche Neugier. Und zweitens ist ein ranghöherer Ordensmagier anwesend, der über die gleichen Fertigkeiten und Informationen verfügt wie ich selbst. Somit wäre es respektlos von mir, einfach während einer Ratsversammlung mein Können vorzuführen, ohne von meinen Vorgesetzten dazu aufgefordert worden zu sein. Ich bin etwas überrascht, um nicht zu sagen bestürzt, dass Ihr Euch so überhaupt nicht an die Prinzipien des Ordens haltet, Lord Woldarn.”

Des Mannes Blick hatte sich von selbstgefällig zu feindselig gewandelt, doch er war weise genug, für den Moment Stille zu bewahren.

Durch das Geistesband spürte Eryn eine Spur von Enrics Amüsement, wenngleich sein Gesicht davon nicht einmal eine Andeutung erkennen ließ.

“Wenn Ihr beiden damit fertig seid, Freundlichkeiten auszutauschen”, meldete sich Tyront zu Wort, “dann würde ich vorschlagen, wir setzen fort mit den jüngsten Entwicklungen, die mir erst heute Morgen direkt aus Takhan berichtet wurden.” Er konsultierte seine Notizen. “Mittlerweile wurden sämtliche bekannten Gebirgspässe von unseren Magiern unpassierbar gemacht – abgesehen natürlich von der Hauptroute. Die bleibt der einzige offene Durchgang nach Pirinkar und wird jetzt in diesem Moment befestigt. Gleichzeitig werden die Berge, die Zugang zu den Westlichen Territorien ermöglichen, nach bislang unentdeckten Passagen abgesucht. Malriel von Haus Aren pflegt gute Kontakte zu den Gebirgsstämmen oben im Norden und hat sie gebeten, ihr bei diesem Unterfangen behilflich zu sein, da sie über unschätzbares Wissen über dieses Gebiet verfügen. Eine bemerkenswerte Leistung, wie man mir zu verstehen gab, da die Gebirgsstämme noch weniger als die Wüstennomaden geneigt sind, sich mit Takhan abzugeben.” Er räusperte sich. “Da ist noch etwas. Eine Gefangene von den Loman Ergen, eine Frau, die Teil der Angriffstruppe auf die Bendan Ederbren war, hat wahrhaft besorgniserregende Neuigkeiten geographischer Natur enthüllt. Neuigkeiten, auf die unsere Seite reagieren muss, und zwar rasch. Pirinkar hat seine Landkarten stets vor Außenstehenden verborgen, und nachdem wir mit den Bendan Ederbren gesprochen haben, wissen wir, dass auch die Priester nicht informiert waren, wo die Grenzen ihres Landes verlaufen. Die Loman Ergen jedoch ziehen schon seit vielen Generationen durch das Land und haben deshalb detailliertes Wissen darüber angesammelt.”

Eryn unterdrückte ein Seufzen. Sie wünschte, er würde endlich zum Punkt kommen und sich nicht so sehr darauf versteifen, woher die Information kam.

“Es hat sich herausgestellt, dass die Dimensionen von Pirinkar jene des Königreichs und damit auch die der Westlichen Territorien übersteigen. Das Land erstreckt sich weit genug, um die gesamte Breite der Westlichen Territorien, sowie des Meeres, das sie von uns trennt, zu umfassen – und setzt sich hinter den Bergen fort, die die nördliche Grenze unseres eigenen Landes bilden. Das bedeutet, wir teilen uns eine Grenze mit einem Land, mit dem wir uns nun im Krieg befinden.”

Er ließ die Neuigkeit wirken und wartete auf die Reaktion der Ratsmitglieder.

Orrin war der Erste, der seine Gedanken in Worte fasste. “Wissen die das auch?”

“Vorsichtshalber würde ich empfehlen, dass wir davon ausgehen”, erwiderte Tyront.

Der Krieger presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel, sichtlich alles andere als erfreut über die Enthüllung. “Das bedeutet, wir müssen noch einmal prüfen, ob die nördlichen Berge tatsächlich so unüberwindbar sind, wie wir immer dachten. Womöglich versucht Etor Gart genau in diesem Moment das Gleiche herauszufinden. Ihm muss klar sein, dass wir das Hindernis sind, das zwischen ihm und einem wahrscheinlichen Sieg steht.”

“Es mag sein, dass der Grund, weshalb die Berge nicht überquert werden können, der ist, dass sich die Barriere durch das Meer dort fortsetzt”, überlegte Eryn, tief in ihrem Inneren dankbar, dass das vorliegende Problem ernst genug war, um ihre Gedanken für den Moment von Rhys abzulenken. “Was bedeutet, dass sie wohl an gewissen Stellen ebenso durchlässig ist wie im Meer. So könnten einzelne Personen hindurch schlüpfen um sie zu überwinden, selbst ohne das Wissen, wie sie ihre Magie einsetzen können.”

“Was schlagt Ihr also vor, wie wir das testen sollen?”, wandte sich Lord Remdel an Orrin. “Indem wir Magie gegen den massiven Fels schleudern und ihn sprengen, bis wir sehen können, was dahinter liegt? Wenn es dermaßen einfach wäre, hätten es unsere Vorfahren schon lange getan. Selbst wenn wir Erfolg hätten, würden wir damit riskieren, einen Zugang für den Feind zu öffnen – nämlich einen zu schaffen, wo zuvor keiner war”, gab er zu bedenken. “Und selbst wenn wir uns dafür entscheiden sollten – habt Ihr eine Vorstellung davon, wie viele Magier und wie viel Zeit es erfordern würde, sich durch einen ganzen Berg zu sprengen?”

Enric spitzte die Lippen, als ihm ein Gedanke kam. Vielleicht würde er Lord Woldarns Wunsch nach einer Demonstration der neuerworbenen Fähigkeiten rascher als geplant erfüllen.

Er räusperte sich zum Anzeichen, dass er das Wort zu ergreifen gedachte, und bemerkte zufrieden, wie alle verstummten und ihn ansahen. “Tatsächlich mag es sich dabei um ein weniger gewichtiges Problem handeln als Ihr denkt. Lady Eryn hat ein gewisses Händchen für Gestein.”

“Was soll das nun wieder heißen – sie hat ein Händchen für Gestein? Bewegt es sich aus dem Weg, sobald sie sich ihm annähert, bedacht darauf, von der Unverfrorenheit, für die sie weithin bekannt ist, verschont zu bleiben?”, warf Lord Woldarn mit einem spöttischen Lächeln ein.

Eryn kniff die Augen zusammen, und als es erneut still wurde und einige der Ratsmitglieder – Tyront und Enric eingeschlossen – erwartungsvoll zu ihr hinsahen, wusste sie, dass sie handeln und ihm Grenzen setzen musste.

Als sie langsam ihren Stuhl zurückschob und aufstand, stellte sie sicher, dass die Beine ein deutlich hörbares Kratzen auf dem glatten Boden verursachten. Sie war nicht einmal sicher, was sie tun sollte. Ihn am Kragen zu packen, ein wenig schütteln und ihm damit Angst vor ihrer überlegenen magischen Kraft einjagen? Ihn am Hals schnappen, Kontrolle über seine Muskeln übernehmen und ihn zwingen, wie eine Marionette an einer Schnur zu tanzen, um ihn seiner Würde zu berauben? Ihm geradewegs einen Fausthieb ins Gesicht verpassen, um ihn daran zu erinnern, dass dies noch immer eine Institution war, wo Stärke der Schlüssel zu Macht war und sie über wesentlich mehr davon verfügte als er?

Doch sie erkannte, dass keine dieser Optionen für sie in Frage kam. All das war wenig mehr als eine Möglichkeit, ihrer Frustration auf körperliche Weise Ausdruck zu verleihen, indem sie ihn mit ihrer Kraft überwältigte. Ihr war klar, dass sie ihn stattdessen mit ihrer Position, ihrem Rang bändigen musste.

“Lord Woldarn”, sprach sie vollkommen gelassen, während sie ihre beiden Handflächen vor sich auf der glatten Oberfläche des ausladenden Tisches abstützte, “Eure Beleidigungen sind so weit vorangeschritten, dass sie über das Maß an respektvoller, objektiver Kritik an Vorgesetzten, wie wir sie in diesen Hallen schätzen, hinausschießen. Ich bin am Ende meiner Geduld angelangt. Für die nächsten drei Tagen werdet Ihr Euch jeden Morgen vor Sonnenaufgang bei den Pferdeställen des Ordens zum Dienst melden und jeweils drei Stunden lang aushelfen.”

“Das könnt Ihr nicht tun!”, schäumte Lord Woldarn und sprang von seinem Stuhl auf. Er sah Tyront an. “Das kann sie nicht tun!”

Der Anführer des Ordens lehnte sich zurück. “Ich denke, das kann sie durchaus. Ihr seid Lady Eryn unterstellt, und wenn sie Euer Verhalten ihr gegenüber als Beleidigung betrachtet, ist sie berechtigt – nein, sogar verpflichtet – entsprechend zu handeln, um die Disziplin in unseren Rängen aufrechtzuerhalten. Besonders, da wir kurz vor dem Eintritt in einen Krieg stehen und uns darauf verlassen müssen, dass sich jeder einzelne Ordensmagier an die bestehende Befehlskette hält. Ihr seid jedoch berechtigt, eine offizielle Beschwerde einzureichen und so die disziplinarische Maßnahme, die man Euch auferlegt, auf Angemessenheit überprüfen zu lassen.”

“Dann tue ich das hiermit!”

Tyront schüttelte den Kopf. “Um gültig zu sein, muss die Beschwerde schriftlich eingereicht werden, Lord Woldarn. Es gibt noch immer gewisse Vorgehensweisen, an die es sich zu halten gilt. Diese spezielle hier soll sicherstellen, dass alles ordentlich dokumentiert wird.”

“Dann werdet Ihr meine schriftliche Beschwerde kurz nach Beendigung dieser Versammlung erhalten!”, versprach Lord Woldarn erregt.

“Gut. Ich werde innerhalb einer Woche auf Euch zukommen.”

“Aber… bis dahin wird die Strafe bereits erfüllt sein und kann nicht mehr beeinsprucht werden! Ich werde keinesfalls drei Tage lang Pferdemist schaufeln!”

“Lord Woldarn”, seufzte Tyront, seine Stimme der Inbegriff wohlwollender Geduld, “Euch ist klar, dass wir inmitten einer Kriegsbesprechung stecken? Wenngleich das zu diesem Zeitpunkt nicht allzu bequem für Euch sein mag, so genießt es doch Vorrang gegenüber den disziplinarischen Maßnahmen, die über Euch verhängt wurden.” Er bedeutete dem entrüsteten Lord und Eryn, sich wieder zu setzen, dann sah er Enric an. “Du wolltest gerade einen Vorschlag unterbreiten, wie wir das nördliche Gebirge untersuchen können, wenn ich mich nicht irre. Bitte fahr fort.”

Enric nickte. “Es gibt da etwas, das ich Euch gerne zeigen möchte. Lady Eryn hat einen Weg gefunden, wie sich Fels von innen heraus beeinflussen lässt, sodass ein minimaler Magieschub mehr bewirkt als mehrere Stunden äußerliche Attacken es vermögen. Ich gehe davon aus, dass uns diese Technik gute Dienste leisten wird, wenn wir wahrhaftig die bislang unbezwingbaren Berge erkunden wollen. Gestattet mir, Euch etwas zu zeigen.”

Eryn schloss die Augen. Nicht schon wieder die bröckelnde Festung. Es schien, als machte er sich jede Gelegenheit zunutze, für sie einen Ruf als Zerstörerin der Berge aufzubauen. Wer hätte gedacht, dass sie jemals an einem Punkt ankommen würde, wo die Leute das eingestürzte Dach der Senatshalle in Takhan mit einem Schulterzucken als bloße Kleinigkeit abtaten im Vergleich zu ihren anderen Akten der Zerstörung? Nun, vielleicht ließ sich Lord Woldarn von ihrer Macht einschüchtern und fühlte sich von nun an veranlasst, sie in Frieden zu lassen. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln, und sie lehnte sich zurück, um sich anzusehen, wie die Ratsmitglieder auf Enrics kleine Vorführung reagieren würden.

*  *  *

Enric klopfte an die Eingangstür seiner Mutter, während sich Eryn hinter ihm in einem unbewussten Versuch, sich zu trösten, über die Arme rieb. Er wünschte, er könnte etwas für sie tun, ihren Schmerz irgendwie mildern, doch die Möglichkeiten waren beschränkt – wenn er davon absah, ihre Gefühle mit Magie zu betäuben. Zu unterdrücken anstatt zu bewältigen war keine gesunde Herangehensweise.

Enric war bewusst, dass er mit Schmerz nicht allzu gut zurecht kam. Nicht mit seinem eigenen und ebenso wenig mit dem anderer Menschen. Mit Frustration, Angst, Ärger und anderen mächtigen Emotionen konnte er gut umgehen. Bis zu einem gewissen Grad konnte man ihnen mit Vernunft begegnen, sie von einer anderen Perspektive aus betrachten und sie somit eines Teils ihrer Macht berauben. Schmerz jedoch war eine ganz andere Herausforderung. Man konnte nicht einfach entscheiden, bis zehn zu zählen und tief zu atmen. Schmerz bedeutete, dass etwas im Inneren beschädigt war, etwas, das allein die Zeit heilen würde. Es gab Dinge, die man tun konnte, um einer trauernden Person beizustehen, wie eine sichere Umgebung und emotionale Unterstützung zu bieten, doch schlussendlich musste die Heilung von der leidenden Person selbst bewerkstelligt werden.

Durch ihr Band spürte er Eryns Pein. Sie war Rhys nicht besonders nahe gestanden. Soweit Enric wusste, hatte sie das Fachwissen des jungen Mannes geschätzt, wenn es um Holzarbeiten ging, und sogar noch mehr, wie glücklich er Plia gemacht hatte. Es war hauptsächlich wegen Plia, dass sie trauerte.

Eryn hatte ihm davon erzählt, wie sie von Rhys’ Ableben erfahren und einige qualvolle Augenblicke lang gedacht hatte, Enric wäre derjenige, der verstorben war. Er erinnerte sich, was er zu diesem Zeitpunkt durch das Geistesband verspürt hatte. Es war herzzerreißend gewesen, umso mehr, da er keine Ahnung von der Ursache gehabt hatte.

Die Eingangstür vor ihm wurde geöffnet, und seine Nichte trat beiseite, um sie eintreten zu lassen.

“Großmutter ist oben bei Plia”, informierte sie die beiden.

“Wie geht es Plia?”, fragte Enric, nicht ganz sicher, welche Antwort er eigentlich erwartete. Sie musste am Boden zerstört sein. Doch welche andere Frage sollte man in einer Situation wie dieser stellen?

“So gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann”, seufzte Temina. “Sie hat das Zimmer, das Großmutter für sie vorbereitet hat, nicht verlassen. Und jedes Mal, wenn ich ihr eine Mahlzeit bringe, von der ich weiß, dass sie sie ohnehin nicht anfassen wird, sehe ich sie entweder weinen oder mit diesem seltsam leeren Blick an die Decke starren. Beim ersten Mal dachte ich, sie wäre ebenfalls dahingeschieden und habe sie geschüttelt…” Sie verzog das Gesicht, augenscheinlich nicht allzu stolz darauf, wie sie mit dieser Situation umgegangen war.

Die Blicke wanderten abwärts, als eine großgewachsene, geschmeidige dunkelbraune Bergkatze aus dem Salon auf sie zutrottete, ihr Schweif als Zeichen des Hochgefühls senkrecht in die Luft gestreckt.

Enric ging in die Knie und begrüßte Urban, indem er ihre Wangen kraulte und, als sie sich vor ihm umfallen ließ, ihren Bauch.

“Sie muss meine Stimme gehört haben”, schlussfolgerte er, froh über die angenehme Unterbrechung dieser bedrückenden Unterhaltung.

Eryn fasste Temina an einer Schulter. “Du sagst, sie isst nicht? Überhaupt nichts?”

“Im Grunde nicht. Sie zwingt ein paar Bissen hinunter, damit Großmutter sie in Frieden lässt, aber das ist alles. Vern war hier. Er hat ihr gedroht, er würde sie zum Essen und Trinken zwingen, wenn sie sich nicht ordentlich um ihr Baby kümmert.” Sie rümpfte die Nase. “Das war das erste Mal, dass ich miterlebt habe, wie die niedliche, anständige kleine Plia so richtig durchgedreht ist. Sie begann ihm Dinge nachzuschmeißen und schrie, dass er genau das doch die ganze Zeit über gewollt hätte. Rhys’ Tod, meine ich. Aber er stand einfach nur mit erhobenem Schild da und ließ daran die Dinge abprallen, die sie ihm entgegenwarf. Er war einfach großartig. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, erklärte er ihr, dass er ganz einfach die Kontrolle über ihre Muskeln übernehmen und sie zum Essen und Trinken zwingen könnte, wenn das nötig wäre, um sie und das Kind zu versorgen. Dass er es aber vorziehen würde, wenn er das nicht tun müsste. Danach schrie sie noch ein wenig mehr, aber dann hat sie gegessen – zumindest solange er zugesehen hat. Er hat versprochen, jeden Tag vorbeizukommen und sicherzugehen, dass sie isst.”

Eryn nickte, froh darüber, dass Vern Plia noch immer soweit verbunden war, um sich um sie zu kümmern, wenn man bedachte, was zwischen ihnen vorgefallen war. Viele Menschen hätten wohl frohlockt, wäre einer Person, von der sie eine Zurückweisung erfahren hatten, solch ein Schicksalsschlag widerfahren. Besonders, wenn diese Zurückweisung gemeinsam mit einer halbjährigen Suspendierung von ihrem Beruf als Konsequenz für den Eroberungsversuch einhergegangen wäre.

Nicht aber Vern. Niemals würde er seinem eigenen verletzten Stolz und seinem gebrochenen Herzen – oder was auch immer tatsächlich in die Brüche gegangen war, da er ohnehin keine Bereitschaft gezeigt hatte, sich an Plia zu binden – erlauben, ihn zu unangemessenem Verhalten zu verleiten. Und in diesem Moment war es angemessen, sich um Plia zu kümmern, ganz egal, ob sie das schätzte oder nicht.

Ohne ihre frühere Mitbewohnerin zu konsultieren, hatte Gerit dafür gesorgt, dass Plias Habseligkeiten aus ihrem Quartier zurück zum Haus geschafft worden waren. Eryns Eindruck war, dass Plias Kontakt mit der Außenwelt kaum ausgereicht hatte, um zu verstehen, was um sie herum vorging. Somit hatte es von ihrer Seite auch keinen Einspruch gegeben; sie hatte lediglich mit sich machen lassen, was andere für richtig hielten, solange sie einen ruhigen Platz zum Weinen fand.

Nach dem Streicheln der Bergkatze richtete sich Enric wieder auf und nickte zum Treppenaufgang. “Können wir nach oben gehen, oder ist es gerade ein schlechter Zeitpunkt?”

Temina zuckte mit den Schultern. “Ich würde sagen, dieser Zeitpunkt ist so schlecht wie jeder andere. Aber sie ist nicht gerade dabei, ein Bad zu nehmen, wenn das deine Bedenken waren.”

“Vielleicht sollte ich ohne dich hineingehen”, schlug Eryn vor. “Es mag sie noch mehr schmerzen, wenn sie uns beide zusammen sieht.”

Dieser Anregung wäre Enric nur zu gerne gefolgt, da es ihm so erspart geblieben wäre, sich einer weinenden Frau zu stellen, ohne zu wissen, wie er die Bürde ihres Schmerzes lindern konnte. Normalerweise war er gut darin, sich Problemen zu stellen, doch nicht, wenn er von Anfang an wusste, dass es keine Lösung dafür gab; dass sich die Angelegenheit irgendwann von selbst lösen würde, aber nicht, weil er etwas tun konnte, sondern einfach aufgrund der verfließenden Zeit. Er hasste es, hilflos zu sein, und einer anderen Person beim Leiden zuzusehen war die schlimmste Ausprägung davon, die er kannte.

“Nein, ich denke, das macht wenig Sinn”, zwang er sich auszusprechen, was die Vernunft diktierte. “Wir können sie nicht vor der Tatsache beschützen, dass es noch immer Paare gibt. Zumindest nicht, ohne sie zu isolieren und sie im Haus einzusperren. Und wir sollten nicht der Versuchung nachgeben, sie wie ein Opfer zu behandeln, wenn wir wollen, dass sie ihre Stärke zurückerlangt.”

Als Eryn ihm zulächelte und einen Kuss in seine Handfläche presste, wusste er, dass sie ihm damit einen einfachen Ausweg anbieten hatte wollen, der ihn sein Gesicht hätte wahren lassen. Und dass sie stolz darauf war, dass er sich dagegen entschieden hatte, obwohl sie es akzeptiert hätte.

Sie stiegen die leise knarrenden Stufen hinauf zu dem Zimmer, das Plia bereits vor ihrem Kommitment bewohnt hatte.

*  *  *

Eryn tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug, bevor sie an Plias Tür klopfte. Einerseits war sie begierig darauf, Plia zu sehen und sicherzugehen, dass es ihr so gut ging wie die Umstände es erlaubten, und andererseits scheute sie vor dem zurück, was mit Gewissheit herzzerreißend anzusehen sein würde.

Als nach einigen Sekunden noch immer keine Antwort oder Einladung aus dem Inneren gekommen war, drückte sie den Türgriff nach unten und trat ein, Enric einen Schritt hinter ihr.

Es dauerte ein paar Momente, bis sich ihre Augen an die schummrigen Lichtverhältnisse im Zimmer gewöhnt hatten. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass die winzige Menge an Sonnenlicht, die es schaffte, sich durch den robusten Stoff zu kämpfen, den komfortabel möblierten Raum in ein leicht violettes Glühen tauchte.

Das Zimmer wirkte nicht wirklich bewohnt. Plia war erst vor kurzem zurückgekehrt, hatte aber offensichtlich noch nicht die Energie oder den Willen aufgebracht, es sich wieder zu eigen zu machen. Eine leere Truhe mit offenem Deckel, die an einer Wand stand, legte nahe, dass Gerit sich um die Kleider der jungen Frau gekümmert und sie in den Schrank gleich daneben geräumt hatte.

Eryns Augen wanderten zu der bewegungslosen Gestalt auf dem Bett, das an einer Wand stand. Plias Kopf ruhte auf einem Kissen, während ihre Arme ein weiteres umschlangen, als versuchte sie an der Illusion festzuhalten, sie hätte noch immer jemanden in ihrem Leben, an den sie sich klammern konnte, wenn sie Trost brauchte.

Es gab keinerlei Geräusch; dafür war ihr Atem zu leise. Nachdem sich Eryns Augen angepasst hatten, beobachtete sie ihre Freundin für kurze Zeit. Ihr Brustkorb hob und senkte sich nicht gleichmäßig und tief genug, als dass sie schlief. Also hatte Plia entweder nicht bemerkt, dass jemand eingetreten war, oder es kümmerte sie schlicht und ergreifend nicht.

“Plia?”, versuchte sie es sanft und trat näher, um sich auf die Bettkante zu setzen. Sachte legte sie ihre Hand auf den Arm, der das Kissen umklammerte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Enric sich leise auf einem nahen Stuhl niederließ.

Sie spürte, wie sich der Körper unter ihrer Hand bei der Berührung leicht versteifte, und bemerkte, wie die junge Frau ihr Gesicht in das Kissen drückte. Ihre Augen waren fest zusammengekniffen in dem Versuch, die harsche Welt und ihre grausamen Schicksalsschläge von sich fernzuhalten.

Im Angesicht solcher Verzweiflung fehlten Eryn die Worte, und sie suchte fieberhaft nach etwas Passendem, Bedeutungsvollem oder Tröstlichem, das sie sagen konnte. Was würde sie an Plias Stelle hören wollen? Würde sie überhaupt wollen, dass irgendjemand mit ihr redete? Sollte man Plias Wünschen im Moment überhaupt den Vorzug geben? War das, was sie brauchte nicht wesentlich wichtiger? Wem allerdings stand die Entscheidung zu, was die junge Frau im Moment brauchte? Wenn Plia Abgeschiedenheit wollte, war es dann zulässig, dass man ihr unliebsame Gesellschaft aufdrängte?

Erinnerungen an ihre eigene Schwangerschaft kehrten zu ihr zurück. Zu diesem Zeitpunkt war sie zutiefst bestürzt gewesen, weil sie erfahren hatte, dass Valrad ihr leiblicher Vater war. Enric hatte entschieden, dass sie sich ihrem Ärger, ihrer Sorge und Verzweiflung stellen musste, anstatt sich zurückzuziehen und sich von allem fernzuhalten, und sie hatte es gehasst. Ganz egal, ob ihr Gefährte zu diesem Zeitpunkt im Recht gewesen war oder nicht, hatte sie es dennoch als unerträglich empfunden, dass er diese Entscheidung für sie getroffen hatte. Er hatte versucht, ihr aufzuzwingen, was er als notwendig erachtete, anstatt zu respektieren, dass sie erst mit den neuen Umständen zurechtkommen musste.

Rückblickend waren ihre eigenen Probleme damals nicht einmal annähernd so schwerwiegend gewesen wie Plias gegenwärtige, ganz egal, wie furchtbar sie Eryn damals erschienen waren. Während sie alles in ihrem Leben in Frage gestellt hatte, sogar ihre eigene Identität, musste es Plia vorkommen, als hätte ihre eigene Existenz plötzlich alles verloren, was ihr Bedeutung verliehen hatte. Die eine Person, der sie die Welt bedeutet hatte, die der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war, einfach fort – ohne Warnung, von einem Moment zum nächsten.

Sie warf Enric, der von seinem Stuhl aus zusah, einen hilflosen Blick zu. Er stand von seinem Platz auf und kam näher. Unbeholfen nahm er am unteren Ende des Bettes Platz, unsicher, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Schließlich legte er eine davon auf den Umriss von Plias Fuß ab, der sich unter der Decke abzeichnete, und drückte ihn leicht.

“Wie geht es dem Baby?”, fragte er. Er sah aus, als erwarte er nicht wirklich eine Antwort darauf.

Ein paar stille Sekunden verstrichen, dann drehte Plia ihren Kopf weit genug, um den großgewachsenen Mann anzusehen, der ihren Fuß berührte. Ihr Blick war leer, und so auch ihre Stimme, als sie erwiderte: “Dem Baby geht es gut. Wirst du mich jetzt fragen, wie es mir geht?” Den letzten Worten wohnte eine gewisse Bitterkeit inne.

Enric schüttelte den Kopf. “Das brauche ich nicht. Ich kann sehen, dass es dir scheußlich geht. Ich glaube nicht, dass es dir helfen würde, dies in Worte zu fassen.” Einen Moment lang wirkte er unsicher. “Oder vielleicht doch?”

Zu Eryns beträchtlicher Überraschung setzte sich Plia auf und krabbelte dann auf Enric zu. Tränen begannen ihre Wangen hinabzulaufen, als sie ihre Arme um Enrics Mitte schlang und ihre Wange gegen seine Brust presste, während ihre Schultern still bebten.

Enric war ebenso verblüfft, erholte sich aber rasch und begann ihren Rücken zu streicheln. Die Feuchtigkeit, die sich inzwischen auf seinem dunklen Hemd auszubreiten begann, ließ er unbeachtet.

Eryn saß da und fühlte sich verloren und überflüssig. Sie versuchte sich nicht daran zu stören, dass ihre Freundin jetzt gerade den Kontakt zu Enric vorzog. Sie hatte gerade einen Mann verloren und suchte – bewusst oder unbewusst – die Wärme und den Trost männlicher Arme.

Enric hatte keinerlei Problem damit, die Jungfer in Nöten zu trösten, wie Eryn nicht umhin kam zu bemerken. Sie fragte sich, ob das eine Rolle war, die er im Geheimen gerne öfter eingenommen hätte, aber des Vergnügens beraubt wurde, weil seine Gefährtin nicht wirklich irgendeine Neigung zeigte, weinend Zuspruch in jemandes Armen zu suchen. Sie schob den Gedanken beiseite und zwang sich dazu, sich auf die Person zu konzentrieren, deren Kummer der Grund für ihren Besuch war.

Sie war froh, dass Plia sich im Arm halten ließ, wenngleich der Mann, an den sie sich klammerte, für derlei Dinge ein recht unkonventioneller Kandidat war. Zumindest in diesem Land. Lord Enric, starke Schulter für Frauen, die im Kummer zu versinken drohten…

Eryn lehnte sich zurück gegen das Kopfteil des Bettes und sah zu, wie Plias Schluchzer zuerst immer heftiger wurden, bevor sie nach einer Weile abzuebben begannen. Einige Minuten später beruhigte sie sich. Ihre Schultern erbebten nicht mehr alle zwei Sekunden, sondern nur mehr gelegentlich. Irgendwann quollen ihre Tränen nur mehr still zwischen geschlossenen Augenlidern hervor, und Enric spürte, wie ihr Körper immer schwerer wurde und an Anspannung verlor, als sie in den Schlaf hinüberglitt.

Sie studierte Enrics Gesicht. Der Ausdruck darauf passte zu dem Gefühl der Betrübnis, das sie durch das Geistesband empfing. Gedankenverloren streichelte er den Rücken der jungen Frau. Als er den Blick seiner Gefährtin auf sich spürte, sah er sie an als wollte er fragen: Und was nun?

Eryn zog die Schultern hoch. Sie wusste es auch nicht. Plia schien sich in einem Zustand geborgten Friedens zu befinden, während sie die Wohltat von Enrics körperlicher Nähe genoss. Nach dem ständigen Schmerz, der sie seit Erhalt der Nachricht vom Tod ihres Gefährten umklammert hielt, konnten sie und das Baby zweifellos eine Pause gebrauchen.

Sie stand auf und trat näher, damit sie sich zu seinem Ohr hinabbeugen und flüstern konnte. “Würde es dir etwas ausmachen, noch ein wenig bei ihr zu bleiben?”

Er seufzte. “Nein. Mach nur den Vorhang ein wenig auf und bring mir etwas zu lesen, in Ordnung?”

Eine Welle der Zuneigung für ihn stieg in ihr auf. Sie küsste seinen Scheitel, drehte sich um und schritt von dannen um seiner Bitte nachzukommen. Sie würde ihm ein Buch bringen und sich dann ein wenig zu Temina gesellen.

*  *  *

Sobald Eryn einen Stuhl gewählt hatte, nahm auch Enric in Tyronts Arbeitszimmer Platz. Eine Nachricht des Ordensführers hatte ihn und Eryn zuhause erwartet, nachdem sie von ihrem Besuch bei Plia im Haus seiner Mutter zurückgekehrt waren.

Er hätte es vorgezogen, den Abend mit seiner Familie zu verbringen anstatt der Vorladung seines Vorgesetzten Folge leisten zu müssen, doch er hatte keine Wahl. Sie hatten nach Temina geschickt und sie gebeten, eine Stunde oder zwei auf Vedric aufzupassen, solange seine Eltern im Palast waren. Seine Nichte erfüllte die Bitte mehr als bereitwillig und hatte auch die Bergkatze mitgebracht. Sie hatten noch nicht besprochen, wie es im Hinblick auf Urban weitergehen sollte, ob sie bei Temina bleiben oder zu ihnen zurückkehren sollte. Darüber würden sie reden müssen, sobald sich die Dinge ein wenig beruhigt hatten. Zudem galt es die Option zu bedenken, dass Eryn sich für einen permanenten Umzug nach Takhan als Oberhaupt von Haus Aren entscheiden mochte, was bedeutete, die Katze würde entweder mitkommen und unter der ständigen Hitze leiden, oder in Teminas Obhut zurückbleiben.

Eryns Gesicht zeigte ebenfalls mehr als deutlich, wie wenig sie den Abendtermin bei Tyront schätzte. Enric war überzeugt, dass der Krieg eine erhöhte Frequenz an Zusammenkünften mit dem König, dem Rat der Magier und Tyront mit sich bringen würde, doch das hatte er bislang nicht erwähnt. Sie würde es bald genug merken.

Tyront nahm hinter seinem monströsen Schreibtisch Platz – ein untrügliches Anzeichen dafür, dass es um Ordensangelegenheiten ging.

Eryn unterdrückte ein Gähnen und wartete geduldig auf das, was wichtig genug sein musste, um sie in den Abendstunden herbei zu zitieren.

Ihr Vorgesetzter räusperte sich und sah Eryn an. “Ich habe über Enrics Demonstration mit dem Projizieren von Erinnerungen mit Hilfe eines Schildes nachgedacht. Eine recht interessante Fertigkeit. Doch noch interessanter als diese Technik zum Teilen seiner Gedanken war der Vorfall, den er für seine Demonstration auserkoren hat.”

Enric begann zu verstehen. Aber natürlich. Sie alle hatten mitangesehen, wie Eryn eine mächtige Felsenfestung zerlegt hatte, ohne dafür auch nur einen Blitz abzugeben oder einen Finger zu rühren. Wenn man bedachte, dass sie drauf und dran waren, ihren Verbündeten in einem Krieg beizustehen, war das eine Fähigkeit, die die Ordensmagier – vor allem die Krieger – beherrschen sollten.

Eryn war offensichtlich bei der gleichen Schlussfolgerung angelangt. Sie lächelte schwach. “Das soll dann wohl heißen, ich soll euch zeigen, wie man große, böse Feindesfestungen zu Staub zerfallen lässt?”

“Ganz so hätte ich es wohl nicht formuliert, doch im Wesentlichen kann ich zustimmen, dass dies die Fertigkeit ist, in der ich dich bitte, deine Ordenskollegen zu unterweisen.” Tyront beobachtete sie, während er auf ihre Antwort wartete.

Ihr Schulterzucken zeigte, dass sie nicht allzu überrascht war von seiner Bitte, Forderung oder was auch immer es war. Wohl eine Forderung verpackt als höfliche Anfrage. “Natürlich. Doch dir ist klar, dass wir dafür die Stadt verlassen und eine gewisse Distanz zu ihr gewinnen müssen. Berge brauche ich dafür nicht unbedingt – jedes Gelände, das weit genug von Siedlungen entfernt ist, reicht aus. Ich kann das zugrundeliegende Prinzip in kleinerem Ausmaß unterrichten. Das dauert nicht länger als ein paar Minuten. Die Reise wird mehr Zeit in Anspruch nehmen. Ich empfehle zumindest einen dreistündigen Ritt. Auf diese Weise sollten Missgeschicke nicht dazu führen, dass hier in der Stadt Gebäude in sich zusammenfallen.”

“Ja, dafür wären wir unendlich dankbar”, erwiderte Tyront in dezent trockenem Tonfall. Doch seine Miene bezeugte, wie zufrieden er mit Eryns unverzüglicher Bereitschaft war, ihre jüngste Entdeckung weiterzugeben. Sein Blick wanderte zu Enric.

“Hast du bereits gelernt, wie das funktioniert, oder wirst du dich der Gruppe anschließen?”

“Bisher nicht, nein. Auf unserer Rückreise aus Pirinkar waren wir bestrebt, unauffällig zu bleiben. Das schloss auch mit ein, unterwegs keine Landschaften einstürzen zu lassen.”

Tyront nickte. “Gut. Dann wird deine und meine Anwesenheit auf diesem Ausflug den anderen demonstrieren, wie wichtig wir das Erlernen dieser Technik nehmen. Ich werde die Außenposten informieren, damit sie ebenfalls ein paar Leute mitschicken. Mit einem dreistündigen Ritt in jede Richtung und kaum mehr als einer Stunde für Anweisungen sollte ein Tag mehr als ausreichend sein.”

“Wird der Rat der Magier auch dabei sein?”, fragte Eryn und versuchte, beiläufig zu klingen. Doch sie schaffte es nicht, ihre Scheu davor zu verbergen, den Rat einen ganzen Tag lang am Hals zu haben.

“Nicht alle. Auf jeden Fall Orrin, Enric und ich, und dann würde ich noch ein oder zwei weitere vorschlagen, damit zumindest die Hälfte des Rates darin bewandert ist. Orrin kann es sodann übernehmen, die anderen zu unterrichten.”

Enric sah, wie erleichtert seine Gefährtin bei Gedanken daran war, nicht mehr als zwei mühsame Ratsmitglieder ertragen zu müssen – sofern man Tyront nicht dazuzählen wollte. Er konzentrierte sich wieder auf seinen Vorgesetzten, als dieser ihn ansprach.

“Wie sieht es mit dieser ganzen unerquicklichen Sache in Pirinkar aus, Enric? Konntest du das soweit verarbeiten, dass du deine Pflichten im Orden wiederaufnehmen kannst?”

“Selbstverständlich”, antwortete Enric ohne Zögern.

Tyront kniff die Augen leicht zusammen. “Unter anderen Umständen wäre ich weniger hartnäckig, wenn es darum geht zu betonen, dass wir uns keinen verstörten Stellvertreter des Ordens leisten können. Aber da die Dinge nun einmal sind, wie sie sind, muss ich sichergehen, dass ich darauf vertrauen kann, dass du in einem Krieg einen kühlen Kopf bewahren kannst.”

“Das kann ich”, versicherte ihm Enric einmal mehr.

Tyronts Blick wanderte zu Eryn, als versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, ob ihr Gefährte die Wahrheit sprach. Doch sie erwiderte seinen Blick lediglich mit höflichem Interesse.

Nach ein paar Sekunden nickte er. “Ich bin froh, das zu hören.”

Doch Enric konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sein Vorgesetzter noch immer von gewissen Zweifeln geplagt wurde.

*  *  *

Zufrieden beobachtete Enric, wie ein paar seiner Kollegen ihre Gedanken auf schimmernde Schilde projizierten, während sie auf dem Rücken ihrer Pferde saßen. Er hatte die untätige Zeit auf dem Weg zu ihrem Trainingsgebiet, wo Eryn ihnen zeigen wollte, wie man Gesteinsschichten manipulierte, zur Unterweisung der lernwilligen Gruppenmitglieder genutzt, wie man Schilde nutzte, um Erinnerungen, Ideen oder was auch immer sonst ihr Gehirn produzierte, zu teilen.

Sie hatten den gesamten Tag in den Hügeln südlich der Hauptstadt verbracht, oder eigentlich eher die Hälfte davon, und den Rest auf den Pferden auf der Reise hin und zurück.

Eryn war überrascht, wie viel Zeit die Magier gebraucht hatten um sich anzueignen, was sie selbst in Pirinkar mit Hilfe ihrer Instinkte innerhalb weniger Sekunden herausgefunden hatte. Vier Stunden hatte es gedauert, bevor jeder einzelne der siebenunddreißig Magier, die mit ihr und Enric hergekommen waren, endlich in der Lage war, den Untergrund in einem Ausmaß zu verändern, mit dem sie auf Wunsch beträchtlichen Schaden anzurichten vermochten. Allerdings kein besonders zielgerichteter Schaden – zumindest nicht von allen. Ein paar wenige Auserwählte hatten das Prinzip des Aufspürens von Adern innerhalb der Steinschichten unter ihnen und den Einsatz geringer Dosen an Magie zu deren sorgsamer Manipulation begriffen. Überraschenderweise zählte Lord Seagon dazu. Ebenso wie Enric. Was weniger überraschend war.

Nach einem frühen Abendmahl in einer Taverne, deren Besitzer beim Anblick einer so großen Gruppe, für die es zusätzlich zu seinen regulären Gästen einen Platz zu finden galt, leicht panisch gewirkt hatte, setzten sie ihren Weg seit etwa einer halben Stunde fort. Die Nacht war bereits am Anrücken, am Horizont schwanden die letzten Reste an Tageslicht mit jeder verstreichenden Minute. Die nächste Stunde würde sie in Sichtweite der Stadt bringen.

Die Laune unter den Reisenden war weitgehend entspannt und umgänglich. Enric wusste, dass viele von ihnen seit Jahren keine Gelegenheit mehr gehabt hatten, die Stadt zu verlassen – oder einfach keinen Sinn darin gesehen hatten. Er hätte darauf gewettet, dass sich ein paar von ihnen das letzte Mal außerhalb der Stadtgrenzen aufgehalten hatten, als sie noch in Ausbildung waren und angewiesen wurden, die Wälder nach essbaren Pflanzen zu durchsuchen. Somit war dies für einige seiner Kollegen ein Abenteuer.

“Ich bin nicht sicher, ob ich es gut finde, dass Ihr solch weitreichende zerstörerische Kräfte zu Eurer Verfügung habt”, murmelte Lord Woldarn, der neben Eryn ritt. Enric fragte sich, ob der Mann sein Pferd absichtlich neben ihres gelenkt hatte, um einen Streit anzufangen. “Ihr wart schon anfällig dafür, Häuser einstürzen zu lassen, noch bevor Ihr dank dieser Technik hier sogar noch mehr Schaden mit beträchtlich weniger Aufwand anrichten konntet. Diese Art von Macht erfordert ein Ausmaß an Kontrolle, das weit über dem liegt, das Ihr in den letzten Jahren an den Tag gelegt habt.”

Eryn drehte ihren Kopf und warf ihm einen kühlen Blick zu. “Ein einziges Gebäude. Und nicht einmal ein ganzes, sondern nur ein Dach. Welches ich hinterher reparieren habe lassen. Und Ihr dürft die Tatsache, dass bislang noch kein Gebäude über Euch eingestürzt ist, als Beweis meiner fortwährenden und beträchtlichen Selbstkontrolle erachten, mein Lord.”

“Droht Ihr mir etwa, Lady Eryn?”, schnaubte er entrüstet mit lauter werdender Stimme, als er ein Publikum anzulocken versuchte.

Enric seufzte und entschied, im Augenblick nicht einzugreifen. Wenn er seinen Untergebenen für sein respektloses Verhalten zurechtwies, würde der Mann lediglich eine weitere Gelegenheit suchen, um Eryn zu provozieren, wenn Enric nicht dabei war. Sie musste ihm Grenzen setzen, genau wie sie es zuvor in der Ratshalle getan hatte. Und sie musste es allein tun, ohne dass ihr beherzter Gefährte zu ihrem Schutz an ihre Seite eilte.

“Aber keinesfalls, Lord Woldarn!”, rief Eryn in gespielter Betroffenheit ob solch einer ungeheuerlichen Unterstellung aus. “Würde ich Euch drohen, dann müsstet Ihr nicht nachfragen. Ich werde jedoch mehr Rücksicht an den Tag legen angesichts Eurer zerbrechlichen Verfassung, wo ich nun weiß, wie rasch Ihr aus dem Gleichgewicht geratet.”

Enric sah, wie manche der Magier um sie herum auf den erneuten verbalen Schlagabtausch mit einem Augenrollen reagierten, während andere ihre Freude daran hatten und leise kicherten. Die erste Gruppe setzte sich vorwiegend aus Ratsmitgliedern zusammen, die bereits während der Versammlungen regelmäßig in diesen Genuss kamen, letztere waren Magier, die entweder Respekt vor Eryn oder eine Abneigung gegen Lord Woldarn empfanden.

“Eure Dreistigkeit gegenüber hochrangigen Ratsmitgliedern, die Euch an Jahren dermaßen weit voraus sind, ist unfassbar! Ich habe dem Rat bereits gedient, noch bevor Ihr überhaupt geboren wart! Beinahe vierzig Jahre Erfahrung, nur um mich behandeln zu lassen wie einen…”

Eryn unterbrach ihn scharf. “Vierzig Jahre an Ratserfahrung? Kaum! Ihr habt seither lediglich an den gleichen überholten Vorstellungen festgehalten, die Ihr als das Ehren von Traditionen tarnt. In Wahrheit ist das aber nichts als Angst vor Veränderung und ein Mangel an Weitblick. Ihr habt keinesfalls vierzig Jahre Erfahrung, sondern lediglich das erste Jahr immer und immer wiederholt, ohne dabei Euren Horizont oder Intellekt zu erweitern.” Um sie herum war es vollkommen still geworden, als die Magier angespannt zuhörten. Ihre Lippen formten ein kleines, herablassendes Lächeln, als sie fortfuhr: “Und wenn ich Euch Grenzen setze, Lord Woldarn, fällt dies wohl kaum unter den Begriff Dreistigkeit. Da ich Eure Vorgesetzte bin und Ihr verpflichtet seid, meinen Anweisungen zu folgen, solltet Ihr es als wohlwollende Unterweisung verstehen. Wir wollen doch nicht, dass Ihr wie Aldon endet, nicht wahr?”, schloss sie liebenswürdig.

Die Erwähnung des in Ungnade gefallenen früheren Lords und Ratsmitglieds brachte Lord Woldarn zum Schweigen. Der Mann hatte versucht, an seinen Vorstellungen von Tradition festzuhalten und auch jeden sonst dazu zu zwingen, indem er junge Magier, die für Veränderung einstanden, als Kriminelle darstellen wollte. Lord Woldarns Sohn war einer von ihnen gewesen.

Eryn war froh, dass er sich vorerst zum Schweigen entschieden hatte. Sie hatte keine Freude an öffentlichen Auseinandersetzungen – zumindest nicht in ihrer Rolle als Anführerin – und hasste es, wenn sie gezwungen war, sich an einer zu beteiligen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihm gegenüber eine Niederlage einzustecken, da die Glaubwürdigkeit ihres Ranges daran hing. Wenn also alles andere versagte, musste sie auf weniger freundliche Methoden zurückgreifen, um die Oberhand zu behalten. Zumindest bei der Art von Attacke, die Lord Woldarn so gerne startete. Die zielten nicht darauf ab, ihr eine bestimmte Problemstellung oder einen Standpunkt näherzubringen. Sie waren nichts als ein Machtspiel, weil dieser Mann es nach all den Jahren noch immer nicht schaffte zu akzeptieren, dass er einer Person wesentlich jünger als er selbst unterstand – und dann noch ausgerechnet einer Frau.

Sie wusste, dass es ihm Schwierigkeiten bereitete, mit dieser Situation fertig zu werden, besonders, wenn man all das betrachtete, was der Orden seinen Mitgliedern in den vergangenen Jahrhunderten so energisch vermittelt hatte. Jedoch andere Ratsmitglieder, die ebenso alt wie Lord Woldarn – oder sogar älter – waren, hatten es geschafft, mit den jüngeren Entwicklungen zurechtzukommen. Lord Poron hatte seinen Rang als Nummer drei verloren – an eine Frau, die jung genug war, um seine Enkeltochter zu sein. Im Gegensatz zu Lord Woldarn hatte er darauf allerdings nicht mit Verbitterung reagiert und sich bei jedem Schritt quergelegt. Er hatte mit offenen Armen willkommen geheißen, was sich für das Königreich als rasanter Fortschritt erwiesen hatte und sich zudem die neue Disziplin des Heilens nicht nur zu eigen gemacht, sondern sogar als Oberhaupt die Verantwortung dafür übernommen.

Im Vergleich dazu hatte Lord Woldarn sich als vollkommen resistent erwiesen gegen alles, was dem entgegenstand, was er als richtig und angemessen vermittelt bekommen hatte, ganz egal, dass viele dieser Dinge veraltet waren und dringender Verbesserung bedurften. Sogar Lord Seagon, selbst ein Traditionalist und nicht eben großer Bewunderer Eryns, hatte es bis zu einem gewissen Grad geschafft, sich anzupassen.

Eryn wusste, dass Lord Woldarn zu Stallarbeiten zu verdammen die Dinge nicht einfacher gemacht hatte. Sein Versuch, sie einmal mehr öffentlich zu dominieren, bewies mehr als ausreichend, dass er unwillig oder unfähig war, sie als seine Vorgesetzte anzunehmen. Er war kein Mann, der Grenzen ohne Widerstand akzeptierte. Was nicht bedeutete, dass sie es sich leisten konnte, ihm keine zu setzen, nur weil er es womöglich ohnehin niemals lernen würde. Das wäre lediglich seinen Zwecken dienlich, weil es ihrem Ruf schaden würde.

Wenn sie das Angebot ihrer Mutter annahm, würde sie sich mit diesem starrköpfigen, alten Kauz nicht länger herumplagen müssen. Sie ließ den Atem entweichen und zwang ihre Gedanken fort von dem, was sich nach einem so einfachen Ausweg anfühlte. Haus Aren führen, eine Senatorin in Takhan werden und in einem Land leben, das von ihrer Mutter regiert wurde, barg seine eigenen Gefahren und Nachteile. Davon war sie überzeugt.

Enric lenkte sein Pferd nahe genug an das ihre, damit er murmeln konnte: “Takhan mit Haus Aren und dem Senat muss dir im Moment als das kleinere Übel erscheinen. Abgesehen von der Tatsache, dass sie bald das Ziel eines Angriffs sein werden”, lenkte er ein.

Die Tatsache, dass ihr Gefährte ihre Gedanken so zutreffend erraten hatte, entlockte ihr ein Lächeln. “Ja, abgesehen von dieser kleinen Unannehmlichkeit.”

Der Krieg, dachte sie. Einen, bei dem man erwarten würde, dass sie teilnahm, ihr Schwert und ihre Magie schwang mit der Absicht zu töten. Das war etwas, mit dem sie sich entweder arrangieren oder sich weigern musste, wenn die Zeit gekommen war. Und als wäre das nicht schwierig genug, ließ Lord Woldarn nicht davon ab, Streit mit ihr zu suchen. Wenn er nicht sehr vorsichtig war, fiel seine Würde dem Krieg noch als Erstes zum Opfer.

Kapitel 3

Ein Exempel

Plias Hand zitterte leicht, als sie auf dem Küchentisch der Klinik das Kräuterpulver in die Tasse mit heißem Wasser einrührte.

Eryn war im Zwiespalt, unsicher, was sie von der Entscheidung der jungen Frau halten sollte, nur drei Wochen nach dem unerwarteten Ableben ihres Geliebten wieder zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Einerseits war Arbeit zweifellos eine willkommene Ablenkung von ihrem Kummer, etwas, in das sie sich stürzen konnte, eine Gelegenheit, nicht länger zu leiden ohne sich irgendwie beschäftigen zu können. Doch andererseits bestand ihre Aufgabe darin, Kräuter zu mischen und so Medizin herzustellen. Manche der Substanzen, mit denen sie hantierte, waren potent genug, um Patienten bereits beim kleinsten Messfehler den Tod zu bringen oder zumindest die Krankheit oder auch den Schmerz erheblich zu verschlimmern.

So sehr Eryn ihrer jungen Freundin die Möglichkeit vergönnt hätte, ihrer Trauer zumindest für kurze Zeit zu entkommen, so wusste sie auch, dass das Wohl und die Sicherheit der Patienten Vorrang haben mussten. Das hatte sich nicht plötzlich verändert, nur weil sie den Heilerberuf nicht länger aktiv ausübte.

Gerade als sie Plias Aufmerksamkeit mit einem Hüsteln auf sich lenken wollte, betrat Onil die Küche und grinste, als er Eryn erblickte.

“Hallo du! Bedeutet deine Anwesenheit hier, dass du deine Meinung geändert hast und uns nicht verstoßen wirst?” Sein Ton war scherzhaft, die Frage selbst allerdings nicht.

Sie zuckte innerlich zusammen. Uns verstoßen, dachte sie und zwang ihre Lippen zu einem angespannten Lächeln. Hätte Lord Poron nicht noch ein wenig länger damit warten können, die Nachricht zu verbreiten? “Nein, ich fürchte, ich bleibe bei meiner Entscheidung. Ich habe nur Plia herbegleitet. Sie will ihre Arbeit wieder aufnehmen.”

Erst dann bemerkte der Heiler die Herbalistin, die hinter Eryn stand. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er ihre blasse, beinahe durchsichtige Haut, die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihren allgemein recht schwachen und zerbrechlichen Allgemeinzustand in Augenschein nahm. “Ich weiß, dass mich das eigentlich nichts angeht, solange Lord Poron keine Einwände dagegen hat, aber ist das klug? Manche der Pulver, die wir den Patienten geben, lassen wenig bis gar keinen Spielraum für Fehlkalkulationen zu. Wir würden doch nicht versehentlich jemanden töten wollen, nicht wahr?”

Seine Worte waren schonungslos, doch sein Ton war sanft und voller Bedauern. Er selbst hätte sie ebenfalls gerne willkommen geheißen, wo sie unter Freunden war, die zumindest einige Stunden jeden Tag für sie da sein konnten.

Eryn stieß einen stillen Seufzer der Erleichterung aus. Onil hatte ihr gerade eine recht unangenehme Pflicht abgenommen. Und dass er ihre Bedenken teilte, war für sie auch eine Bestätigung – es war tatsächlich eine reale Gefahr und nicht bloß ihre eigene übertriebene Vorsicht.

Plia war mit dem Umrühren ihres Getränks fertig und nahm einen vorsichtigen Schluck von der noch immer dampfenden Tasse, bevor sie ihm ein müdes Lächeln schenkte. “Ich weiß. Ich werde heute nichts allzu Anspruchsvolles in Angriff nehmen. Ich will mich darauf beschränken, mich um die Pflanzen im Gewächshaus zu kümmern und ein paar Blätter und Blüten zum Trocknen zu ernten. Daran ist nichts gefährlich.”

Das war so nicht ganz korrekt, wie Eryn wusste. Ein paar der Kräuter sollten keinesfalls ohne Schutz oder Werkzeuge berührt werden. Die Tatsache, dass kein Patient in unmittelbarer Gefahr war, vergiftet zu werden, bedeutete nicht, dass nichts Schlimmes passieren konnte.

“Du wirst aber deine Handschuhe tragen, hoffe ich?”, fragte sie vorsichtig. “Manche der Pflanzen sind alles andere als harmlos, wie du weißt.”

Plia warf ihr einen wenig freundlichen Blick zu. “Ja, ich weiß das tatsächlich – immerhin bin ich eine medizinische Herbalistin. Und nein, ich denke nicht daran, in meinem Kummer irgendetwas Dummes mit den Pflanzen anzustellen”, erriet sie zutreffend, in welche Richtung Eryns Gedanken geschweift waren. “Ich habe ein Baby, um das ich mich kümmern muss und dem ich niemals Schaden zufügen würde – weder absichtlich noch durch Nachlässigkeit.”

Eryn nickte verlegen, teils froh über die Zusicherung, doch auch ein klein wenig beschämt.

Die junge Frau nickte beiden zu und verließ sodann die Küche mit ihrer Tasse in der Hand, um sich in ihr Labor zu begeben.

Sobald sie außer Hörweite war, seufzte Onil und lehnte sich gegen den Tisch. “Ich hasse es, sie so zu sehen. Was für ein grausames Unglück für eine so junge Person. Und noch dazu in ihrem Zustand. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie sie sich jetzt gerade fühlen muss.”

Eryn nickte zustimmend. Ihr ging es ähnlich. Sie erinnerte sich an jenen kurzen Moment, als sie gedacht hatte, Enric sei derjenige, der verstorben war. Vollkommene Verzweiflung hatte sie ergriffen, gefolgt von einem seltsamen Gefühl von Taubheit, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggerissen worden und als schwebte sie in absoluter Leere. Die Vorstellung, dieses Gefühl tagelang mit sich herumtragen zu müssen, bevor ihr Verstand schließlich begann, sich an diese veränderte Realität zu gewöhnen…

Sie erschauderte leicht und rieb sich mit den Handflächen über die Unterarme.

Der Heiler drehte seinen Kopf und sah ihr ins Gesicht. “Du bist dir absolut sicher? Ich kann dich nicht überzeugen, deine Meinung zu ändern und zur Klinik zurückzukehren? Der Gedanke an all das hier ohne dich, auch wenn du immer nur ein paar Monate durchgehend anwesend warst, ist seltsam. Verstörend. Deprimierend. Was hat dich überhaupt dazu veranlasst, dem Heilen den Rücken zu kehren? Lord Poron hat uns nur informiert, dass es persönliche Gründe sind, ohne uns Details zu liefern. Kannst du mir etwas mehr darüber sagen?”

Eryn lächelte betrübt und schüttelte den Kopf. “Nein. Zu beidem. Ich werde nicht zum Heilen zurückkehren, und ich denke, es ist klüger, wenn ich meine Gründe dafür derzeit nicht bekannt gebe. Vielleicht auch niemals. Ich will dir aber versichern, dass ich die Entscheidung nicht leichtfertig getroffen habe.”

Onil nickte langsam, eindeutig wenig zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. “Du denkst aber nicht daran, dich dauerhaft in Takhan niederzulassen, sobald diese scheußliche Sache mit dem Krieg vorbei ist, hoffe ich?”, fragte er misstrauisch.

Fieberhaft suchte sie nach einem Gesprächsstoff, um ihn von diesem Thema abzulenken. Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie in der Tat darüber nachdachte, doch anlügen wollte sie ihn ebenfalls nicht.

Ihr Blick wanderte fort von seinem Gesicht zum Fenster hinaus. “Nun, selbst wenn das der Fall wäre, lässt sich nicht sagen, wann der Krieg vorbei ist. Wenn es so richtig übel läuft, könnte er sich über Jahre hinziehen.”

Erleichtert sah sie, wie Onil nickte, während er über dieses unangenehme Szenario nachdachte – und das Thema fallen ließ, das sie vermeiden wollte.

“Das wäre misslich. Aber eine rasche Niederlage wäre nicht viel besser, wenn wir bedenken, welche Art von Gesellschaft Pirinkar in den Westlichen Territorien etablieren würde, wenn wir von dem ausgehen, was du uns über sie erzählt hast.”

Er wirkte besorgt und gequält, und Eryn fühlte sich schuldig, weil sie ihm diese Stimmung beschert hatte, nur damit er damit aufhörte, ihre dunklen Geheimnisse aufzudecken.

“Nun”, erwiderte sie mit erzwungener Heiterkeit, “aus diesem Grund hat der König zugestimmt, den Orden zu entsenden – damit wir jede dieser düsteren Optionen verhindern können.”

Beide blickten zur Tür, als sich ein Bote räusperte. Eryn schluckte. Palastlivree. Entweder der König oder Tyront. Boten, die nach ihr suchten, anstatt einfach ihre Nachricht zuhause bei den Dienern zu lassen, waren ein untrügliches Zeichen für eine kurzfristige Vorladung. Was sehr wahrscheinlich bedeutete, sie musste ihm ohne Umschweife zum Palast folgen. Zumindest schien seine Eile den allgemeinen Eifer zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht zu übersteigen; somit handelte es sich allem Anschein nach nicht um einen Notfall.

“Seine Majestät oder Lord Tyront?”, fragte sie ausdruckslos, ohne auch nur eine Sekunde lang in Betracht zu ziehen, dass der Bote theoretisch ebenso gut auf der Suche nach Onil sein mochte.

“Seine Majestät, König Folrin bittet um das Vergnügen, Euch bei der ehestmöglichen Gelegenheit zu sehen”, antwortete der Mann mit einer Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, warf er ihr einen zaghaften Blick zu. “Seine Majestät instruierte mich auch, dezidiert zu betonen, dass es sich hierbei lediglich um eine Redewendung handelt und Ihr Euch nicht zum dem Irrglauben verleiten lassen mögt, er wäre geneigt, irgendeine Verzögerung zu dulden.”

Eryn schnaubte. “Warum hält er sich dann mit dieser hochtrabenden Formulierung auf? Warum sagt er nicht einfach, ich soll mich auf den Weg machen und ihn auf der Stelle aufsuchen?”

Der Bote wirkte entsetzt. “Ich kann nur vermuten, meine Lady, dass Seine Majestät solch profane Worte als seiner Position unwürdig erachten mag.”

Onil unterdrückte ein Lachen und zwinkerte ihr zu. Nachdem sich der Bote umgewandt hatte um vorauszugehen, formten seine Lippen in Eryns Richtung: “Versuch, nicht zu profan zu sein, hörst du?”

Sie grinste und folgte dem Mann, auf den die Pracht des Palastlebens unverkennbar abgefärbt hatte, und fragte sich, was der König wohl in solcher Eile besprechen wollte. Das würde ihr erstes Zusammentreffen sein, nachdem er in solch übler Laune von Bord des Schiffes gegangen war. Sie hoffte nur, dass er mittlerweile über diesen Vorfall hinweg war. Doch kurzfristige Ladungen waren im Allgemeinen auf jeden Fall unangenehm, ganz egal, ob er irgendeinen Groll hegte oder nicht.

Schicksalsergeben setzte sie ihren Weg fort.

*  *  *

Enric drehte seinen Kopf, während er dem Boten, der nach ihm geschickt worden war, den Königsweg entlang folgte. Rasche Schritte näherten sich, als versuchte ihn jemand einzuholen. Eryn. Er blieb stehen, um auf sie zu warten. Genau wie er selbst war auch sie in Gesellschaft eines unschwer als Palastbote erkennbaren Mannes.

Ein wenig außer Atem ging sie neben ihm her. “Dich will er also auch sehen”, stellte sie das Offensichtliche fest. “Irgendeine Ahnung, worum es gehen könnte?”

“Nein, nicht die leiseste”, erwiderte er.

Die beiden Männer in identischen Livreen bedachten einander mit einem knappen Nicken, dann gingen sie voraus, ganz so, als hätten Lord Enric und Lady Eryn diesen Weg nicht schon öfter, als jeder von ihnen zählen konnte, zurückgelegt. Doch ein Auftrag war ein Auftrag. Es war unwichtig, dass sie nicht die geringste Chance hätten, die Magier zum Mitkommen zu bewegen, sollten diese entscheiden, dass sie nicht geneigt waren, ihren König zu diesem Zeitpunkt aufzusuchen.

Da ihre Führer mit ihrem steifen Gehabe jedes Wort vernehmen würden, setzten sie ihren Weg schweigend fort.

Erst als sie einige Minuten später die hohe Doppeltür zum Thronsaal erreichten, verbeugten sie sich, dann verschwanden sie dorthin, woher sie gekommen waren und reichten ihre Lieferung wie Pakete an die Türwächter weiter, als wären sie nun deren Problem.

Die Wachen öffneten die Türen ohne sich mit einer Ankündigung aufzuhalten. Zweifelsohne waren sie angewiesen, niemand anderen als die beiden Personen vorzulassen, die der König zu sehen wünschte.

Enrics Blick fiel sofort auf das Podest mit dem Thron. Zu seiner Überraschung war es leer. Üblicherweise zog der König es vor, sie vor seinem offiziellen Sitz stehend zu empfangen, wenn er sie in den Thronsaal zitierte. Sein Blick wanderte zum entgegengesetzten Ende des Saals, zu den Fenstern, die beinahe bis ganz nach oben zur hohen Decke reichten.

Dort fand er den Monarchen. Gemeinsam mit seiner Gefährtin. Sie standen vor dem langen Steintisch, den König Folrin zuweilen herbeischaffen ließ, wenn er etwas Wichtiges zu besprechen hatte und dafür mehr Platz benötigte als sein vergleichsweise kleines Arbeitszimmer bot. Aus irgendeinem Grund war es erheblich weniger geräumig als Enrics eigenes. Er stellte sich vor, wie die Diener den König oder wen auch immer er empfangen würde, verfluchen mochten, während sie dieses Ungetüm von einem Tisch hier hereinschleppten, nur um ihn wahrscheinlich wenig später wieder zu entfernen. Er hoffte, dass sie irgendeinen Karren zur Verfügung hatten, damit sie ihn lediglich hinauf und herunter heben mussten anstatt ihn den gesamten Weg dorthin zu schleppen, wo auch immer er sonst gelagert wurde.

Durch das Geistesband spürte er einen Hauch von Eryns Nervosität. Seit ihrer Ankunft am Hafen vor mehr als drei Wochen hatte es zwischen ihr und dem König keinerlei Interaktion, Nachricht oder sonstigen Kontakt gegeben. Ihr Kinn war leicht erhoben, als wollte sie demonstrieren, dass es aus ihrer Sicht nichts gab, wofür es sich zu entschuldigen galt. Aber nicht zu hoch, um nicht anzudeuten, dass sie sich moralisch überlegen fühlte. Sehr sorgsam bemühte sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Einen, der von höflichem Interesse und Zurückhaltung zeugte, so wie es angemessen war, wenn eine Untertanin auf Geheiß ihres Königs vor ihn trat. Dabei spielte es keine Rolle, dass er wegen des Lochs in der Schiffshülle erzürnt davongestürmt war, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Ein wenig abseits ihres Gefährten stand Königin Del’na’bened, gewandet in eine Robe, die mit ihrer simplen Eleganz und fehlenden aufwändigen Verzierung beinahe bescheiden wirkte. Beinahe. Sie war trotz allem kostspielig, wie das geschulte Auge sofort erkannte. Aus irgendeinem Grund wirkte sie nicht besonders zufrieden. Über ihrer Nase ließ sich bei genauerem Hinsehen die Andeutung eines Stirnrunzelns erkennen.

Das Gesicht des Königs hingegen gab keinerlei Emotion preis. Nach Enrics Erfahrung ein Anzeichen dafür, dass etwas im Gange war. Etwas Unangenehmes. Etwas, das der Königin nicht zusagte oder vor dem sie sogar zurückscheute. Sie war nicht einmal annähernd so geschickt wie ihr Gefährte, wenn es darum ging, ihre Miene in eine ausdruckslose Maske zu verwandeln. Zumindest noch nicht. Das war wohl eine Fertigkeit, die sie sich zu ihrem eigenen Besten so rasch wie möglich aneignen sollte.

Ein paar Schritte vor dem königlichen Paar kamen sie zum Stehen und verneigten sich.

“Lord Enric”, begann König Folrin und nickte ihm zu, dann wiederholte er die Geste, indem er sprach: “Lady Eryn.” Er hob seine linke Hand zu den Stühlen, die um diese Monstrosität eines Tisches herum aufgestellt waren. “Nehmt Platz. Das hier ist eine recht delikate Angelegenheit, bei der ich aus mehr als einem Grund gezwungen bin, sie zu einem höchst unpassenden Zeitpunkt anzusprechen. Doch ich fürchte, es lässt sich nicht vermeiden.”

Enrics Blick fand eine umfangreiche Lederakte, die auf dem Tisch lag. Sie war bis an die Grenze ihres Fassungsvermögens mit Papieren gefüllt und wurde nur durch ein rundum gewickeltes Lederband zusammengehalten. Keine Beschriftung war sichtbar, auf dass ein zufälliger Beobachter den Inhalt erraten mochte. Wohl kaum ein Zufall.

Neben der Akte lag ein in Leder gebundenes Buch, das allem Anschein nach in häufiger Verwendung war. Darin steckte eine Markierung. Verordnungen zum Grundbesitz las Enric kopfüber die geprägten Buchstaben, die einst golden gewesen waren.

Der König nahm am Kopfende des Tisches Platz, die Königin direkt neben ihm auf seiner rechten Seite. Damit blieb seine linke Seite Eryn und Enric vorbehalten. Sie zogen ebenfalls die schweren Stühle aus dunklem Holz, in deren harte und unbequeme Rückenlehnen verschiedene gekräuselte Muster geschnitzt waren, zurück.

Der König gewährte ihnen einen Moment um anzukommen, dann deutete er mit einem Nicken auf das Buch auf dem Tisch. Enric streckte die Hand danach aus und zog es zu sich, um die markierte Seite aufzuschlagen. Sein Blick überflog die Paragraphen auf der linken Seite, dann setzte er auf der rechten Seite fort. Sobald seine Augen einen speziellen Paragraphen gefunden hatten, hielt er inne. Den hatte er stets im Hinterkopf behalten und nur darauf gewartet, ob der König ihn wohl irgendwann zum Thema machen würde. Für ihn war es zu einer Art Spiel geworden zu sehen, wie weit er diese spezielle Grenze überschreiten konnte, bevor man ihm jemanden schicken würde, der ihn darauf ansprach; wie lange der König ihm diesen kleinen Akt der Ungehorsamkeit im Austausch für seine fortwährende Nützlichkeit durchgehen lassen würde.

Dieser Zeitpunkt war nun offenbar gekommen.

“Ich verstehe”, murmelte er leise. Dann sah er zu der prall gefüllten Lederakte vor dem König hin. “Ich nehme an, das ist eine Sammlung all meiner Beteiligungen, Ländereien und Unternehmungen?”

“So ist es”, bestätigte der Monarch ruhig.

“Wäre jemand so gütig, mir zu erklären, was genau hier vor sich geht?”, verlangte Eryns angespannte Stimme. “Gibt es ein Problem mit Enrics Eigentum?”

König Folrin lehnte sich zurück. “Es gibt eine Verordnung, der zufolge ein einzelner Mann oder eine Unternehmung nicht mehr als fünf Prozent des Hoheitsgebiets im Königreich als Landbesitz halten kann. Die Begründung ist, dass ein Grundeigentümer bis zu einem gewissen Grad das Recht hat, seine eigenen Regeln zu etablieren, solange diese nicht dem geltenden königlichen Gesetz widersprechen. Landbesitz im Ausmaß von fünf Prozent und mehr wird als Gefahr für die Exekution des königlichen Willens und Gesetzes erachtet. Solch ausladende Besitztümer, besonders wenn das Land miteinander verbunden ist, stellen das Risiko eines sogenannten Staates innerhalb des Königreichs dar.”

Eryn starrte ihn an und schluckte. Dann fiel ihr Blick auf die Akte. “Ich nehme an, Enric hat die fünf Prozent erreicht oder steht kurz davor?”

Mit einem spröden Lächeln erwiderte König Folrin: “Sieben Prozent sogar. Und die hat er bereits erreicht. Vor siebzehn Monaten, um präzise zu sein.”

Stille folgte auf diese Enthüllung.

Bevor Enric das Wort ergreifen konnte, tat es Eryn. Ihre Stimme war angespannt mit kaum unterdrücktem Ärger.

“Vor siebzehn Monaten. Und Ihr habt ausgerechnet diesen Zeitpunkt gewählt – nachdem Enric und ich gerade von einer grauenhaften Mission in Pirinkar zurückgekehrt sind, und bevor wir für Euch in den Krieg ziehen sollen – um eine bloße…” Einen Moment lang suchte sie nach einem angemessen herabwürdigenden Begriff. “…eine bloße Verwaltungsübertretung anzusprechen? Nach allem, was wir getan haben, die unangenehmen Befehle, denen wir uns in den letzten Jahren zu beugen hatten, ganz egal, zu welchem Preis?” Sie wollte aufspringen, doch Enric griff rasch nach ihrer Hand und drückte sie zum Signal, dass sie ihre Fassung behalten musste.

Mit Interesse bemerkte er, dass Königin Del’na’beneds Kopf ein kaum wahrnehmbares und wohl unbewusstes Nicken vollzog. Das bedeutete sehr wahrscheinlich, dass sie Eryns Haltung teilte. Er wollte das als vielversprechend im Hinterkopf behalten, doch da er keine Vorstellung davon hatte, wie umfangreich der Einfluss der Königin auf ihren Gefährten war, mochte jeder Optimismus in dieser Hinsicht verfrüht sein.

“Die Integrität des Staates zu bewahren, indem sichergestellt wird, dass keine Einzelperson mit Größenwahn versucht, seine eigene Regierung zu etablieren, ist zweifelsohne mehr als ein bloßer Verwaltungsakt”, entgegnete König Folrin mit einem kühlen Blick zu Eryn.

Enric räusperte sich. Ganz egal, wie der König es rechtfertigte, dass er die Angelegenheit zur Sprache brachte, so war der Zeitpunkt doch ein interessanter und rechtfertigte einen genaueren Blick. Seine Besitztümer gingen bereits seit mehreren Jahren über das gesetzliche Maximum hinaus, und er war bereit, all sein Eigentum darauf zu verwetten, dass der König bereits ebenso lange davon wusste und ihn schon im Auge behalten hatte, bevor sein Besitz auch nur in die Nähe dieser Grenze gekommen war. Warum brachte er es jetzt zur Sprache? Eryn hatte Recht – es war der unpassendste Zeitpunkt, den man sich vorstellen konnte, und der König selbst hatte bei der Begrüßung etwas in diese Richtung geäußert. Ein Gedanke rang um seine Aufmerksamkeit und ließ einen Verdacht aufkeimen. Das hier war eine Stadt, die über ein dichtes Netz von Agenten und Anbietern anderer im Untergrund stattfindender Dienste verfügte – einfach deswegen, weil die Nachfrage hoch war. Es wäre absurd anzunehmen, dass der König die einzige Person war, die Informationen über Lord Enrics Ländereien und geschäftliche Aktivitäten sammelte. Wenngleich das Informationsarchiv des Königs wohl erheblich umfangreicher war als jedes andere.

“Ihr habt erwähnt, Ihr wärt gezwungen, das vorzubringen, obwohl der Zeitpunkt nicht ideal ist”, erwähnte Enric beiläufig.

Eryn neben ihm stieß einen tiefen Seufzer aus und presste zwischen zusammengebissen Zähnen hervor: “Das haben wir Lord Woldarn, diesem Mistkerl, zu verdanken – habe ich Recht?” Sie wartete nicht auf Bestätigung, sondern fuhr fort: “Er ist also zu Euch gekommen und hat sich beschwert? Oder hat er Euch eine Nachricht geschickt und vorgegeben, er wäre nichts als ein besorgter Bürger, der nur der Krone dienen will, indem er auf diese mögliche Gefahr hinweist?”

“Ihr werdet verstehen, dass ich den Autor der Nachricht, deren Existenz Ihr zutreffend erraten habt, kaum preisgeben kann”, antwortete der König in gelassener Manier. Allerdings war da ein winziges Lächeln, das darauf hindeutete, dass er damit zufrieden war, wie erfolgreich Eryn ihre Kombinationsgabe zum Einsatz gebracht hatte. Stets der Lehrer in politischer Strategie…

“Ihr habt Enric also beobachtet und im Auge behalten, wie viel Land er gekauft hat – und entschieden, dass Ihr nicht eingreifen werdet, solange er sich weiterhin als außerordentlich nützlich für Euch erweist”, folgerte Eryn weiter. “Und nun zwingt Euch so etwas Banales wie eine unbequeme Nachricht von einem Mann, der Enric Schaden zufügen will, um sich an mir zu rächen, zum Handeln.” Sie schnaubte abfällig. “Wenn es nicht so lächerlich wäre, wäre es beinahe witzig.”

Einen kurzen Moment lang verspannte sich ein Muskel in König Folrins Kiefer. Einen Wimpernschlag später war die Regung verschwunden. “Ja. Es passiert nicht allzu oft, doch zuweilen werden selbst meine Pläne durch gewisse unvorhergesehene Vorfälle vereitelt. Ich kann Euch kaum bis in alle Ewigkeit vor den Konsequenzen Eurer Tendenz zur Provokation gewisser Ratsmitglieder beschützen, weil Ihr nicht nach einer Möglichkeit zur friedlichen Koexistenz suchen wollt.”

Eryn lehnte sich zurück und presste die Lippen aufeinander. Enric wartete, ob sie die Arme verschränken würde. Damit hätte sie den Inbegriff des Schmollens perfekt personifiziert.

“Lasst mich Euch versichern, Lady Eryn, dass ich von dieser Situation ebenso wenig angetan bin wie Ihr selbst”, fuhr der König fort, als sie nichts erwiderte. “Derzeit erwägt Ihr und Lord Enric, ob Ihr für immer nach Takhan gehen wollt, sobald der Krieg vorüber ist. Vorausgesetzt, wir gehen siegreich daraus hervor. Mit der vorliegenden Angelegenheit an Euch heranzutreten wird dazu dienen, dass Euch die Option, Anyueel den Rücken zu kehren, noch verlockender erscheint.”

Eryn hielt ihre Miene neutral und war im Geheimen entzückt, dass der König sie ansah, um in ihrem Gesicht nach einer Bestätigung seiner Worte zu suchen. Als wäre er, der Gedankenleser, der Architekt aller anstehenden Ereignisse, nicht ganz sicher, ob seine Annahme zutraf. Oder er mochte auf eine Zusicherung warten, dass sie so etwas keineswegs ernsthaft in Betracht zog.

Enric entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um sich wieder in das Gespräch einzuschalten. Zwischen seiner Gefährtin und dem König wuchs die Anspannung, und das mochte zu wenig erfreulichen Konsequenzen führen, wenn es seinen ungestörten Verlauf nahm.

“Wie wünscht Ihr nun weiter vorzugehen, Eure Majestät? Werdet Ihr in den Fußstapfen Eurer Vorfahren wandeln und mich entweder enteignen oder für irgendein konstruiertes Vergehen hinrichten lassen?”, fragte er. Sein Ton war nicht unfreundlich, gab jedoch zu erkennen, dass er von der Situation alles andere als begeistert war.

“Mein lieber Lord Enric”, begann der König. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Herablassung mit. “Ihr werdet gewiss immens erleichtert sein zu hören, dass ich bislang keine Pläne hege, Euer Leben mit einer Anklage des Hochverrats oder Ähnlichem zu beenden. Ebenso wenig bin ich dafür, Euch gewaltsam dessen zu berauben, was Ihr über die Jahre hinweg mit solch beachtlichem Können erwirtschaftet habt.” Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. “Wie Eure Gefährtin so leidenschaftlich betont hat, erwarte ich noch immer, dass Ihr für mich in den Krieg zieht. Mir wäre sehr daran gelegen, ein Szenario zu vermeiden, wo Ihr zu einem kritischen Zeitpunkt die Seiten wechselt.”

Enric warf ihm einen kalten Blick zu ob der Unterstellung, er könnte seine beiden Länder betrügen, nur weil der König sich zu einer Dummheit hinreißen ließ. Und er wartete.

Der König seufzte, als er sah, dass sein kleiner Scherz statt Belustigung eine gewisse Verstimmung auslöste. “Seht her”, sprach er weiter, “Ihr wisst ebenso gut wie ich selbst, dass ich nicht ignorieren kann, was über offizielle Kanäle an mich herangetragen wird. Dass das Land in Eurem Besitz das erlaubte Ausmaß beinahe um die Hälfte übersteigt, ist eine Tatsache, die jeder, der willens und in der Lage ist, Agenten zu bezahlen, ganz leicht beweisen kann. Wir sprechen hier nicht über falsche Anschuldigungen. Das zu ignorieren wäre eine Demonstration von unverhohlener Bevorzugung Euch gegenüber, und damit würde mir selbst auf lange Sicht schaden. Ich sehe als einzige Option für eine entgegenkommende Lösung, dass wir über Bedingungen verhandeln, unter denen Ihr den Grundbesitz des Landes aufgebt, dass Ihr nicht besitzen solltet, ohne damit Eure Loyalität der Krone gegenüber zu kompromittieren.”

Eryn spitzte die Lippen und deutete auf das Buch, das noch immer aufgeschlagen vor Enric lag. “Darf ich?”, fragte sie und zog es auf das Nicken des Königs hin an sich.

Sie suchte nach dem Paragraphen, der das Vergehen behandelte, dessen sich Enric nun schon seit ein paar Jahren schuldig machte, und studierte ihn eingehend. “Wie alt ist dieses Buch? Oder eher das Gesetz selbst?”

“Etwa zweihundert und dreißig Jahre, würde ich sagen”, antwortete der König nach kurzem Nachdenken und wartete darauf, dass sie aussprach, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

“Eine Zeit, in der Frauen der Besitz von Land noch gesetzlich verboten war?”, riet sie und lächelte. “Dieser Paragraph besagt eindeutig, dass kein Mann ein Anrecht auf mehr als einen großzügigen, gerechten und vernünftigen Anteil des Königreichs hat, auf dass er ihn weise und in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Königs regiere. Diese Einschränkung bezieht Frauen nicht mit ein.”

Enric grinste. Es war ein beherzter Versuch, der jedenfalls seine Stimmung hob, doch es bestand wenig bis keine Hoffnung darauf, dass der König es ihnen dermaßen leicht machen würde.

Königin Del’na’bened lächelte ebenfalls und ergriff zum ersten Mal seit ihrer Ankunft das Wort. “Das wäre ein fabelhaftes Schlupfloch, meine Liebe, doch ich fürchte, bis Enric all seinen Besitz auf deinen Namen umgeschrieben hat, wird Folrin eine Anpassung dieses Gesetzes vorgenommen und verkündet haben, sodass es auch Frauen mit einschließt. Damit wären eure Bestrebungen eine Zeitverschwendung.”

Eryn nickte. Sie hatte ohnehin nicht wirklich erwartet, dass dies eine gangbare Lösung darstellte. “Wie wäre es damit, das Land zwischen Enric und mir aufzuteilen? Auf diese Weise würde jeder von uns weniger als fünf Prozent besitzen.”

Dieses Mal war es der König, der ihren Vorschlag verwarf. “Ich fürchte, das würde wenig Unterschied machen. Da Ihr durch ein Kommitment verbunden seid, würden all Eure individuellen Besitztümer als gemeinsames Vermögen behandelt werden. Und selbst wenn ich in einer Position wäre, das zu genehmigen, würde das gleiche Problem erneut auftreten, sobald Euer einziger Nachkomme die Erbschaft antritt.”

Einmal mehr las Eryn den Gesetzestext durch. “Das bezieht sich nur auf Land, nicht auf Gold oder Geschäfte, richtig?”

“Das trifft zu, ja”, bestätigte der König. Er lehnte sich zurück in einer Pose, die in seinem Fall als entspannt galt, während er auf ihren nächsten Vorstoß wartete.

“Das bedeutet, Enric könnte Euch, oder eher der Krone, das Land verkaufen. Der Anstieg seines Geldvermögens wäre kein Problem.”

“In der Theorie ist das möglich”, erwiderte der Monarch zögernd. Er wirkte beinahe, als würde er es bedauern, dass er eine weitere ihrer Ideen abschmettern musste. “Doch ich kann Lord Enric keinesfalls mit großen Summen an Gold für seinen Gesetzesbruch belohnen und diese Angelegenheit als nichts anderes als eine geschäftliche Transaktion behandeln.”

Eryn weigerte sich aufzugeben. “Er könnte auch an jemand anderen verkaufen. Das würde das Problem lösen.”

Enric ergriff ihre Hand und drückte sie. “Der Gedanke ist nicht nur, mir mein überschüssiges Land abzunehmen, sondern auch, mich öffentlich zu bestrafen, Eryn. Selbst wenn ich mir über das Ausmaß meiner Ländereien nicht im Klaren gewesen wäre, schützt Unwissenheit vor dem Gesetz nicht vor Strafe.”

Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. “Dann sind wir also hier, um die Bedingungen unserer Strafe zu diskutieren – oder eher zu verhandeln?” Das klang etwas seltsam. Andererseits war es keine Bestrafung, die der König verhängen wollte, sondern eine, zu der er gezwungen wurde. Somit war er bestrebt, sie so moderat wie möglich zu gestalten, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren.

Enric lehnte sich vor. “Wärt Ihr offen, Steuererleichterungen im Austausch für eine… großzügige Spende von Land an die Krone zu erörtern?”

“Ich höre”, lächelte der König.

“Nein!” Das Wort explodierte gleichzeitig aus den Mündern beider Frauen. Erstaunte Stille folgte und es wurden verdutzte Blicke gewechselt.

Eryn war überrascht, in Del’na’bened eine Verbündete gefunden zu haben. Im Gegenzug war die Königin überrascht, Eryn auf ihrer Seite zu finden. Und König Folrin und Enric bedachten ihre jeweiligen Gefährtinnen mit einem Stirnrunzeln, als fragten sie sich, auf wessen Seite sie eigentlich standen.

Del’na’bened hob den Kopf und brach das Schweigen. “Wohlhabende Mitglieder der Gesellschaft sollten in allen Aspekten des öffentlichen Lebens als Vorbilder dienen. Das Zahlen von Steuern ist solch ein Aspekt.”

“Ich stimme absolut zu”, schloss Eryn sich an. “Wenn diejenigen von uns, die sich das Entrichten der Steuern problemlos leisten können, versuchen, sich herauszuwinden, von wem können wir dann erwarten, dass er bezahlt? Auch wenn er die Hälfte seines Landes aufgibt, ist Enric immer noch stinkreich.” Sie nickte zu der Akte mit Enrics Eigentum. “Wie Ihr zweifellos wisst, wird Enrics Reichtum vorwiegend durch seine Geschäftstätigkeit generiert. Seine auf Land basierten Unterfangen machen nur einen kleinen Teil seines Einkommens aus.”

Enric hob seine Hand und presste einen Moment lang seine Finger gegen seine Nasenwurzel. Warum genau hatte der König entschieden, sie beide vorzuladen…? Ein rascher Blick in des Königs Richtung zeigte ihm, dass der sich diese Frage sehr wahrscheinlich ebenfalls gerade stellte.

König Folrin legte seine Fingerspitzen aneinander. Sein Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. “Dann würde ich vorschlagen, Ihr beide nehmt Euch etwas Zeit und erstellt eine Liste mit Vorschlägen, um sie dann zu besprechen. Die Königin und ich werden dies ebenfalls tun. Zu gegebener Zeit wollen wir uns erneut treffen. Ihr seid entlassen.”

Enric erhob sich, verbeugte sich vor dem königlichen Paar und schritt auf die Tür des Thronsaals zu. Eryn folgte dichtauf.

Sobald sie sich im Korridor befanden und die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, murmelte Eryn: “Weißt du was? Ich mag Tleta.”

Enric seufzte. “Was du nicht sagst.”

*  *  *

Eryn schreckte aus dem Schlaf hoch und fasste sich an den Hals, wo etwas ihren Atem zuzuschnüren schien. Ein Teil der Feuchtigkeit auf ihrer kalten Stirn vereinigte sich zu einer Schweißperle, die dann ihre Schläfe und Wange hinablief.

Mit jedem tiefen Atemzug klang das Gefühl der Einengung ein Stück weit ab, und sie begann ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen. Es war beinahe vollkommen dunkel im Schlafzimmer. Unter sich spürte sie die feste Matratze, und als ihre Finger über das dünn gewebte Leinentuch glitten, verursachte die Berührung ein kaum vernehmbares Rascheln. Ein leichtes Gefühl der Kälte auf ihren Beinen deutete darauf hin, dass sie ihre Decke abgestrampelt haben musste. Blind tastete sie danach. Erst als sie den Boden in unmittelbarer Nähe des Bettes absuchte, fand sie die Decke zusammengeknüllt nahe dem Fußende.

Sie versuchte sich zu entsinnen, worum es in dem Alptraum gegangen war, konnte sich aber an keinerlei Bilder erinnern. Alles, was verblieb, war die Erinnerung an Emotionen… Was ein Hinweis darauf sein mochte, dass nicht sie selbt diejenige war, die den Traum erlebt hatte, sondern womöglich Enric.

Sobald sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte, lauschte sie der von Enric. Ein leises, unregelmäßiges Keuchen. Sie schluckte. Seine Alpträume traten mittlerweile weniger häufig auf als am Anfang, und jedes Mal, wenn er von einem weiteren geplagt wurde, hoffte sie inständig, es möge der letzte sein. Bislang waren ihre Hoffnungen vergeblich gewesen.

Sie musste ihn wecken. Allerdings war das kein gefahrloses Unterfangen. Es war bereits riskant genug, eine Person mit überlegener Körperkraft aus dem Schlaf zu reißen. Im Fall eines Magiers mochten damit beträchtliche Schäden oder Verletzungen einhergehen. Weiter leiden konnte sie ihn jedoch auch keinesfalls lassen. Es geschah nicht oft, dass sie vor ihm erwachte, wenn die Zeit seiner Gefangenschaft ihn nachts einholte, im Schlaf, wenn er machtlos dagegen war.

Sie atmete tief ein und suchte im Dunklen nach seiner Hand, um einen Strom warmer Magie hineinzuschicken, der seine Muskeln träger und schwerer machen würde. Dann flüsterte sie seinen Namen, um ihn zu wecken.

Trotz ihrer Bemühungen zur Beeinträchtigung seiner Muskelkraft packte seine Hand die ihre abrupt, während er sein Bewusstsein erlangte.

“Eryn?”, fragte er leise, seine Stimme frei von dem Aufruhr, den sie durch das Geistesband wahrnahm.

“Ja”, erwiderte sie sanft. “Ich bin hier.” Sie sagte ihm nicht, dass er einen Alptraum gehabt hatte, dass alles in Ordnung und er sicher war. Das wusste er. Sie hielt lediglich seine Hand und wartete, bis sich seine Atmung normalisierte.

“Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe”, entschuldigte er sich nach einer Minute.

“Das hast du nicht. Ich war bereits wach”, behauptete sie, wissend, dass er ihr nicht glauben würde.

Sie konnte das müde Lächeln in seiner Stimme hören, als er erwiderte: “Das ist eine Lüge.”

“Ich weiß.”

“Eine recht durchschaubare.”

“Entschuldige. Nächstes Mal bemühe ich mich mehr. Aber so kurz nach dem Aufwachen bin ich froh, dass ich überhaupt einen zusammenhängenden Satz fertigbringe. Zeig also etwas Nachsicht”, neckte sie ihn.

In der darauffolgenden Stille spürte sie, dass er sich darauf vorbereitete, etwas Ernstes anzusprechen. Sie wartete.

“Wenn wir gerade von Nachsicht sprechen…”, begann er. “Da gibt es etwas, über das wir reden müssen. Etwas Wichtiges.”

Eryn seufzte. Sie hatte darauf gehofft, sich an ihren Gefährten schmiegen und noch ein paar Stunden Schlaf genießen zu können, doch wenn ihm ein Gespräch über was auch immer dabei half, sich zu erholen und den Traum aus seinen Gedanken zu verbannen, dann würde sie ihm diesen Gefallen tun.

“Du musst etwas gegen Lord Woldarn unternehmen, vorausgesetzt, er war tatsächlich derjenige, der an den König geschrieben hat.”

Sie verzog das Gesicht. Was er im Dunklen nicht sehen konnte. “Ich? Warum ich? Du stehst rangmäßig über mir, und es ist dein Besitz, auf den er es abgesehen hat, nicht meiner.”

“Mich hat er nur benutzt, um dir Kummer zu bereiten. Und rechtlich gesprochen ist es ebenso dein Eigentum wie meines. Wie viele Jahre wird es noch dauern, bis das endlich in deinem Gehirn ankommt?” Er fragte sich ernsthaft, warum er es überhaupt noch versuchte.

Seine Gefährtin ließ ihren Kopf zurücksinken und fiel in das Kissen in ihrem Rücken. “Was soll ich denn noch tun, um ihm Grenzen zu setzen? Gegen all meine Versuche zeigt er sich resistent – sei es nun Stallpflicht oder das Bloßstellen vor dem Rat. Er ist ein wirklich törichter Mann, und ich weigere mich, meine Zeit oder Geduld an ihn zu verschwenden.”

“Eryn”, beschwor er sie, “hier geht es nicht darum, der Welt zu zeigen, dass du mehr geistige Größe hast und er nichts weiter als ein Insekt ist, das du dich entschieden hast zu ignorieren. Törichte Menschen können gefährlich sein, besonders, wenn sie einen Groll hegen. Wenn du ihn ignorierst, wird ihn das nur noch bestärken in seinen Bemühungen, da es ihm zeigt, dass er kaum etwas zu befürchten hat, weil es niemals ernste Konsequenzen für ihn gibt.”

“Was also soll ich deiner Ansicht nach mit ihm tun?”, seufzte sie. “Ihm einen Monat lang Hausarrest verpassen? Oder ein Jahr lang?” Sie schnaubte. “Ich kann mir vorstellen, was Tyront dazu zu sagen hätte. Und wie würde ich das außerdem rechtfertigen? Weil er die Frechheit besessen hat, den König darauf hinzuweisen, dass wir streng genommen das königliche Gesetz brechen – ganz gleich, dass der König darüber ohnehin informiert war, aber sich entschieden hat, nicht zu handeln?”

“Der König hatte sehr gute Gründe dafür, die Regeln zu meinen Gunsten zu dehnen. Politische Gründe”, erklärte Enric geduldig. “Du erinnerst dich an die Zeiten, als unsere Beziehung zu ihm angespannt war, um es gelinde auszudrücken. Dass er uns hier und dort eine Gefälligkeit erweist, ist ein Beweis für die Wertschätzung, die er uns entgegenbringt. Gelegentlich mag dies auch als inoffizielle Entschuldigung gedient haben, wenn eine offizielle keine Option war. Er hat versucht, etwas zurückzugeben, auszugleichen, was wir auf seinen Befehl hin zu erdulden und zuweilen aufzugeben hatten. Die Auflösung des Kommitments meiner Eltern war so etwas. Lord Woldarns Vorgehensweise ist für mich lästig, wird mich aber nicht in den Bankrott treiben. Du hattest Recht, als du gemeint hast, dass ich kaum von meinem Grundbesitz abhängig bin, um ein Einkommen zu generieren. Dennoch, mein Gewinn würde erheblich reduziert werden. Viele meiner Geschäfte sind auf Grundbesitz angewiesen. Da wären die Erzminen. Und die Wälder, die ich für das Holzgeschäft brauche. Seit wir begonnen haben, in die Westlichen Territorien zu exportieren, ist das beträchtlich gewachsen. Außerdem brauche ich Holz für die Schiffswerften. Die Stoffe, die ich herstelle, benötigen ebenfalls Land, auf denen die Rohstoffe angebaut werden. Dann sind da noch die Weinberge und Pferdefarmen, die zwar vergleichsweise wenig Geld abwerfen, aber doch ein wenig Gewinn einbringen. Für den König ist das ein großes Thema, da er nun dazu gezwungen ist, mich irgendwie in einem Ausmaß zu enteignen, damit die Aufzeichnungen zeigen, dass meine Besitztümer das gesetzliche Maximum nicht übersteigen – und darüber hinaus muss er mich bestrafen. Das will er keinesfalls. Besonders, da ich immer besonders darauf geachtet habe, meine Steuern in voller Höhe zu entrichten, um ihn nicht zu provozieren. Und noch wichtiger ist, dass er sehr genau weiß, dass wir irgendwann in der Zukunft nach Takhan gehen und dort bleiben könnten. Somit würde uns eine Enteignung – und damit der Entzug eines beträchtlichen Teils unseres Einkommens – noch geneigter machen, fortzugehen.”

“Dann soll sich doch einfach der König an Lord Woldarn rächen.”

“Nein. Es war ein Angriff auf dich, nicht auf den König. Der König war lediglich ein Werkzeug. So wie auch ich. Du warst das Ziel, und du musst daher entsprechend reagieren. Hier geht es nicht länger um verschleierte oder offene Beleidigungen oder wenig schmeichelhaftes Gerede hinter deinem Rücken. Er hat seinen Einsatz erhöht und wird das auch weiterhin tun, wenn du dem nicht irgendwie ein Ende bereitest. Wir können nicht darauf warten, bis ihm irgendetwas in den Sinn kommt, mit dem er uns so richtig schaden kann.” Er legte eine Kunstpause ein, wissend, dass ihn sein letzter Punkt den Sieg bringen würde. “Oder Vedric.”

Eryn schloss die Augen. “Er würde es nicht wagen. Er ist dämlich. Aber nicht so dämlich.”

“Wie sicher kannst du dir dessen sein? Wenn du seine Intelligenz beurteilen willst, dann bedenke, dass Lord Woldarn wohl kaum der Einzige ist, der weiß, dass das Land in unserem Besitz die erlaubte Höchstgrenze überschreitet. Und doch hat es niemand sonst je vorgebracht, geschweige denn ist damit an den König herangetreten. Jeder sonst weiß, dass der König sehr wahrscheinlich über das am weitesten reichende Netzwerk an Agenten in Anyueel verfügt. Wenn jemand also davon weiß, besteht so gut wie keine Chance, dass der König keine Ahnung davon hat. Ihn zum Handeln zu zwingen in einer Angelegenheit, in der er nun schon seit einiger Zeit entschieden hat, dass er das nicht möchte, ist enorm töricht. Der König wird ihn dafür bestrafen, das kann ich dir versprechen. Aber nur, wenn du versäumst, es selbst zu tun. Er wird dir ein wenig Zeit geben, damit du dich darum kümmerst, bevor er selbst zur Tat schreitet. Er weiß so gut wie ich, dass du diejenige bist, die es tun sollte.”

Sie überdachte seine Argumente. Schließlich nickte sie – und erinnerte sich, dass er sie nicht sehen konnte. “Also schön. Dann werde ich ihn maßregeln. Einmal mehr. Strenger als jemals zuvor. Ohne es als die Bestrafung erscheinen zu lassen, die es tatsächlich ist. Denn dass er dem König gesagt hat, dass wir zu viel Land besitzen ist vor dem Rat kaum eine angemessene Rechtfertigung.”

Enric fühlte sich erleichtert, dass sie zur Einsicht gekommen war. “Ich glaube, da kann ich dir helfen. Ich habe eine Idee für eine Bestrafung, bei der er wenig bis keine Chance hat, sich dagegen zu wehren, ohne selbst schlecht dazustehen. Zuerst jedoch gilt es sich um zwei Dinge zu kümmern. Du musst über jeden Zweifel hinweg herausfinden, dass Lord Woldarn wirklich derjenige war, der die Nachricht geschickt hat. Und falls ja, musst du Tyront vorab über die Bestrafung informieren, die du für angemessen hältst und seine Zustimmung einholen. Über die Angelegenheit mit dem Grundbesitz und unser Treffen mit dem König brauchst du ihn nicht informieren. Darüber wird er ohnehin bereits Bescheid wissen.”

*  *  *

Eryn streckte sich auf dem Sofa in Verns Salon aus. Sie hatte gerade knapp eine Stunde damit verbracht, mit Vern über das zu sprechen, was in Pirinkar vorgefallen war und was sie veranlasst hatte, den Heilerberuf für immer hinter sich zu lassen. Er hatte natürlich von ihrer Entscheidung gewusst, da Lord Poron den Heilern schon vor einigen Tagen davon berichtet hatte. Doch da er so viel mehr als nur ein Kollege war, hatte er eisern darauf beharrt, er hätte ein Recht, von ihren Gründen zu erfahren, wenngleich sie kaum jemandem sonst davon erzählt hatte. Und er hatte Recht. Seit einigen Jahren schon war er einer von sehr wenigen engen Freunden. Gerade er hatte es verdient, dass sie sich ihm anvertraute. Also hatte sie ihm detailgetreu erklärt, was vorgefallen war, kurz bevor sie Enric in den Wäldern gefunden hatte.

Der junge Mann hatte mit konzentrierter Miene zugehört und ihr immer wieder bedeutet fortzufahren, wenn sie eine Pause einlegte, um ihm Raum für Bemerkungen oder Fragen zu lassen. Er wollte alles hören, bevor er seine Fragen stellte. Und Fragen hatte er. Eine Frage jedoch stellte er nicht – ob sie wirklich sicher war, dass sie nach all ihren Bemühungen zum Aneignen der Profession und dem Errichten der Klinik in Anyueel das Heilen für immer aufgeben wollte. Dafür war sie dankbar. Nicht eine Sekunde lang gab er ihr das Gefühl, er hielte sie für unfähig, den Ernst ihrer Entscheidung zu bedenken, bevor sie sie traf. Enric war es interessanterweise schwerer gefallen, ihren Entschluss zu akzeptieren.

Vern zeigte sich in der Regel nicht allzu zurückhaltend, wenn es darum ging, sie zu kritisieren – besonders, wenn es keine Zeugen gab, die diesen scheinbaren Mangel an Respekt einer vorgesetzten Magierin gegenüber miterleben konnten. Das bedeutete, dass er ihre Entscheidung wahrhaftig verstand, auch wenn die Aussicht, dass er in diesem Metier nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten würde können, ihn sichtlich betrübte.

“Wir können die Heilerakademie aber dennoch gemeinsam aufbauen, oder?”, fragte er hoffnungsvoll.

Sie nickte. “Ja, das können wir. Obwohl ich schätze, dass man uns anweisen wird, unsere Ressourcen lieber auf den anstehenden Krieg zu konzentrieren anstatt auf ein Projekt, das sich eher für friedliche Zeiten eignet.”

Er schenkte ihr ein gequältes Lächeln. “Wenn all das vorüber ist, bist du womöglich gar nicht mehr hier. Ich befürchte, du könntest Malriels Angebot annehmen und Haus Aren führen.”

Eryn wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie könnte ihm sagen, dass sie es nicht ernsthaft in Erwägung zog, doch das entspräche nicht ganz der Wahrheit. Oder sie könnte ihn daran erinnern, dass sie ihm versprochen hatte, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit er nach Takhan umziehen konnte, falls das in eineinhalb Jahren noch immer sein Wunsch wäre. Doch er schien sich verhältnismäßig gut wieder an sein Zuhause angepasst zu haben, also mochte es für ihn keine allzu interessante Option mehr sein, dorthin zurückzukehren.

Was natürlich eine gute Sache war. Gut für die Klinik. Und damit auch für die anderen Heiler und die Menschen in Anyueel. Er war der einzige ansässige Heiler, der in beiden Ländern ausgebildet worden und willens und fähig war, das Gelernte weiterzugeben.

Gleichzeitig jedoch hätte sie ihn aus egoistischen Gründen liebend gerne mit nach Takhan genommen – vorausgesetzt, sie entschied sich tatsächlich dafür, dort zu bleiben. Aber um sie ging es hier nicht. Wenn Vern sich entschloss, in Anyueel zu bleiben, weil ihn das glücklich machte und gleichzeitig jeder außer ihr selbst davon profitierte, musste sie das nicht nur akzeptieren, sondern ihn sogar dazu ermutigen.

Sie warf ihren Kopf zurück und schluckte den Rest des Tees, den er ihr aufgebrüht hatte. Es war nun ohnehin Zeit aufzubrechen.

“Vielen Dank, dass du dir ein wenig Zeit für mich genommen hast”, meinte sie und stand auf. “Jetzt muss ich los. Da gibt es noch etwas im Palast, das ich erledigen muss.”

Das Klopfen an der Tür ließ beide aufblicken.

“Erwartest du jemanden?”, fragte sie. Vern empfing kaum jemals Gäste in seinem Quartier. Er zog es vor, selbst Besuche abzustatten.

Vern schüttelte den Kopf. “Nein, nicht wirklich.” Er stand ebenfalls auf, um die Tür zu öffnen.

Alles in Eryn verspannte sich, als sie Junar und Téa im Türrahmen stehen sah. Téa, die ihrer Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit widmete, sah nur Vern und begann aufgeregt auf ihn einzureden. Ihre Mutter jedoch bemerkte Eryn sofort. Und das Lächeln, das sich gerade auf ihrem Gesicht beim Anblick des Sohns ihres Gefährten ausbreiten wollte, erstarrte noch bevor es zu voller Blüte gelangt war. Ihre Miene steckte nun in einem seltsamen Ausdruck zwischen Freude und Betroffenheit fest, unklar, welcher Richtung sie den Vorzug geben sollte.

Eryn verspürte Ärger in sich aufsteigen. Das war das erste Mal, dass sie einander seit diesem unangenehmen Tag bei den Docks begegneten, und alles, was sie fertigbrachten, war einander anzusehen als wären sie in irgendeinen Alptraum gestolpert. Das war lächerlich! Sie waren erwachsene Frauen – und Freundinnen! Nun, zumindest theoretisch. Jetzt gerade verhielten sie sich beide eher, als wären sie Kinder – und Feindinnen.

Die Schneiderin riss sich am Riemen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem höflichen Lächeln. “Eryn. Was für eine… angenehme Überraschung.” Dann konzentrierte sie sich auf Vern, der noch immer das Ziel des aufgeregten Geplappers ihrer Tochter war. “Ich war auf dem Heimweg, nachdem ich Téa von der Schule abgeholt habe, und wollte dich nur einladen, morgen mit uns zu Abend zu essen. Dein Vater hat erwähnt, dass er dich schon seit einer Weile nicht mehr gesehen hat.” Ihr Blick sprang für einen Sekundenbruchteil zu Eryn, als wollte sie sagen, dass er anscheinend keine Zeit für seinen Vater hatte, offensichtlich wohl aber für Eryn.

Eryn mahlte mit den Zähnen.

“Möchtet ihr hereinkommen? Der Tee ist schon fertig”, bot er an. Zwar war er sich der Spannung gewahr, wollte aber keinesfalls seine Manieren darunter leiden lassen.

“Nein, nein, tatsächlich sind wir in Eile”, murmelte Junar. Gerade, als sie nach der Hand ihrer Tochter greifen wollte, zog Téa sie schmollend fort.

Mit dieser so ungelegen kommenden Ehrlichkeit, die sie zuweilen an den Tag legte, zog sie eine Schnute. “Aber du hast gesagt, ich kann Vern all die neuen Dinge in meinem Übungsbuch zeigen!” Sie ignorierte den Wunsch ihrer Mutter aufzubrechen, wandte sich wieder ihrem älteren Bruder zu und strahlte ihn an. “Ich kann jetzt schon sehr lange und schwierige Wörter aufschreiben! Und…”

“Das kannst du ihm morgen Abend zeigen, wenn er uns besucht”, beharrte Junar, ihr Ton alles andere als sanft. Zu spät wurde ihr klar, dass Vern die Einladung noch nicht angenommen hatte. “Natürlich immer vorausgesetzt, du kommst.”

“Sicher, ich werde da sein.”

Eryn entschied sich, diesem Schwachsinn ein Ende zu bereiten. “Sei nicht lächerlich, Junar. Komm herein und setz dich, so wie du es Téa offensichtlich versprochen hast. Ich wollte ohnehin gerade gehen. Also musst du keine einzige Minute im gleichen Raum mit mir verbringen, wo das scheinbar für dich solch eine Zumutung bedeutet.” Ihr Ton war eisig, herausfordernd.

Junar wirkte leicht verlegen ob der Tatsache, dass sie beim Lügen erwischt worden war, und als lächerlich bezeichnet zu werden sagte ihr ebenfalls nicht zu. Sie versuchte ihr Unbehagen zu verbergen, vermochte es aber nicht wirklich.

“Das hat nichts mit dir zu tun”, hielt sie verzweifelt an ihrer Flunkerei fest. “Ich muss heute Abend noch ein Kleid fertigstellen und kann keine Zeit vertrödeln.”

Eryn lächelte kühl. “Dann macht meine Anwesenheit also keinerlei Unterschied für dich? Ich bin ungemein erleichtert, das zu hören.” Junars Verhalten entfachte weiteren Ärger in ihr. Diese Frau hatte kein Recht vorzugeben, dass die unbeholfene Situation in diesem Moment nicht ihre Schuld war! Sie sollte sich für die gehässigen Dinge, die sie auf dem Pier von sich gegeben hatte, entschuldigen! So behandelte man eine gute Freundin nicht!

Eine weitere Stimme in ihrem Kopf wies sie darauf hin, dass befreundet zu sein auch bedeutete, dass keine Entschuldigungen nötig sein sollten. Außerdem war eine Entschuldigung nichts, dass sich verlangen oder einfordern ließ, weil sie in diesem Fall kaum aufrichtig war. Vielleicht bedauerte Junar es auch gar nicht. Oder womöglich schämte sie sich so sehr für ihr eigenes Betragen und fürchtete sich vor einer Zurückweisung, wenn sie versuchte, sich Eryn zu nähern?

Aber was hieß das für sie und Junar? Nun, die Antwort darauf war recht offensichtlich. Eine von ihnen musste den ersten Schritt tun, und da Junar entweder unwillig oder unfähig dazu war, würde es Eryn zufallen, ihren Stolz zu überwinden und die Hand auszustrecken.

Sie hüstelte. “Junar, warum treffen wir uns nicht einmal an einem Abend, an dem du nicht beschäftigt bist, auf ein Getränk? Wie wäre es mit übermorgen? Oder dem Tag danach?”

Einen Moment lang schien die andere Frau zu erstarren, auf ihrem Gesicht ein Ausdruck von Überraschung und Beklommenheit. Eryn bemerkte, wie Vern kurz den Atem anhielt in Erwartung dessen, was nun kommen mochte, während seiner kleinen Schwester nicht einmal aufgefallen war, dass hier etwas nicht stimmte. Sie schnatterte einfach weiter, vollkommen blind gegenüber der angespannten Situation.

Dann hob Junar ihr Kinn und erwiderte förmlich: “Was für ein reizender Vorschlag. Bedauerlicherweise bin ich an den kommenden Abenden schon verabredet, aber warum melde ich mich nicht einfach bei dir?”

Selbst wenn Eryn Zweifel gehabt hätte, ob es sich hierbei um eine Zurückweisung handelte oder nicht, so hätte Verns Gesichtsausdruck ihr alles gesagt, was sie wissen musste. Junar erteilte ihr eine Abfuhr. Sie hatte keinerlei Interesse daran, irgendetwas mit Eryn zu bereden.

Eryn lächelte schwach. “Sicher. Warum nicht. Vern, danke für den zauberhaften Nachmittag.” Mit einem Nicken zu Junar hin strich sie Téa kurz über den Kopf und zwängte sich an den Besuchern, die noch immer im Türrahmen standen, vorbei.

Begierig darauf, von hier fortzukommen, eilte sie die Treppe hinab. Sie schob die bedrückenden Gedanken, ob das nun wirklich das Ende ihrer Freundschaft mit Junar war, beiseite. Es gab etwas Wichtigeres, um das sie sich kümmern musste, etwas, bei dem sie sich keine Ablenkung leisten konnte.

*  *  *

Auf ihrem Weg zu Palast verbannte Eryn alle Gedanken an Junar sowie die Mischung aus Bedauern und Groll, die sie auslösten, und lenkte sie stattdessen bewusst auf die Unterhaltung mit Enric in der vergangenen Nacht. Über ihr Einkommen. Enric hatte lediglich die Geschäfte aufgezählt, die recht umfassenden Grundbesitz benötigten, um gute Erträge zu erwirtschaften. Er hatte ihr erklärt, dass der Verlust eines größeren Teils davon ihr Einkommen schmälern würde. Das bezweifelte sie allerdings. Da war noch immer die Reederei, die Enric gegründet hatte, sobald der Handel mit den Westlichen Territorien etabliert war. Und der Handel mit Gütern, die er selbst herstellte und solchen, die er anderswo zukaufte. Zusätzlich erhielten sie beide noch ihre Bezahlung vom Orden. Und das waren lediglich ihre Einkunftsquellen auf dieser Seite des Meeres. Sie hatte zwar nicht wirklich einen Überblick, wo in Takhan Enric überall investiert hatte, doch sie wusste, dass er an einigen gemeinsamen Unternehmungen mit Haus Aren, Arbil und Vel’kim beteiligt war.

Alles in allem waren sie noch immer weit davon entfernt, irgendwelche Entbehrungen hinnehmen zu müssen. Selbst wenn ihr gesamtes Einkommen von einem Tag zum nächsten wegfiele, hatte Enric wahrscheinlich genug Gold auf Vorrat, um damit den Rest ihres Lebens komfortabel bestreiten zu können.

Warum also war sie dermaßen verstimmt über den Versuch, Enric etwas wegzunehmen, wovon er ohnehin nicht abhängig war? Besonders, da er sich die Schuld für den Verlust eines Teils davon grundsätzlich selbst zuzuschreiben hatte, weil er wie ein Jugendlicher seine kleinen Spiele mit dem König trieb um zu sehen, wie weit er gehen konnte?

Die Antwort kam prompt. Weil sie nicht ausgerechnet gegen Lord Woldarn eine Niederlage einstecken wollte. Wenn Enric etwas aufgeben musste, dann würde sie dafür sorgen, dass Lord Woldarn noch wesentlich mehr verlor. Enric hatte ihr von seiner Idee erzählt, wie man mit dem Mann verfahren konnte – immer vorausgesetzt, er war tatsächlich derjenige, der versuchte, Enric enteignen zu lassen. Es war brillant in seiner Grausamkeit. Enric hatte eine gewisse Begabung für derlei Dinge. Jeder würde wissen, dass es eine Bestrafung war, doch nur wenige – Lord Woldarns Vertraute – würden wissen, wofür. Allerdings würde es nach nichts anderem als einer simplen Entsendung aussehen. Vorausgesetzt, Tyront legte sich nicht quer.

Sie nickte den Torwachen vor dem Palast zu und betrat die riesige Halle mit den vielen Säulen, die die hohe Decke stützten. Dank Enrics Spionen wusste sie, dass sich der König und die Königin derzeit in einer Besprechung mit den Schatzmeistern des Königreichs befanden und somit für eine Weile beschäftigt waren. Sich der Informationen zu bedienen, die in einer Weise gesammelt wurden, für die sie nur Abscheu übrig hatte, war nichts, dem sie normalerweise zustimmte. Doch in diesem Fall ließen sie sich auf keinem anderen Weg beschaffen. Marrin, der für den Terminplan des königlichen Paares verantwortlich war, war zu erfahren und achtsam und würde sich nicht hereinlegen lassen, Dinge zu enthüllen, die unter Verschluss bleiben sollten.

Was der Grund war, weshalb sie ihn unvorbereitet erwischen musste. Dafür war es erforderlich, dass der König nicht in der Nähe war und somit nicht ersucht werden konnte, Eryns Behauptungen zu bestätigen.

Vor der Tür zum Arbeitszimmer des Königs blieb sie stehen. Oder eher Marrins Tür, da das Zimmer des Königs nur betreten werden konnte, indem man zuerst das seines Beraters durchquerte. Sie musste ruhig und entspannt wirken, nicht als führe sie etwas im Schilde und als wäre sie nervös, ob es funktionieren würde.

Sie klopfte und wartete auf die Erlaubnis zum Eintreten. Die kam prompt.

Im letzten Moment tauschte Eryn ihr Lächeln gegen eine Miene, die den üblichen Anflug an Missmut zeigte, wenn sie auf dem Weg zum König war. Eine ungewöhnlich fröhliche Stimmung mochte ihn misstrauisch machen.

“Guten Tag, Marrin. Ist er hier?”

Wie immer bei ihrem Anblick lächelte der ältere Mann. “Lady Eryn, welch unerwartetes Vergnügen. Nein, ich fürchte, derzeit ist er nicht verfügbar – und auch nicht in den nächsten paar Stunden.”

Sie stieß ein enttäuschtes Seufzen aus. “Das ist bedauerlich. Er hat mir versprochen, dass er mir die Nachricht zeigt, in der er angehalten wird, etwas gegen Enrics Grundbesitz zu unternehmen. Ich hätte wohl zuerst einen Termin vereinbaren sollen um sicherzugehen, dass er hier ist und Zeit für mich hat. Nun, ich schätze, das lässt sich nicht ändern.” Sie ließ sich in einen Sessel neben Marrins Schreibtisch fallen. “Wie ergeht es dir so, Marrin?”

Er lehnte sich zurück und signalisierte damit, dass er bereit war, ein wenig zu plaudern. “Beschäftigt, wie Ihr Euch wohl vorstellen könnt. Vorbereitungen für den bevorstehenden Krieg. Die großen Entscheidungen werden natürlich von Seiner Majestät und dem Orden getroffen, aber jemand muss auch sicherstellen, dass sie tatsächlich umgesetzt werden. Das erfordert Planung und das Autorisieren von Auszahlungen.”

Eryn lachte. “Ah ja, die Magie, die im Hintergrund passiert – all das, was niemand sieht und was somit nicht als wichtig geschätzt wird.”

Marrin zuckte mit den Schultern. “Seine Majestät sieht es.”

“Und ich bin zuversichtlich, dass er dich so schätzt, wie er es sollte. Er ist recht schlau.”

Der ältere Mann zog eine Augenbraue hoch. “Manche würden ihn sogar ein Genie nennen.”

Sie winkte ab. “Ich nicht. Du weißt, wie sehr ich es hasse, ihm Komplimente zu machen.”

“Das weiß ich in der Tat. Doch die Tatsache, dass Ihr gewisse Dinge nicht aussprechen wollt, macht sie nicht weniger wahr.”

“Das mag der Fall sein, doch andere Dinge sind Konstrukte unserer Vorstellungskraft und werden erst dadurch Wirklichkeit, dass wir sie aussprechen.”

Mit einem Lachen und einem Kopfschütteln verschränkte Marrin die Finger über seinem Bauch. “Wie ich sehe, wagen wir uns in höchst philosophisches Terrain vor.”

Eryn seufzte und stand wieder auf. “Ich würde diese Diskussion mit dir liebend gerne fortsetzen, doch leider muss ich Vedric nun von der Schule abholen. Ich nehme an, es besteht keinerlei Chance, dass du mich einen Blick auf den Brief werfen lassen könntest, ohne bei Seiner Majestät die Bestätigung einzuholen?”, fragte sie. Ihre Stimme klang resigniert, als hätte sie keinerlei Hoffnung, dass er ihr diesen winzigen, bescheidenen Gefallen erweisen möge.

Einen Augenblick lang wirkte der Berater des Königs unentschlossen. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens sah er sie wieder an. “Seine Majestät hat Euch ausdrücklich versprochen, Euch die Nachricht zu zeigen?”

Bedacht darauf, nicht allzu nachdrücklich zuzustimmen oder sich durch zu viele Details zu verraten, nickte sie nur.

“Worum ging es darin noch einmal?”, fragte er und tat, als wüsste er nicht ganz genau, welche Nachricht es war. Offensichtlich wollte er testen, ob sie tatsächlich von dem Brief wusste oder nur im Trüben fischte.

“Die Nachricht setzt König Folrin davon in Kenntnis, dass Enrics Grundbesitz das gesetzlich erlaubte Höchstmaß überschreitet. Der Absender ist…” Sie hielt kurz inne. Im Moment hatte sie nichts als einen starken Verdacht, wer der Autor war. Das bedeutete, sie konnte sich irren. Sie musste einen Hinweis geben, ohne sich auf eine einzelne Person zu konzentrieren. Da der Brief das Ergebnis von Informationen war, die von Spionen gesammelt wurden, musste es jemand Wohlhabender sein. Und da Enric und sie das Ziel waren, deutete das ziemlich sicher auf ein Ratsmitglied hin. “…ein gewisser Lord, dessen Namen ich nicht nennen will, da die Wände hier Ohren haben”, schloss sie vage.

Marrin nickte langsam. “Ja, von der Nachricht weiß ich.” Er spitzte die Lippen. “Und seine Majestät wollte, dass Ihr sie zu Gesicht bekommt?”

Sie hob die Schultern. “Nun, nicht aus eigenem Antrieb. Ich wollte sie sehen. Er gewährte mir lediglich die Erlaubnis, einen raschen Blick darauf zu werfen.”

Der Mann seufzte ausgiebig und bückte sich, um aus einem niedrigen Regal hinter ihm eine Akte hervorzuziehen. Er platzierte sie auf seinem Tisch, dann öffnete er den Deckel.

Eryns Augen fanden sofort das ordentliche Stück teuren, cremefarbenen Papiers ganz oben.

“Ich werde mich hier drüben um meine eigenen Angelegenheiten kümmern und bis zehn zählen”, verkündete Marrin und gab vor, sich zu beschäftigen, indem er irgendwelche Bücher verstaute.

Begierig trat sie näher an den Tisch und beugte sich über das Blatt, ohne es zu berühren. Das Erste, was sie las, war der Name ganz unten. Lord Woldarn. Es war nicht schwer zu erraten gewesen, da er ihr wahrscheinlichster Verdächtiger war. Doch Maßnahmen wie die, die Enric vorgeschlagen hatte, erforderten absolute Gewissheit über die Identität des Mannes. Und diese Gewissheit hatte sie nun. Ihre Augen zuckten über die wenigen Zeilen. In wortreichen Sätzen brachte das Ratsmitglied seine Sorge über Lord Enrics vollkommene und unverhohlene Missachtung der Gesetze des Königreichs und damit des Königs zum Ausdruck. Er schrieb, dass er es als seine Pflicht als Bürger erachtete, auf etwas hinzuweisen, dass ebenso gut nichts weiter als ein Versehen eines Kollegen sein mochte, der so viel Zeit in einem anderen Land verbrachte, dass er die Übersicht verlor, wie viel er besaß. Dennoch wollte er aber auch auf die Risiken aufmerksam machen, falls es mehr als nur ein bloßes Versehen war und sich um einen dreisten Versuch handelte, den König herauszufordern.

Eryns Zähne knirschten. Lord Woldarns Fähigkeit zur Manipulation war in etwa so subtil wie ein Vorschlaghammer.

Gerade als Marrin mit seiner vorgetäuschten Geschäftigkeit fertig war, trat sie zurück. Er schloss den Deckel der Akte wieder und verstaute sie, wo er sie herausgezogen hatte.

Mit einem erleichterten Nicken lächelte sie den Mann an, dankbar für seine Hilfe – und gleichzeitig fühlte sie sich schlecht, weil sie ihn ausgetrickst hatte. Der König würde ihm deswegen keinen Vorwurf machen, oder?

Mit einem Winken zum Abschied trat sie zur Tür, zögerte dann aber. Sie fühlte sich wirklich schuldig. Langsam drehte sie sich um und entschied, ihn zumindest zu warnen indem sie ihn wissen ließ, dass er sich gerade übertölpeln hatte lassen.

“Weißt du”, meinte sie langsam, “es war schon einmal schwieriger, dich in die Irre zu führen.”

Zu ihrer Überraschung durchlebte Marrin keinerlei Moment der Erkenntnis gefolgt von einem schweren Schock, sondern grinste lediglich. “Oh, das ist es im Allgemeinen auch. Heute jedoch wurde ich explizit angewiesen, besonders leichtgläubig zu sein. So sehr, dass sogar eine dermaßen unbeholfene Lügnerin wie Ihr selbst eine Chance hat.”

Eryn blinzelte und starrte ihn einen Moment lang an. Dann ließ sie den Atem entweichen. “Er wusste, dass ich kommen würde. Verdammt soll er sein! Ist er überhaupt wirklich fort?”, fragte sie und nickte zu seiner Tür.

Marrin zuckte mit den Schultern, amüsiert über ihren Unmut, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie nicht so gewitzt war wie sie gedacht hatte. “Möglicherweise. Nun fort mit Euch, Lady Eryn, und holt Euren Sohn ab. Was allerdings interessant ist, denn laut meinen Informationen ist der Unterricht für die erste Klasse heute bereits seit zwei Stunden vorüber.”

Eryn knirschte mit den Zähnen und schlüpfte in den Korridor hinaus. Nun streute er auch noch Salz in die Wunde.

*  *  *

Enric versuchte, das Gefühl von Widerwillen, das er von Eryn durch das Geistesband empfing, zu ignorieren. Die Ratsversammlung war nun schon seit zwei Stunden im Gange, und sie waren mit Tyront übereingekommen, dass Eryns Bekanntgabe von Lord Woldarns unmittelbarer Zukunft den Abschluss bilden würde.

Es bedurfte keiner aufwändigen Überzeugungsarbeit, damit Tyront dem von Enric angeregten Vorgehen zustimmte. Er sah die Notwendigkeit für eine entschiedene Maßnahme so klar wie auch sein Stellvertreter. Bis zu einem gewissen Grad wusste auch Eryn, dass es nötig war, allerdings nur auf intellektueller Ebene, keinesfalls auf emotionaler. Noch immer betrachtete sie die Bestrafung als wesentlich härter als es die Taten des Mannes rechtfertigten.

Alles in allem war es bislang eine fruchtbare Versammlung gewesen, sinnierte Enric. Sie hatten Entscheidungen getroffen, wie mit mehreren essentiellen Maßnahmen hinsichtlich der Vorbereitung auf den Krieg fortzufahren war. Eine Gruppe Magier sollte schon am nächsten Tag losgeschickt werden, nach oben in den Norden zu den Bergen, die die natürliche Grenze zwischen Anyueel und Pirinkar bildete. Mit der neu erlangten Fähigkeit zum Verformen von Gesteinsadern sollten sie in der Lage sein herauszufinden, wie gut sich das Gebirge tatsächlich durchqueren ließ – besonders im Hinblick darauf, dass sich die magische Barriere aus dem Meer irgendwie durch den Fels fortsetzen mochte.

“Wir müssen auf jeden Fall Wachposten platzieren”, beharrte Orrin. “Sollte eine magische Barriere tatsächlich der Grund sein, weshalb sich die Berge bislang jedem Versuch sie zu überwinden widersetzt haben, würde das ein vollkommen neues Problem darstellen. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie versiert die Loman Ergen im Umgang mit magischen Barrieren sind. Bislang mögen sie noch keinen Grund dafür gesehen haben, die Barriere zu bearbeiten, wenn wir einmal davon ausgehen, dass sie dazu in der Lage wären. Doch Etor Gart würde diese Fähigkeit ohne Zweifel für sich zu nutzen wissen.”

“Wenn wir allerdings keine Spur einer magischen Barriere finden, wären Außenposten vollkommen unnötig”, warf Lord Seagon ein. “Die Berge wären dann für sie ein natürliches Hindernis – ebenso wie für uns. Ich bin überzeugt, dass wir andernfalls bereits vor langer Zeit Besucher aus Pirinkar hier auf unserer Seite der Berge gehabt hätten.”

“Suchtrupps aus den Westlichen Territorien haben unser Land mehrere Jahre lang auf der Suche nach Lady Eryn durchstreift, ohne dass man sie jemals bemerkt hat”, widersprach Enric. “Was bedeutet, wir könnten ebenso unfähig gewesen sein, irgendwelche gut verkleideten Besucher von der anderen Seite der Berge zu entdecken.”

Orrin nickte und fügte hinzu: “Außerdem wissen wir nicht, ob unter den Loman Ergen jemand die Fertigkeit besitzt, in der Lady Eryn uns erst kürzlich unterwiesen hat. Womöglich sind sie ebenfalls in der Lage, Gesteinsschichten zu verformen und können somit massive Felsformationen aus dem Weg räumen so wie wir das nun vermögen.”

Eryn räusperte sich. “Ich würde sogar nahelegen, dass wir von dieser Annahme ausgehen. Zu hoffen, dass niemand von ihnen eine Fertigkeit besitzt, die ich ohne großen Aufwand entdeckt habe, wäre grob fahrlässig. Ich stimme Lord Orrin zu – wir sollten genügend Beobachtungsposten einrichten, um die Berge im Auge behalten zu können.”

Lord Seagon runzelte die Stirn. “Das würde eine Menge Männer erfordern, da wir uns nicht einfach darauf beschränkten könnten, ein paar Pässe zu beobachten, sondern die gesamte Länge des Gebirgszugs im Auge behalten müssten. Sie könnten praktisch überall einen Durchgang erschaffen. Wir haben gerade eine respektable Anzahl unserer Magier in die Westlichen Territorien entsandt, also sind unsere Leute bereits recht dünn gesät.”

“Das ist richtig”, stimmte Enric zu. “Aus diesem Grund würde ich vorwiegend Soldaten ohne Magie in den Norden auf Beobachtungsposten schicken. Zusätzlich schlage ich vor, dass Seine Majestät so viele Jäger wie möglich in die Armee einberuft und sie gemeinsam mit den Soldaten losschickt. Sie sind in der Kunst der Tarnung bewandert, haben Ahnung vom Fährtenlesen und kennen sich in den Wäldern aus.”

“Ich werde Seiner Majestät gegenüber eine entsprechende Empfehlung aussprechen, sobald wir hier fertig sind”, versprach Tyront und vermerkte es auf dem Blatt Papier vor sich. Er sah Eryn direkt an und forderte sie so wortlos dazu auf, das Wort zu ergreifen.

Sie schluckte und hüstelte. “Eine Sache wäre da noch. Wir haben eine Gruppe von Ordensmagiern und ein paar Soldaten aus Takhan oben beim Gebirgspass zwischen den Westlichen Territorien und Pirinkar stationiert. Soweit ich im Bilde bin, befinden sich darunter keine erfahrenen höherrangigen Magier, die moralische Unterstützung leisten und als Beispiel an Stärke und Ruhe dienen sollten, falls es dort wahrhaftig zu einem Angriff käme.”

Abgesehen von ein paar wenigen Auserwählten, die wussten, was nun kam, reagierten die anwesenden Ratsmitglieder darauf entweder mit gerunzelten Stirnen oder hochgezogenen Brauen. Darunter auch Orrin. Er war nicht darüber informiert worden, was gleich verfügt werden würde.

“Ihr schlagt doch wohl nicht vor, dass jemand von uns dort hingehen und an der Grenze Wache stehen soll, oder etwa doch?”, kam eine skeptische Stimme. “Jeder Einzelne von uns ist sicherlich hier, wo wir in der Position sind, strategische Entscheidungen zu treffen, nützlicher als dort oben mitten im Nirgendwo.”

“Dem widerspreche ich”, entgegnete Eryn, genau wie sie es vorbereitet hatte. “Diese Leute mitten im Nirgendwo, wie Ihr es nennt, sind direkt an der Front und werden es sehr wahrscheinlich als Erste erfahren, wenn der Feind sich zu einem Angriff entscheidet. Sie müssen in einer geistigen Verfassung sein, das zu tun, was von ihnen erwartet wird – nämlich die Vögel nach Takhan freizulassen. Sollten sie in Panik verfallen und das nicht schaffen oder überrannt werden, bevor sie die Käfige erreichen, könnte das die Gefahr erhöhen, dass Takhan fällt.”

“Ich verstehe”, erwiderte Lord Woldarn, “Somit meldet Ihr Euch also freiwillig dafür, dorthin zu gehen? Ihr denkt, Ihr wärt in der Lage, etwas zu bewirken, um das Desaster abzuwenden, den Soldaten als Inspiration zu dienen und dann als Heldin zurückzukehren? Ich will zugeben, dass Eure Magie ungewöhnlich stark ausgeprägt sein mag, doch das ist kaum eine Garantie dafür, dass Ihr einen kühlen Kopf bewahren oder als taugliches Vorbild dienen könnt. Ihr seid keinesfalls die Anführerin, für die Ihr Euch haltet.”

Eryn seufzte. Er machte es ihr viel zu leicht. “Oh, ich würde solche Vorzüge niemals ungebührlich für mich selbst beanspruchen. Und ich bin sehr froh darüber, dass Ihr und ich darin übereinstimmen, dass eine Person mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen als meinen eigenen und natürlich mit wesentlich mehr Erfahrung eine ideale Wahl für diese noble Aufgabe wäre.” Sie pausierte kurz, nahm einen tiefen Atemzug und verkündete: “Ich beantrage die Entsendung von Lord Woldarn, der sich der Herausforderung offensichtlich bewusst ist und jedenfalls über sämtliche erforderlichen Qualifikationen verfügt.”

Stille trat ein.

Enric wartete einige Herzschläge lang und ließ die Aussage einsinken. Dann nickte er. “Ich stimme zu. Ein ranghohes Ratsmitglied zu senden, das sicherstellt, dass sich dieser wichtige Außenposten in fähigen Händen befindet, wird ein mächtiges Zeichen unseres Einsatzes sein. Es wird das Vertrauen unserer Verbündeten in uns stärken. Und für diesen Einsatz kann ich mir niemand passenderen als Lord Woldarn vorstellen. Außer es gibt sonst noch jemanden, der sich freiwillig dafür melden möchte?” Genau wie er es erwartet hatte, wurde keine einzige Hand gehoben. Niemand wollte in die Wüste entsandt werden, einen Gebirgspass bewachen und sehr wahrscheinlich das erste Ziel sein, das angegriffen werden würde.

Er ignorierte Orrins stechenden Blick. Der Krieger hegte unverkennbar den Verdacht, dass hier mehr vor sich ging als es den Anschein hatte.

Lord Woldarns Gesicht hatte alle Farbe verloren. Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals, doch bevor er es schaffte, ein einziges Wort hervorzubringen, sprach Tyront.

“Dann ist diese Angelegenheit entschieden. Lord Woldarn, Ihr werdet Euch darauf vorbereiten, in drei Tagen die Reise zum nördlichsten Außenposten der Westlichen Territorien anzutreten. Der Rat wird selbstverständlich zu Eurer Verfügung stehen, solltet Ihr Unterstützung benötigen, um Eure Angelegenheiten zu ordnen. Ich weiß, das ist kurzfristig, doch wie Ihr zustimmen werdet, haben wir keine Zeit zu verlieren. Botschafter Ram’kel wird Euch sicher gerne beraten hinsichtlich passender Kleidung, die Ihr in diesem ungewohnten Klima unter Eurer Robe tragen könnt.” Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die anderen im Saal. Die meisten von ihnen waren schockiert, doch einige von ihnen blickten von Eryn zu Lord Woldarn und vermuteten eindeutig, dass er für etwas bestraft wurde – und zwar mit aller Strenge. Niemand erhob Einspruch, keiner wollte zwischen die drei höchsten Ordensmagier und das Ziel ihres vereinten Zorns geraten.

“Damit ist die heutige Versammlung beendet”, verkündete der Anführer des Ordens schließlich. Lord Woldarns einzige Reaktion bestand darin, Lord Tyront in ultimativem Unglauben anzustarren.

Die anderen Magier beeilten sich, die Ratshalle zu verlassen. Orrin wirkte als wäre er viel lieber noch geblieben und hätte ein paar Antworten eingefordert, doch ein Blick in Enrics Gesicht legte ihm nahe, sich noch eine Weile in Geduld zu üben und zu gehen.

Enric, Eryn und Tyront blieben zurück bei Lord Woldarn, der nun in kurzen, keuchenden Zügen atmete. Sie warteten.

Nach einigen Minuten hob Lord Woldarn seine zitternde Hand und richtete seinen Zeigefinger auf Eryn. Zuerst war seine Stimme schwach, gewann aber an Stärke mit jedem Wort, das er von sich gab. “Ihr! Das wart Ihr! Ihr wollt, dass ich in der Wüste abgeschlachtet werde! Ihr habt Angst vor mir! Genau das denken die anderen Ratsmitglieder jedes Mal, wenn ich aufzeige, dass Ihr falsch liegt! Ihr wisst, dass sie Euch nicht respektieren, und anstatt Euch ihren Respekt zu verdienen, versucht Ihr die eine Person loszuwerden, die mutig genug ist, Euch ständig in Erinnerung zu rufen, dass Ihr keinen Platz unter uns verdient, dass Ihr nichts weiter als ein Emporkömmling…”

“Genug”, unterbrach Enric streng. Dieser arme, verblendete Narr. Er dachte wahrhaftig, dass seine abfälligen Bemerkungen und hinterhältigen Versuche ihr zu schaden irgendetwas mit Mut zu tun hatten? Und wie war es möglich, dass er nicht bemerkt hatte, dass sogar Lord Seagon, der Eryn gegenüber mehr als skeptisch gewesen war, ihr nun mit dem Respekt begegnete, den ihr Rang und vor allem ihre Fähigkeiten verdienten? Natürlich, Lord Seagon stellte ihre Argumente in Frage, jedoch auf fachgemäße Weise ohne den Versuch, ihren Ruf oder ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören.

Eryn war einfach nur dagestanden und hatte sich die Anschuldigungen schweigend angehört. Sie sah den Mann, der noch vor einigen Sekunden kreidebleich gewesen war, nur an. Mittlerweile war sein Gesicht stark gerötet.

Lord Woldarn wandte sich Enric zu. “Natürlich steht Ihr bei Fuß und bellt jeden an, der es wagt, seine Stimme gegen sie zu erheben, so wie der armselige Hund, der Ihr seid!”

Langsam erhob sich Tyront von seinem Platz, seine Handflächen auf dem ovalen Tisch vor sich abgestützt. Seine Miene strahlte eine tödliche Ruhe aus.

“Und ich, mein Lord? Was ist es, das Ihr mir zu sagen habt, weil ich die Idee Eurer Entsendung unterstützt habe?”

Lord Woldarn öffnete seinen Mund, doch die leise Drohung in der Haltung seines Vorgesetzten und dessen frostiger Blick schienen ihn überdenken zu lassen, ob es weise war, sein Gift in diese spezielle Richtung zu versprühen.

Als keine Antwort kam, fuhr Tyront fort: “Ihr wisst, weshalb Ihr derjenige seid, der dorthin entsandt wird, Lord Woldarn. Ihr habt nun schon seit langer Zeit mit dem Feuer gespielt. Ihr habt Eure Vorgesetzten beleidigt und hinter ihrem Rücken Ränke geschmiedet… Was dachtet Ihr, wozu das schlussendlich führen würde? Dass man Lady Eryn aus dem Rat entfernt, da Ihr behauptet, niemand darin würde sie respektieren? Ihr habt ihre Autorität offen untergraben, und diese Entsendung ist der Preis, den Ihr dafür bezahlen werdet. Der Gedanke dahinter ist nicht, Euch in den Tod zu schicken, Lord Woldarn. Der Orden schickt niemanden absichtlich in den sicheren Tod. Noch nicht einmal jene, die Insubordination in einem so umfangreichen Ausmaß betrieben haben wir Ihr selbst. Das hier ist als bedeutende Unbequemlichkeit für Euch gedacht – aber gleichzeitig auch als Chance, Euch wieder etwas Respekt zu verdienen. Entgegen dem, was Ihr zu glauben scheint, Lord Woldarn, war es nicht Lady Eryn, die den Respekt Eurer Kollegen verloren hat, sondern Ihr. Ganz im Gegenteil – ihre Zurückhaltung wurde entweder bewundert oder als übertrieben erachtet.” Er richtete sich auf zum Signal, dass seine nächsten Worte die Angelegenheit hier abschließen würden. “Ihr könnt selbstverständlich eine Beschwerde einreichen. Doch ich kann Euch versprechen, dass diese lediglich zur Kenntnis genommen, aber nicht zu einem Zurückziehen des Befehls, den Ihr erhalten habt, führen wird. Einen guten Tag auch, Lord Woldarn. Ich vertraue darauf, dass Ihr Euren Eid an den König ehren und bei der Verteidigung seines Königreichs Eure Pflicht tun werdet.”

Tyront wandte sich vom Tisch ab, an dem Lord Woldarn saß, als hätte ihn der Blitz getroffen. Er gab seiner Nummer zwei und drei ein Zeichen, damit sie ihm aus der Ratshalle hinaus folgten. Zumindest konnten sie ihrem Kollegen ein wenig Privatsphäre gönnen, während er mit seiner Verzweiflung rang.

»Ende der Leseprobe«

Hat es dir gefallen? Dann auf zum Shop!

Solltest du den Rest des Buches auch unterhaltsam finden, wäre eine Bewertung super! Die sind für Autoren lebenswichtig.

„Schwierige Nachbarn“ – Der Orden: Buch 7

Kapitel 1

Unterwegs

Enric bemerkte die Verwirrung und den Unmut auf dem Gesicht seiner Gefährtin, als der grüne Fleck, der schon vor einer Weile in Sichtweite gekommen war, nicht in dem Ausmaß wuchs, wie sie es erwartet hatte. Er erinnerte sich noch gut an seinen eigenen ersten Eindruck von vor ein paar Jahren, als er und Vran’el sich dieser speziellen Oase genähert hatten. Nach zwei Tagen des Reitens durch die Wüste hatte es ihn nach irgendeinem Stückchen Grün gedürstet, nach Bäumen, nach Schutz vor der erbarmungslosen Sonne – in der Stadt kaum mehr als ein Ärgernis, sofern man zur heißesten Tageszeit nach draußen musste, hier draußen jedoch eine echte Gefahr.

“Das ist es?”, stöhnte sie. “Warum hast du behauptet, das sei der Höhepunkt auf unserem Weg durch die Wüste? Ich sehe hier keine große Verbesserung zu den Lagern, in denen wir die letzten beiden Nächte verbracht haben! Das ist einfach nur grausam! Nie wieder werde ich dir irgendetwas glauben!”

Er erwiderte nichts auf ihr Gejammer. In ungefähr einer Stunde würden sie das Lager von Malriels Cousin erreichen, und dann würde sie sehen, dass er ihr keineswegs einen grausamen Streich gespielt hatte. Und er war in diesem Moment zu erschöpft, um mit ihr zu debattieren. Genau wie ihm selbst, so würde es auch ihr schwerfallen, aufgrund bloßer Worte zu glauben, dass dies eine ausgedehnte Oase war, ein kleines Paradies inmitten ausgedehnter Flächen nicht enden wollenden Sandes, Felsen und Luft, die vor Hitze flimmerte, wo auch immer man hinsah.

Zwei Tage des Reitens durch die Wüste mit ihr war alles andere als ein pures Vergnügen gewesen. Obgleich das nicht allein ihre Schuld war. Wenn es kaum etwas gab, mit dem sich das Auge ablenken ließ, dann hatten die Gedanken Zeit zu wandern. Was sich als wenig angenehm erwies, wenn man gerade seinen Sohn zurückgelassen und viel Zeit hatte, ihn zu vermissen und sich zu fragen, was er gerade tat, zu überlegen, ob er wohl in genau diesem Moment betrübt war.

Sie hatten damit begonnen, Erbáls Code für die Nachrichten nach und aus Kar auswendig zu lernen. Zum einen, um diese unbedingt erforderliche Aufgabe zu erledigen, und andererseits auch, um zumindest ein wenig der Zeit sinnvoll zu nutzen.

“Wie buchstabieren wir Worte, für die wir kein Codewort haben?” kehrte er zu diesem Thema zurück. Diese letzte Stunde konnten sie ebenso gut dafür heranziehen.

“Ich weiß es nicht.”

“Du hast nicht einmal überlegt. Komm schon. Das ist einfach.”

Sie seufzte und dachte einen Moment lang nach, dann gab sie ihm Recht indem sie antwortete: “Wenn der Satz mit dem Wort Ich beginnt, dann zeigt das, dass er etwas buchstabieren wird, indem er in den folgenden Worten des Satzes Buchstaben versteckt.”

“Welches Schema zieht er dafür heran?”

Sie schloss die Augen und versuchte, sich selbst in ihrem Arbeitszimmer in Anyueel zu sehen, wo alles in Holz eingebrannt war. “Letzter Buchstabe des ersten Wortes, erster Buchstabe des zweiten, vierter Buchstabe des dritten, dritter Buchstabe des fünften, und dann beginnt es wieder von vorne. Da steckt keinerlei Logik dahinter! Wie soll man sich das alles merken?”

“Das ist der Sinn dahinter, Liebste. Alles, was einer bestimmten Logik folgt, kann durch rationales Denken und genug Informationen über eine Person entschlüsselt werden. Er vermeidet es nach Möglichkeit, regelmäßige Muster einzusetzen. Ganz ohne sie kommt er nicht aus, doch er reduziert sie so stark, dass es keinesfalls reichen würde, nur die regelmäßigen Muster zu kennen, um irgendwelche nützlichen Informationen aus einer Nachricht zu ziehen. Sie zeigen lediglich an, dass noch mehr Informationen nachfolgen. Die tatsächliche Information zu erkennen ist die eigentliche Herausforderung. Also, welche Bedeutung hat das Wort Haus, wenn es nur ein einziges Mal in der Nachricht vorkommt?”

“Gefahr,” antwortete sie ohne Zögern. Daran erinnerte sie sich ohne Schwierigkeiten. Es war Teil seiner jüngsten Nachricht an sie gewesen, wo er sie über den anstehenden Anschlag auf Königin Del’na’bened informiert hatte.

“Und wenn es zweimal benutzt wird?”

“Geheimnis. Eine weitere Kombination für diese Bedeutung wäre auch Nachricht und lesen im gleichen Satz.”

“Sehr gut. Warum hat er mehrere Kombinationen für das gleiche Wort?”

“Weil es nicht offensichtlich werden soll, dass Informationen versteckt sind, indem die gleichen Worte zu häufig benutzt werden,” wiederholte sie gehorsam, was er ihr am ersten Tag ihrer Reise erklärt hatte.

“Welche Worte sind ein dringender Hilferuf?”

“Unglaublich müde oder vernachlässigbar.”

“Wie bezieht er sich auf die Regierung in Kar?”, fragte er weiter.

“Ich weiß es nicht mehr.”

“Familie. Wie nennt er die dortigen Magier?”

“Ich kann mich nicht erinnern! Die Sonne brät mein Gehirn, also lass mich zufrieden, sofern du es zumindest einen Augenblick lang aushalten kannst, untätig zu sein”, schnauzte sie ihn mit einer Mischung aus Frustration und Verdruss an.

Enric beugte sich ihrem Wunsch. Er hatte sie ein wenig ablenken wollen, doch das war offenkundig nicht zielführend.

Ein paar Minuten lang ritten sie schweigend weiter, bevor sie auf den Mann zu sprechen kam, der ihnen in ihrer letzten Nacht in der Wüste Unterschlupf gewähren würde. “Du hast gesagt, Ganel sei Malriels Cousin. Und dass er eine Menge Gefährtinnen und Kinder hat.”

“Das letzte Mal, als ich ihn sah, hatte er sechs Gefährtinnen und mehr als dreißig Kinder. Jetzt könnten es mehr sein.”

Voller Unverständnis schüttelte Eryn den Kopf. “Wie kann irgendeine Frau zustimmen, lediglich eine von mehreren Gefährtinnen zu sein? Wurden sie alle dazu gezwungen?”

“Das mag in manchen Stämmen noch der Fall sein, doch zum Glück ist das mittlerweile eher unüblich. In Ganels Fall habe ich mir sagen lassen, dass er niemals eine Frau an sich bindet, die nicht willens ist, mit ihm in der Oase zu leben und ihn mit einigen anderen Gefährtinnen zu teilen. Er ist kein grausamer Mann, der Frauen und Kinder wie Trophäen sammelt. Auch wenn man das nicht glaubt, wenn man zum ersten Mal hört, dass er von beiden so viele hat. Malriel sagte mir, dass drei von ihnen zuvor an andere Männer gebunden waren und schreckliche Misshandlungen erdulden mussten. Mit Ganel können sie sich vorwiegend mit anderen Frauen umgeben und müssen nicht öfter mit ihm schlafen, als ihnen lieb ist, da es genug andere Frauen gibt, die dieses Bedürfnis erfüllen. Ein seltsames Arrangement, wie ich zugebe. Sicher keines, das ich mir für mich selbst vorstellen könnte. Doch solange alle Beteiligten damit zufrieden sind, werde ich nicht urteilen.”

Eryn erwiderte nichts darauf, sondern versuchte sich vorzustellen, wie deren Leben aussehen mochte. Besonders in diesem kleinen grünen Fleck vor ihnen. Wie passten sie dort überhaupt alle hinein?

Enric hing seinen eigenen Gedanken nach und stellte sich vor, dass sein Sohn in diesem Moment wahrscheinlich sein Mittagsessen einnahm. Wohl mit Pe’tala und seiner Cousine Zahyn. Malriel würde zu dieser Tageszeit beschäftigt sein, wie auch Valrad und Rolan in der Klinik. Er dachte an Orrin. Ob er wohl verärgert darüber war, dass man ihn ohne seine Familie nach Takhan geschickt hatte und er sein eigenes Kind zurücklassen musste, um den Sohn seines Vorgesetzten zu beschützen?

“Was ist das? Noch eine?”, hörte er Eryn fragen und blickte auf.

Ah ja, sie hatten den Punkt erreicht, wo auch das andere Ende der Oase sichtbar wurde, nicht jedoch der Mittelteil, der sich von ihnen weg krümmte und somit noch nicht erkennbar war. Noch sah all das nach zwei nicht verbundenen Flecken mit kärglichem Bewuchs aus.

“Nein, das ist das andere Ende der Oase. Sie ist wie ein Halbmond geformt. Bald erreichen wir das eine Ende und können dann den Bäumen und Büschen bis zu ihrer Mitte folgen. So haben wir zumindest ein wenig Schatten.”

Wenig später erreichten sie die ersten paar mickrigen Palmen. Dazwischen bedeckten allem Anschein nach vertrocknete Büsche den Untergrund. Je weiter sie vordrangen, desto dichter und üppiger wurden die Palmen.

Eryn spielte damit, im Stillen die Sekunden von einem schattigen Punkt zum nächsten zu zählen. Sie bemerkte, wie ihr Pferd jedes Mal zu verweilen versuchte, wenn sie einen weiteren hohen Baum erreichten, der Schutz vor der Sonne bot.

Nach einer Weile offenbarte sich das gesamte Ausmaß der Oase. Sie näherten sich nun der breiten Mitte und konnten erkennen, wie sich die Baumlinie vom dem einen Ende, das sie als erstes gesehen hatten, zu dem anderen weit entfernten erstreckte.

“Sieh dir das an! Sie ist riesig!”, staunte Eryn und spürte, wie ihre gute Laune zurückkehrte. “Vielleicht war ich etwas voreilig damit, dass ich dir niemals wieder irgendetwas glaube”, fügte sie entschuldigend hinzu.

“Ich bin froh das zu hören”, erwiderte Enric großmütig und deutete nach vorne zu ein paar Bauten, die noch nicht im Detail erkennbar, aber jedenfalls von Menschenhand geschaffen waren. “Siehst du das? Wir sind schon fast da.” Er dachte an den Teich mit dem Wasserfall, in den er und Vran’el kurz nach ihrer Ankunft hier auf ihrem Rückweg eingetaucht waren. Eryn gegenüber hatte er nichts davon erwähnt. Er wollte ihr Gesicht sehen, wenn er sie dorthin brachte.

Die Umrisse der Zelte und wenigen Steinbauten, von denen Enric wusste, dass sie als Lagerplatz dienten, wurden immer deutlicher, je näher sie kamen.

Eryn pfiff durch die Zähne. “Das sieht fast wie ein Dorf aus!”

“Ja, ich denke, damit könnte man es vergleichen. Sie haben extra Zelte zum Kochen, Essen, für den Unterricht der Kinder, einige Schlafzelte für die Kinder, und das riesige dort drüben gehört Ganel. Dort empfängt er seine Gäste.”

“Die Gefährtinnen teilen sich auch ein großes Zelt, in dem sie alle schlafen? Oder wohnen sie in seinem?”, fragte sie und überlegte, wie angenehm es wohl sein konnte, den Geräuschen zuhören zu müssen, die während des Geschlechtsverkehrs mit der Frau entstanden, mit der er sich entschieden hatte die Nacht zu verbringen.

“Nein, keineswegs. Ganz im Gegenteil. Jede davon hat ihr eigenes Zelt. Ich kann dir nicht sagen, wie sie von innen aussehen. Vermutlich hätte es zu Missverständnissen geführt, wenn ich darum gebeten hätte, mir eines davon ansehen zu dürfen.”

“Ich bin froh zu hören, dass du dermaßen große Zurückhaltung an den Tag gelegt hast, wenn es darum ging, die Schlafquartiere anderer Frauen zu inspizieren”, erwiderte sie in einem Tonfall, der zu lieblich klang um echt zu sein.

Schließlich erreichten sie die Siedlung und wurden von zwei Frauen in fließenden Wüstengewändern begrüßt, von denen eine ein etwa dreijähriges Kind auf ihrer Hüfte trug. Eine von ihnen schien etwa Mitte zwanzig zu sein, die andere mit dem Kind sah etwa zwanzig Jahre älter aus. Ihre Kleidung wirkte schlicht, aber von guter Qualität und sauber, ebenso wie die des Kindes.

“Seid willkommen”, meinte die Ältere von beiden und lächelte zu ihnen empor. “Steigt ab und erlaubt mir, mich um eure Tiere zu kümmern. Nach diesem langen Ritt durch die Wüste müssen sie erschöpft sein. Ebenso wie auch ihr. Mein Name ist Mial, ich bin Ganels Gefährtin.” Sie berührte die andere Frau am Arm und stellte sie vor. “Das ist Rior, Ganels Gefährtin.” Dann verengten sich ihre Augen leicht, als sie Enric betrachtete, als würde sie überlegen, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

“Einen guten Tag, meine Damen. Wir danken euch für eure Gastfreundschaft. Das ist meine Gefährtin Maltheá, und ich bin Enric.”

“Eryn”, murmelte Eryn in seine Richtung.

“Nein, hier nicht”, antwortete er ebenso leise, bevor er abstieg.

Überrascht sah Eryn die Frau an, die sie begrüßt hatte, als diese in Gelächter ausbrach. “Aber natürlich! Enric! Das letzte Mal warst du mit Valrads Sohn hier! Ihr wart so unklug, mit Ganel zu trinken und saht am nächsten Morgen aus, als würdet ihr jeden Augenblick umfallen. Und du bist nackt durch das Lager gerannt! Niemand von uns hat jemals zuvor einen gelbhaarigen Mann gesehen, und dann gleich so viel von ihm auf einmal!”

Eryn starrte die Frau an, dann Enric, und sah zu ihrer unendlichen Überraschung, dass er tatsächlich – errötete! Es gab ein paar seltene Gelegenheiten, bei denen ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war, nie jedoch hatte sie bislang gesehen, dass ihm das Blut vor Verlegenheit in die Wangen stieg! Sie fand es großartig und begann ebenfalls zu lachen.

Nach einigen Sekunden, während derer sie sich an ihren Sattel klammerte, um nicht vor Belustigung zu Boden zu stürzen, schaffte sie es schließlich unbeschadet nach unten.

“Herrlich, davon hat er mir nie erzählt! Wir sollten uns zusammensetzen und reden, Mial.”

Mial lächelte und übergab Eryn den Jungen als wäre es das Natürlichste auf der Welt, vollkommen Fremden den Nachwuchs anzuvertrauen. Auch das Kind wirkte keineswegs beunruhigt darüber, dass es sich auf dem Arm einer Frau wiederfand, die es noch niemals zuvor gesehen hatte, sondern schenkte ihr ein Lächeln, das zwei Zahnlücken entblößte. Eryns Herz schmolz dahin.

“Es wird mir ein Vergnügen sein. Wenn du kurz auf unseren Kleinen achtest, kümmere ich mich um eure Pferde.” Ohne auf eine Antwort zu warten ergriff sie die Zügel aller drei Tiere und führte sie davon.

“Kommt”, lud Rior sie nun ein, “ich bringe euch zu Ganel. Ich weiß, dass er sich schon auf euch freut, seit Malriel ihm einen Vogel mit der Ankündigung eurer Ankunft geschickt hat.” Ihr Blick verweilte auf Eryn. “Du siehst ihr wirklich sehr ähnlich. Aber ich bin sicher, dass sagt man dir ständig.”

Eryn lächelte höflich. Das stimmte. Und sie hasste es.

Sie ließen sich zu dem großen Zelt führen, das sie bereits aus der Ferne erspäht hatten. Rior trat als Erste ein und schob die schweren Vorhänge beiseite.

“Ganel? Unsere Gäste sind hier.”

Eryn und Enric folgten ihr ins Innere, wo sie erst ein paar Augenblicke benötigten, um ihre Augen vom gleißenden Sonnenlicht auf das vergleichsweise dämmrige Licht im Zelt umzustellen.

Rior trat an einen Mann, der auf einem Haufen schon beinahe lächerlich prächtig bestickter Kissen leise schnarchend vor sich hindöste, und stieß ihn mit ihrem Fuß an. Nicht grob, doch auf eine Weise, die ihr zweifellos seine Aufmerksamkeit sichern würde.

“Ganel, steh auf und begrüße deine Gäste! Du wusstest, dass sie um Mittag herum eintreffen sollten, wie kannst du also einfach einschlafen?”

Eryn blinzelte bei dem Anblick eines Mannes, der wohl in seinen Sechzigern oder Siebzigern sein musste, und von seiner Gefährtin gescholten wurde, die jung genug war, um seine Tochter zu sein. Oder sogar seine Enkelin.

“Du hast absolut Recht, meine kleine Wüstenblume”, gab er etwas taumelig von sich und rappelte sich tollpatschig auf, bis er stand. Seine Miene erhellte sich. “Enric! Und die kleine Maltheá! Da seid ihr ja!” Er trat auf Eryn zu, nahm ihr den Jungen vom Arm und reichte ihn an Rior weiter, bevor er sie ohne Vorwarnung in eine herzliche Umarmung zog. “Ich habe so viel von dir gehört!” Er hielt sie auf Armeslänge und nahm ihren gesamten Anblick in sich auf, soweit dies in ihrer Kleidung möglich war. “Und sie haben Recht! Unter tausend Frauen könnte ich dich herauspicken, sogar unter zehntausend!” Er umfasste ihr Kinn und drehte es hin und her. “Erstaunlich! Malriels Gesicht, allerdings… Die Nase ist nicht ganz identisch. Darin steckt ein wenig Vel’kim.”

Sanft aber entschieden schloss Eryn ihre Finger um sein Handgelenk und senkte seine Hand. “Ganel, es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen. Ich schätze deine Gastfreundschaft wirklich sehr, besonders, da ich erst kürzlich erkannt habe, dass ich nicht für die Wüste gemacht bin. Aber wenn du nicht aufhörst, mich wie eine Stute auf dem Pferdemarkt zu behandeln und deine Hand nicht von meinem Gesicht fernhältst, werde ich sie dir brechen. Nicht lange, wohlgemerkt. Ich würde sie wieder heilen. Aber wehtun würde es dennoch. Dir, versteht sich – ich würde gar nichts spüren.”

Ganel starrte sie an, dann stieß er ein bellendes Lachen aus. “Ah, es ist, als käme ich nach Hause! Ich fürchte den Tag, an dem ich einer zahmen Aren begegne! Das wird mein Tod sein! Furchteinflößender Haufen, aber so belebend!”

“Du bist doch ebenfalls Aren, oder nicht?”, fragte Eryn verwirrt. Bisher hatte sie nur Mitglieder anderer Häuser und ein paar unerschrockene Menschen ohne den Schutz eines Hauses, das ihr vorzeitiges gewaltsames Dahinscheiden zu rächen vermochte, auf diese Weise von Aren-Frauen sprechen gehört.

“Selbstverständlich. Deshalb kenne ich sie auch so gut.” Einen Augenblick lang wurde sein Gesichtsausdruck verträumt. “Du hast meine Tante, Malhora, kennengelernt, nicht wahr? Sie ist eine Legende. Ich höre, dass die Leute immer noch nervös werden, wenn sie die Stadt besucht. Aber du machst dich auch nicht übel, wenn man den Geschichten glauben darf. Zerstörung des Senatsgebäudes, was?”

“Nicht das gesamte Gebäude, bloß das Dach”, korrigierte sie ihn mit einem leicht mulmigen Gefühl. Dieser Vorfall war eine Warnung, eine Erinnerung daran, was passierte, wenn eine mächtige Magierin die Kontrolle über sich verlor. Sie betrachtete dies keineswegs als einen ihrer glorreicheren Momente. Somit hieß sie es auch nicht gut, wenn es als bewundernswerte Tat dargestellt wurde anstatt als die gefährliche Niederlage, die es tatsächlich war.

Er winkte ab. “Das tut nichts zur Sache. Du hast uns allen etwas gegeben, woran wir uns erinnern können, und Arens werden gerne mit mächtigen Taten in Verbindung gebracht.” Er wandte sich Enric zu und umarmte ihn ebenfalls. “Mein hellhaariger Freund! Ich bin entzückt, dich wieder einmal in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen!”

Enric grinste und antwortete in einer Weise, bei der er wusste, dass sie Ganel erfreuen würde. “An deinem Heim ist nichts bescheiden, mein Freund. Es ist eine schamlose Demonstration, wie unglaublich erfolgreich du bist, und erweckt den Neid eines jeden, der das Glück hat, hier willkommen zu sein.”

Der ältere Mann lachte. “Ich gebe zu, dass ich nicht von Armut geplagt bin, doch nachdem du zwei Tage lang nichts als Sand gesehen hast, würdest du sogar ein Stück Stoff, das zwischen zwei Bäume gespannt wurde, als Luxus betrachten. Lass uns später mehr reden. Ich kann sehen, dass ihr eine Erfrischung nötig habt. Wir haben ein Zelt für euch vorbereitet und werden euch Essen bringen, und auch frisches Wasser, das nicht stundenlang in einem Ledersack war. Hinterher könnt ihr ein Bad nehmen, und dann werden wir uns zusammensetzen und einen angenehmen Abend verbringen.”

Eryn blinzelte, als ihr Gehirn sich zu glauben weigerte worauf ihre Ohren bestanden, sie hätten es gehört. “Ein Bad? Mit… Wasser?”

Ganel warf ihr einen zweifelnden Blick zu. “Ja, Maltheá, so halten wir es in der Regel mit dem Baden in dieser Gegend. Was hast du denn erwartet? Eine Wanne voller Sand?” Er lachte laut über seinen eigenen Scherz, dann sah er Rior an. “Würdest du unsere Gäste bitte zu ihrem Zelt bringen und sichergehen, dass sie versorgt sind? Dafür wäre ich dir sehr verbunden.”

*  *  *

Eryn folgte Mial in Ganels großflächiges Zelt, das den Vergleich mit dem Hauptraum einer takhaner Residenz nicht zu scheuen brauchte, soweit es Komfort und Stil betraf. Jedenfalls war es ebenso geräumig – und sogar luxuriöser. Das ergab sich womöglich aus dem Bedürfnis, einen möglichst starken Kontrast zur trostlosen Wüste zu schaffen.

Bis auf die beiden Frauen war das Zelt leer. Ganel hatte Enric mit sich genommen um ihm zu zeigen, wo seine Gefährtinnen kunstfertige Stickereien anfertigten, die in der Regel einen guten Preis erzielten. Alwidinar, Stammeshäuptling und Vater der neuen Königin von Anyueel, hatte für das Kommitment-Kleid seiner Tochter ein kleines Vermögen ausgegeben und es mit komplexen Stickereien aus Goldfäden versehen lassen.

Mial bedeutete Eryn, sie solle auf den großen, üppigen Kissen Platz nehmen. Eryn tat wie ihr geheißen und seufzte zufrieden. Sie fühlte sich wie neu geboren. All der Sand, Staub und Schweiß, der an den unangenehmsten Stellen an ihr gehaftet hatte, war nun fort, und ihr Körper war soweit abgekühlt, dass sie sich zur Abwechslung einmal wohlfühlte.

Der Teich, in dem Enric und sie ihr Bad genommen hatten erschien wie aus einer anderen Welt. Das Wasser war so klar gewesen, dass sie bis zum Boden sehen konnten, die Farbe türkis an manchen Stellen, blau an anderen. Der Wasserfall an einem Ende, der das Becken mit kristallklarem, kaltem Wasser füllte, stammte aus dem nahegelegenen Gebirgszug, der die Grenze zu Pirinkar bildete. Das Wasser folgte den Ausläufern der Berge und floss teilweise unterirdisch und rasch genug, um nicht von der Sonne aufgeheizt zu werden.

Sie hatten darin geschwommen und wie ausgelassene Kinder herumgeplanscht. Sie hatte sich erzählen lassen, wie Vran’el Enrics Kleider gestohlen hatte, sodass ihr Gefährte gezwungen gewesen war, vollkommen nackt an all diesen Frauen und Kindern vorbeizulaufen.

Das Bedauern, dass sie diesen wundersamen Ort nicht mit Vedric teilen konnten, hatte einen Moment der Melancholie gebracht. Enric hatte ihr versprochen, mit ihrem Sohn dorthin zurückzukehren und ihm zu zeigen, was es wahrhaftig bedeutete, in der Wüste zu reisen. Und welch wunderschöne Belohnung den Reisenden erwartete, der willens war, den feindseligen, sandigen Weiten zu trotzen.

Ohne zu fragen reichte Mial ihr ein kühles, süßes Getränk. “Ich bin sicher, Ganel und Enric werden bald zurückkehren.”

“Danke. Kannst du dich ein wenig zu mir setzen oder musst du dich dringend um etwas kümmern?”

“Nichts, das nicht warten kann.” Die Frau holte sich selbst ebenfalls etwas zu trinken und nahm dann neben Eryn Platz, bevor sie ein paar Kissen herumschob, um es sich bequem zu machen.

“Kann ich dich etwas fragen? Du musst natürlich nicht antworten. Sag es einfach, falls ich unangemessen neugierig bin,” begann Eryn.

Mial nickte ermutigend.

“Wie gefällt dir das Leben in eurer kleinen Insel mitten in der Wüste? Ich schätze, es gibt nicht viel Gelegenheit für dich, unterwegs zu sein?”

Die ältere Frau lächelte nachsichtig. “Maltheá, wollte ich das Land bereisen, so hätte ich nicht zugestimmt, mich an einen Mann zu binden, der davon beseelt war, in der Mitte von Nirgendwo sein eigenes Reich zu errichten. Das mag nicht jedem zusagen, aber für mich ist es genau das Richtige.”

Eryn betrachtete die andere Frau und fragte sich, ob sie eine der drei Frauen war, die vor ihrem Kommitment mit Ganel misshandelt worden waren. Falls ja, so waren Umstände wie diese, ein stilles Paradies, sehr wahrscheinlich dem, was sie zuvor erdulden hatte müssen, unendlich vorzuziehen.

“Es ist wunderschön hier, das gebe ich zu. Ich wurde von manchen der Häuser auf ihre Plantagen unweit der Berge im Osten und Westen eingeladen, doch nichts, was ich dort gesehen habe, kommt dem nahe, was ihr hier habt. Als ich euren Wasserfall sah, wollte ich meinen Augen nicht trauen.”

“Dann musst du hierher zurückkehren. Mit deinem kleinen Sohn. Malriel besucht uns hin und wieder und erzählt uns immer, wie klug und hübsch er ist.”

Eryn blinzelte. “Das tut sie? Euch besuchen, meine ich.” Sie versuchte sich Malriel in ausgebeulter Wüstenkleidung vorzustellen, anstatt in dem teuren, fließenden Stil, den sie bevorzugte, wie sie freiwillig tagelang zu Pferde unterwegs war, nur um ihren Cousin und dessen zahlreiche Gefährtinnen so weit von der Stadt entfernt zu besuchen.

“Oh, ja. Seit ihrer Reise nach Pirinkar, als sie eine Nacht hier verbrachte, und eine weitere einige Monate später bei ihrer Rückkehr mit Enric und Vran’el, nimmt sie sich ein paar Tage Zeit von ihrem vollen Terminplan, um hierher zurückzukehren. Sie sagt, es sei ein Ort, wo sie sich nicht zu sorgen braucht, wo sie entspannen kann und für kurze Zeit kein Oberhaupt eines Hauses oder eine Triarchin sein muss. Normalerweise tut sie das, wenn ihr auf der anderen Seite des Meeres seid, da sie keine Zeit mit ihrer Familie opfern möchte.”

Eryn nahm einen weiteren Schluck. Malriel war kein Thema, an dem sie festhalten wollte. “Und es macht dir nichts aus, dass Ganel so viele andere Gefährtinnen hat? Ich habe immer nur mit Enric gelebt und fände den Gedanken, ihn teilen zu müssen, ungemein verstörend.”

Mial lächelte. “Es stört mich überhaupt nicht. Wir sind immerhin nicht die Einzigen, die teilen müssen. Er muss uns ebenfalls miteinander teilen.”

Eryn runzelte kurz die Stirn, bevor sie verstand. “Ihr tut also…? Miteinander?”

“Selbstverständlich. Ganel hat im Moment acht Gefährtinnen, also können wir kaum von dem armen Mann erwarten, dass er unser aller Bedürfnisse regelmäßig erfüllt. Er wird auch nicht jünger, und nach einer Weile könnte es ihn umbringen. Nicht alle von uns schlafen mit anderen Frauen, doch die meisten von uns tun es.”

Ach du liebe Güte. Dieses Gespräch ging nicht gerade in eine Richtung, mit der sie sich besonders wohl fühlte. Sie hätte die Frage nicht stellen sollen, wenn sie nicht willens war, sich darin zu vertiefen.

“Aber keine der Frauen hat einen zweiten Gefährten? Dieses Privileg ist Ganel vorbehalten?”

Mial lachte. “Nein, keine. Du denkst, du müsstest uns alle von etwas befreien, das du für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit hältst – ein Mann mit acht Frauen, die für ihn arbeiten müssen, seine Kinder großziehen, alles tun, was er sagt, und uns in seinem Bett abwechseln.”

“Nun, ich…”

“Lass mich dir versichern, dass wir alle dieses Leben freiwillig gewählt haben. Er hat keine Einzige von uns getäuscht hinsichtlich dem, was er von uns erwartet. Für jede Einzelne von uns ist das hier ein viel besseres Leben als das, was uns erwartet hätte, wären wir bei unseren Stämmen geblieben oder das, vor dem wir in manchen Fällen sogar geflohen sind. Ganel ist früher viel gereist und war bei einigen Stämmen zu Gast. Zwei von uns hat er unter beträchtlichem Risiko für ihn selbst befreit, andere suchten ihn auf, und eine von uns wurde von ihrem Vater zu ihm gebracht, der entschied, dass sie dem Stamm Schande gebracht hätte, den Gedanken aber nicht ertragen konnte, sie zu töten.” Sie lächelte. “So sind wir alle hier gelandet. Und deshalb sind wir auch alle dankbar dafür, hiersein zu dürfen. Nur wenige von uns sind in Ganel verliebt, so viel will ich zugeben. Doch wir lieben ihn auf eine andere Weise. Wir schätzen ihn für den Mann, der er ist, für das, was er für uns getan hat, für sein großes Herz. Unsere Kinder sind unser Geschenk an ihn, ebenso wie unsere Bemühungen für das, was er unser gemeinsames Unterfangen nennt und das uns allen den Luxus ermöglicht, den du sonst kaum irgendwo außerhalb der Stadt finden wirst.”

In diesem Augenblick wurden die schweren Vorhänge beiseitegeschoben, und Ganel und Enric traten ein. Eryn war dankbar für ihr Erscheinen und fühlte sich etwas töricht ob der Arroganz, mit der sie diese Frau zu überzeugen versucht hatte, man würde sie kaum besser als eine Dienerin behandeln.

“Ah, welch eine Augenweide”, schmeichelte Ganel, sobald er sie erblickte. “Hattet ihr eine angenehme Wartezeit? Nicht zu angenehm, so will ich hoffen, oder unsere Gesellschaft wäre unwillkommen.”

Mial lächelte. “Ich empfand sie als angenehm. Maltheá ist auf jeden Fall die Tochter ihrer Mutter.”

Eryn war kurz davor zu fragen, weshalb genau man sie auf diese Weise beleidigte, erinnerte sich aber rechtzeitig daran, dass Leute, die Malriel mochten, diesen Vergleich nicht als Beleidigung betrachten würden. Also hob sie nur ihre Augenbrauen und wartete darauf zu hören, was ihre Gesprächspartnerin zu so einem wenig schmeichelhaften Vergleich veranlasst hatte.

“Sie wollte mich überzeugen, dass eine Frau einen einzigen Mann nicht mit so vielen anderen teilen müssen sollte”, lächelte sie, dann ergriff sie Ganels Hand und drückte einen zärtlichen Kuss darauf.

Eryn hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Oder wäre vom Boden verschluckt worden. Beides hätte den Zweck erfüllt. Verlegenheit färbte ihre Wangen rot, und sie setzte dazu an, sich zu erklären.

Doch Ganel warf nur seinen Kopf zurück und lachte mit aufrichtiger Belustigung. “Natürlich! Eine Aren kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie irgendetwas teilen soll – doch ich würde alles, was ich besitze, darauf verwetten, dass sie keinen Einspruch erheben würden, wäre es umgekehrt – wäre ich einer von acht Gefährten einer Frau.”

Eryn wollte widersprechen, schloss aber ihren Mund wieder. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht wirklich näher begründen und in Worte fassen konnte, hatte er Recht – irgendwie hätte es einen Unterschied gemacht, wäre es anders herum.

Ganel, der sie beobachtet hatte, tätschelte ihr gönnerhaft das Haupt. “Ich sehe, dass mein Vermögen sicher ist. Dein Gesicht sagt mir alles.”

Eine weitere von Ganels Gefährtinnen steckte ihren Kopf zum Vorhang herein und fragte: “Das Abendessen ist fertig. Wollt ihr hier drin essen oder draußen mit uns allen?”

“Mit euch”, antwortete Eryn rasch. Sie war froh, dass Ganel nicht böse mit ihr war aufgrund dessen, was Mial ihm erzählt hatte, doch ihr war auch nicht danach, sich für den Rest des Abends von ihm aufziehen zu lassen.

*  *  *

Enric ritt voran, als sie den Pass erreichten, der durch das Gebirge führte.

“Errichte einen Schild”, instruierte er seine Gefährtin und tat das Gleiche. “Sieh zu, dass er auch das Packpferd schützt.”

Sie gehorchte und sah sich dann um, ob irgendeine Gefahr in den Schatten des Nachmittags lauerte, die ihn zu dieser Vorsicht veranlasste. Dann erinnerte sie sich, dass er vor langer Zeit einmal einen Vorfall mit Räubern erwähnt hatte, als er und Vran’el durch dieses Gebiet gereist waren.

Enric war froh, dass sich die Hitze von drückend zu gerade einmal unangenehm wandelte. Als die Felsen auf beiden Seiten in die Höhe zu wachsen begannen und ihnen Schatten spendeten, nahm er seine Kopfbedeckung ab und erfreute sich an der Luft in seinem verschwitzten Nacken.

“Wissen wir, wie groß Pirinkar ist?”, fragte Eryn. “Ich glaube nicht, dass ich jemals irgendwo eine Karte des Landes gesehen habe. Haben wir überhaupt eine?”

“Nein zu beidem. Ich könnte mir denken, dass sie es als strategischen Vorteil erachten, den sie nicht an ein Land weitergeben wollen, bei dem sie stets klargestellt haben, dass sie einen gewissen Abstand wünschen. Und jetzt noch weniger. Das ist immerhin das zweite Mal innerhalb von ein paar Jahren, dass sie kurz vor einem Krieg mit den Westlichen Territorien stehen.”

“Aber Pirinkar besitzt Landkarten von den Westlichen Territorien, vermute ich?”

Enric zuckte mit den Schultern. “Davon gehe ich aus.”

“Und vom Königreich?”

“Das ist ebenfalls wahrscheinlich, würde ich sagen. Wir haben niemals ein großes Geheimnis daraus gemacht, und den Herstellern der Landkarten steht es frei, ihre Produkte an jeden zu verkaufen, der willens ist, ihre Preise zu bezahlen.”

Eryn kaute auf ihrer Unterlippe. “Ist das klug?”

“Das wird sich noch zeigen. Sollte das Schlimmste zum Tragen kommen und Takhan fallen, können wir nur hoffen, dass sie es nicht schaffen, die magische Barriere im Meer zu passieren.”

Diese Aussage beunruhigte sie. “Du denkst also, es bestünde eine realistische Chance, dass sie den Orden besiegen könnten? Zumindest gehe ich davon aus, dass der Orden den Westlichen Territorien in ihrer Stunde der Not beistehen würde?”

“Was Letzteres betrifft, so denke ich das auf jeden Fall. Besonders, nachdem der König das Band zwischen den beiden Ländern gerade mit seinem Kommitment mit Del’na’bened gestärkt hat. Was eine Niederlage betrifft… Es ist immer gefährlich, sich seines Sieges allzu gewiss zu sein. Wir wissen so gut wie nichts über sie, nur dass sie Magier verachten und gut mit mechanischen Geräten sind. Wir haben keine Informationen darüber, ob sie eine stehende Armee haben, wie groß sie ist, wie fähig, ob sie irgendeine Methode entdeckt haben, wie man Magier ohne Magie dingfest machen kann und so weiter. Vielleicht überdenken sie sogar ihre Beschränkungen für Magier und lassen sie nicht nur in den Tempeln heilen, sondern schicken sie in den Kampf, falls eine reale Gefahr besteht, dass sie eine Schlacht verlieren. Ich hoffe nur, es gibt keine Priester, die heimlich Kampfkunst trainiert haben. Das wäre in der Schlacht höchst unbequem. Für uns, meine ich.”

Eine Weile setzten sie ihren Weg schweigend fort, Enrics Augen stets auf die Umgebung gerichtet.

Eryn entschied sich, ein weiteres Thema anzusprechen. “Wegen dieser Besessenheit mit vollen Namen… Lam, Etor und Gistor sind ihre Titel, die mit akademischen Erfolgen zusammenhängen. Holm, Reig und Legen sind Familienpositionen. Und dann sind da noch zwei weitere für Priester, die ich aber vergessen habe. Das macht mich zu…” Sie nahm sich einen Moment Zeit, um die Teile zu kombinieren. “Lam Eryn, Reig von Haus Vel’kim.”

Enric lächelte, was Eryn nicht sehen konnte, da sie hinter ihm ritt. “Die Papiere, die die Triarchie für uns vorbereit hat, hast du dir nicht angesehen, oder?”

“Nein. Warum?”

“Darin steht, was man in Pirinkar als unsere vollständigen Namen betrachten wird.” Er wühlte in der ledernen Tasche, die er um seinen Brustkorb geschlungen trug, und zog die besagten Papiere hervor. Er hielt sein Pferd an, bedeutete Eryn so nahe heranzukommen wie der schmale Pfad es gestattete, und streckte seine Hand aus, um ihr die Dokumente zu reichen.

Sie faltete sie auseinander und überflog die erste Seite, bis sie die Namen fand. Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden. Lam, weil er seine Rechtsstudien in Takhan beendet hatte. Reig, weil er Malriels Erbe war. Dahinter seine Funktion. Genau so hätte sie selbst es auch kombiniert.

Sie las den Namen, der auf der nächsten Seite stand, und runzelte die Stirn. Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan.

“Was für ein Unsinn ist das denn? Ist der Titel Gistor nicht dermaßen abgehoben, dass man ihn nicht einmal durch bloße Studien, sondern nur durch irgendeine außergewöhnliche Leistung erlangen kann? Und warum Forscherin und nicht Heilerin?”

“Deine Studien im Bereich des Heilens waren umfangreich genug, um einen höheren Titel als Lam zu rechtfertigen, und deine eindrucksvollen Entdeckungen in verschiedenen Bereichen sollten ausreichen, um dich mit den höchsten Ehren zu versehen. Was deinen Beruf als Heilerin anbelangt – man hat uns gewarnt, die Leute nicht an den Makel unserer Magie zu erinnern. Und genau das würde dein Heilerberuf tun, und zwar jedes Mal, wenn dich jemand grüßt. Außerdem ist es ein bequemer Ausdruck, falls wir erklären müssen, wie du den Titel Gistor verdient hast. Eine Forscherin zu sein bedeutet, dass die Entdeckung neuer Dinge deine Berufung ist.”

“Sie nennen dich Stellvertreter im Orden”, entgegnete sie. “Weshalb soll das nicht ständig an deine Magie erinnern? Der Orden ist eine Organisation für Magier!”

“Doch keine, mit der viele von ihnen vertraut sind. Aus diesem Grund haben sie auch nicht Orden der Magier geschrieben. Wenn jemand fragt, was der Orden ist, kann ich immer noch antworten, dass es sich dabei um eine Institution handelt, die sich der militärischen Verteidigung des Landes verschrieben hat. Alles in allem wäre das keine Lüge. Und es würde sie daran erinnern, dass wir nicht ganz so nachlässig waren wie unsere Freunde in den Westlichen Territorien, wenn es darum geht, unsere Kampffertigkeiten zu trainieren.”

Eryn faltete die Papiere wieder und reichte sie Enric zurück. “Ich glaube noch immer, dass es anmaßend ist, wenn ich einfach davon ausgehe, dass ihr höchster Titel angemessen für mich ist.”

Er steckte die Dokumente zurück in seine Tasche und ritt weiter.

“Du bist nicht diejenige, die davon ausgeht, Liebste”, meinte er über seine Schulter. “Sondern die Triarchie. Das bedeutet, dass es nur zu Verwirrungen führen würde, wenn du versuchst bescheiden zu wirken und dich stattdessen Lam oder Etor nennst. So steht es immerhin nicht auf den Papieren. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass man Regeln dort unterwürfigst folgt. Wenn deine Papiere nicht zu dem passen, wer du zu sein behauptest, mag es sein, dass sie dich nicht einmal nach Kar hineinlassen.”

“Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan”, murmelte sie mehrmals, um den Namen in ihrem Gedächtnis zu verankern. “Was ist mit uns beiden? Werden wir uns gegenseitig mit unseren vollen Namen ansprechen, wenn uns jemand hören kann, oder darf es etwas zwangloser sein, da wir miteinander verbunden sind?”

“Wir können uns der Kurzformen unserer Namen bedienen.”

“Wird das in meinem Fall Maltheá oder Eryn sein? Können wir von ihnen verlangen, dass sie das akzeptieren oder werden sie mich aus ihrer Stadt werfen, wenn ich sie zu sehr verwirre?”

“Zwischen uns beiden ist Eryn in Ordnung, würde ich meinen. Wir können immer noch behaupten, es wäre eine Art liebevoller Kosename, den ich für dich habe.”

Sie nickte, zufrieden mit dieser Lösung. Ohne ihren Sohn an einem fremden und womöglich feindseligen Ort verweilen zu müssen war schlimm genug, aber sich von Enric mit dem Namen ansprechen lassen zu müssen, der ihr verhasst war, weil er sie zu sehr an Malriel erinnerte, wäre zu viel.

“Wir werden ihnen erklären müssen, weshalb deine Gefährtin der Frau, die alle für deine Mutter halten, dermaßen ähnlich sieht”, erinnerte sie ihn. “Wir könnten ihnen erklären, dass wir Geschwister sind. Was rechtlich gesprochen nicht einmal so weit von der Wahrheit entfernt wäre.”

Enrics Schultern hoben und senkten sich mit einem Seufzen. “Wir versuchen sie dazu zu bringen, dass sie mit uns zusammenarbeiten, anstatt uns noch mehr abzulehnen. Es ist schon schlimm genug, dass wir Magier sind – wir können ihnen nicht den Eindruck vermitteln, wir kämen von einem Ort, wo es Bruder und Schwester gestattet ist – oder sie sogar dazu ermutigt werden – sich fortzupflanzen.”

“Ich war deine Gefährtin, bevor ich deine Schwester wurde”, grinste sie, wissend, dass er es nicht leiden konnte, wenn sie sich als seine Schwester bezeichnete.

“Bleiben wir einfach bei der Wahrheit, in Ordnung? Das ist in diesem Fall das geringere Übel. Und da viele von ihnen Malriel noch immer misstrauen, mag es dir ihren guten Willen einbringen, dass du ihre Familie offiziell verlassen hast. Eure Ähnlichkeit macht es schlussendlich unmöglich, jedwede Verbindung zwischen euch abzustreiten.”

“Weißt du, wenn diese Leute mich lieber mögen, weil ich mich von Malriel gelöst habe, dann können sie eigentlich so schlimm nicht sein.”

“Gewiss nicht alle von ihnen. Aber lass uns nicht vergessen, dass sich ein paar davon immer noch als Kriegstreiber versuchen.”

Eryn rümpfte die Nase. “Ach ja, da war diese Kleinigkeit.”

*  *  *

Auf dem Weg die Schotterstraße entlang knurrte Eryns Magen. Sie wusste, dass es nur mehr eine Frage von ein paar Stunden war, bis sie die Stadt Kar erreichten, doch in diesem Moment erschien ihr der Gedanke daran, noch dermaßen lange auf eine Mahlzeit warten zu müssen, beinahe unerträglich. Die Alternative war jedoch auch nicht besonders attraktiv.

Wüstenbewohner wussten, wie man Verpflegung für längere Reisen haltbar machte, und Haltbarkeit war in der Tat die hervorstechendste Eigenschaft. Ganz eindeutig war sie nicht dafür gedacht, kulinarische Befriedigung zu schaffen, sondern den Reisenden lediglich am Leben zu erhalten, bis er einen Ort erreichte, an dem ordentliches Essen verfügbar war.

Bislang hatten sie dreimal ihr Lager aufgeschlagen, doch da Eryn alles verweigerte, was Enric erjagte, ersparte er sich den dafür erforderlichen Aufwand. Stattdessen hatten sie versucht, die getrocknete Nahrung über dem Feuer zu rösten, um den Geschmack zu verbessern. Es hatte nicht funktioniert.

Die Landschaft war wahrscheinlich das Hauptproblem, sinnierte Eryn. Sie bot nicht ausreichend Abwechslung oder exotische Fremdartigkeit, um sie von ihrem Hunger abzulenken. In der Wüste war sie bestrebt gewesen, jede Körperstelle zu bedecken und ihr Innenleben ausreichend mit Wasser zu versorgen, ohne aber ihren Wasservorrat zu rasch zu verbrauchen. In den Bergen hatte sie sorgsam darauf geachtet, weder ihr Reittier, noch das Packpferd gegen eine harte Oberfläche stoßen oder ausrutschen zu lassen. Zusätzlich dazu hatte sie ihre Augen nach Banditen offengehalten. All das war nach der Wüste eine willkommene Abwechslung gewesen. Es war kühler, die Sonne schmerzte weniger in den Augen, alles war weniger sandig und monoton. Nachdem sie das Gebirge überquert und die Ausläufer erreicht hatten, fanden sie sich beinahe von einer Minute zur nächsten in einem opulenten Urwald wieder, der ein solch absurder Kontrast zu dem war, was auf der anderen Seite lag, dass Eryn dies alles zuerst einfach nur sprachlos angestarrt hatte. Vran’el hatte ihr vor einiger Zeit davon erzählt, doch sie hatte es lediglich seiner Neigung zur Übertreibung zugeschrieben.

Nach der Überwindung ihres Schocks hatte sie voller Entzücken festgestellt, dass die Insekten, die die Schlafkrankheit übertrugen, von hier kommen mussten. Aufmerksam hatte sie die Augen offengehalten, enttäuscht, als sie keines entdeckt hatte, das den Bildern und der Beschreibung in dem Buch entsprachen, das Enric ihr vor ein paar Jahren geschenkt hatte. Sie hatte das Enric gegenüber erwähnt, doch er hatte nur gelächelt und seine Erleichterung zum Ausdruck gebracht.

Es dauerte nur ein paar Stunden, um durch diese grünen aber dunstigen Gefilde mit Bäumen, die höher wuchsen als alle, die Eryn bisher gesehen hatte, zu reiten. Die Luft war mit so viel Wasser geschwängert, dass ihre Kleider bereits nach ein paar Minuten an ihren Körpern klebten. Es war eine andere Hitze als die, die sie von der Wüste her kannte. Als würde die Luft das Wasser aus ihren Poren saugen und sie damit rascher ermüden als es die trockene, gnadenlose Hitze in den Westlichen Territorien vermochte.

Enric, stets bereit und willig, diejenigen weiterzubilden, die weniger gut informiert waren als er selbst, erklärte ihr, wie die Berge die Wolken am Durchkommen hinderten und sie damit zwangen, all ihre Feuchtigkeit regelmäßig auf dieser Seite des Gebirges abzugeben.

Eryn sah bald, dass dieses überbordend üppige Wachstum lediglich auf ein vergleichsweise kleines Gebiet beschränkt war. Je weiter sie die Berge hinter sich zurückließen, desto mehr wandelte sich die Landschaft zu dem, was sie vom Königreich her kannte. Die Ränder der Wälder, an denen sie vorbeikamen, bestanden sogar aus den gleichen Baumarten, die Eryn von zuhause bekannt waren, und es gab weitläufige Wiesen, wo sie einige der Kräuter wiedererkannte.

Sie folgten der leichten Steigung auf einen Hügel, und Eryn erstarrte, als plötzlich die Stadt Kar vor ihr erschien, angeschmiegt an den Rand eines riesigen Sees, der eine Biegung machte als wollte er die Masse an farbenfrohen Häusern sanft umarmen und Schutz vor jeglichen destruktiven Elementen versprechen, die sich nähern mochten.

Enric lächelte über ihr Erstaunen. “Ein beachtlicher Anblick, nicht wahr?”

“Es ist so… farbenfroh. Das ist seltsam. Das ist überhaupt nicht das, was ich von einem Ort erwartet habe, der mir als nüchtern und in seinem blinden Regelgehorsam irgendwie trostlos beschrieben wurde.” Sie sah noch einmal hin. Genau wie in Takhan gab es keine Stadtmauer. Hielten sie den See wirklich für eine unüberwindbare Barriere für Eindringlinge? Dass sie in der Lage wären, auf Boote zu schießen – und zu treffen – die sich mitten in der Nacht über den See wagen mochten? Oder waren sie dermaßen zuversichtlich, dass es kein Feind weit genug schaffen würde, um ihre Stadt tatsächlich anzugreifen? Entweder verbargen sie eine mächtige Waffe in ihrer Stadt, oder sie setzten dermaßen großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, dass es schon an Vermessenheit grenzte.

“Ein Ort voller Kontraste”, nickte Enric. “Übrigens, ein wenig weiter vorn an der Kurve bei diesem breiten Baum bin ich damals vom Pferd gefallen, als du Vedric zur Welt gebracht hast.”

Sie lächelte, ohne auch nur eine Spur an Mitgefühl zu zeigen. “Nun, ich kann nur sagen, dass das hier jedenfalls ein wesentlich angenehmerer Ort war als das Zimmer in der Klinik, in das sie mich gesteckt haben.”

“Lass mich dir sagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt kaum die Nerven hatte, die Landschaft zu bewundern”, erwiderte er etwas übellaunig, weil sein Leiden verharmlost wurde.

“Lustig, ich war mir meiner Umgebung damals sehr bewusst. Ich erinnere mich an die Bilder, die sie an der Wand hatten. Noch immer haben, sollte ich wohl sagen. Fröhliche kleine Skizzen von Kindern, die in den Straßen spielen und so etwas in der Art. Szenen, die zweifellos dazu gedacht waren, die armen, leidenden Mütter daran zu erinnern, warum sie sich das alles antaten. Bei mir hat das allerdings nicht funktioniert. Wäre ich in der Lage gewesen aufzustehen, hätte ich sie von den Wänden gerissen und zertrümmert.”

Er lachte. “Du bist wohl die einzige Frau, die ich kenne, die aggressiv wird, wenn man sie Dingen aussetzt, die im Allgemeinen als beruhigender Einfluss verstanden werden.”

Ihre Aufmerksamkeit kehrte zurück zu der Stadt vor ihnen, und sie staunte, wie das Wasser rundherum sie wie einen mehrfarbigen Edelstein in einer glänzenden, blauen Fassung erschienen ließ.

“Weißt du”, sinnierte Eryn, besänftigt durch den prächtigen Anblick, “jetzt, wo ich den Ort tatsächlich sehe, erscheint es mir nicht mehr so entsetzlich, dorthin zu gehen. Jetzt gerade habe ich das Gefühl, als gäbe es keine Herausforderung, die wir hier nicht meistern könnten.”

Enric erwiderte nichts darauf. Ihm war nicht ganz so zuversichtlich zumute.

Sie setzten ihren Weg fort, dann griff er nach ihren Zügeln, um ihr Pferd anzuhalten, als ihm ein plötzlicher Gedanke kam.

“Du hast gelernt, wie man Schilde errichtet und sie an die Lebenskraft einer Person bindet, nicht wahr? Genau wie der Schild, den Ved’al in deinem Inneren platziert hat, als du ein junges Mädchen warst? Nachdem er dich vor dieser Vergewaltigung bewahrt hat?”

Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch. “Ja, das habe ich. Es war keine Fertigkeit, die ich für das Zertifikat in Takhan brauchte, aber Valrad hat mir vor ein paar Jahren gezeigt, wie es funktioniert. Bedeutet das, du möchtest, dass ich wieder so einen Schild in mir errichte? Bevor wir Kar betreten?”

“Mir wäre wohler, wenn du das tätest, ja.”

Kurz zog Eryn eine Diskussion in Betracht, entschied sich aber dagegen. Es war eine Kleinigkeit ohne irgendwelche unerwünschten Nebenwirkungen, die ihn beruhigen würde. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich darauf, einen Schild um ihre Fortpflanzungsorgane zu errichten, erweiterte ihn bis er den Zutritt sperrte wo Enric darauf beharrte, dass außer ihm niemand hindurfte. Das war der einfache Teil. Nun, einfach für jemanden, der sich mit den genauen Eigenschaften wie Durchlässigkeit und Stärke auskannte, die für einen Schild an diesem exakten Fleck und zu diesem Zweck erforderlich waren. Hier ging es nicht nur darum, eine Barriere zu errichten, die alles aufhielt, was aus irgendeiner Richtung auf sie zukam. Es gab Flüssigkeiten, die in unterschiedliche Richtungen durchfließen mussten. Und Enric musste weiterhin hindurch können.

Der zweite Teil bestand darin, die Barriere zweifach zu verknüpfen. Einerseits bedurfte es einer Energiequelle, die sich nicht einfach durch einen goldenen Gürtel oder Handschellen unterbrechen ließ, sondern die den Schild weiterhin versorgte, ganz egal, was auf der Außenseite geschah. Diese Energiequelle war nicht von der starken, bewusst eingesetzten Magie abhängig, sondern der tieferliegenden, die in jedem Tropfen Blut und jedem winzigen Stück Gewebe in ihrem Körper eingebettet war. Dieser beinahe nicht spürbare weil so niedrige Level an Magie würde erst dann aufhören zu existieren, wenn der Körper, dem sie innewohnte, verstarb.

Die zweite Verbindung war die zu ihren Gefühlen. Die waren der Auslöser dafür, wie durchdringbar der Schild war. Außer Lust gab es noch eine Reihe an positiven Gefühlen, die die Barriere deaktivieren und damit den Zutritt ermöglichten. Jedes Gefühl von Bedrohung, Ekel, Angst, Misstrauen oder Ärger von ihrer Seite würde sie jedoch unpassierbar und damit jeden Geschlechtsverkehr mit ihr unmöglich machen. Außerdem würde der Angreifer unerträgliche Schmerzen in seinen Genitalien erleiden, die ihn sehr wahrscheinlich davon abhalten würden, so etwas in absehbarer Zeit noch einmal zu versuchen.

Nachdem beide Verbindungen sachgemäß etabliert waren, öffnete sie die Augen wieder. “Erledigt.”

“Danke”, lächelte er und ergriff ihre Hand, um sie zu küssen. “Das ist mir wichtig. Ich schätze es auch, dass du das für mich tust, obwohl ich sehen kann, dass du es nicht für nötig befindest.”

“Wenn es nichts weiter als das braucht, um dir zumindest ein wenig Sorge zu ersparen, dann komme ich diesem Wunsch gerne nach.”

Erneut nahmen sie den letzten Teil ihrer Reise in Angriff.

“Vedric wäre begeistert gewesen von den farbenfrohen Häusern”, murmelte Enric. “Und von dem See. So etwas hat er noch nie gesehen.”

“Das musstest du jetzt unbedingt sagen, was?”, seufzte sie und verspürte einen Stich von Traurigkeit, obwohl ein kleiner Teil von ihr dankbar war, dass sie nicht die Einzige war, die ihren Sohn vermisste.

Er zuckte mit den Schultern, dann runzelte er die Stirn. “Wir sollten eine rasche Pause einlegen und etwas essen. Entweder bin ich wirklich hungrig, oder das Geistesband sagt mir, dass du es bist. Jedenfalls habe ich nicht vor, mit einem knurrenden Magen in der Stadt einzutreffen, egal, wessen Magen es ist.”

“Großartig”, brummte Eryn ohne jede Begeisterung, “noch mehr gepresste Hobelspäne.”

“Das ist jetzt aber nicht fair”, grinste er. “Woher willst du wissen, wie Hobelspäne schmecken? Ich gehe davon aus, dass du noch nie welche probiert hast.”

“Ich habe ein recht gutes Vorstellungsvermögen”, knurrte sie voller Unmut darüber, dass er ihren aus ihrer Sicht angemessenen Vergleich in Frage stellte.

“Gut. Dann kannst du einfach deine Augen schließen und dir vorstellen, es wäre etwas Wohlschmeckendes anstatt dich zu beklagen.” Er ließ unerwähnt, dass seine Erinnerung an die Küche in Pirinkar nicht gerade angenehm war. Wenn er ihre Hoffnung zerstörte, dass in der Stadt erheblich höherwertige Speisen auf sie warteten, würde sie das nur noch mehr deprimieren.

Kapitel 2

Kar

Enric brachte sein Pferd zum Stehen und stieg bedächtig und kontrolliert ab. Er wusste, dass die Stadtwachen, die auf der Brücke standen um ihnen den Zutritt in ihre Hauptstadt zu verwehren, ihn nicht einfach so angreifen würden, solange er sie nicht provozierte. Konnte er jedoch keine Dokumente vorweisen, die bestätigten, dass ihm die Erlaubnis zum Betreten der Stadt erteilt worden war und er sich weigerte sich zurückzuziehen, dann würden sie das allerdings sehr wohl tun.

Dennoch, es empfahl sich stets respektvolle Bedachtsamkeit, wenn man sich einer überlegenen Anzahl an potentiellen Angreifern gegenübersah. Obwohl diese sehr wahrscheinlich keinerlei Chance hatten gegen Eryn und ihn selbst zu bestehen, wenn es hart auf hart kam, so war es niemals klug, andere zu unterschätzen. Die fünf Männer in blauen und grauen Uniformen mit metallenen Helmen und Brustpanzern hielten ihre Waffen auf eine Art, die nicht wirklich bedrohlich wirkte, der aber das Versprechen innewohnte, dass sich das von einem Moment auf den nächsten ändern konnte.

“Ein Stock mit einem Stachel darauf”, flüsterte Eryn. Für sie mutete das nach einer seltsamen Kreuzung aus einem landwirtschaftlichen Werkzeug und einer Waffe an. Ihre Kompetenz im Kampf, die der Orden ihr entgegen ihren Wünschen vermittelt hatte, lenkte ihre Aufmerksamkeit – beinahe unbewusst – auf die Waffen.

In einer Hand hielt jeder von ihnen einen langen, hölzernen Stock, der einen erwachsenen Mann überragte und an dessen Ende ein spitzes, unregelmäßig geformtes Metallstück befestigt war. Keine elegante Waffe, auch keine, die für den Kampf gedacht war. Ihr Zweck bestand eher darin, Leute auf Distanz zu halten und den langen Griff als Barriere zu nutzen, um den Zutritt zu verwehren. Was nicht bedeutete, dass der Stachel an der Spitze nicht beträchtlichen Schaden anrichten konnte. Allerdings wohl kaum bei einem ausgebildeten und mit einem Schwert bewaffneten Kämpfer.

Doch eine eingehendere Untersuchung ihrer Uniformen zeigte ihr, dass dies ebenfalls zur Ausstattung gehörte. Ebenso wie ein Messer in Scheiden an ihren Gürteln. Sie wirkten gut vorbereitet auf körperliche Auseinandersetzungen, ganz egal, ob ihre Gegner lediglich auf Abstand, mit dem Schwert auf mittlere Distanz in Schach gehalten, oder aus der Nähe mit dem Messer verletzt werden mussten. Wenn man davon ausging, dass die Wachen darin ausgebildet waren, mit all den Waffen auch umgehen zu können, die sie bei sich trugen, so empfahl es sich wohl, sie nicht leichtfertig herauszufordern.

Dennoch bezweifelte Eryn, dass die Männer für sie selbst und Enric eine besondere Bedrohung darstellten. Zumindest solange sie und ihr Gefährte Magie zur Verfügung hatten, die Wachen jedoch nicht. Nach dem zu urteilen, was sie über Pirinkar gelesen und gehört hatte, würde man Männer mit magischen Fähigkeiten nicht zu Wachen ausbilden, sondern sie den Tempeln übergeben, wo Heilen der einzige Beruf war, zu dem sie Zugang hatten. Ähnlich wie alle Magier in Anyueel gezwungen waren, dem Orden beizutreten, obgleich dies als Privileg und keineswegs als Strafe betrachtet wurde.

Eine seltsame Vorstellung, dass das, was sie ihr Leben lang getan hatte, was sie trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten immer weiter verfolgt hatte, in diesem Land ein Brandmal darstellte. Es bedeutete, dass man auf eine bestimmte Weise geboren wurde. Die gleiche Weise, auf die auch sie zur Welt gekommen war.

Enric hatte in der Zwischenzeit ihre Papiere aus einem flachen Beutel im Inneren seiner Tunika hervorgezogen und übergab sie dem Mann, dessen Auftreten und eine Spur aufwändiger verzierte Uniform nahelegten, dass er einen höheren Rang bekleidete. Der Mann nahm die Papiere ohne irgendein Anzeichen von höflichem Interesse oder Freundlichkeit entgegen, dann trat er beiseite und gab damit den Blick frei auf eine adrette Frau in ihren mittleren Vierzigern. Ihr Gebaren war nicht wesentlich freundlicher als das der Wachen, doch ihr Blick wurde eine Spur weicher, als er auf Enric fiel. Genau wie bei ihrer ersten Begegnung vor einigen Jahren war ihr hellbraunes Haar im Nacken zu einem festen Knoten gebunden, und ihre Kleidung war nüchtern und förmlich. Ein paar zusätzliche graue Strähnen zeigten sich.

“Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, begrüßte er sie mit einem Lächeln. “Es ist ein Vergnügen, dich wiederzusehen. Es scheint, dass in Kar einzutreffen für mich für immer mit deinem Gesicht verbunden sein wird.”

Ein Mundwinkel der Frau zuckte kurz, als unterdrückte sie einen Anflug von Belustigung, während sie die Papiere in Empfang nahm, die der Wachmann ihr überreichte. Oder womöglich war sie lediglich erfreut darüber, dass er sich noch an ihren vollen Namen erinnerte, wollte es aber nicht zeigen.

Nachdem sie die erste Seite überflogen hatte, blickte sie mit einer beinahe unmerklich hochgezogenen Braue zu Enric auf.

“Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden. Lam. Du hast dich seit deinem letzten Aufenthalt hier also gebildet”, bemerkte sie ohne jedwede Begrüßung.

“Das habe ich. Ich habe Recht studiert”, erwiderte Enric freundlich.

Lam Ceiga kehrte zu den Dokumenten in ihrer Hand zurück. Nach einigen Sekunden blätterte sie zur zweiten Seite mit Eryns Details. Als sich sämtliche Informationen als deckungsgleich mit den Papieren, die sie vorab erhalten hatte, erwiesen, suchten und fanden ihre Augen die zweite Besucherin.

Enric beobachtete, wie sich ihre Augen vor Schock leicht weiteten, nachdem sie Eryns genauer in Augenschein genommen hatte. Ihre Augen sprangen zurück zu den Papieren in ihrer Hand, als wollte sie den Namen darauf noch einmal überprüfen.

“Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan?”, fragte sie dann, wie um sicherzugehen, dass trotz dieser unglaublichen Ähnlichkeit kein Fehler in ihren Schriftstücken vorlag.

“Ja, das wäre ich”, nickte Eryn, schwang sich von ihrem Pferd und trat neben ihren Gefährten. Sie unterdrückte ein Schaudern darüber, wie seltsam ihre Muttersprache aus dem Mund dieser Frau klang. Die Menschen in den Westlichen Territorien klangen ebenfalls anders als jene in Anyueel, doch ihre Aussprache war melodischer. Die Leute im Norden verzerrten sie mit den für die hiesige Sprache so typischen harten Lautäußerungen.

“Und ja, ich sehe Malriel von Haus Aren auf frappierende Weise ähnlich, was niemanden so sehr verstört wie mich selbst”, fügte sie hinzu, als Lam Ceiga sie weiterhin anstarrte.

Das veranlasste die andere Frau, sich zu räuspern und wieder am Riemen zu reißen.

“Vergib mir, Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan. Deine Papiere sind augenscheinlich in Ordnung.” Mit einer Handbewegung wies sie die Wachen an beiseite zu treten und den beiden, die nun offiziell Gäste anstatt Eindringlinge waren, Zutritt zu gewähren. Zumindest vorläufig.

Eryn und Enric folgten ihr in die Stadt, während sie ihre Pferde mit sich führten. Entweder hielt man es hier nicht für nötig, erschöpften Reisenden die Pferde abzunehmen, oder man wollte ihnen demonstrieren, dass sie alles andere als willkommen waren. Eryn kämpfte gegen ein leichtes Gefühl der Enttäuschung an, dass nicht Erbál derjenige war, der sie in Kar empfangen hatte. Ein ehrliches Lächeln wäre wesentlich ansprechender gewesen als das kühle Benehmen dieser Frau.

“Eure Pässe, damit ihr euch in der Stadt bewegen könnt, wurden bereits ausgestellt”, erklärte Lam Ceiga ohne sich umzudrehen, während sie flotten Schrittes vor ihnen hermarschierte. “Lam Erbál, Legen der Ferals, Botschafter in Kar, bestand darauf, euch diese Bürokratie bei eurer Ankunft zu ersparen und hat es auf sich genommen, alles selbst zu erledigen. Die Dokumente befinden sich zurzeit in seinem Gewahrsam.”

Eryns Aufmerksamkeit wanderte von ihrer Führerin zu ihrer Umgebung. Die Straßen bestanden aus großen, flachen, quadratischen Pflastersteinen, die ihr Muster veränderten, sobald kleinere Straßen und Gassen von dem abzweigten, was eindeutig die Hauptstraße sein musste. Sie war überrascht, wie sauber die Straßen wirkten, obwohl ihr Enric vor einigen Jahren davon berichtet hatte.

Und dann die Gebäude. Die meisten davon waren auf eine kuriose Weise konstruiert. Unten befand sich ein Steinfundament etwa so hoch wie sie selbst. Darüber befand sich eine seltsam geometrisch anmutende Anordnung von Holzbalken, deren Zwischenräume mit irgendeinem anderen Baumaterial aufgefüllt und dann mit einer Farbe im Spektrum von weiß bis dunkleren Erdfarben gestrichen waren. Sie ragten zwei bis vier Stockwerke empor.

Ganz so, als wollten sie dem seltsam korrekten und geordneten Gefühl dieses Ortes mit den ordentlichen Häusern und düster gekleideten Menschen entgegenwirken, hatten die meisten Fenster außen so etwas wie Kisten befestigt, aus denen eine Auswahl an Pflanzen mit hell leuchtenden Blüten wuchsen. Keine Kochkräuter oder Medizin; soweit Eryn das sehen konnte, dienten die Pflanzen rein dekorativen Zwecken.

Die äußere Erscheinung der Menschen erschien ebenfalls seltsam eintönig, als sie deren Kleidung studierte. Nicht jedoch ihre Haut- und Haarfarben. Eryn staunte über diese Vielfalt, die sich so unglaublich von den beiden Ländern unterschied, die sie kannte und in denen sie lebte. In Anyueel waren die Straßen von blonden Menschen dominiert, wenngleich sich dies in den kommenden Jahren ändern würde. Mit der Rückkehr der Magie in Frauen kehrten auch dunklere Haarfarben zurück. Und in den Westlichen Territorien waren die Leute dunkelhaarig und gebräunt von der unablässigen Wüstensonne.

Weder Enric mit seinem hellen Haar und seiner vergleichsweise blassen Haut, noch Eryn mit ihrem dunklen Haar und der nur leicht dunkleren Haut wirkten hier fehl am Platz. Sie war erleichtert, dass ihnen hier niemand besondere Aufmerksamkeit zu widmen schien. Enric hatte dafür gesorgt, dass sie Kleidung einpackten, die sie an einem Ort, wo Blumen das Einzige zu sein schienen, wo helle Farben gewünscht oder zumindest toleriert wurden, nicht hervorstechen würden.

“Komm weiter”, instruierte Enric sie leise. “Du kannst dich später umsehen, sobald wir untergebracht sind. Wenn wir sie verlieren, werden wir uns Ärger einhandeln ohne die Pässe, die uns gewisse Freiheiten dahingehend gewähren, dass wir uns unbeobachtet bewegen können. Oder so unbeobachtet, wie wir hier jemals sein werden.”

Eryn nickte und beschleunigte ihren Schritt ein wenig. Er hatte Recht. Lam Ceiga schien es nicht groß zu kümmern, ob man ihr folgen konnte oder nicht, und sie würde sich wohl nicht einmal die Umstände machen, nach ihren Gästen zu suchen, falls sie sich verirrten.

Einige Minuten später erreichten sie ein Gebäude, drei Stockwerke hoch, das zur Gänze aus hellbraunem Stein bestand. Es wirkte auf seltsame Weise elegant und wohlhabend.

Es gab drei unterschiedliche Fenstergrößen, obwohl alle davon unten eckig waren und sich nach oben zu einem Bogen krümmten, wie kleine Stadttore. Das Haus war asymmetrisch – eine Hälfte der Fassade stand weiter hervor als die andere. Etwas, das wie ein halber Zylinder aussah und sich nach oben über die Höhe eines Stockwerks entlang der Außenmauer erstreckte, ragte hervor. Es schien, als hätte jemand nachträglich entschieden, den im Inneren verfügbaren Platz zu erweitern, indem man dem Stockwerk noch einen Teil hinzufügte. Das seltsame Element war mit aufwändigen Steinschnitzereien und Säulen dekoriert, die die gleiche Art von halb-eckigen, halb-runden Fenstern umrahmte, die man auch rundherum fand.

Lam Ceiga gewährte ihnen nicht viel Zeit, um ihren Bestimmungsort zu betrachten, sondern klopfte an die ausladend verzierte Holztür mit ihrem Mittelstück aus zu blumigen Elementen geschmiedetem Eisen, umrahmt mit teilweise vergoldeten und teilweise unbemalten Holzschnitzereien.

Das hier war offensichtlich ein gehobener Stadtteil mit wohlhabenderen Einwohnern, vermutete Eryn. Zumindest sofern sie das beurteilen konnte, wenn sie die Gebäude in dieser Gegend mit denen verglich, die sie beim Betreten der Stadt erblickt hatte. Und Erbál war wichtig genug, damit man ihm solch eine Unterkunft gewährte. Gut. Das würde sich für ihre Mission hier zweifelsohne als nützlich erweisen. Daraus ließ sich ableiten, dass er die Art von einflussreichen Kontakten pflegte, die hinsichtlich ihrer Umgebung an einen gewissen Luxus gewöhnt waren.

Die Tür wurde geöffnet, und Eryn musste zweimal hinsehen um sicherzugehen, dass dies wahrhaftig ihr Freund Erbál war, der vor ihr stand. Was hatte man ihm bloß angetan? Er sah genau wie einer von ihnen aus!

*  *  *

Sie folgten dem Botschafter eine Treppe mit einem umständlich verzierten Handlauf auf einer Seite hinauf.

Enric sah, wie Eryn Erbál’s Rücken anstarrte, noch immer fassungslos über sein massiv verändertes Aussehen. Er konnte ihre Bestürzung nachvollziehen, teilte sie sogar bis zu einem gewissen Grad, obwohl er wusste, dass es für einen Diplomaten nur logisch und empfehlenswert war, sich soweit an sein Gastland anzupassen, dass er nicht auffiel. Der Gedanke dahinter war, dass sich die Leute um ihn herum wohler fühlten. Und damit weniger vorsichtig waren.

Er hatte Erbál schon zuvor in weniger aufwändigen Gewändern gesehen, als diese an seinem Geburtsort üblich waren. Bereits vor einigen Jahren hatte er sich an die lokalen Gegebenheiten in Anyueel angepasst, doch das Gleiche auch hier zu tun erforderte offensichtlich, dass er sich noch ein wenig mehr zurücknahm. Sein Haar war in seinem Nacken zusammengebunden und zusätzlich dazu noch – anscheinend mit einer Art Öl – nach hinten gestrichen. So sah es glatt aus, jede einzelne dunkle Strähne, die sonst entweichen hätte können, gezähmt. Seine Beine steckten in engen Hosen, die die Konturen seiner Oberschenkel und Waden umrissen. Es war wohl lediglich der Länge des Hemds und seiner Jacke zu verdanken, dass der gesamte Aufzug nicht mehr preisgab als man als sittlich erachten mochte. Sowohl vorne als auch hinten.

Und selbstverständlich war jedes einzelne Kleidungsstück an ihm in der Farbpalette gehalten, die man tagsüber für Menschen angesehenen – oder auch jeden anderen – Ranges für angemessen hielt: schwarz, braun und weiß.

Sie erreichten den ersten Stock, wo sie ein Raum so überladen mit krausen Schnitzereien auf Möbelstücken, hell gemusterten Stoffen und einer schier unmöglichen Anzahl an zerbrechlich wirkenden Ornamenten auf fast jeder Oberfläche erwartete. Es war, als würde sich das Innere des Hauses nach Kräften bemühen, das düstere Gebaren der Einheimischen auszugleichen.

Eryn, die gerade etwas sagen wollte, sehr wahrscheinlich etwas Abfälliges über Erbáls Erscheinungsbild, stand mit offenem Mund da. Ihre Augen huschten von einem Fleck zum nächsten, als wären sie unschlüssig, was sie zuerst betrachten sollten.

Enric schluckte und trat unfreiwillig einen Schritt zurück, sodass er beinahe auf der obersten Stufe ausrutschte. Sein Geist suchte verzweifelt nach einem ruhigen, schnörkellosen Fleck, der seinen Augen einen Moment lang Ruhe gewähren würde, ohne sie mit dieser Lawine an Farben, Mustern und Formen zu quälen.

“Es ist schon ein Angriff auf die Sinne, wenn man es nicht gewohnt ist”, meinte der Botschafter mit einem entschuldigenden Lächeln. Er trat auf Eryn zu, um sie mit einer Umarmung so zu begrüßen, wie es außerhalb der Ungestörtheit seines Domizils unerwünscht gewesen wäre.

“Auf jeden Fall”, pflichtete Eryn bei und erwiderte die Umarmung fest.

Einige Sekunden später gab Erbál sie frei und nahm stattdessen ihre Hände in seine. Er drückte sie liebevoll und atmete aus. “Ich bin so froh, dass ihr hier seid.” Dann begrüßte er Enric in einer eher formellen Weise bevor er vorschlug: “Ich werde euch das Haus zeigen und euch dann eine halbe Stunde Zeit geben, um euch einzurichten. Dann möchte ich gerne einen Spaziergang mit euch unternehmen.”

“Einen Spaziergang?”, fragte Eryn ohne große Begeisterung nach. Herumzulaufen war irgendwie ein wesentlich unattraktiverer Gedanke, als sich nach der langen Reise einfach zurückzulehnen und ein Glas mit etwas Schmackhaftem zu genießen. Als sie Enric müde nicken sah, war ihr klar, dass er ihre Empfindung teilte. Die Tatsache, dass er keinen Einspruch erhob, hatte nichts mit bloßer Höflichkeit zu tun, wie sie wusste. Es musste bedeuten, dass Erbál einen guten Grund haben musste, um auf diesem Spaziergang zu bestehen.

“Du mit deiner schlichten Erscheinung bildest einen beachtlichen Kontrast zu dieser… reichlichen Fülle hier drin”, kommentierte Eryn. “Mir gefällt nicht, was du mit deinen Haaren gemacht hast.” Sie berührte ihre eigenen. “Von uns wird nicht erwartet, dass wir das auch tun, hoffe ich?” Kurz berührte sie seinen Kopf und verzog das Gesicht über ihre sodann schmierigen Finger.

“Nein, das wird nicht erforderlich sein. Besonders nicht für Frauen”, versicherte ihr Erbál. “Und selbst wenn du dein Haar glätten wolltest, so haben Magier dafür bequemere Methoden zur Verfügung, bei denen sie auf keinerlei Substanzen zurückzugreifen brauchen.”

“Ist das der übliche Stil eines Hauptraumes in Pirinkar?”, erkundigte sich Enric. “Das ist weit von dem entfernt, was ich hier vor einigen Jahren gesehen habe. Allerdings ist dein Wohnsitz auch wesentlich hochwertiger als der Ort, an dem Vran’el und ich untergebracht waren. Wir wurden damals nicht gerade wie willkommene Gäste, sondern wie Eindringlinge behandelt.” Behutsam berührte er eine blasse Porzellanfigur eines tanzenden jungen Mädchens, neugierig, wie glatt und kühl sie sich unter seinen Fingern anfühlen würde.

“In eher… reich begüterten Kreisen ist das der übliche Stil, ja. Hier geht es vor allem darum, deinen Ort der Ungestörtheit, dein Heim, auf eine Weise zu formen, die du selbst ansprechend findest, mit der du aber auch Gäste mit deinem exquisiten Geschmack – und natürlich deinem Reichtum – beeindrucken kannst. Da es hier nicht wirklich Orte wie Musik- und Teehäuser gibt, wie wir sie in Takhan haben, erfüllen sie ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten vorwiegend in ihrem Zuhause. Pirinkar ist in dieser Hinsicht Anyueel ähnlicher. Gaststätten werden als Orte für niedere Klassen und Trunkenbolde betrachtet, während sich die noble Gesellschaft in privaten Häusern trifft.”

Eryn kniff einen Moment lang die Augen zusammen, als sie versuchte, irgendeine Verurteilung oder Andeutung von Snobismus hinter dieser Aussage zu erkennen. Sie konnte nichts davon heraushören und begann sich zu fragen, ob sie hier ihre eigenen Gefühle projizierte. Immerhin hatte er Recht. Mit Freunden zusammenzusitzen, sich am Abend nach Sonnenuntergang über einem netten Glas Tee zu unterhalten oder in einem Musikhaus zu Abend zu essen waren Dinge, die sie jedes Mal schmerzlich vermisste, wenn sie sich im Königreich aufhielt.

Enric versuchte das recht beunruhigende Gefühl beiseite zu schieben, wie wohl ihr Schlafzimmer aussehen mochte. Ebenso vollgestopft mit nutzlosen, zerbrechlichen Staubfängern und so reich verziert mit Stoffen in farbenfrohen Mustern wie dieser Raum hier? Würde er an solch einem Ort überhaupt einschlafen können? Selbst ohne Licht würde er noch immer wissen, dass all dies in der Dunkelheit lauerte, als würde es den Sonnenaufgang abwarten, damit es seine Sinne erneut mit diesem Detailreichtum quälen konnte.

“Ich schlage vor, dass ich euch nun euer Zimmer zeige und ihr euch dann vor unserem Spaziergang ein wenig erfrischt”, schlug Erbál vor und hob eine Hand, um zu einer weiteren Treppe links derjenigen zu deuten, die sie gerade erklommen hatten. “Die Diener werden euer Gepäck im Laufe der nächsten paar Minuten bringen, damit ihr euch waschen und umziehen könnt. Danach hat der Koch eine leichte Mahlzeit für euch bereitet, damit ihr die Zeit bis zum Abendmahl überbrücken könnt.”

Enrics höfliches Lächeln verbarg seinen Mangel an Begeisterung gekonnt. Er hoffte lediglich, dass wohlhabende Leute hier nicht nur bedeutend komfortabler wohnten, sondern auch köstlichere Mahlzeiten einnahmen als die Speisen, an die er sich erinnerte.

*  *  *

Enric seufzte erleichtert, als Erbál die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und dann zur Seite trat, damit sie eintreten konnten. Es war wesentlich weniger überladen mit unendlichen Ansammlungen von Gegenständen als er befürchtet hatte. Er bemerkte auf Eryns Gesicht eine ähnliche Gefühlsregung, als sie hineinging und sich umsah. Allerdings dauerte es nur einen Augenblick, bis die Erleichterung über die sparsame Dekoration Ernüchterung wich. Die einzigen Möglichkeiten hier schienen entweder hoffnungslos überladen, oder schlicht und sogar deprimierend kahl. Der Wechsel von einem zum anderen innerhalb von Sekunden war ein recht massiver Kontrast für einen Verstand, der immer noch versuchte, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen.

Das Zimmer war alles andere als geräumig, als würde man es als frivol ansehen, zu viel Platz auf einen Ort zu verwenden, an dem man sich wohl nicht länger als nötig aufzuhalten hatte. Verglichen mit dem Prunk der anderen Räume, die sie gesehen hatten – diejenigen, die Gäste zu Gesicht bekamen – war diese Kammer nicht nur bescheiden, sondern beinahe asketisch.

“Lass mich raten”, bemerkte er trocken, “man betrachtet frühes Aufstehen hier als Tugend.”

Erbál lachte. “Das stimmt sogar. Die Möblierung der Schlafkammern soll das Aufstehen am Morgen weniger schwierig machen.”

Eryn nahm auf der Matratze Platz und hopste probeweise ein paarmal auf und ab. Oder zumindest versuchte sie es. Es gab keine besondere Federung. Das lud auf jeden Fall kaum dazu ein, länger darauf zu liegen als unbedingt nötig war.

Ihre Miene war wenig erfreut, als sie seufzte: “Das glaube ich sofort. Dieses Bett ist ungefähr so bequem wie der Boden eines Pferdestalls. Womöglich sogar unbequemer.”

“Jedenfalls sticht es nicht so sehr wie ein Heuhaufen”, konterte Erbál, als wäre er darauf bedacht, all das in einem weniger bedrückenden Licht erscheinen zu lassen. “Und es gibt hier drin keine Flöhe.”

“Kleine Freuden…”, murrte Eryn.

Sie fühlte sich ungefähr so erschöpft wie Enric aussah. Solange diese distanzierte und unfreundliche Frau bei ihnen war, hatte er sich die Mühe gemacht das zu verbergen, doch nun war die Maske abgefallen und ließ einen erschöpften Reisenden erkennen, der sich lieber hingelegt als mit ihrem Gastgeber einen Spaziergang durch die Stadt unternommen hätte.

“Ich werde im Salon warten, bis ihr fertig seid”, informierte Erbál sie, dann schloss er die Tür hinter sich.

Enric sank neben ihr auf das Bett. Ein unheilvolles, in die Länge gezogenes Knarren ertönte. Sie erstarrten und tauschten einen leicht beunruhigten Blick, als erwarteten sie, dass das Bett jeden Moment in seine Einzelteile zerfiele.

“Vielleicht geben sie uns ein besseres, wenn wir das hier kaputtmachen”, meinte Eryn in dem Versuch, die Situation mit Humor zu sehen.

“Oder sie flicken dieses hier einfach wieder zusammen”, erwiderte Enric und lehnte sich behutsam zurück, bis er flach dalag, seine Füße noch immer auf dem Boden. “Es ist ungefähr so bequem wie es aussieht.”

“Überhaupt nicht?”

“Genau.”

Eryn kuschelte sich an ihn und bettete ihren Kopf auf seine Schulter. “Bisher bin ich nicht besonders angetan von diesem Ort. Was ist mit dieser Frau nur los? Sind hier alle so, oder ist sie einfach nur verstimmt über unsere Anwesenheit hier?”

Sie spürte, wie sein Brustkorb mit einem Lachen erbebte.

“Tatsächlich war Lam Ceiga dieses Mal sogar freundlicher. Bedenke, dass es sich hier um eine Kultur handelt, in der die Leute selbst dann immens förmlich miteinander umgehen, wenn sie gut bekannt sind. Und zusätzlich ist man hier Fremden gegenüber misstrauisch.”

“Das bedeutet, wir werden eine erhöhte Dosis an Misstrauen zu spüren bekommen, und man wird uns rein aus Prinzip die kalte Schulter zeigen”, seufzte sie. “Ich dachte, das hier würde einfacher werden. Ich habe mich immerhin bereits einmal an eine neue Kultur angepasst.”

Enric zog sie näher an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Mach dir vorerst keine Sorgen. Das ist nur der erste Schock darüber, dass hier alles so anders ist, als du es kennst. In mancher Hinsicht sind die Leute hier denen in Anyueel recht ähnlich. Zum Beispiel gibt es hier kein Feilschen, wenn du etwas kaufen willst.”

Da Eryn keine großartigen Pläne hatte, sich in ausgiebigen Einkaufsorgien zu ergehen und deshalb wenig davon profitieren würde, zuckte sie nur mit den Schultern.

“Wir sollten uns fertigmachen”, murmelte sie und bemerkte, dass ihre Stimme nun schwerfälliger geworden war, wo ihr Körper sich in der Horizontalen entspannte. Wenn sie nicht bald aufstanden, würde sie hier einschlafen, ganz egal wie unbequem das Bett war.

“Das sollten wir wohl”, stimmte Enric zu ohne sich zu bewegen, als warte er darauf, dass sie zuerst aufstand.

Ein Klopfen an ihrer Tür veranlasste beide, sich zurück in eine aufrechte Position zu kämpfen und mühsam die Schwere in ihren Gliedern zu überwinden.

Eryn öffnete die Tür und gewährte zwei Dienern Zutritt, die, genau wie Erbál versprochen hatte, ihre Habseligkeiten brachten.

Sobald sie wieder fort waren, öffnete Eryn eine Tasche und zog für jeden von ihnen eine saubere Garnitur Kleidung hervor.

“Ich schätze, jetzt wo unsere Sachen hier sind, können wir uns umziehen und haben keine Ausrede mehr dafür, faul zu sein.” Sie warf ihm seine Kleider zu. “Ich zuerst.” Sie trat auf eine zweite Tür zu. “Was meinst du – ob das wohl ein Badezimmer ist?” Ohne auf seine Antwort zu warten, öffnete sie die Tür und pfiff durch die Zähne. Endlich eine nette Überraschung. “Sieh dir das an! Wir haben hier wahrhaftig ein Badezimmer – nur für uns allein, kein Teilen. Und ein großes noch dazu! Es ist sicher mindestens so groß wie das Schlafzimmer! Offensichtlich legt man hier größeren Wert auf Reinlichkeit als auf komfortable Nachtruhe.”

Gebannt konzentrierten sich Eryns Augen zuerst auf die riesige, weiß schimmernde Badewanne in der Mitte des Raumes, dann auf die Kupferrohre entlang der Wände. Da war eine recht zierlich anmutende Vorrichtung, aus der wohl das Wasser kommen sollte. Das sah vollkommen anders aus als die Wasserpumpe in ihrem eigenen Badezimmer in Anyueel, die ihr im Vergleich zu alldem hier plötzlich plump und altmodisch erschien.

Sie trat näher an die Wanne und sah genauer hin. Die kleine Apparatur war mit den Kupferrohren verbunden und würde sehr wahrscheinlich Wasser speien, sobald sie einen der beiden Porzellanknäufe auf jeder Seite der Öffnung drehte. Auf jeden davon war ein Wort in der hiesigen Sprache eingearbeitet. Eryn beugte sich vor, um sie zu entziffern. Es waren recht elementare Worte. Warm und kalt, erinnerte sie sich, begeistert, dass sie das Wissen um die Sprache, seit sie sie vor einigen Jahren zu lernen begonnen hatte, zum allerersten Mal außerhalb eines Buches anwenden konnte.

Sie runzelte die Stirn. Warm und kalt. Was sollte das denn bedeuten? Wasser war von Natur aus kalt. Es musste entweder mittels Magie oder Feuer erhitzt werden. Sie sah sich um. Weder im Schlafzimmer noch hier drin hatte sie eine Feuerstelle entdeckt, die es den Dienern erlauben würde, Wasser zu erhitzen, ohne dass sie es von wer weiß woher herbeischleppen mussten. War sie vielleicht irgendwo versteckt? Sie sah sich nach einer zusätzlichen Verkleidung oder einer Tür um, die irgendeine Aussparung verdecken mochte, fand jedoch auf den ersten Blick nichts. Achselzuckend wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Badewanne zu und entschied, nicht länger zu grübeln, wenn Experimentieren so viel reizvoller war.

Langsam drehte sie den Knauf, der mit “warm markiert war und vernahm ein leises Gurgeln, bevor Wasser aus der Öffnung hervorzuschießen begann. Eryn blinzelte. Ohne pumpen floss es einfach aus diesem metallenen Auslass und landete plätschernd in der glänzenden weißen Wanne. Und verschwand wieder durch ein rundes Loch. Auf einem Beistelltisch fand Eryn einen Stöpsel, dessen Größe und Form vermuten ließen, dass er zum Verschließen des Lochs gedacht war. Sie beugte sich vor um genau das zu tun und erstarrte, als das Wasser ihre Haut berührte. Es war warm! Und mit jedem Moment schien es ein wenig heißer zu werden! Wie war das nur möglich?

“Enric?”, rief sie, in ihrer Stimme von Müdigkeit keine Spur mehr. “Komm und sieh dir das an! Das ist phantastisch!”

*  *  *

“Ihr habt euch aber Zeit gelassen”, kommentierte Erbál, als sie der Straße folgten, die von seinem Heim und Arbeitsplatz wegführte. Es schwang ein Hauch eines Vorwurfs darin mit, als wäre er begierig darauf, diesen Spaziergang mit den Leuten zu unternehmen, die er im weitesten Sinn als seine Landsleute betrachten konnte.

“Eryn hat das Badezimmer entdeckt”, bemerkte Enric. “Sie war nicht mehr herauszukriegen.”

“Dann hast du also ein Bad genommen?”, fragte der Botschafter, seine Stimme nun amüsiert.

Bevor Eryn eine Chance hatte zu antworten, stieß Enric ein wenig gediegenes Schnauben aus. “Das hätte wesentlich weniger Zeit in Anspruch genommen, vermute ich. Nein, sie hat entdeckt, dass aus euren Rohren heißes Wasser herauskommt und musste sich auf Entdeckungsreise begeben. Entdecker und so.”

Erbál lächelte. “Ah, das war auch für mich eine beachtliche Entdeckung, als ich hier eintraf. Die erste Überraschung war, dass die Badezimmer direkt an den Schlafzimmern dranhängen, also hat jeder Bewohner ein eigenes. Sich ein Badezimmer teilen zu müssen wird als Zumutung erachtet. Zumindest in wohlhabenderen Wohnsitzen. Und dann war da noch das heiße Wasser, das ohne erkennbaren Aufwand der Diener bereitgestellt wird. Es erschien mir wie ein Wunder.”

“Also, wie funktioniert das?”, fragte Eryn ungeduldig. “Das Wasser muss irgendwo erhitzt werden. Vielleicht unterhalb des Daches? Das würde erklären, warum das Wasser dermaßen aus den Rohren herausschießt – weil es durch das Gewicht aus jeder verfügbaren Öffnung herausgedrückt wird. Aber das würde recht große Behälter für das Wasser erfordern, da ich vermute, dass sie mehr speichern sollten als man benötigt, um eine einzelne Badewanne zu füllen. Das würde eine beachtliche Belastung für das Gebäude bedeuten”, führte sie das, was sich mittlerweile von einer Unterhaltung in einen Monolog verwandelt hatte, fort. “Und man bräuchte auf jeden Fall mehr als einen Behälter, da das heiße Wasser separat aufbewahrt werden müsste. Allerdings kann man das nicht zu lange tun, sonst würde es wieder abkühlen. Was bedeutet, dass entweder jemand das Wasser ständig auf einer bestimmten Temperatur hält, sodass es auch ohne vorherige Ankündigung verfügbar ist, oder es wird auf eine Weise aufbewahrt, die die Hitze erhält – wie auch immer sich so etwas bewerkstelligen lässt. Damit bleibt noch…”

“Halt!”, unterbrach Erbál sie lachend. “Du machst mich schwindelig! Ich kann dir ein paar Grundlagen erklären, aber wenn du mehr darüber wissen willst, werde ich den Mann, der die Wartungsarbeiten durchführt, darum bitten, dass er dir das alles detaillierter erklärt, in Ordnung?”

Sie nickte eifrig.

Sie setzten ihren Weg dorthin fort, wo auch immer Erbál sie hinbrachte. Eryn schenkte den ungewohnten Straßen, Gebäuden, Geschäften und Leuten um sie herum keinerlei Beachtung, sondern konzentrierte sich auf das, was Erbál über dieses unglaubliche System wusste, das zu jeder Zeit heißes Wasser auf Abruf bereitstellte.

“Es gibt tatsächlich Wassertanks für heiß und kalt, jedoch nicht auf dem Dach, sondern im Keller. Du hast Recht – das Gewicht würde sonst die strukturelle Integrität des Gebäudes gefährden.”

“Aber wie kommt es mit solch einer Geschwindigkeit aus den Rohren, wenn es unten gespeichert wird?”, verlangte sie ungeduldig zu wissen. Wenn sie das Wasser von irgendwo heraufpumpen musste, dann bewegte es sich träge – selbst wenn sie Magie einsetzte, um ihre Kraft zu erhöhen.

“Das wird mit Druck bewerkstelligt. Anstatt sich auf das Gewicht des Wassers zu verlassen, indem man es weiter oben aufbewahrt, nutzen sie Pumpen, um im Inneren des Behälters Druck zu erzeugen. Wenn du einen Knauf in deinem Badezimmer drehst und damit ein Ventil öffnest, schaffst du einen Ausweg für das verdichtete Wasser, wodurch es herausschießt.”

Eryn nahm sich ein paar Augenblicke Zeit, um das in sich aufzunehmen. In ihrem Kopf ratterte es, als sie sich vorzustellen versuchte, wie all das aussehen musste.

“Wie groß sind diese Tanks? Wie oft werden sie nachgefüllt? Und wie? Wie wird das Wasser erhitzt? Und wie oft? Wie lange dauert das normalerweise? Wohin führt der Abfluss in der Badewanne? In wie vielen Räumen kann man die Ventile zur gleichen Zeit öffnen und noch immer Wasser bekommen? Kann ich gleichzeitig mit dir ein Bad nehmen? Wie genau wird der Druck in den Tanks erzeugt?”, bombardierte sie Erbál mit Fragen.

Beschwichtigend hob er seine Hände. “Langsam, meine Liebe. Ich fürchte, du stellst mehr Fragen als ich beantworten kann. Ich werde den Mann, den ich zuvor erwähnt habe, kontaktieren und ihn ersuchen, er möge ein wenig zusätzliche Zeit einplanen, wenn er das nächste Mal kommt. Das sollte etwa nächste Woche sein.”

Eryn nickte widerwillig. Geduld war noch niemals eine ihrer Stärken gewesen, und eine Woche lang auf Antworten warten zu müssen, nach denen sie in diesem Moment lechzte, war zermürbend.

Schließlich bemühte sie sich, die Umgebung in sich aufzunehmen, um sich von dem Rätsel des heißen Wassers abzulenken. Es schien, als durchquerten sie eine Art Handwerkerviertel – vorausgesetzt, die hatten ein eigenes Viertel und waren nicht überall in der Stadt verstreut.

Sie bewunderte die dekorativen schmiedeeisernen Ornamente, die über den Eingängen zu Werkstätten und Geschäften an den Fassaden der Gebäude befestigt waren.

“Das müssen Ladenschilder sein”, vermutete sie.

Erbál folgte ihrem Blick nach oben. “Ein wenig mehr als das. Das sind Gildensymbole. Sie zeigen an, welchem Beruf der Inhaber des Geschäfts nachgeht.” Er deutete nach vorne auf ein schwarzes Metallgebilde, das verdreht und nach oben gewunden war, bis es einer Kletterpflanze glich. Es war mit glänzenden, goldfarbenen Blättern verziert. “Siehst du das Symbol in der Mitte von alldem? Die Schere, um die sich eine Haarlocke ringelt? Das ist ein Friseur. Wann immer du solch ein Symbol siehst, weißt du sofort, um welche Art Geschäft es sich handelt.”

“Also haben alle von ihnen genau das gleiche Schild über ihrer Tür?”, fragte Eryn.

“Nicht genau das gleiche. Das Symbol selbst ist für jeden Beruf stets das gleiche, doch der dekorative Aspekt und die Größe hängen vom Geschmack des Inhabers ab – und davon, wie viel er willens oder in der Lage ist dafür auszugeben. Die Menge an Gold, die du siehst, zeigt in der Regel an, wie seine Ertragslage ist. Manche von ihnen verwenden nur das Symbol, andere fügen auch ihre Namen hinzu. Das betrifft vorwiegend Gasthäuser und auch alteingesessene Handwerker, deren Name weithin bekannt ist.”

“Wenn ich ein Gildensymbol mit einem Namen darunter sehe, kann ich also davon ausgehen, dass der Eigentümer einen sehr guten Ruf genießt und erstklassige Qualität liefert – was wahrscheinlich mit exorbitanten Preisen einhergeht?”, lächelte Eryn.

Erbál zuckte mit den Achseln. “Ja, das ist eine berechtigte Annahme. Was nicht bedeutet, dass Geschäfte ohne Namen auf ihrem Gildensymbol immer nur moderate Preise anbieten. Im Allgemeinen empfiehlt es sich, unterschiedliche Anbieter zu vergleichen, wenn du einen kostspieligen Artikel zu erwerben beabsichtigst.”

Enric hörte aufmerksam zu. Während seines letzten Besuchs hatte er nicht wirklich Zeit oder auch die Neigung gehabt, Genaueres über diesen Ort zu erfahren. Irgendwie war das bedauerlich. Doch damals waren seine Prioritäten ganz andere gewesen – Malriel vor einer möglichen Todesstrafe zu bewahren und nach Hause zu seiner Gefährtin und seinem neugeborenen Sohn zurückzukehren. Er und Vran’el hatten einige Tage hier verbracht und auf die Ausfertigung von Papieren und Bewilligungen von Anfragen gewartet, doch man hatte ihnen verboten, ihre wenig verlockende und karge Unterkunft zu verlassen.

“Noch ein Friseurbetrieb”, meinte Eryn, als sie ein ähnliches Schild entdeckte.

“Nein, nicht ganz. Dieses Mal befindet sich die Schere über einem Stoffballen, also ist das hier ein Schneider”, erklärte Erbál.

Sie setzten ihren Weg fort, und Erbál zeigte ihr die Symbole der unterschiedlichen Handwerker. Ein Büschel Trauben über einem Glas für eine Weinhandlung, zwei umeinander gewundene Blumen für jemanden, der mit Kräutern handelte, ein Baumstamm und Hammer für Tischler, zwei überkreuzte Schlüssel für Schlosser, ein paar Schuhe für Schuster und so weiter.

Nach einigen Minuten erreichten sie einen Landungssteg, der hinausführte in den See, der die Stadt halb umschloss. Sie hatten also den Stadtrand von Kar erreicht.

Eryn und Enric folgten dem Botschafter, der einige Schritte nach unten zum Wasser ging, wo ein paar kleine Boote an dem langen, hölzernen Pier vertäut lagen.

“Wir müssen doch wohl nicht in eines dieser… Dinger einsteigen?”, fragte Eryn ohne große Hoffnung. Sie hatte sich gerade einmal an Schiffe gewöhnt. In deren Fall gab es allerdings wesentlich mehr Substanz zwischen ihr und dem Wasser als bei diesen Nussschalen. Es brauchte wohl nicht viel, damit eine davon kenterte, sobald jemand eine falsche Bewegung vollführte.

“Ich fürchte schon”, erwiderte ihr Gefährte und ergriff ihre Hand um sicherzugehen, dass sie mitkam.

“Ich werde keinesfalls rudern, nur damit du es weißt”, knurrte sie und ließ zu, dass Erbál ihre Hand nahm, um ihr in das von ihm auserwählte Gefährt, das bedrohlich wackelte, zu helfen.

Sobald alle im Boot waren, löste Erbál das Tau und stieß das Boot mit einem Ruder vom Pier ab. Dann reichte er es an Enric weiter. Der Botschafter war der einzige anwesende Nicht-Magier und würde gewiss nicht die körperliche Anstrengung des Ruderns auf sich nehmen.

Ohne jeden Widerspruch akzeptierte Enric die Aufgabe und trieb das Boot mit jedem kräftigen Stoß vorwärts. Niemand sprach ein Wort, bis sie die Stadt weit hinter sich gelassen hatten. Erbál hob eine Hand um anzuzeigen, dass sie nun weit genug vom Ufer entfernt und damit wahrhaftig außerhalb der Reichweite aufdringlicher Augen oder Ohren waren.

*  *  *

“Unglücklicherweise ist die Fähigkeit des Lippenlesens hier recht gängig”, erklärte Erbál seine Entscheidung, sie an einen Ort zu bringen, wo es unmöglich war, sich ihnen ungesehen zu nähern, solange das Boot sanft in der Mitte des ausladenden Sees schaukelte. Er nickte Eryn zu. “Eine Fertigkeit, von der ich glaube, dass du sie ebenfalls beherrschst.”

“Das ist wohl wahr”, versetzte sie etwas verstimmt. “Aber ich habe dabei sicher nicht daran gedacht, dass es eine fabelhafte Möglichkeit ist, um andere auszuspionieren, sondern habe es für das Heilen erlernt.”

“Aber natürlich”, erwiderte Erbál und lächelte. “Nichts anderes hätte ich vermutet. Hier jedoch ist es nicht diese noble Gesinnung, die die Leute dazu veranlasst, sich diese Fähigkeit anzueignen. Da Magier als potentielle Gefahr betrachtet werden, wird das Lippenlesen als praktische Methode erachtet, um damit deren Fähigkeit zum Errichten schalldichter Barrieren zu begegnen. Vorausgesetzt, man kommt nahe genug an sie heran. Ihr würdet nicht glauben, wie übersät mit Gucklöchern die Gebäude hier sind.”

“Aber dass wir hier herausfahren wird den Leuten ebenfalls zu denken geben”, merkte Eryn an. “Es ist recht offensichtlich, dass du uns nicht für einen angenehmen, entspannenden Nachmittag hier herausgebracht hast.”

Er winkte ab. “Aber natürlich wird es das. Und sie erwarten es auch. Womöglich hätte es sie unendlich überrascht, hätte ich euch nicht an einen Ort gebracht, wo keine unwillkommenen Augen oder Ohren in der Nähe sind.”

“Wie weithin bekannt ist der Zweck unserer Reise hierher?”, wollte Enric wissen. “Gibt es irgendeinen Schein, den wir aufrechterhalten sollten?”

“Die höchsten Ränge wissen, dass es Pläne zur Ermordung der Königin von Anyueel gab, und dass die Spur nach Pirinkar führt. Ich kann nicht wirklich sagen, wie weit sich das verbreitet hat. In unserem Interesse hoffe ich, dass möglichst viele Leute bereits davon wissen. Sonst werden wir in den nächsten Tagen eine Menge Besucher empfangen. Die Leute hier sind sehr neugierig. Und dass man ihnen etwas nicht mitteilt, ist für sie kein Grund zu akzeptieren, dass dieses Wissen nicht für sie bestimmt ist.”

“Nun, das klingt ja vertraut…”, murmelte Eryn, die Spione leidenschaftlich hasste.

“Weiß hier jemand, dass du derjenige warst, der uns die Warnung über das anstehende Attentat auf das Leben der Königin zukommen hat lassen?”, fragte Enric.

“Ich hoffe inständig, dass dies nicht der Fall ist. Damit hätte ich eine Zielscheibe auf meinem Rücken.”

“Wie hast du davon erfahren?”, fragte er.

“Durch einen anonymen Brief, der an meine Residenz geliefert wurde.”

Eryn zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte damit gerechnet, dass es sich dabei um das Ergebnis monatelanger detektivischer Bemühungen gehandelt hatte anstatt eines glücklichen Zufalls, solange Erbál in all seiner Sorgsamkeit und Gründlichkeit involviert war. Also war die rechtzeitige Warnung nichts als Glück gewesen. Irgendwie war das alles andere als tröstlich. Es bedeutete, dass die verantwortliche Person oder Personen es gut genug verheimlicht hatten, damit Erbál es aus eigenen Kräften nicht herauszufinden vermocht hatte.

“Das bedeutet, dass zumindest eine Person – der Absender des Briefes – weiß, dass unsere Anwesenheit das Resultat einer Warnung ist, die du uns zukommen hast lassen, und nicht unseres eigenen Spürsinns in Anyueel”, grübelte Enric.

“Sehr richtig”, bestätigte der Botschafter. “Bislang konnte ich die Identität meines wohlwollenden Informanten noch nicht lüften.”

“Gibt es hier irgendjemanden, dem du vertrauen kannst?”, fragte Eryn.

Erbál lachte. “Meine Güte, nein! Ich habe hier Freundschaften geschlossen, doch ich werde mich hüten, einem von ihnen zu vertrauen. In einer Position wie meiner gegenwärtigen kannst du niemals sicher sein, weshalb dir jemand näherkommen möchte.”

Eryn war es etwas peinlich, dass sie ihre Naivität auf diese Weise demonstriert hatte. Und doch würde sie Erbáls Raffinesse nicht besitzen und dazu gezwungen zu sein wollen, sie tagtäglich anwenden zu müssen, nur um ihr Überleben zu sichern. Für ihn waren Freundschaften keine Quelle der Freude, sondern eine Möglichkeit, um potentiellen Feinden nahe zu sein und Informationsquellen anzapfen zu können. Das klang unglaublich einsam, und sie würde keinesfalls tauschen wollen.

“Wie genau schätzen wir die bisherigen Vorkommnisse nun ein?”, fragte sie. “Ich gehe davon aus, dass irgendjemand in Pirinkar die gemeinsame Bedrohung loswerden will, die die Allianz zwischen Anyueel und den Westlichen Territorien im Falle eines Krieges darstellt. Die Ermordung der Königin hätte zwei Ziele erfüllt – erstens hätte sie das engere Band gekappt, das der König zwischen unseren Ländern schmieden will, und zweitens hätte man es so hingestellt, als wäre dies von den Westlichen Territorien ausgegangen. Und meinen Vater in seiner einflussreichen Position als Oberhaupt der Heiler und Gefährte einer Triarchin zu beschuldigen hätte den Zweck erfüllt. Selbst wenn der König persönlich nicht darauf hereingefallen wäre, so hätte es doch die Mehrheit seines Volkes geglaubt.”

“Ich würde sagen, das fasst es ganz gut zusammen”, nickte Erbál.

“Was also war die Absicht der Person, die dir die Nachricht zukommen ließ?”, setzte sie ihren Gedankengang fort. “Entweder will sie einen Krieg verhindern, indem sie die Position ihres eigenen Landes soweit schwächt, dass es zweimal überlegt, bevor es einen auslöst, oder man will den Krieg verlieren.”

“Es gibt eine dritte Möglichkeit”, ergänzte Enric. “Das Ergebnis von allem, was sich ereignet hat seit Erbál die Warnung erhielt, ist unsere Anwesenheit hier.”

Eryn zog die Augenbrauen zusammen. “Du meinst, all das könnte ein ausgeklügelter Plot sein, um uns hierher zu locken? Warum?”

“Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich all das in Übereinstimmung mit jemandes Plan entwickelt. Vielleicht möchte jemand tatsächlich einen Krieg beginnen, und uns auf einer Friedensmission ums Leben zu bringen wäre ein zuverlässiger Auslöser.”

Sie schluckte und fühlte sich plötzlich noch angreifbarer als zuvor. “Hätte es zu diesem Zweck nicht gereicht, Erbál umzubringen? Ich meine, wie eindeutiger kann man einen Krieg anzetteln als den Diplomaten zu töten, den dir jemand gesendet hat? Und uns beide zu töten würde unsere Länder auf jeden Fall gegen Pirinkar vereinen und einen Sieg sogar noch unwahrscheinlicher machen.”

“Wie ich schon sagte, ich habe keine Ahnung, ob das der Fall ist oder nicht. Ich sage nur, wir sollten es nicht ausschließen.”

“Du hast Recht”, stimmte Erbál zu. “Es war nicht schwer zu erraten, wen man auswählen würde, sobald sich die Notwendigkeit ergab, jemanden nach Kar zu entsenden. Enric war bereits einmal hier und hat zumindest ein paar Eindrücke gesammelt, und Eryn, bei dir ist bekannt, dass du Material für Sprachstudien erhalten hast. Die Tatsache, dass ihr beide miteinander verbunden seid, macht euch zu den wahrscheinlichsten Kandidaten. Doch obwohl wir all das bedenken sollten auf unserer Suche nach dem, was hier wirklich vor sich geht, so ist es doch zu früh, um einer Option den Vorzug zu geben.”

Enric pflichtete bei, obwohl es ihm keineswegs lag, sich blind vorwärts zu tasten – und das an einem Ort, der ihm nicht vertraut war. “Was schlägst du vor, wo wir unsere Ermittlungen beginnen sollen?”

“Morgen Abend wird es eine offizielle Veranstaltung geben, um euch beide in Kar willkommen zu heißen. Dabei werde ich euch ein paar der einflussreicheren Leute vorstellen. Womöglich erwächst euch daraus eine Eingebung. Und dann würde ich vorschlagen, ihr wendet euch an die Magier – oder Priester, wie man sie hier nennt.”

“Wie erpicht werden die Hohen und Mächtigen hier sein, morgen unsere Bekanntschaft zu machen?”, fragte Eryn mit einem Gefühl des Unbehagens. “Abgesehen von der Tatsache, dass wir von einem Land hergeschickt wurden, dem viele von ihnen misstrauen, kommt noch hinzu, dass sie Magiern mit Verachtung begegnen oder sie zumindest ignorieren.”

“Das stimmt”, gestand Erbál ohne Zögern. “Andererseits begrüßen sie aber auch alles, was Abwechslung bringt. Ihr seid eine unbekannte Kombination von Umständen. Ihr seid einflussreiche Politiker und im Besitz von beträchtlichem Vermögen – etwas, das respektiert wird. Dennoch seid ihr auch Magier, was hier als eine niedere Klasse von Menschen betrachtet wird. In welche Richtung die Waage ausschlägt, wird sehr stark davon abhängen, wie ihr euch morgen präsentiert.”

“Keine offensichtlichen Hinweise auf unseren zutiefst verachtungswürdigen Makel”, wiederholte Eryn, was sie bereits mit Enric diskutiert hatte.

“Genau. Verhaltet euch auf eine Weise, die den Leuten die Entscheidung erleichtert, in welche Kategorie sie euch stecken sollen – in die der ausländischen Edelleute. Das wird auch erfordern, dass ihr in der Öffentlichkeit eure Erhabenheit über mich demonstriert.”

Eryn verzog das Gesicht. “Was?”

“Ihr seid wichtiger als ich, und unser Umgang miteinander muss das widerspiegeln”, erklärte er. “Magier werden normalerweise nicht mit Ehrerbietung behandelt. Zu sehen, dass ich euch als jemand Übergeordneten behandle, sollte die Botschaft transportieren helfen, dass man euch auf Augenhöhe begegnen muss.” Er lächelte Eryn an. “Ich weiß, dass dies allem widerspricht, woran du glaubst – etwas vorzugeben, das du nicht bist und andere Menschen als untergeordnet behandeln. Doch in diesem Fall wird es unserem Ziel dienen. Wenn die Leute eine Sache wissen, aber die andere immer wieder vor Augen gehalten bekommen, beginnen sie zu glauben, was sie sehen. Das ist ein Aspekt der menschlichen Natur. Einen, den wir zu unserem Vorteil nutzen können.”

“Im Lügen und Vortäuschen bin ich nicht gut”, entgegnete Eryn, ihre Haltung resigniert. “Besonders, wenn ich dafür meine Freunde herabwürdigen muss.”

“Ich weiß. Aber in diese Rolle musst du hineinwachsen, und zwar rasch.” Erbál nahm ihre Hand und drückte sie. “Die Einheimischen müssen euch großzügig verzeihen, dass ihr Magier seid, indem sie entscheiden, dass ihr mit ihnen viel mehr gemeinsam habt als mit den Priestern. Priester können niemals auf einen Nicht-Magier hinabschauen, also ist das ein wirksames Mittel, um hier einen Kontrast zu schaffen.”

“Was bedeutet, dass uns die Priester auch nicht akzeptieren werden, weil wir zwar theoretisch Magier sind, uns aber nicht so verhalten”, argumentierte Eryn.

“Das wird sich zeigen. Da Priester schon von klein auf lernen, dass sie weniger wert sind, mag es sein, dass euch manche von ihnen dafür bewundern, dass ihr in der Gesellschaft der Nicht-Magier akzeptiert werdet”, konterte der Botschafter. “Aber konzentrieren wir uns zu Beginn erst einmal nur auf eine Sache.”

Du hast leicht reden, dachte Eryn, du musstest kein Kind in einem anderen Land zurücklassen und vermisst es so sehr, dass es wehtut. Sich die Zeit zu nehmen, eines nach dem anderen zu überdenken, klang für sie nicht besonders ansprechend. Da war dieser innere Drang, der sie zur Eile antrieb und vollkommen außer Acht ließ, dass es galt, mit großer Bedachtsamkeit vorzugehen und nichts zu überstürzen. Dies mochte sonst für alle drei Länder verheerende Konsequenzen mit sich bringen. Trotzdem…

Kapitel 3

Seltsame Sitten

Enric spürte, wie Eryn neben ihm in der Kutsche von unruhiger Energie beseelt war. Ein Teil davon war sehr wahrscheinlich der Einweisung geschuldet, die Erbál ihnen angedeihen hatte lassen. Sie hatte aus einer Liste von Leuten bestanden, denen sie mit ziemlicher Sicherheit bei dieser formellen Zusammenkunft anlässlich ihrer Ankunft begegnen würden. Mit dem vollen Namen jeder einzelnen Person. Alles in allem hatte es einige Stunden erfordert, um die Details auswendig zu lernen. So hatten sie ihren ersten Tag nach ihrer Ankunft in Kar verbracht – mit dem Einprägen einer fortlaufenden Kaskade an Namen in einem so fremdartigen Stil, dass ihre Gehirne mit nur wenig aufwarten konnten, womit sich all dies verknüpfen ließ.

Dieser Abend war nun so etwas wie eine Abschlussprüfung und würde zeigen, wie zuverlässig ihr Erinnerungsvermögen war. Eine Person mit dem falschen Namen anzusprechen oder auch nur eine fehlerhafte Variation des korrekten zu gebrauchen stellte eine beträchtliche Beleidigung dar, die sie nach Möglichkeit vermeiden mussten. Sonst würde dies ihre Mission, die Einheimischen mit ihrer Eleganz, ihrem Flair und ihrer Wichtigkeit zu imponieren, maßgeblich erschweren.

Enric hätte die Zeit lieber darauf verwendet, Pläne zu schmieden, sich mit der Anordnung der Straßen oder der Kultur besser vertraut zu machen, doch Erbál hatte darauf bestanden, dass diese Namensliste wichtiger als alles andere war. Eryn war ebenfalls verdrossen darüber, dass sie den Tag ans Haus gefesselt war mit Listen aus Namen und Titeln, die für sie keinerlei Bedeutung hatten, solange sie sie nicht mit Gesichtern verknüpfen konnte.

Eryn zog ihr Kleid nach oben in dem vergeblichen Versuch, mehr von ihrem Dekolleté zu bedecken. Das Kleid. Der zweite Grund dafür, weshalb sie sich unwohl fühlte und herumzappelte. Es hatte zwei Dienerinnen gebraucht, die ihr hineinhelfen hatten müssen – eine Prozedur, die Enric nicht mitangesehen, sondern nur vom benachbarten Raum aus mitangehört hatte. Es hatte qualvoll geklungen. Wahrscheinlich war es gut, dass die Frauen die Flüche nicht verstanden hatten, die Eryn ausgestoßen hatte. Erbál neben ihm hatte ausgesehen, als würde ihm vor dem Moment grauen, an dem Eryn aus dem Zimmer herauskam nach den Torturen, die sie anscheinend erdulden hatte müssen.

Es hatte beinahe eine Stunde gedauert, sie zu überzeugen, dass sie es anziehen musste. Ursprünglich hatte sie darauf bestanden, eines von den formellen Abendkleidern zu tragen, die sie mitgebracht hatte, doch Erbál hatte ihr wiederholt erklärt, dass sie sich damit allzu sehr abheben würde. Sie mussten sich einfügen, und das schloss mit ein, sich wie die Einheimischen zu kleiden. Eryn hatte argumentiert, dass die Illusion, sie wäre eine von ihnen, sogleich zerstört werden würde, sobald sie ihren Mund öffnete – entweder weil sie sich einer für diese Leute fremden Sprache bediente, oder weil sie in deren Muttersprache vor sich hin stotterte. Erbál war standhaft geblieben und hatte erklärt, dass dies ein weiterer Grund war sicherzustellen, dass ihr körperliches Erscheinungsbild diesem Eindruck von Fremdheit entgegenwirkte, anstatt ihn zu verstärken. Er hatte sich bereits vor ihrer Ankunft erlaubt, Kleidung für sie und Enric zu bestellen, also mussten diese lediglich für den perfekten Sitz angepasst werden.

“Wie schaffen es die Frauen hier, in diesen Kleidern zu atmen?”, presste Eryn hervor. “Mir ist schwindelig. Das ist so eng, dass ich nicht genug Luft in meine Lungen bekomme! Wenn ich mich zu viel bewege, laufe ich Gefahr ohnmächtig zu werden!”

Erbál nickte voller Anteilnahme. “Ich weiß – ich beneide dich keineswegs. Es ist eine grausige Mode. Sie wurde eingeführt, um Frauen davon abzuhalten, dass sie sich allzu viel bewegen und sie in die Art hilflose Kreatur zu verwandeln, mit der sich weniger selbstbewusste Männer gerne umgeben. So fühlen sie sich in ihrer Vorstellung von Männlichkeit nicht bedroht. Du magst das nicht glauben, doch die Kleider sind nicht einmal mehr annähernd so einengend wie noch vor einhundert Jahren.”

Eryn starrte ihn vollkommen entsetzt an. Diese Folterkleidung, die sie gerade trug, war eine gemäßigte Version?

“Sie haben aber noch immer einiges an Arbeit vor sich. Wenn du mich fragst, sind sie immer noch nicht soweit, Frauen als gleichberechtigt anzuerkennen”, knurrte sie.

“In Anyueel ebenso wenig, was das angeht”, warf Enric ein. “Frauen können in der Gesellschaft ausschließlich über den Einfluss ihres Gefährten Bedeutsamkeit erlangen. Und es gibt so gut wie keine Möglichkeit für sie, eine Position politischer Macht zu erlangen. Du bist die einzige Ausnahme, und das liegt allein an deiner beachtlichen magischen Stärke. Die Westlichen Territorien sind uns in dieser Hinsicht weit voraus.”

“Ja, weil sie schon immer magisch begabte Frauen hatten”, murmelte Eryn. “Doch sie haben ihre eigenen Probleme – wie zum Beispiel, dass sie Nicht-Magier als Menschen zweiter Klasse betrachten.”

Erbál lächelte vage. “Ich gebe zu, das ist wahr. Doch zu unserer Verteidigung muss ich sagen, dass wir zumindest nicht auf die Weise mit ihnen verfahren, wie es Pirinkar mit Magiern tut – als wären sie abscheuliche Geschöpfe, die mehr oder weniger hinter Tempelmauern eingesperrt werden müssen.”

“Dann sind wir uns also einig, dass Pirinkar von allen drei Ländern dasjenige ist, das Leuten fernab des wahrgenommenen Idealzustands am wenigsten Rücksicht entgegenbringt”, seufzte Eryn. “Das würde mich zumindest ein wenig trösten, wäre ich nicht die Einzige von uns, die in diesem grässlichen Kleidungsstück festsitzt. Oder eher Kleidungsstücken. Habt ihr eine Ahnung, aus wie vielen Einzelteilen sich diese grauenhafte Komposition zusammensetzt? Ich glaube, ich habe irgendwann den Überblick verloren. Einer der Teile war nur dazu da, um meine Taille zusammenzuschnüren! Zwei Leute waren nötig, um ihn zu schließen! Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, wie sehr meine inneren Organe gequetscht werden? Das ist überhaupt nicht gesund! Ich kann kaum sitzen! Was für einer Art von Schönheitsideal soll das überhaupt dienen? Der Illusion, dass Frauen auf eine Weise gebaut sind, die zwei Männerhänden erlaubt, ihre Mitte zu umfassen?”

Erbál überlegte kurz, dann zuckte er mit den Schultern. “Ich weiß, dass diese Aussage deinem Ärger entspringt, doch sie mag tatsächlich nicht so weit von der Wahrheit entfernt sein. Eine schmale Taille lässt eine Frau zerbrechlicher wirken, und genau so sollen sie sich selbst wahrnehmen.”

“Ich habe noch nicht viel von diesem Ort gesehen oder irgendjemanden kennengelernt, aber ich mag ihn schon jetzt nicht”, knurrte sie. “Wie lange soll diese oberflächliche Veranstaltung heute Abend dauern? Werden wir dort in einer Stunde oder zwei wieder fort sein oder ist es so eine endlose Angelegenheit wie ein königlicher Ball zuhause?”

“Es wird als Beleidigung empfunden, wenn du dort bereits nach zwei oder drei Stunden wieder gehst, ohne dass du einen echten Notfall zu deiner Entschuldigung vorweisen kannst”, informierte sie der Botschafter.

Eryn unterdrückte ein gequältes Stöhnen. Genau das hatte sie befürchtet. “Das ist ein Alptraum! Wie soll ich mir all diese Namen merken, freundlich zu den Leuten sein und jedes meiner Worte abwägen, damit ich keine Andeutung darauf fallenlasse, dass wir Magier sind, wenn mein Gehirn mit dringend benötigtem Sauerstoff unterversorgt ist?”

Erbál ließ den Atem entweichen und sah Enric an. “Besteht eine realistische Chance, dass sie sich benehmen wird?”

Enrics Gesichtsausdruck zeugte von seinen Zweifeln, als seine Augen über das Kleid wanderten. “Einige Stunden lang, während sie in diesem Ding feststeckt? Ehrlich gesagt, würde mich das überraschen.”

Einige Sekunden des Schweigens folgten, in denen das Rattern der Kutschenräder auf den Pflastersteinen und das Klappern von Hufeisen die einzigen hörbaren Geräusche waren.

Erbál nickte langsam und schürzte die Lippen. “Also schön, ich werde an die Gastgeberin herantreten und sie ersuchen, sie möge zwei ihrer Zofen schicken, damit sie die Schnürung in deinem Rücken ein wenig lockern, damit du leichter atmen kannst.”

Die Erleichterung hinter Eryns Lächeln kam aus tiefstem Herzen. Sie wollte sich nach vorne beugen und seine Hand drücken, bemerkte aber, dass sie ihren Oberkörper dafür nicht weit genug neigen konnte. In ihren Augen glänzte es entschlossen.

“Nie wieder werde ich zulassen, dass du mich in so etwas steckst! Ich werde deinem Schneider einen Besuch abstatten und mich mit ihm darüber unterhalten, wie man ein formelles Kleid im hiesigen Stil anfertigen kann, in dem ich nicht ersticke.”

Erbál nickte besiegt. “Ich schätze, mit diesem Kompromiss muss ich mich zufriedengeben. Ich werde dich begleiten. Seine Fremdsprachenkenntnisse mögen sonst nicht ausreichen, um deine Wünsche umzusetzen.”

Eryn lächelte grimmig. “Weißt du, was mir in meinen Sprachunterweisungen gefehlt hat? Flüche. Du solltest mir ein paar beibringen. Ich habe das Gefühl, dass ich sie brauchen werde. Tatsächlich hätte ich bereits Verwendung dafür gehabt.”

Er schnaubte. “Darauf greife ich womöglich zurück, sollte ich jemals einen todsicheren Weg brauchen, damit eine Krise zu einem Krieg eskaliert. Aber sicher nicht vorher.” Er blickte aus dem Kutschenfenster, als das Gefährt zum Stillstand kam. “Wir sind da.”

*  *  *

Prüfend zog Eryn den Atem ein und ließ ihn wieder entweichen. Dann lächelte sie. Das war schon besser. Nun stand sie nicht länger an der Schwelle einer Ohnmacht, nachdem die zwei schweigsamen Zofen, die Erbál für sie organisiert hatte, die Schnürung dieser unsäglichen Vorrichtung, in die ihr Oberkörper hineingestopft war, eine Spur gelockert hatten.

Sie trat hinaus in einen kleinen Garderobenraum und ergriff Enrics dargebotenen Arm. Erbál ging voraus und reichte einem bedrohlich wirkenden Mann mit erheblich mehr Rüschen als irgendjemand tragen sollte, eine gefaltete Karte mit kunstvoll geschnittenen Kanten. Sehr wahrscheinlich die offizielle Einladung um zu belegen, dass es ihnen gestattet war, diesen verschwenderisch anmutenden Bereich zu betreten, der sich direkt hinter dem Diener auftat. Es war so etwas wie ein Vorraum: zwei Stockwerke hoch mit zwei luxuriösen, breiten, perfekt symmetrisch geschwungenen Treppen mit kompliziert geformten, schwarzen Handläufen auf einer Seite. Sie nahmen auf je einer Seite des Raumes ihren Anfang und trafen einen Stock höher auf der gleichen Plattform aufeinander, von der aus sich eine reich verzierte Doppeltür öffnete in den Raum, wo wohl die Gäste empfangen wurden. Die Plattform wurde von einer Anzahl kunstvoll ausgestalteter Säulen getragen, die offenkundig aus dem gleichen hellen Stein durchzogen mit subtilen dunkleren Adern gefertigt waren wie die Stufen. Zwischen den Säulen unter der Plattform waren mehrere geschlossene Türen sichtbar.

Während der Diener zuerst die Einladung und dann die drei Gäste gewissenhaft überprüfte, beobachtete Eryn drei Frauen, die von Männern die Treppe hinaufgeleitet wurden. Sie waren in ähnlich lächerliche Monstrositäten gekleidet wie sie selbst. Junar vermochte womöglich aus dem Stoff, der für ein einziges verwendet wurde, drei Kleider zu schneidern. Die Männer ähnelten einander in ihrem Erscheinungsbild sogar noch stärker als die Frauen. Jeder Einzelne von ihnen trug eine dunkle, kragenlose Jacke aus irgendeinem schweren Stoff, in den krause Muster eingewebt waren. Sie reichte bis zu den Knien. Darunter kam eine Art von zugeknöpfter Weste in einer nicht ganz so strengen Farbe zum Vorschein, und unter der trug man ein weißes Hemd mit langen, hauchdünnen Rüschen am Hals und an den Handgelenken. Viel zu überladen und weiblich für Eryns Geschmack. Die Hosen wirkten im Vergleich dazu einfach, gingen jedoch aus irgendeinem Grund nur bis zu den Knien, genau wie der Überrock. Die Waden steckten gut sichtbar in irgendeinem hellen, anschmiegsamen Material.

Und um das Bild zu vervollständigen, hatten sie alle ihre Haare mit dem gleichen Öl zurückgestrichen, das sie schon an Erbál gesehen hatte. Außer Enric, der es mit Hilfe von Magie tat.

Sie sah zu ihrem Gefährten auf. Sie hatte ihn immer schon für einen gutaussehenden Kerl gehalten – nun, zumindest nachdem ihr Hass sie nicht länger für seine körperlichen Vorzüge blind gemacht hatte. Doch sogar er sah in diesen Kleidern lächerlich aus. Einerseits verspürte sie Schadenfreude darüber, dass es nicht einmal der sagenhafte, eindrucksvolle Lord Enric vermochte, Rüschen gut aussehen zu lassen, andererseits jedoch wurde ihr das Herz bei seinem Anblick schwer.

Vedric würde in Gelächter ausbrechen, könnte er seinen Vater in seiner aktuellen Aufmachung sehen. Der Gedanke ließ sie lächeln, löste aber auch einen Stich der Sehnsucht aus.

Erbál bedeutete ihnen, vor ihm die Stufen zu der Plattform emporzusteigen um zu zeigen, dass ihr Rang seinen eigenen übertraf. Eryn hob das Kinn, legte ihre Hand auf Enrics Arm und nahm die Mühe in Angriff, sich selbst und das beträchtliche Gewicht all dieser Stoffe nach oben zu schaffen.

Oben angelangt, eröffnete sich ihnen der ausladende Saal geschmückt mit verzierten Säulen, Spiegeln, goldenen Besätzen und einem Boden in einem schwindelerregenden, mehrfarbigen Muster. Neben der Tür standen drei Personen, ein Mann und eine Frau, die vielleicht, vielleicht auch nicht in ihren frühen Fünfzigern sein mochten, und ein jüngerer Mann, dessen Lächeln eher einer Maske als einem Ausdruck ehrlicher Freude entsprach.

“Die Gastgeberin und der Gastgeber”, flüsterte Erbál hinter ihnen, wobei sich seine Lippen kaum bewegten. “Und ihr ältester Sohn.”

Enric hätte dieser Erinnerung nicht bedurft. Er hatte den Namen der Gastgeberin von der Gästeliste, die sie von Erbál erhalten hatten, wiedererkannt. Sie war eine der drei Richterinnen, die vor sechs Jahren den Vorsitz über Malriels Verhandlung geführt hatten. Das Einzige, woran er sich bei ihr deutlich erinnerte, war ihre monotone Stimme, die geklungen hatte, als hätte ihr der Beruf über ein paar Jahrzehnte hinweg jede Regung aus der Stimme gesaugt.

Er hielt vor ihr an und nickte zum Gruß, bevor er sprach: “Gistor Noraske, Legen der Weisens, Richterin erster Ebene von Pirinkar, es ist mir eine Ehre, dir erneut zu begegnen.”

Die Richterin betrachtete ihn eine Weile, ihre Braue leicht hochgezogen, während ihre Augen seinen Anblick aufnahmen, kombiniert mit dem sehr vertrauten Stil der Eleganz seiner Kleidung, wie sie unter den Vertretern der örtlichen höheren Klasse gängig war.

“Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden”, erwiderte die Richterin freundlich mit leichtem Akzent – mit einer Stimme, die weniger bar jeder Modulation war, als Enric sich erinnerte. Vielleicht war ihre Ausdruckslosigkeit nur für berufliche Zwecke reserviert.

Dann bewegte sich ihr Blick zu Eryn, und einen Moment lang stockte ihr Atem. Eryn wartete geduldig, bis die Frau ihren Schock über die überraschende Ähnlichkeit mit derjenigen, die in ihrem Gerichtssaal angeklagt gewesen war, überwunden hatte.

“Ich darf dir meine Gefährtin vorstellen, Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan”, meinte Enric, als hätte er nichts bemerkt. “Maltheá, das ist Gistor Noraske, Legen der Weisens, Richterin erster Ebene von Pirinkar.”

“Ich… ja… natürlich. Sei willkommen bei unserer bescheidenen Zusammenkunft zu euren Ehren, Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan”, schaffte es Gistor Noraske schließlich auszusprechen. Dann stellte sie ihren eigenen Gefährten und ihren Sohn vor, deren Namen Eryn bereits von der Liste kannte.

Gleich darauf wurde Erbál begrüßt, bevor sie alle den Raum betraten, der aus wenig mehr zu bestehen schien als glänzenden Oberflächen unterschiedlicher Art und delikaten Ornamenten in unterschiedlichen Größen, die sämtliche architektonischen Strukturen wie Türen, Fenster, Säulen, Spiegel, Nischen und sogar die beiden gigantischen Feuerstellen umgaben und schmückten.

Am fernen Ende des Saals sahen sie eine Gruppe von mindestens zehn Künstlern, allesamt in Schwarz und Weiß gekleidet, die gerade dabei waren, sich soweit bequem niederzulassen, dass sie mehrere Stunden lang für Zerstreuung in Form von Musik sorgen konnten.

“Ich vermute, es wird getanzt?”, flüsterte Eryn in Erbáls Richtung. “Zumindest würde der große, freie Platz ohne Tische und Stühle sowie die Anwesenheit mehrerer Musiker das nahelegen. Ich gehe davon aus, dass die Leute rücksichtsvoll genug sind, um nicht von uns zu erwarten, dass wir mitmachen?”

Erbál bestätigte das. “Du hast Recht. Es wird getanzt werden, und nein, niemand erwartet von euch, dass ihr euch in der Kunst der lokalen Tänze als bewandert erweist. Ihr könnt euch auf die Seite stellen und einfach zusehen. Ihr werdet die Tänze als recht unterschiedlich zu denen erleben, die ihr kennt. Der Grundgedanke ist, dass eine Frau mit einem Mann teilnimmt, doch die Tänze selbst erfordern häufige Interaktionen mit unterschiedlichen Paaren. Alles ist sehr gut aufeinander abgestimmt und präzise und angenehm mitanzusehen, doch jeder falsche Schritt wird sofort offensichtlich.”

“Klingt ja reizend”, meinte Eryn ausdruckslos, froh darüber, dass sie außen vor bleiben konnte.

Ihre Aufgabe für diesen Abend war es, gesehen zu werden, mit so vielen Leuten wie nur möglich zu reden und alles in allem einen positiven Eindruck zu hinterlassen, damit man geneigt war, mit ihnen zu kooperieren und zu helfen oder ihre Untersuchungen zumindest nicht zu behindern.

Gemäß der Gästeliste, die Erbál sie hatte auswendig lernen lassen, würden fünf Richter und sechs Regierungsmitglieder an diesem bescheidenen Anlass teilnehmen. Das waren diejenigen, die Eryn und Enric als ihre Priorität betrachten mussten. Obgleich sie auf Erbál angewiesen waren, damit er sie in die richtige Richtung wies und sie vorstellte. Andernfalls waren diese Leute nicht mehr als eine anonyme Masse an pompösen Kleidern, farbenfrohen Gesichtern und seltsamen Frisuren.

Erbál hatte ihnen erklärt, dass es keine große allgemeine Vorstellung der Ehrengäste geben würde. Die Leute würden stattdessen von sich aus mit ihnen reden und ihre Bekanntschaft suchen. Und denjenigen, die dies absolut nicht wünschten, sondern einfach nur einen angenehmen Abend auswärts verbringen wollten, stand dies ebenfalls frei.

Eryn erschauderte, als sie sah, wie eng die Kleider mancher Frauen um die Taille geschnürt waren. Wie konnten die sich überhaupt bewegen? Konnten sie so ein gefahrvolles Unterfangen wie einen Tanz in Angriff nehmen, ohne nach ein paar Minuten als Folge der Anstrengung ohnmächtig zu werden? Nun, das würde sie wohl bald genug zu sehen bekommen.

Der Botschafter stellte sie einer Anzahl an Leuten von der Liste vor, die ein Interesse daran geäußert hatten, sie kennenzulernen. Er vollführte die Vorstellung in der hiesigen Sprache, und Eryn bemerkte, dass sie den Worten mit jedem Mal, wo sie wiederholt wurden, leichter folgen konnte.

Dennoch entschied sie sich dagegen, ihre Fremdsprachenkenntnisse im Moment einem Test zu unterziehen. Man wusste nie, ob es sich nicht einmal als nützlich erweisen mochte, dass die Leute vergaßen, dass sie eine Menge von dem verstand, was um sie herum gesprochen wurde.

Etwa eine Stunde musste vergangen sein, bevor die Musiker sich mit einem sanften Akkord Gehör verschafften, als wollten sie die Anwesenden vorsichtig an ihre Anwesenheit erinnern.

“Das ist die Einladung für jene Gäste, die zu tanzen wünschen, sich in der Mitte des Saals zu versammeln”, erklärte ihnen Erbál. “Es ist immer die gleiche Melodie zu Beginn, um zu signalisieren, dass der Abschnitt des Abends, wo getanzt wird, gleich beginnt. Kommt, lasst uns ein wenig zurücktreten.” Er führte sie an einen Fleck, von dem aus sie die Vorgänge beobachten konnten, ohne im Weg zu stehen.

Sie sahen zu, wie zwölf Paare vortraten und sich teilten, um zwei gegenüberliegende Reihen zu formen, von denen eine ausschließlich aus Frauen, und die andere aus ihren männlichen Gegenstücken bestand. Als alle so arrangiert waren, dass der Tanz beginnen konnte, beendeten die Musiker ihre vorhergehende Melodie und begannen mit einer neuen.

“Sind es immer genau zwölf Paare?”, wollte Enric von Erbál wissen.

“Im Allgemeinen ja. Obwohl es auch ein paar Tänze für kleinere Zusammenkünfte gibt, die nur sechs erfordern. Und zwei, glaube ich, wo sich sechzehn Paare gegenüberstehen.”

Die Reihe der Männer neigte wie in einer einzigen Bewegung ihr Haupt vor den Damen, die die Geste daraufhin erwiderten. Dies erwies sich als die Eröffnung eines Musters an Bewegungen, die von jeder einzelnen Person erforderten, dass sie genau wusste, was sie zu tun hatte. Jedes zweite Paar trat vorwärts aufeinander zu, doch anstatt nach ihren Partnern zu greifen, drehten sie sich auf die Seite und näherten sich stattdessen dem Nachbarn ihres Partners, ergriffen dessen Hände und vollführten einen Kreis, bevor sie an ihren vorherigen Platz zurückkehrten.

Enric beobachtete die Bewegungsabläufe, fasziniert von den unvorhersehbaren Mustern, die sich alle paar Sekunden veränderten.

“Das ist… eindrucksvoll”, murmelte er Erbál zu. “Sehen all die Tänze so aus?”

“Ja, in der Regel schon. Tanzen wird hier nicht als Akt zweier Menschen betrachtet, sondern als einer für die gesamte anwesende Gesellschaft. Es erfordert Interaktion, Präzision, Eleganz und eine Menge Erfahrung. Ein Fehler eines einzigen Tänzers kann die Ordnung der gesamten Gruppe zerstören.”

Plötzlich erschienen die Bälle in Anyueel nicht mehr ganz so düster. Zumindest beinhaltete das Tanzen nicht das ständige Risiko, sich als unfähig bloßzustellen, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit zu einem falschen Schritt oder verpassten Einsatz führte.

“Die Geschwindigkeit scheint mir recht langsam”, merkte Enric an. “Tanzen scheint mir kein besonders dynamischer Zeitvertreib. Oder trifft das lediglich auf dieses besondere Lied zu?”

Der Botschafter lächelte leise. “Sieh dir die Kleider an, Enric. Was denkst du, was geschehen würde, wenn du diese Frauen irgendwelchen strapaziösen Aktivitäten aussetzt? Sie würden umkippen.”

“Wie lange üben die Leute diese Tänze in der Regel, bevor man sie als tauglich erachtet, um sie in der Öffentlichkeit zu vollführen, ohne dass sie sich blamieren?”, fragte Eryn als nächstes.

“Einige Jahre. Es ist Teil der klassischen Ausbildung wohlhabender Bürger. Die Kinder lernen das Tanzen ab dem Alter von zehn Jahren. Es gibt besondere Anlässe nur für junge Menschen, wo sie ihren Fortschritt zeigen und für das tatsächliche Tanzen bei wichtigen Zusammenkünften mit einflussreichen Gästen üben können.”

Eryn presste ihre Lippen aufeinander. Somit war diese Art des Tanzens ein besonderes Merkmal der Reichen und Mächtigen. Ein weiterer Aspekt, den sie hier ablehnte. Bislang war ihr erster Eindruck von Kar kein besonders positiver. Lächerliche Kleidung, eine übertriebene Vorliebe für Titel und eine recht klare Vorstellung von Privilegien stand einem erstaunlichen System gegenüber, das auf Abruf heißes Wasser lieferte, wenn man einen Knauf drehte.

Sie wollte sich diese eklatante Demonstration von kostspieliger Bildung nicht länger ansehen. Es musste hier irgendwo einen Ort geben, wo sie ein paar Minuten lang Ruhe und Frieden genießen konnte.

*  *  *

Eryn stieß den Atem aus und starrte ihr Spiegelbild vor dem Hintergrund des geräumigen Badezimmers an, in das sie für ein paar wertvolle Minuten vor den höflichen Unterhaltungen und prahlerischen Demonstrationen einer privilegierten Erziehung geflohen war.

Die dunklen, raffiniert gezeichneten Linien an den Rändern ihrer Augenlieder sahen mittlerweile etwas verschmiert aus. Der Grund dafür war wohl der Schweiß, der ihre gesamte Haut zu befeuchten schien. Sie fragte sich, wie gefleckt der Stoff unter ihren Armen wohl sein würde, wenn sie später aus dem Kleid herausstieg. Sie griff nach einem kleinen Handtuch, füllte die Keramikschüssel vor sich mit Wasser aus einer dieser wundersamen Rohrkonstruktionen und tauchte das Handtuch hinein. Dann tupfte sie vorsichtig um ihre Augen herum, um einen Gutteil der schwarzen Farbe zu entfernen, der ihre Augen größer wirken lassen sollte. Als Nächstes wusch sie sich die Schweißperlen von der Stirn und setzte dann damit fort, das kühle, feuchte Tuch auf jedes Stück unbedeckte Haut zu pressen, dass sie erreichen konnte. Das würde ihr zumindest für eine kurze Weile Abkühlung verschaffen.

Mit einem letzten leidgeprüften Blick auf ihr zweidimensionales Gegenstück öffnete sie die Tür und trat hinaus in den angenehm ruhigen Korridor, dessen Lichter gerade hell genug waren, damit die Besucher den Weg fanden. In der Ferne konnte sie die behäbige und leicht melancholische Musik vernehmen, die maßgeschneidert war für die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Frauen. Es wäre rücksichtsvoller, sie aus dem Gefängnis dieser Fallen zu befreien, die man hier Kleider nannte, anstatt ihnen zu erlauben, ohne rasche Bewegungen zu tanzen, dachte Eryn verdrießlich und zwang sich dazu, weiter auf die lebhafte Versammlung zuzugehen. Nun, zumindest der männliche Teil davon konnte sich eine gewisse Lebhaftigkeit erlauben – die Frauen mochten ohnmächtig werden, falls sie es versuchten.

Alle paar Schritte auf dem Weg zurück kam sie an einer weiteren geschlossenen Tür mit einem Türrahmen doppelt so groß wie sie selbst mit aufwändig geschnitzten Verzierungen vorbei. Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie eine Tür bemerkte, die einen Spaltbreit offenstand. Das war nicht der Fall gewesen, als sie vor einigen Minuten hier vorbeigekommen war. Es gab kein Licht darin, also bot sich wohl die Schlussfolgerung an, dass sich niemand darin aufhielt. Sie sah sich kurz um und überprüfte, ob sie unbeobachtet war, bevor sie sich der Tür näherte. Ihr Unwille, zu den anderen zurückzukehren und die Neugier, wie wohl ein regulärer Raum in dieser Villa aussah, ließen sie die Tür ein wenig weiter aufschieben. Sie verharrte regungslos, als sie ein seltsames, regelmäßiges Geräusch hörte, das sie an das Aufsperren eines Schlosses erinnerte. Vielleicht war es ein weiteres Gerät wie ihre Klangmaschine oder das mechanische Spielzeug?

Dankbar, dass die Türangeln gut gepflegt waren und nicht knarrten, schlüpfte sie in das Zimmer. Auch nach ein paar Sekunden, während derer sie ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte sie noch immer nicht mehr erkennen als verschwommene Umrisse der Möbel. Lediglich das Licht, das hinter ihr vom Korridor hereinfiel, leuchtete ihre unmittelbare Umgebung so weit aus, dass sie zumindest nirgendwo dagegen stoßen würde.

Sie folgte dem eigentümlichen Geräusch ein paar Schritte weit und stand direkt vor einer runden Scheibe, unter der irgendwelche klobigen, länglichen Objekte baumelten. Die waren allein deshalb erkennbar, weil das dunkle Material einen starken Kontrast zu der hellen Wand dahinter bot.

“Was haben wir denn hier”, murmelte sie zu sich selbst und versuchte, im Halbdunkel weitere Details zu erkennen.

Die runde Scheibe schien in regelmäßigen Abständen über Markierungen zu verfügen, doch sie konnte nicht sagen, ob diese lediglich dekorativer Natur waren oder irgendeinem bestimmten Zweck dienten. Dahinter saß irgendeine Art von Mechanismus, der das Geräusch produzierte, das sie hereingelockt hatte. Sie konnte nichts erkennen, als sie einen Blick dahinter warf. Die Scheibe schluckte sogar noch das letzte Quäntchen an Licht, das durch die offene Tür hereinfiel. Sie wollte nichts anfassen und beschädigen, also trat sie einen Schritt zurück und seufzte.

“Keine Chance ohne Licht”, murmelte sie und wollte sich umdrehen, als eine freundliche männliche Stimme aus der Dunkelheit sie erstarrten ließ.

“Erlaube mir, dir zu Diensten zu sein”, bot sie hilfsbereit an in dem typischen Akzent der Einheimischen, wenn sie sich Eryns Sprache bedienten.

Oh nein – das würde ihr eine Standpauke von Enric einbringen, dachte sie, bevor ein leises, kratzendes Geräusch ertönte, dem eine kleine Flamme folgte, die zuerst eine, dann eine weitere Lampe erhellte.

Eryn blinzelte ob der plötzlichen Helligkeit, dann fand sie einen Mann vor, der auf einem geschmackvollen Sofa saß, das aussah, als diente es mehr der Dekoration denn als bequemes Sitzmöbel. Sie hatte also falsch gelegen mit ihrer Annahme, dieses Zimmer sei unbesetzt. Wer schlich sich denn einfach so davon und versteckte sich in einem dunklen Raum? Nun, wohl jemand genau wie sie selbst, kam es ihr in den Sinn.

“Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan, wie ich annehme”, fuhr die fremdländische, doch angenehme Stimme fort. Es klang nicht nach einer Frage. Doch da sie sehr wahrscheinlich die einzige weibliche Besucherin aus dem Süden war, die gegenwärtig in der Stadt verweilte, war es keine allzu eindrucksvolle Leistung, dass er ihre Identität korrekt erraten hatte.

“Ja, das bin ich.”

Ihre Augen passten sich nun an das Licht an und erlaubten ihr, ihre unerwartete Gesellschaft genauer zu betrachten. Er mochte etwa in ihrem Alter sein, von adretter Erscheinung und eine Spur weniger farbenfroh gekleidet als die anderen Männer, die sie an diesem Abend erblickt hatte. Das allein sprach schon für ihn. Sein hellbraunes Haar war zurückgestrichen, so wie es hier offensichtlich Mode war. Das ermöglichte einen uneingeschränkten Blick auf intelligente graue Augen, eine fein geschnittene Nase und den dünnen Streifen eines Bartes, der der Linie seines Kinns und der Oberlippe folgte. Ein ansehnliches, einnehmendes Gesicht. Das im Augenblick Belustigung ausdrückte.

“Ich wollte hier nicht eindringen. Wirklich nicht”, versicherte sie ihm eilig. “Ich entschuldige mich für die Unterbrechung von… was auch immer du hier drin getan hast. Ich werde nicht länger stören und mich verabschieden.”

“Ich hatte den Eindruck, du würdest die Uhr gerne untersuchen”, erwiderte er höflich. “Du hast mich keineswegs gestört. Ich nehme mir lediglich die Freiheit, ein paar Minuten in einsamer Erwägung zu verbringen, wenn ich die Anstrengung sozialer Interaktionen als allzu ermüdend empfinde.”

Während sie noch überlegte, wie sie auf diese Aussage reagieren sollte, erhob er sich. Er war merklich größer als sie selbst und bewegte sich mit beinahe makelloser Eleganz.

In einer Entfernung, die angenehm war ohne ihr zu nahe zu treten und sie nicht einschüchterte, blieb er stehen.

“Ich gehe davon aus, dass dir mechanische Methoden zur Zeitmessung nicht vertraut sind?”, erkundigte er sich höflich.

“Ich… nein. In Anyueel haben wir andere Methoden wie Wasseruhren oder Öllampen mit Markierungen, und die Westlichen Territorien benutzen dafür Sanduhren und Sonnenuhren”, antwortete sie.

“Dann gewähre mir das Vergnügen, dir den Mechanismus zu erklären, den wir zu diesem Zweck verwenden”, bot der hilfsbereite Fremde an.

Eryn nickte, froh darüber, dass ihrem Eindringen nicht mit Verärgerung, sondern mit unverhoffter Zuvorkommenheit begegnet wurde. Auf seine Einladung hin trat sie wieder näher auf die Uhr zu. Die Scheibe war mit zwölf Symbolen markiert, die sie als Zahlen erkannte. Als sie dahinter blickte, sah sie nun, dass der Mechanismus ausschließlich aus einigen Zahnrädern in unterschiedlichen Größen und einer Spirale mit kleinen Gewichten daran zu bestehen schien.

“Das hier ist ein recht altes Exemplar”, erklärte ihr der Mann. “Ich würde vermuten, dass es sich seit mindestens zwei Jahrhunderten im Besitz der Familie Weisen befinden muss. Ein Erbstück, sofern das der korrekte Begriff ist.”

Zwei Jahrhunderte, dachte Eryn, während ihr Hals trocken wurde. Dieses erstaunliche Gerät war hier veraltet, während es in ihrem Zuhause eine spektakuläre Neuheit wäre.

Ganz ohne Aufforderung begann er ihr den Mechanismus zu erklären.

“Diese Art von Uhr besteht aus sehr grundlegenden Komponenten. Das hier” – er deutete auf ein mittelgroßes Rad mit besonders feinen Zacken – “ist das Zahnrad, das als Hauptrad bezeichnet wird. Dahinter befindet sich ein langer, dünner Metallstreifen, der als die Hauptfeder bekannt ist. Dieser Teil speichert Energie. Wieviel gespeichert werden kann, hängt stark von der Elastizität des Materials und seiner tatsächlichen Länge ab.” Dann deutete er auf eine Ansammlung von vier Zahnrädern. “Die ersten drei dort bilden das Räderwerk. Das erste Rad davon zeigt die Minuten an, das dritte die Sekunden. Angetrieben wird es von den Gewichten, die du dort hängen siehst. Doch da wir nicht wollen, dass die gesamte Kraft zu schnell freigesetzt wird, benötigen wir etwas, das die Freigabe kontrolliert. Diese Kombination von Teilen nennt sich Anker und besteht aus einer Unruh, die vor und zurück schwingt und so die Abgabe der Energie kontrolliert, immer ein Zahn auf einmal.”

Eryn starrte die Zahnräder unterschiedlichen Durchmessers und mit einer Variation von Zähnen unterschiedlicher Größe und Form an. Sie versuchte zu kombinieren, was sie gerade gehört hatte, indem sie auf die wenigen Grundlagen der Mechanik zurückgriff, die sie sich zuhause durch das Zerlegen der Geräte erarbeitet hatte.

“Die Gewichte üben Druck auf das hier aus, das diesen dann weitergibt, nur eben nicht zu schnell. Was uns zu diesen Komponenten hier bringt, die dafür zuständig sind, alles langsam und regelmäßig zu halten. Die Bewegung wird dann auf diese Zahnräder hier übertragen, die diese Stäbchen auf der Scheibe bewegen”, versuchte sie es in eigene Worte zu fassen und hoffte, dass sie sich nicht vollkommen zum Narren machte.

Der Mann überlegte einen Moment lang, während sich seine elegant geformten Augenbrauen zusammenzogen, als er versuchte, eine Verbindung herzustellen zwischen ihrer amateurhaften Erklärung und seinen vorangegangenen Worten. Dann nickte er.

“Ja, so kann man das sagen. Gut gemacht.”

Eryn trat einen Schritt zurück und betrachtete die andere Seite der Scheibe mit all den Zahlen und den drei kurzen Stäben.

“Wie wird das dritte Stäbchen bewegt? Du hast Zahnräder für zwei davon erwähnt.”

“Wir bezeichnen die Stäbchen als Zeiger. Und du hast Recht, ich habe nur zwei davon erwähnt. Sehr aufmerksam von dir. Es gibt ein eigenes Rad für den langsamsten der Zeiger, der nur nach einer gewissen Anzahl von Umdrehungen des Minutenrads bewegt wird.”

“Wie lese ich das?”, fragte sie weiter. “Ihr unterteilt eure Tage in nur zwölf Einheiten? Das ist ein vollkommen neues Konzept für mich. Ich bin an vierundzwanzig Stunden gewohnt.”

“Ebenso wie wir. Der Stundenzeiger bewegt sich an einem Tag zweimal um das Ziffernblatt.”

“Welcher ist das? Der pummelige dort?”

Er blinzelte und lächelte dann. “Ja, jener, der weniger athletisch wirkt. Der schlankere ist für die Minuten, und der lange, dünne Zeiger für Sekunden. Jede Umdrehung des Sekundenzeigers führt dazu, dass sich der Minutenzeiger um eine kleine Markierung weiterbewegt. Und nachdem sechzig kleine Markierungen überwunden wurden, bewegt sich der Stundenzeiger vorwärts.”

Eryn starrte das Ziffernblatt eine halbe Minute lang an, dann versuchte sie: “Damit ist es jetzt gerade neunzehn Stunden, achtundzwanzig Minuten und ungefähr vierzig Sekunden spät.”

“Das stimmt. Wenngleich wir eher sagen würden, dass es sieben Uhr achtundzwanzig am Abend ist.”

“Was passiert, wenn die Gewichte das Ende der Schnur erreichen?”

“Dann muss die Uhr aufgezogen werden, damit sie weiterhin ihre Dienste leisten kann.”

Sie nickte langsam, eingenommen von dieser faszinierenden neuen Methode, die Zeit unter Verwendung von Zahnrädern zu messen.

“Doch wie ich schon sagte, handelt es sich hier um einen überholten Mechanismus. Wir haben in der Zwischenzeit ausgeklügeltere entwickelt, die keiner Gewichte oder Pendel mehr bedürfen.” Er legte den Kopf schief. “Du wärst nicht etwa daran interessiert, mehr darüber zu erfahren?”

Eryn sah zu ihm auf und schluckte. Sie wusste, wie unnachgiebig dieses Land seine Technologie und sein Wissen bewachte. Dieser Mann mochte sich bereits jetzt Ärger eingehandelt haben, sofern irgendjemand von dieser kleinen Unterrichtsstunde soeben erfuhr.

“Ich fürchte, das wäre keine besonders vernünftige Idee. Ich schätze das Angebot, möchte dir aber keine Schwierigkeiten einbringen”, zwang sie sich zu sagen.

Sein Lachen war ein Ausdruck aufrichtigen Amüsements. “Hat dir dein Botschafter eine Liste mit namhaften Personen von öffentlichem Interesse erstellt? Oder zumindest eine Gästeliste für diesen Abend?”

Leicht verwirrt fasste sie ihn ins Auge. Was für eine Frage war das als Reaktion auf ihre Sorge um sein Wohlbefinden?

“Ja, eine Gästeliste. Weshalb?”

“Ich gehe davon aus, dass er betont hat, wie wichtig es ist, sie auswendig zu lernen, damit du die Leute korrekt ansprechen kannst?”

“Ja! Warum fragst du?”, rief sie ungeduldig.

“Dann bin ich zuversichtlich, dass dir mein Name bekannt sein wird.” Er stellte sich eine Spur aufrechter hin. “Ich bin Etor Gart, Legen der Durachts, Konsul erster Ebene von Pirinkar. Es ist mir ein Vergnügen, deine Bekanntschaft zu machen.”

Eryn runzelte kurz die Stirn, als sie sich zu erinnern versuchte, unter welcher Kategorie dieser Name gestanden hatte. Er hatte Recht, er klang vertraut.

Sie riss die Augen auf, als die Erinnerung zurückkehrte. “Etor Gart! Vertreter der höchsten Regierungsebene!” Verdammt, er war wichtig, und zwar so richtig! Und ihm unter solchen Umständen zu begegnen!

“Das ist richtig. Du siehst also, dass es in meinem Ermessen liegt, dir dieses Angebot zu machen, ohne damit eine Inhaftierung oder sonstige Sanktion zu riskieren,” lächelte er. “Wenngleich mich deine Sorge rührt.” Er hob seinen rechten Arm, um ihn ihr anzubieten. “Sollen wir zu den anderen Gästen zurückkehren?”

*  *  *

So subtil er es vermochte, stieß Erbál Enric an und nickte in die Richtung, wo Eryn den Saal betrat, ihre Hand auf dem Arm eines Mannes.

“Den kenne ich”, murmelte Enric und schloss seine Augen, um sich das Bild des Gerichtssaals vor sechs Jahren ins Gedächtnis zu rufen. Dieser Mann hatte einen Sitz am obersten Tisch gehabt. Somit war er einer der Regierungsvertreter. “Regierung”, fügte er hinzu.

Der Botschafter nickte. “Ja. Etor Gart. Ein Mann, der aus solchen Anlässen wie diesem hier wenig Vergnügen zieht. Diese Eigenschaft hat er mit deiner Gefährtin gemeinsam – hin und wieder macht er sich davon und versteckt sich ein paar Minuten lang. Kein Wunder, dass er und Eryn einander begegnet sind. Womöglich haben sie versucht, sich in der gleichen Nische zu verstecken.”

“Allerdings ein Mann, den es nützlich ist zu treffen”, flüsterte Enric zurück, mehr als willens, Eryn ihre verdächtig lange Toilettenpause zu verzeihen, wenn solch ein Ergebnis dabei herauskam. Besonders, da der Mann recht zufrieden wirkte. Das war eine unübliche Reaktion darauf, wenn man Eryn bei solch einer Veranstaltung begegnete. Leute, die den Versuch starteten oder dazu gezwungen waren, mit ihr zu interagieren, reagierten im Allgemeinen irritiert und verärgert anstatt erfreut.

“Das ist wohl wahr”, stimmte Erbál zu und lächelte, als die beiden in ihre Richtung kamen.

“Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden. Ich bin erfreut, dich wiederzusehen, wenngleich unter solch gravierenden Umständen”, grüßte Etor Gart und nickte ihm zu.

Enric reagierte in gleicher Weise. “So wie ich, Etor Gart, Legen der Durachts, Konsul erster Ebene von Pirinkar. Wir hoffen, dass sich all dies auf zufriedenstellende Weise lösen lässt.”

Dann begrüßte Etor Gart Erbál, indem er in seine Muttersprache wechselte. “Lam Erbál, Legen der Ferals, Botschafter in Kar. Es ist ein Vergnügen, dich hier zu sehen.”

“Das Vergnügen ist ganz das meine, Etor Gart, Legen der Durachts, Konsul erster Ebene von Pirinkar. Wie ich sehe, hast du Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan bereits getroffen.”

Eryn strengte sich an, um dem Austausch zu folgen – besonders, nachdem ihr Name erwähnt worden war.

“Das habe ich.” Er lächelte ihr zu. “Ich fand ihr Interesse an mechanischen Geräten und ihre rasche Auffassungsgabe höchst stimulierend.”

Dann entschuldigte er sich und schlenderte davon, wobei er hin und wieder stehenblieb, um mit anderen Leuten zu sprechen.

“Was hat er gesagt? Das zum Schluss habe ich nicht ganz verstanden”, meinte sie stirnrunzelnd. “Hat er gesagt, ich hätte ihn stimuliert? Ich schwöre, ich habe nichts dergleichen getan! Er hat mir lediglich eine Uhr erklärt, und das einzige Mal, wo ich ihn angefasst habe, war, als ich seinen Arm auf dem Weg hierher ergriff.”

“Nein, es war nichts in dieser Art”, versicherte Erbál ihr rasch. “Er war von deiner Intelligenz beeindruckt. Es scheint, als würde er dich mögen.”

Eryn war erfreut über diese Beurteilung. Nachdem sie Lam Ceiga begegnet war, hatte sie schon befürchtet, alle Leute hier würden sie mit solcher Gleichgültigkeit behandeln.

“Lasst uns hier nicht herumstehen, sondern lieber versuchen, euch so vielen Leuten wie nur möglich vorzustellen”, legte der Botschafter ihnen nahe. “Wir sind immerhin zum Arbeiten hier.”

Also arbeiteten sie. Eryn fand heraus, dass bloßes Reden nicht ganz so schlimm war wie mit den Leuten tanzen zu müssen. Sie war auch froh, dass keine Notwendigkeit zur Demonstration übermäßiger Freude bestand, wenn man jemanden kennenlernte; nichts als eine höfliche Zusicherung, welches Vergnügen es war, reichte vollkommen. Das bedeutete, ihre Wangen würden am Ende dieses Abends nicht entkräftet sein von der Anstrengung des erzwungenen Lächelns.

Obwohl sie ihre Runden gemeinsam begonnen hatten, fanden sie sich in Gesprächen mit unterschiedlichen Personen wieder und setzten diese in ihrem eigenen Tempo in unterschiedlichen Richtungen fort. Diese Person wollte sie jener Person vorstellen, und dann mussten sie unbedingt noch einen guten Freund, ein Familienmitglied oder einen Bekannten treffen.

Pflichtbewusst beantwortete Enric Fragen über sein Heimatland, was genau der Orden war und weshalb er die Reise nach Kar auf sich genommen hatte, obwohl die Antworten auf alle drei selbstverständlich in einem Ausmaß modifiziert werden mussten, um für die Zuhörer angemessen zu sein. Erbál blieb eine Weile an seiner Seite, dann machte er sich auf die Suche nach Eryn, um sie eine Zeitlang zu begleiten, bevor er wieder zu ihrem Gefährten zurückkehrte.

“Ich hatte bereits das Vergnügen, deine ungemein bezaubernde und reizvolle Gefährtin kennenzulernen”, meinte Enrics aktueller Gesprächspartner. Reizvoll. Was für eine seltsame Art sich auszudrücken, wenn man sich auf die Gefährtin eines anderen Mannes bezog. Womöglich eine ungeschickte Formulierung in einer fremden Sprache, dachte er. Doch die folgenden Worte des Mannes zeigten ganz klar, dass dies keineswegs der Fall war.

“Ich habe mich gefragt, ob du wohl mein Angebot für ihre Gesellschaft für heute Nacht annehmen würdest?”

Damit wurde ein Stück stabiles, kostspielig aussehendes Papier in Enrics Hand gedrückt. Er starrte den Mann an, während er sich zwang, seinen Zorn über solch eine impertinente Anfrage unter Kontrolle zu bringen, und zwar rasch.

Erbál neben ihm hustete und lächelte den Mann an, der sich – ohne sich dessen im Klaren zu sein – in tödliche Gefahr manövriert hatte.

“Wirst du uns für einen kurzen Augenblick entschuldigen? Lam Enric, Reig of Haus Aren, Stellvertreter im Orden ist gleich wieder bei dir.” Er ergriff Enrics Arm und zog ihn beiseite und hinter eine Säule, die ihnen zumindest ein Quäntchen Privatsphäre gewährte.

Enrics Augen waren zusammengekniffen. Erzürnt zischte er: “Was hatte das zu bedeuten? Ist das eine Art Test, oder war es diesem Schwachkopf ernst damit? Das muss eine Art Beleidigung sein, wo man sehen will, wie ich darauf reagiere, wie sehr ich mich provozieren lasse!”

“Du musst dich augenblicklich beruhigen, Enric!”, beschwor ihn der Botschafter eindringlich. “Sein Begehr zum Ausdruck zu bringen, dass man die Nacht mit jemandes Gefährtin verbringen möchte im Austausch für monetäre Entschädigung, ist hier eine akzeptierte Vorgehensweise. Die Anfrage selbst ist keine Beleidigung. Dir eine niedrige Summe anzubieten allerdings schon. Lass uns das Papier ansehen, das er dir gegeben hat. Dann können wir sagen, ob das hier ein Test oder ein ehrliches Angebot ist.”

Enric öffnete das Papier und starrte auf eine dreistellige Zahl. Nach einer raschen Umrechnung verglich er den Betrag mit Goldstücken aus Anyueel. “Das wäre er bereit für eine Nacht mit Eryn zu bezahlen?”

Erbál nickte erleichtert. “So ist es. Das ist ein großzügiges Angebot, und ich kann dir sagen, dass du nicht beleidigt wurdest, sondern stattdessen ein großes Kompliment erhalten hast.”

Enric stieß den Atem aus und schloss die Augen. “Warum hast du uns auf so etwas nicht vorbereitet? Denkst du nicht, dass es uns einiges an Anspannung erspart hätte, wenn du das erwähnt hättest?”

“Ich entschuldige mich. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass man mit einem Angebot dieser Art an euch herantreten würde. Ihr seid Fremde hier, und im Allgemeinen würde man euch mehr Zeit zugestehen, um euch an die Gebräuche hier anzupassen anstatt zu erwarten, dass ihr ab dem ersten Tag mit allen davon vertraut seid.” Erbál drehte Enric herum. “Nun wirst du zu dem netten Mann zurückkehren, ihm für sein großzügiges Angebot danken und es höflich ablehnen. Dabei wirst du weder ihm, noch dem Brauch, oder auch der Gesellschaft, der er entstammt, mit Verachtung begegnen. Hinfort mit dir.”

Enric warf ihm über die Schulter einen finsteren Blick zu, tat aber, wie ihm geheißen. Das war absurd. Er musste einem Mann dafür danken, dass er ein Interesse an einer Nacht wilder Vergnügungen mit Eryn geäußert hatte! Zuhause hätte er ihm mittlerweile die Nase gebrochen. Und vielleicht die eine oder andere Rippe.

Er kam bei dem Mann an, der höflich lächelte, als er seiner Antwort harrte.

“Ich danke dir für dein Interesse und deine Großzügigkeit, doch ich fürchte, ich kann dein Angebot nicht annehmen”, erklärte Enric höflich und nickte kurz, bevor er sich abwandte. Es war an der Zeit, Eryn zu finden und sie zu warnen.

*  *  *

“Er hat was getan?”, keuchte Eryn und starrte ihren Gefährten entsetzt an. Das konnte nicht wahr sein! Keinesfalls konnte ein Mann, der kaum mehr als ein paar Sätze mit ihr gewechselt hatte, töricht genug sein, um an ihren Gefährten heranzutreten in der Absicht, eine Nacht mit ihr zu erwerben?

“Ein wenig leiser, wenn du so gut wärst”, zischte Erbál. “So etwas ist hier üblich. Wenn jemand Gefallen an dem Gefährten einer anderen Person findet, dann unternimmt man sehr höfliche Schritte in dem Versuch, eine vergnügliche Nacht für sich zu arrangieren. Das bedeutet, dass man eine Ausgleichszahlung anbietet, und sofern diese akzeptiert wird, tritt man an die fragliche Person heran und lädt sie ein.”

“Das ist geisteskrank!”, beklagte sich Eryn flüsternd und spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. Der hatte Nerven einfach anzunehmen, ihr Körper stünde zum Verkauf! Wirkte sie dermaßen verzweifelt und mittellos, dass jemand dächte, sie würde auch nur daran denken, solch ein dreistes Angebot anzunehmen? Welche Art von Botschaft schickte die Kleidung, in die Erbál sie gesteckt hatte?

“Es ist hier gang und gäbe, und ich würde dich dringend ersuchen, diese Diskussion zu verschieben, bis wir hier fort sind. In der Zwischenzeit rate ich dir, es als Kompliment zu betrachten und solche Angebote schlicht und einfach höflich abzulehnen, sollten dir noch weitere gemacht werden”, beharrte Erbál mit einem leisen Murmeln.

Eryn knirschte mit den Zähnen, dann verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. Ein Kompliment, was? Nun, das würde sich noch zeigen.

“Wer war es?”, verlangte sie zu wissen.

“Du meinst, wer ein Interesse an deiner Gesellschaft geäußert hat?”, fragte Enric, nicht besonders angetan von ihrem Interesse.

“Ja. Zeig ihn mir.”

Ihr Gefährte seufzte und drehte sich um und zurück zu den Gästen. Einige von ihnen tanzten, während andere herumstanden und sich über dem einen oder anderen Getränk unterhielten.

“Siehst du den Mann mit dem grünen Rock mit der dunkelgelben Weste darunter?”

“Den großen mit den roten Haaren und dem Schnurrbart?”

“Nein, weiter rechts. Dunkle Haare mit grauen Schläfen.”

Eryn betrachtete ihn eine Weile, dann zuckte sie mit den Schultern. Er war nicht eben von umwerfender Erscheinung, aber dennoch ansprechend genug, dass sie nicht damit gerechnet hätte, dass er für Geschlechtsverkehr bezahlen musste. Oder willens wäre. Nun, das bedeutete womöglich, dass sie es tatsächlich als Kompliment erachten konnte.

Erbál nahm Enric das kleine Stück dicken Papiers aus der Hand und reichte es Eryn. “Hier. Das hat er Enric für das Vergnügen deiner Gesellschaft geboten.”

Eryn faltete es auseinander und runzelte die Stirn über die Zahl. Rasch berechnete sie, welchem Betrag dies in Anyueel in Goldstücken entsprach. Eine Münze aus Pirinkar war ungefähr ein ein-dreiviertel Goldstück wert… Sie riss die Augen auf.

“Das sind mehr als fünfhundert Goldstücke!”, hauchte sie. “Für eine einzige Nacht mit mir?”

“Fünfhundert fünfundzwanzig”, fügte Enric trocken hinzu. “Kann ich davon ausgehen, dass du das Angebot nun als Kompliment anstatt als Beleidigung erachtest?”

“Nun…” Sie schluckte. “Ich schätze schon.” Sie wandte sich an Erbál. “Obwohl das davon abhinge, was der gängige Preis für solche Arrangements ist.”

“Lass mich dir versichern, dass er großzügiger war als ich erwartet hätte. Es scheint, als gefiele ihm der Gedanke daran, er könnte sich als Erster damit brüsten, eine Nacht mit dir verbracht zu haben.”

“Du sagst also, dass du nicht denkst, ich wäre diese Summe wert und dass du überrascht bist, dass jemand anderer in dieser Hinsicht nicht mit dir übereinstimmt?”, knurrte sie, aus irgendeinem unerfindlichen Grund von seinen Worten gekränkt.

“Ihm wärst du es jedenfalls wert, und das ist alles, was zählt”, erwiderte der Botschafter mit einem Grinsen. “Ich fürchte, ich habe deinen Stolz soeben ein wenig verletzt. Bitte verzeih mir – ich wollte nicht ungalant sein. Ich bin sicher, du wärst eine wundervolle Ablenkung für jeden Mann, der das Glück hat, sich deine Gesellschaft für eine Nacht zu sichern.”

Ich bin der einzige Mann, der sich ihre Gesellschaft für sämtliche Nächte sichert”, wandte Enric mit einer gewissen Schärfe ein und signalisierte damit wenig subtil, dass er keinesfalls willens war, dieses Thema noch weiter zu erörtern. Zuvor war sie darüber entsetzt gewesen, dass man sie wie eine Ware behandelte, und nun diskutierte sie, wie angemessen der angebotene Betrag war. Er hatte Ersteres vorgezogen. “Wie viel länger müssen wir noch bleiben?”, fragte er dann zur Überraschung seiner Gefährtin. Dies war das erste Mal, dass er derjenige war, der diese Frage an ihrer statt stellte.

Erbál hütete sich, sich in diesem Moment über ihn lustig zu machen. “Die Gäste werden bald für ein spätes Abendessen in den benachbarten Raum gerufen werden. Das ist der Zeitpunkt, wo es akzeptiert wird, wenn sich die ersten Gäste verabschieden, ohne dass daraus ein Anlass zum Ärgernis erwächst.”

“Gut. Dann werden wir genau das tun. Oder zumindest Eryn und ich. Dir steht es natürlich frei, ohne uns zu bleiben.”

Der Botschafter schüttelte den Kopf und lächelte. “Ich würde euch lieber begleiten und mir anhören, was eure Eindrücke von diesem Abend waren.”

*  *  *

Erbál reichte Eryn eine dampfende Tasse mit dem cremigen, süßen Getränk, das die Leute – besonders Kinder – hier am Beginn und am Ende des Tages bevorzugten. Behutsam nahm sie sie entgegen, sorgsam darauf bedacht, nur den Henkel zu berühren und sich nicht die Finger zu verbrennen.

Es war kurz vor Mitternacht, und sie hatte soeben dieses schreckliche Kleid abgelegt und sich ihr Nachthemd angezogen. Es war nicht wirklich angemessen, sich irgendjemandem außerhalb der Familie im Schlafgewand zu präsentieren, doch die Schicklichkeitsregeln konnten ihr gestohlen bleiben. Sie enthüllte nichts in unanständiger Weise und hätte es absolut lächerlich gefunden, sich etwas anderes überzuziehen, wenn sie ohnehin bald zu Bett gehen würden. Und das hier war Erbál, ein alter Freund, der kein einziges Mal irgendein unangemessenes Interesse an ihr gezeigt und noch nicht einmal mit ihr geflirtet hatte um sie zu necken, so wie es sein Nachfolger Ram’kel zuweilen zu seiner eigenen Belustigung tat. Und dass Enric trotz seiner Tendenz zur Eifersucht entspannt wirkte, musste bedeuten, dass dies hier eine akzeptable Ausnahme war.

Sobald sie sich gesetzt hatte, wandte sich Enric an ihren Gastgeber. “Also. Erzähl mir mehr über diesen seltsamen Brauch, sich ein paar Stunden mit der Gefährtin einer anderen Person zu kaufen. Das kommt mir etwas merkwürdig vor in einer Kultur, die emotionale Distanz schätzt, übermäßig korrekt dabei vorgeht, alle möglichen Dinge zu dokumentieren und darauf achtet, dass die Grenzen zu anderen gewahrt bleiben.”

Erbál lächelte. “Ich weiß, dass man in Anyueel mit dem Prinzip der Prostitution vertraut ist. Und auch in Takhan. Sexuelle Gefälligkeiten gegen Bezahlung sollen angeblich eines der ältesten Gewerbe sein. Neu ist hier lediglich die Tatsache, dass ein Lebensbund nicht mit dem gleichen Ausmaß an Exklusivität einhergeht, wenn es darum geht, die Vorzüge seines Partners zu genießen.”

Eryn zog die Stirn in Falten. “War das nicht ursprünglich der einzige Sinn hinter der Einführung eines Lebensbundes? Um eine rechtliche Basis für genau diese Exklusivität zu schaffen?”

“Ja, vor vielen Jahrhunderten”, stimmte der Botschafter zu. “Doch wenn du die Gründe dafür betrachtest, dann kannst du sehen, weshalb man das heutzutage nicht mehr als ganz so notwendig erachtet. Erstens gab es damals noch keine magische Heilung, was bedeutet, dass Krankheiten, die durch geschlechtlichen Verkehr übertragen wurden, ein beträchtliches Problem waren. Dass dein Partner nicht mit anderen Leuten schlief war ein Weg, um Ansteckung zu vermeiden. Und dann wollte man noch sichergehen, dass die eigenen Nachkommen auch wirklich von einem selbst abstammten. Zumindest soweit es Männer betraf. Aus diesem Grund waren Männer in der Regel auch strenger, wenn es um die Treue der Frauen ging. Sie erkannten nicht, dass ihre Gefährtinnen Verführungsversuchen durch andere Männer weniger häufig ausgesetzt gewesen wären, hätte man diese Männer ebenso hart bestraft.”

Nachdenklich blickte Enric zur Decke empor. “Du sagst also, dass die praktischen Überlegungen, die Monogamie wünschenswert gemacht haben, nicht länger erforderlich sind, um körperliche Gesundheit zu gewährleisten und sicherzustellen, dass man nicht die Kinder eines anderen aufzieht? Das würde bedeuten, dass hier die emotionale Komponente keine übergeordnete Rolle spielt für ein Kommitment. Mein Hauptgrund dafür, dass ich nicht will, dass Eryn mit anderen Männern schläft, ist sicherlich nicht meine Angst, sie könnte schwanger werden oder eine Krankheit an mich weitergeben, sondern weil ich jemanden, den ich liebe und als zu mir gehörig betrachte, nicht teilen will.”

Erbál nickte zustimmend. “In der Tat. Doch wir müssen in diesem Fall zwischen den Klassen unterscheiden. Die meisten Kommitments hier sind nicht das Ergebnis daraus, dass sich zwei Menschen ineinander verlieben und einander immerwährende Liebe schwören. Meist geht es dabei um finanzielle und politische Überlegungen – und auch um den Wunsch, Nachkommen mit dem Makel der Magie zu vermeiden.”

“Also genau wie in den Westlichen Territorien”, murmelte Eryn. “Nur dass man dort das magische Potential erhöhen anstatt ausrotten will.”

“Aber, aber”, erwiderte Erbál mit einem leichten Vorwurf in der Stimme, “da muss ich widersprechen. Zuhause ist uns lediglich daran gelegen, junge Menschen zu vorteilhaften Verbindungen zu ermutigen – ganz sicher zwingen wir sie nicht dazu, wenn sie anderweitig geneigt sind. Denk an deine Schwester Pe’tala – sie ist ein gutes Beispiel. Sie entschied, sich nicht an ihren Verehrer zu binden, und das wurde ohne jeden Überredungsversuch akzeptiert. Nun, zumindest von Seiten ihres Vaters und den Eltern des Jungen. Wir schätzen eine emotionale Bindung, da wir nicht wollen, dass unsere Kinder bitter und unglücklich werden. Denn sobald Emotionen eine Rolle spielen, wird der Gedanke, den Partner mit anderen zu teilen, inakzeptabel.”

Enric wirkte nachdenklich. “Du hast erwähnt, man müsse zwischen den sozialen Klassen unterscheiden. Ich schätze, das bedeutet, dass arrangierte Kommitments vorwiegend eine Strategie der höheren Klassen sind? Alle anderen folgen dem Prinzip, sich aus Liebe an eine andere Person zu binden?”

Erbál lächelte. “Nun, sagen wir stattdessen lieber, dass sie es zumindest als Ideal betrachten, dem Herzen zu folgen. Genau wie wahrscheinlich auch an jedem anderen Ort der Welt, haben Kommitments eine Auswirkung auf die finanzielle Situation. Die Kinder eines reichen Händlers oder Handwerkers werden stets mehr Anwärter auf ihre Hand haben als die eines armen Straßenfegers. Das ist hier nicht anders als in jedem unserer Länder.”

“Nach Herzenslust die Partner untereinander zu tauschen ist also lediglich eine dekadente Sitte unter den Reichen, weil sie in lieblose Kommitments gezwungen wurden. Wie reizend”, knurrte Eryn. “Können die Frauen zumindest mitreden, mit wem sie die Nacht verbringen, oder werden sie lediglich informiert, bei welcher Adresse sie auftauchen sollen?”

“Du missverstehst mich”, korrigierte Erbál sie. “Das betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Solltest du einen anziehenden Mann treffen, mit dem du die Nacht verbringen willst, steht es dir ebenso frei, an seine Gefährtin heranzutreten und ihr ein Angebot für das Vergnügen seiner Gesellschaft zu unterbreiten. Sollte sie akzeptieren, ist das noch kein Versprechen, dass es auch passieren wird. Es ist nichts anderes als ihr Einverständnis, dass du ihn einladen kannst. Er hat noch immer jedes Recht abzulehnen, solltest du nicht nach seinem Geschmack sein. Das Gleiche gilt für Frauen. Hätte Enric dem Angebot heute Abend zugestimmt, so wärst du noch immer in einer Position gewesen, es abzulehnen.”

“Wenn ich darüber nachdenke”, sinnierte Enric, “dann schätze ich, dass es doch zu der Kultur passt. Es ist ein recht kalter und distanzierter Weg, um seine körperlichen Bedürfnisse zu stillen.”

“Es ist Prostitution, nichts weiter”, knurrte Eryn.

Erbál zuckte mit den Schultern. “Das ist ein Standpunkt. Keiner, den ich teile, wohlgemerkt. Prostitution ist meiner Ansicht nach kein Handel zwischen Gleichgestellten, sondern einer, wo die Bedürfnisse einer Person Vorrang haben. Das ist hier nicht der Fall. Beide Parteien müssen zustimmen, und da wir hier über eine soziale Klasse sprechen, die in der Regel nicht dringend auf Geld angewiesen ist, spielen finanzielle Anreize kaum jemals eine große Rolle.” Er hielt kurz inne, dann korrigierte er: “Obwohl ich zugeben muss, dass Personen mit sehr hohem Ansehen erheblich seltener – wenn überhaupt – eine Abfuhr erhalten.”

“Was bedeutet, dass es eine Beleidigung wäre, und dass die Leute vermeiden wollen, wichtige Leute gegen sich einzunehmen?”, vermutete Eryn. “Was bedeutet das für uns? Wie wichtig war der Mann, der heute Abend dieses Angebot für mich gemacht hat?”

Der Botschafter winkte ab. “Wie sein Angebot zeigt, hat er beträchtliche Mittel zu seiner Verfügung, doch er hält kein Amt, das es ihm ermöglichen würde, uns das Leben zu erschweren, wenn er uns die Kooperation verweigert. Obwohl sich niemals sagen lässt, wer seine Freunde sind und ob diese willens wären, dich für eine empfundene Beleidigung zu bestrafen.”

“Das bedeutet, wir sollten hoffen, dass niemand wie Etor Gart ein Angebot macht”, knurrte Enric. “Ich habe nicht die Absicht, dieses Ausmaß an Nachgiebigkeit an den Tag zu legen, um uns eine Chance auf Fortschritt zu sichern.”

“Ich bin zuversichtlich, dass das nicht nötig sein wird”, versuchte Erbál ihn zu beruhigen. “Leute in seiner Position sind mit so etwas in der Regel vorsichtiger. Ohne Zweifel sind sich die meisten von ihnen im Klaren darüber, dass eure Länder es nicht mit dieser Art Brauch halten.”

“Du könntest auch dieses Mal wieder falsch liegen”, erwiderte Enric gnadenlos. “Du dachtest auch, niemand wäre so kühn, wenig mehr als einen Tag nach unserer Ankunft hier mit solch einem Angebot an uns heranzutreten.”

Erbál presste als Reaktion auf diesen Vorwurf einen Moment lang die Lippen aufeinander, blieb aber ruhig. “Du hast Recht, ich habe die Situation falsch eingeschätzt”, gab er mit einer gewissen Steifheit zu. Er war bekannt dafür, dass er bei seinen Annahmen größte Vorsicht walten ließ. Pe’tala hatte vor einigen Jahren ihre Schwester sogar ausgelacht, weil sie Erbáls Worte in Zweifel gezogen hatte. Immerhin war bekannt, dass er immer richtig lag. Es musste an ihm nagen, dass er sich geirrt hatte. Und dass Enric so unverblümt den Finger darauf legte, musste es noch unangenehmer machen.

“Nun, es war nur eine Kleinigkeit. Und es ist kein Schaden daraus entstanden”, warf Eryn ein, ihr Ton versöhnlich. Mit einem Seitenblick auf Enric fügte sie hinzu: “Die Person, deren Voraussagen ohne Fehl zutreffen, muss ich erst noch kennenlernen.”

Enric verstand den Hinweis und seufzte, dann drehte er sich zu Erbál. “Ich entschuldige mich. Dieser Vorfall hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Und der Gedanke, meine Weigerung dahingehend, dass andere Männer mit meiner Gefährtin intim werden können, könnte zu Komplikationen führen, macht mich nervös. Und dass die Männer in dieser Stadt glauben, sie hätten die Freiheit, über Eryn als mögliche Bettpartnerin auch nur zu denken, verstört mich noch mehr.”

“Ich verstehe”, erwiderte Erbál großzügig. “Keine Sorge. Ich fühle mich nicht angegriffen. Ich kann dir nur sagen, dass das Gesetz Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung untersagt, also liegt es in deiner Macht, ihn abzulehnen. Jeder Versuch, Eryn dazu zu zwingen, würde der Person, die es versucht, nicht nur öffentliche Schande einbringen, sondern hätte auch ernsthafte juristische Konsequenzen. Aber lasst uns nicht länger bei diesem unangenehmen Thema verweilen und lieber besprechen, wie wir weiter vorgehen sollen.”

Eryn zog fragend eine Augenbraue hoch und beschrieb mit ihrem Zeigefinger einen Halbkreis in der Luft. Das war die Geste, die der König bei seinem Besuch in der Klinik vor ein paar Jahren benutzt hatte, um ihr zu signalisieren, dass sie eine schalldichte Barriere errichten sollte. Doch anders als sie selbst damals, schien Erbál sofort zu verstehen, was sie damit meinte. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf und gab ihr damit zu verstehen, dass potentielle versteckte Zuhörer keinerlei wertvolle Einblicke von der nachfolgenden Unterhaltung gewinnen würden. Es war ein Thema, von dem erwartet wurde, dass sie es besprachen.

“Wir sollten mit den Priestern in Kontakt treten”, schlug Enric vor.

Der Botschafter nickte. “Daran habe ich ebenfalls gedacht. Ich würde empfehlen, dass ihr nicht sofort mit euren Recherchen beginnt, sondern erst daran arbeitet, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Nur ungern teilen die Leute hier Informationen mit Fremden oder arbeiten mit ihnen zusammen. Was bedeutet, ihr solltet daran arbeiten, nicht als Fremde wahrgenommen zu werden.”

Eryn seufzte. Das klang nach einem zeitintensiven Unterfangen – besonders, da sie hier über fünf Tempel sprachen. Vedric würde wohl schon mitten in der Pubertät sein, bevor seine Eltern zurückkehrten, grübelte sie säuerlich.

“Ich schlage vor, ihr beginnt mit dem Tempel des Inneren Zirkels”, legte Erbál ihnen nahe.

Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. “Das ist derjenige, dem Malriels Ankläger entstammt.”

“Genau der”, bestätigte Erbál. “Meine Hoffnung ist, dass sie noch immer angemessen beschämt sind und es daher als eine Art Wiedergutmachung betrachten, mit euch zu kooperieren.”

“Dann werden wir dort beginnen”, pflichtete Enric bei, bestrebt zu zeigen, dass er Erbáls Einschätzung vertraute, obwohl er ihn zuvor beleidigt hatte. “Ich erinnere mich an die Notizen zu den Tempeln, die du während deiner jährlichen Besuche in Takhan angefertigt hast. Vor unserer eiligen Abreise habe ich sie mir noch einmal durchgesehen, doch ich könnte deine Hilfe dabei gebrauchen, mir die Details noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Und Eryn hat sie überhaupt nicht gesehen.”

Erbál nickte und setzte sich etwas bequemer in seinen massiven Stuhl, um sich für ein längeres Gespräch einzurichten. Eryn erhitzte ihr cremiges Getränk noch einmal und hörte sich an, wie die Magier in dieser Stadt lebten.

»Ende der Leseprobe«

Lesung aus „Der Orden“ vom 4.3.2020

Danke an die Stadtbücherei Ansfelden für die Einladung zur Lesung! Und auch an Kremstaldirekt für den Beitrag!

„Königliche Schwierigkeiten“ – Der Orden: Buch 6

Kapitel 1

Heimkehr

Enric und sein Sohn hoben beide den Blick von dem Brettspiel zwischen ihnen und blickten zu den beiden Frauen hin, die einander auf dem Rasen in recht brutaler Weise mit dem Schwert attackierten. Pe’talas triumphierender Ausruf, der nun anstatt des Hintergrundgeräuschs von klirrendem Stahl ertönt war, hatte sie zum Aufblicken veranlasst.

“Was ist eine selige Schuldigung für eine Kämpferin?”, fragte der fünfjährige Junge neugierig, indem er wiederholte, was seine Tante seiner Ansicht nach soeben mit schadenfroher Boshaftigkeit von sich gegeben hatte. Seiner Mutter und seiner Tante beim Schwertkampf zuzusehen war stets eine unversiegbare Quelle spaßiger neuer Ausdrücke. Aus irgendeinem Grund jedoch schien sein Vater in der Regel nicht besonders erfreut, wenn er Fragen zu deren Bedeutung beantworten musste. Zuweilen schlug er sogar vor, sie sollten hineingehen und ihr Spiel im Hauptraum fortsetzen, doch Vedric schüttelte jedes Mal heftig den Kopf, unwillig, das unterhaltsame Spektakel aufzugeben.

“Eine armselige Entschuldigung für eine Kämpferin”, korrigierte ihn Enric geistesabwesend, während er beobachtete, wie sich Eryn hinter einen Baum duckte, nachdem sie ihr Schwert verloren hatte. “Es bedeutet, dass deine Tante denkt, deine Mutter könne mit ihrem Schwert nicht besonders gut umgehen.”

“Ich finde, sie kann das sehr gut”, äußerte Vedric loyal, wenngleich sein Gesichtsausdruck deutlich zeigte, dass er es nicht eben als heldenhaften Zug betrachtete, dass sich seine Mutter hinter einem Baum verschanzte.

“Komm hinter diesem wehrlosen Baum hervor und ergib dich, du jämmerlicher Feigling!”, rief Pe’tala und schwang ihr Schwert als wäre sie drauf und dran, den erwähnten hilflosen Baum mit einem einzigen Hieb zu fällen.

“Jämmerlicher Feigling”, kicherte Vedric und bedeckte seinen Mund mit beiden Händen. Seine braunen Augen funkelten vor Vergnügen darüber, dass er all diese unfreundlichen Worte mitanhören konnte, mit denen er in Gegenwart von Erwachsenen nicht um sich werfen durfte.

Enric seufzte in dem Bewusstsein, dass die Aufmerksamkeit seines Sohnes in nächster Zeit wohl kaum zum Spiel zurückkehren würde. Einerseits störte es ihn keineswegs, dass der Junge den beiden Frauen beim Kampf zusah. Das würde ihm ein grundlegendes Verständnis von einer Disziplin vermitteln, die er selbst in etwa einem halben Jahr zu trainieren beginnen würde müssen. Andererseits entsprachen Eryns und Pe’talas Vorstellungen von Schwertkampf nicht gerade dem, was der Orden als… angemessen empfand. Fluchen und Beschimpfungen waren ein Teil davon, und zudem auch noch ein recht unübliches Ausmaß an Kreativität. Diese beiden Frauen legten eine unverfrorene Missachtung dessen an den Tag, was gemeinhin als ehrenhaftes Verhalten im Kampf erachtet wurde. Sollte Vedric diesem Beispiel folgen, würde er die Geduld seines zukünftigen Kampftrainers zuhause in Anyueel auf eine harte Probe stellen.

Der Junge und der Mann sahen von der Terrasse aus zu, wie Eryn ein paarmal tief durchatmete. Dann errichtete sie einen Schild, schoss einige magische Blitze auf ihre Schwester ab und stürmte dorthin, wo ihr Schwert im Gras lag. Pe’tala schützte sich hastig mit einem Schild vor den Geschossen und fluchte, als Eryn die Waffe erreichte und ihr so ein einfacher Sieg verwehrt wurde.

Enric räusperte sich, dann erhob er die Stimme: “Darf ich euch nochmals daran erinnern, dass ein Kind anwesend ist?”

Pe’tala lächelte entschuldigend in seine Richtung und näherte sich erneut ihrer älteren Schwester.

Vedric beobachtete einige Sekunden lang den raschen Austausch an Hieben. Als sich allerdings nichts Interessantes ankündigte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Vater.

“Warum müssen wir von hier weggehen? Ich will hierbleiben. Können wir nicht hierbleiben?”

Enric unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Genau diese Diskussion hatten sie bereits mindestens zehn Mal in ebenso vielen Tagen geführt. Und vor sechs Monaten war es genau gleich verlaufen, als sie kurz davor waren, Anyueel zu verlassen und nach Takhan zu gehen. Es war nicht so, als wäre der Junge unwillig, nach Takhan oder Anyueel zu gehen, er sträubte sich lediglich dagegen, von dort fortzugehen, wo er sich gerade aufhielt.

“Ich verstehe, weshalb du gerne länger bleiben möchtest. Aber ich fürchte, es liegt nicht in meiner Macht, dir diesen Wunsch zu erfüllen. Deine Mutter und ich würden uns beträchtlichen Ärger mit Lord Tyront und dem König einhandeln, würden wir uns einfach weigern zurückzukehren.” Er zerzauste das braune Haar seines Sohnes, das nach einem halben Jahr unter der Sonne der Westlichen Territorien heller als üblich war. “Es gibt auch etwas Gutes dabei. Du wirst Plia und deine Großmutter Gerit wiedersehen.”

Während er seiner Tante dabei zusah, wie sie gewandt einem Angriff auswich, nickte er langsam, als würde er abwägen, ob sie sechs Monate lang nicht zu sehen ein adäquater Preis für den Vorteil war, Plia und seine Großmutter wiederzuhaben.

“Verdammt!”, hörten sie Pe’tala fluchen und blickten einmal mehr zum Gras. Dort lag sie auf dem Boden, während Eryn ihrer Schwester mit einem selbstgefälligen Grinsen die Spitze ihrer Klinge an den Hals hielt.

Vedric sprang auf und klatschte aufgeregt in die Hände. Ein zufälliger Beobachter hätte dieses offensichtliche Vergnügen über den Sieg seiner Mutter womöglich reizend gefunden, doch die Reaktion war genau die gleiche, wenn seine Tante siegreich aus einem Kampf hervorging.

“Was war Pe’talas großer Fehler? Warum konnte deine Mutter gewinnen?”, fragte Enric seinen Sohn. Er konnte diese Gelegenheit ebenso gut nutzen, um Vedric etwas beizubringen, dass sich eines Tages zweifellos als nützlich erweisen würde.

Eine Weile starrte ihn der Junge an, dann sah er zu dem Baum, hinter dem sich Eryn versteckt hatte. Nach etwa einer halben Minute zuckte er mit den Achseln.

“Pe’tala hat deiner Mutter die Waffe weggenommen. Doch anstatt sicherzugehen, dass deine Mutter sie nicht mehr erreichen kann, hat sie sie auf dem Boden liegengelassen.”

Vedric schien das für keine besonders interessante Enthüllung zu halten und sah zu, wie sich die beiden Frauen der Sitzinsel auf der Terrasse näherten. Eryn löste den Schild auf, den sie errichtet hatten, um die Terrasse von ihrem vorübergehenden Kampfschauplatz abzutrennen und so den Jungen vor Schaden zu bewahren.

Pe’tala ließ sich auf ein Kissen neben ihrem Neffen sinken und nickte zu dem Spiel hin. “Wer hat gewonnen?”

“Niemand”, erwiderte Enric. “Irgendwie haben ihn eure Beleidigungen zu stark abgelenkt, als dass er sich auf das Spiel hätte konzentrieren können.”

Sie winkte ab. “Die waren harmlos. Du solltest mich hören, wenn niemand in Hörweite ist.”

“Weißt du, warum du verloren hast?”, schulmeisterte Vedric sie in überlegener Manier.

Seine Tante schnaubte. “Hör sich das einer an! Ganz wie dein Vater. Er genießt es ebenfalls, die Leute in den zweifelhaften Genuss seiner Weisheiten kommen zu lassen. Dann sag schon; weshalb habe ich verloren?”

“Weil Mutter ihr Schwert zurückbekam! Das war deine Schuld”, teilte er seine geborgte Weisheit.

Mit einem leicht gereizten Lächeln lehnte sich Pe’tala vor. “Wirklich. Nun, da du solch ein kluger junger Mann bist, kannst du mir sicher sagen, wie ich es besser hätte machen können?”

Von einem Augenblick zum nächsten geriet Vedrics Selbstbewusstsein ins Wanken. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Er hatte einfach nur etwas Kluges und Erwachsenes sagen wollen, um einen Moment lang zu glänzen, nichts weiter.

Enric lächelte nachsichtig über den leicht flehenden Blick seines Sohnes. “Das passiert, wenn du die Meinung anderer Leute als deine eigene präsentierst. Lass dir das eine Lehre sein.”

Der Junge war eindeutig nicht besonders angetan davon, wie sich das Gespräch entwickelt hatte und entschied, seine Aufmerksamkeit der einzigen Erwachsenen zuteilwerden zu lassen, die noch nicht bei ihm in Ungnade gefallen war: seiner Mutter.

Wortlos stand er von seinem Platz zwischen seinem Vater und seiner Tante auf und legte demonstrativ die paar Schritte zu Eryn zurück, um sich neben sie zu setzen.

“Ich bin froh, dass du gewonnen hast”, murmelte er mit einem Seitenblick auf seine Tante.

“Das bin ich ebenfalls”, stimmte Eryn zu und verbarg ein Lächeln. Nun schien es, als wäre sie allein die glückliche Empfängerin all seiner Aufmerksamkeit. Nun, sie würde das Beste daraus machen. “Und weißt du was? Sie hätte mich dieses Schwert wirklich nicht mehr aufheben lassen dürfen. Ich meine, ich stand ohne Waffe hinter einem Baum versteckt! Sie hätte sich zwischen mich und das Schwert stellen sollen, damit ich es nicht erreichen kann.”

Vedric nickte nachdrücklich. “Ja!”

Pe’tala verdrehte die Augen. “Oh bitte, Schwester! Es ist einfach nur erbärmlich, wie sehr es dich nach Zuwendung dürstet. Schlicht und ergreifend beschämend.” Sie sah sich um. “Wo ist übrigens meine Brut? Sie schläft doch wohl nicht noch immer?”

Enric schüttelte den Kopf. “Nein, sie ist vor etwa einer Stunde aufgewacht. Rolan hat sie zu einem Besuch bei deinem Vater mitgenommen.”

“Und ihr beiden wolltet lieber hierbleiben und uns beim Kämpfen zusehen”, erkundigte sich Pe’tala, “anstatt sie zu begleiten?”

“Wir entschieden uns dafür, ein paar friedliche Stunden hier zu verbringen, da wir Takhan in zwei Tagen verlassen. Und Valrad sehen wir morgen ohnehin bei der kleinen Zusammenkunft, die Malriel zu unserem Abschied arrangiert hat.” Er lächelte, als Eryn stöhnte – ihre übliche Reaktion, wenn solche Anlässe auch nur erwähnt wurden.

“Solltest du nicht auf dem Weg zu deinem Examen sein?”, fragte Eryn missmutig. Als würde ihn wegzuschicken sie auch gleichzeitig von der unangenehmen Aussicht befreien, dass sie nicht nur eine gesellige Veranstaltung besuchen musste, sondern auch noch eine, die von ihrer Mutter ausgerichtet wurde.

Enric nickte. “Ich werde etwa in einer halben Stunde aufbrechen und sollte mich jetzt fertigmachen. Wünscht mir Glück.”

Pe’tala grinste. “Warst du nicht derjenige, der mir einmal erklärte, Glück bräuchten nur diejenigen, die nicht vorbereitet sind? Dass fleißige Leute, die vernünftig genug sind, um sich ausreichend vorzubereiten, solch ein abstraktes Konzept nicht benötigen, dass es eine Frage von Ursache und Wirkung sei?”

Er seufzte und stand auf. “Natürlich kann ich mich darauf verlassen, dass du mir meine Worte in solch einem Moment vorhältst.”

Sie lehnte sich vor. “Sag mir nicht, du bist nervös, Ordenslord? Solch ein mickriges kleines Examen wird dich doch wohl kaum aus der Ruhe bringen?”

“Das ist kein mickriges, kleines Examen, wie du es nennst”, konterte er, gereizt darüber, dass ihre Worte nicht ganz ungerechtfertigt waren. Er war tatsächlich ein wenig nervös und schätzte es weder, dass es ihr aufgefallen war, noch dass sie sich über ihn lustig machte. “Nachdem ich es bestehe, werde ich in diesem Land als vollwertiger Rechtsgelehrter anerkannt sein”, erwiderte er würdevoll.

“Und welch ein lebensverändernder Umstand das sein wird”, meinte Pe’tala mit einem abfälligen Grinsen. “Es ist nicht so, als hättest du nicht ohnehin Zugriff auf erstklassige juristische Betreuung gehabt, wenn man bedenkt, dass der Bruder deiner Gefährtin und dein enger Freund Ram’an beide Rechtsgelehrte sind.”

Eryn hob ihre Hand und umschloss damit seine Finger. “Hör nicht auf sie. Alles wird gutgehen. Daran hast du die letzten vier Jahre gearbeitet. Geh und beeindrucke sie!”

“Toller Zeitpunkt übrigens”, fuhr Pe’tala fort ihn zu reizen. “Du legst dein großes Abschlussexamen ab, wenn du gerade drauf und dran, bist das Land zu verlassen, in dem du damit etwas anfangen könntest.”

“Halt die Klappe, Tala”, knurrte ihre ältere Schwester.

“Halt die Klappe, Tala”, krähte Vedric glücklich, was ihm einen kühlen Blick seitens seiner Tante einbrachte.

“Sie kann das sagen, du nicht”, tadelte sie ihn.

Bedrückt ließ sich der Junge in die Kissen zurücksinken und sinnierte darüber, wie ungerecht Erwachsene im Allgemeinen waren. Wenn es schlecht war, dann sollte niemandem erlaubt sein, es zu sagen. Wenn es nicht schlecht war, warum durfte er es dann nicht sagen? Er hegte den Verdacht, dass sie sich diese Regeln einfach im Vorbeigehen ausdachten. Wenn er eines Tages erwachsen war und somit selbst Regeln erfinden durfte wie es ihm passte, würde er niemals ungerecht zu Kindern sein, schwor er sich. Er würde wie Vern sein. Vern war alt aber nett.

“Mach mich stolz, Geliebter”, lächelte Eryn zu ihrem Gefährten empor. “Mach die Welt zu einem besseren Ort, indem du ihr etwas gibst, dass sie so dringend braucht: noch einen Juristen.”

Enric knirschte mit den Zähnen und zog seine Hand aus ihrer. “Danke für eure Unterstützung, ihr beiden.”

Pe’tala kicherte, als er sich umdrehte und durch die Terrassentür nach drinnen verschwand.

Eryn drückte sich von ihrem Kissen hoch.

“Du gehst ihm nach und hältst seine Hand, um seine Nerven zu beruhigen, so wie eine unterstützende, hingebungsvolle Gefährtin, Schwester?”

“Selbstverständlich, du Dummkopf”, erwiderte Eryn und folgte ihm hinein.

Vedric biss sich auf die Lippe. Sein erster Impuls wäre gewesen, den unschmeichelhaften Ausdruck zu wiederholen, einfach aus Freude darüber, dass er ihn gehört hatte.

“Wage es nicht”, warnte seine Tante ihn mit zusammengekniffenen Augen, als könnte sie seine Gedanken lesen. “Ich würde nicht besser darauf reagieren, wenn du mich einen Dummkopf nennst als wenn du mir sagst, ich solle die Klappe halten.”

Der Junge verschränkte die Arme und blitzte sie an. “Jetzt gerade mag ich dich nicht.”

Pe’tala nickte in offenkundigem Verständnis für seine Gefühle. “Das ist schon in Ordnung. Das geht vorbei.”

* * *

Während sie sich im Aren Hauptraum mehr oder weniger vor Malriels Gästen und insbesondere vor Malriel selbst versteckte, ließ Eryn ihren Blick über die ausgedehnten Gärten wandern und hielt sich an ihrem Glas süßen Weißweins fest. Wieder eine dieser mühsamen Veranstaltungen, auf deren Abhaltung das Oberhaupt von Haus Aren in regelmäßigen Abständen bestand. Um die soziale Struktur aufrechtzuhalten, wurde Malriel nicht müde ihrer Tochter immer wieder zu erklären. Und natürlich war die bevorstehende Abreise von Eryn, Enric und ihrem Sohn nach ihrem jüngsten sechsmonatigen Aufenthalt in Takhan ein fabelhafter Vorwand für diese Zusammenkunft hier.

Seit fünf Jahren waren sie nun schon gezwungen, ihr Leben zu gleichen Teilen zwischen den Städten Anyueel und Takhan aufzuteilen. Wenngleich in Enrics Fall nicht ganz so viel Zwang erforderlich gewesen war, wie er freimütig zugab. Er war zufrieden mit diesem Arrangement, das es ihm gestattete, in beiden Ländern seinen Geschäften nachzugehen und gleichzeitig alle paar Monate ein wenig Freiheit vom Orden zu genießen. Und nun hatte er, erst am Vortag, seine Ausbildung zum Juristen abgeschlossen, indem er seine Abschlussprüfung mit hohen Ehren bestand.

Nicht, dass sie etwas anderes von ihm erwartet hatte. Der Orden – oder eher sein Vorgesetzter, Freund und Mentor Tyront – hatte alles getan, um Enric von einem faulen, jungen Tunichtgut in einen Mann zu verwandeln, der stets sein Möglichstes gab. Eine Einstellung, die Eryn nicht teilte. Erfolgen gegenüber hatte sie eine ökonomischere Einstellung. Die Aussicht auf eine gute Note konnte sie kaum dazu bewegen, mehr Aufwand zu betreiben, als die Sache ihrer Ansicht nach rechtfertigte.

Und dann war da Vedric, der nie etwas anderes als das Herumreisen zwischen seinen beiden Heimatorten kennengelernt hatte. Eryn hoffte, dass dies nicht eines Tages zu einem Problem werden würde. Was wäre wenn dieses ständige Entwurzeln jegliches Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Heimat zerstörte, das er sonst entwickelt hätte? Oder wenn ein rastloser Mann aus ihm würde, für den der bloße Gedanke daran, sich eines Tages mit einer Familie an einem Ort niederzulassen, eine Folter war und ihn dazu verdammte, für den Rest seines Lebens die Länder zu durchwandern?

Das waren genau die düsteren Gedanken, die von ihr Besitz ergriffen, wenn sie eine weitere gesellige Veranstaltung ertragen und dabei vorgeben musste, sie verstünde sich ganz fabelhaft mit ihrer Mutter, obwohl jede einzelne anwesende Person – ebenso wie eine Menge abwesender Personen – wusste, dass dem keineswegs so war. Wahrscheinlich warteten sie lediglich auf eine weitere dieser angespannten Auseinandersetzungen oder kurzen Ausbrüche zwischen Mutter und Tochter, die ihre Umgebung so ungemein unterhaltsam fand. Das würde den Klatschbasen Material für mindestens eine Woche liefern. Das war die eine Sache, die beide Seiten des Meeres gemeinsam hatten, ganz egal, welche Unterschiede sie trennten – diese Vorliebe für das Wetzen ihrer Zungen.

Misstrauisch stieß Eryn den Atem aus, als ihr Blick auf Malriel fiel, die in ihre Richtung kam. Malriel, das Oberhaupt von Haus Aren und Triarchin der Westlichen Territorien, war eine Schönheit – sehr zum Leidwesen ihrer Tochter. Nachdem sie erst vor ein paar Jahren in einen Lebensbund mit Eryns Vater eingetreten war, hatte er sie darum gebeten, ihr Äußeres nicht länger dahingehend zu verändern, dass sie jünger aussah. Eryn war überzeugt, dass die Gesetze der Natur nicht vorsahen, dass Menschen mit fortschreitendem Alter noch anziehender wirkten, zumindest nicht auf die Art und Weise, wie es bei Malriel der Fall war. Zehn zusätzliche Jahre hatten ihrer gefährlichen Ausstrahlung, erotischen Anziehungskraft und naturgegebenen Anmut keinen Abbruch getan. Auf unerklärliche Weise war genau das Gegenteil passiert. Es war, als würden ihr immenses Selbstvertrauen, ihre Anspruchshaltung und ihr respekteinflößender Ruf nun schlussendlich zu ihrem Alter passen. Dass Eryns Gesichtszüge beinahe ein Spiegelbild der ihrer Mutter waren, machte die Sache nicht besser. Überhaupt nicht. Unglücklicherweise trug es lediglich dazu bei, Eryn an ihre enge Verbindung zu erinnern, während es Enric dazu veranlasste, sich seiner Adoptivmutter gegenüber nachsichtiger zu zeigen – und empfänglicher für ihre Wünsche zu sein.

Malriel näherte sich der Terrassentür, während sie einen ungemein widerwilligen Vedric hinter sich herzog. Ihre Finger hatten sich fest um sein zierliches Handgelenk geschlossen. Das Gesicht des Jungen zeigte leichte Anzeichen von Panik, als erwarte er, dass irgendein Verderben unmittelbar über ihn hereinbrechen würde. Seine Großmutter wirkte grimmig und entschlossen. Und aufgebracht.

Falls Ärger ein Gesicht hatte, dann war es womöglich genau dieses. Und das bedeutete, dass die kurze Pause von dieser ermüdenden Zusammenkunft, die sich Eryn durch das Hineinschleichen gestohlen hatte, baldigst ein abruptes und wenig friedliches Ende finden würde.

Malriel blieb unmittelbar vor ihrer Tochter stehen und warf ihr einen steinernen Blick zu. “Warum hat mich mein Enkel gerade als Königin der Dunkelheit bezeichnet – vor meinen Freunden?”

Eryn unterdrückte eine Grimasse. Sie musste wirklich, wirklich vorsichtiger sein mit ihren Bemerkungen, solange Vedric in der Nähe war. Mit fünf Jahren war er alt genug, um Dinge rasch aufzuschnappen. Noch verstand er allerdings nicht so ganz, was er besser für sich behalten sollte, um niemanden zu beleidigen. Oder seiner armen Mutter Ärger einzuhandeln, wie in genau diesem Moment.

Sie sah zu ihrem Sohn hinab, dann wieder zu Malriel und zuckte mit den Schultern.

“Weil er trotz seines jungen Alters ungewöhnlich talentiert darin ist, den Charakter einer Person einzuschätzen?”, wagte sie sich vor. Sie entschied, dass Unverschämtheit diese Situation nicht mehr allzu sehr verschlimmern würde und sie ebenso gut versuchen konnte, sich ein wenig auf Malriels Kosten zu amüsieren.

Malriel presste einen Daumen und Zeigefinger gegen ihre Nasenwurzel und schloss die Augen, als kämpfe sie gegen sich anbahnende Kopfschmerzen. “Ist er das? Dann scheint es also, als wäre ihm das ganz allein eingefallen und meine Annahme, er müsse es von dir gehört haben, sei falsch.”

Eryn seufzte und hockte sich vor Vedric, der den Austausch der beiden Frauen mit einem verunsicherten Stirnrunzeln verfolgt hatte. Als wäre ihm bewusst, dass jemand in Schwierigkeiten steckte, er sich jedoch nicht sicher war, um wen es sich dabei handelte – und als hoffe er inbrünstig, es möge sich nicht herausstellen, dass er es sei.

“Was habe ich dir über diesen Ausdruck gesagt, Vedric?”, fragte sie eindringlich.

Er dachte kurz nach, dann gab er gehorsam wieder: “Ihn nicht in höflicher Gesellschaft zu verwenden.”

Sie nickte, richtete sich wieder auf und sah Malriel mit einer Miene an, die ausdrücken sollte, dass sich die Zunge eines Kindes nicht kontrollieren ließ.

Vedric meldete sich erneut zu Wort, und seine Stimme passte zu der Verwirrung auf seinem Gesicht, als er ungebeten hinzufügte: “Aber du hast zu Vater gesagt, dass Malriel vom verdammten Haus Aren genauso wenig als höfliche Gesellschaft zählt wie ein Rudel tollwütiger Straßenköter.”

Darauf folgte Stille. Von der scharfkantigen Sorte.

Malriels Lippen waren zu einer blassen, ärgerlichen Linie aufeinandergepresst, und es war offensichtlich, dass allein die Anwesenheit des Jungens sie davon abhielt, ihren eindeutig wenig freundlichen Gedanken, die sich ebenfalls nicht für höfliche Gesellschaft eigneten, Luft zu machen.

Zumindest hatte sich der Junge recht genau an ihre Worte erinnert, dachte Eryn mit einer seltsamen Mischung aus Unmut und Stolz. Sogar ihre Erklärung des Begriffs tollwütig war ihm im Gedächtnis geblieben. Das musste man ihm lassen. Nun mussten sie nur noch daran arbeiten, ihm ein feineres Gespür dafür zu vermitteln, welche Bemerkungen man vor welchem Publikum zum Besten geben konnte. Aber in diesem Fall war der Schaden bereits angerichtet.

“Aber Malriels Freunde sind höfliche Gesellschaft”, erklärte sie ihm milde.

Das Oberhaupt von Haus Aren bedachte sie mit einem vernichtenden Blick, bevor sie vor ihrem Enkel in die Hocke ging.

“Vedric, mein Herz, deine Mutter hat nur gescherzt, als sie das sagte. Sie würde sicher nicht wollen, dass du glaubst, dies sei eine angemessene Art und Weise, über die eigene Mutter zu sprechen.” Ihre Augen konzentrierten sich wieder auf ihre Tochter. “Das würde sie kaum zu einem guten Vorbild machen und könnte dich denken lassen, dass du sie ebenfalls eines Tages so behandeln kannst. Nun geh und spiel mit deiner Cousine. Da gibt es noch etwas, das ich mit deiner Mutter besprechen muss.”

Sie wartete, bis Vedric in Richtung Rolan und seiner Tochter davongestürzt war, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder Eryn zuwandte.

Ihre braunen Augen glänzten gefährlich, als sie ihre Tochter tadelte: “Das ist nicht akzeptabel! Ich lasse nicht zu, dass du in Gegenwart des Jungen dermaßen abfällig über mich sprichst! Dazu hast du kein Recht. Nur weil du und ich in der Vergangenheit gewisse… Schwierigkeiten hatten, bedeutet das nicht, es stehe dir zu, ihn gegen mich aufzubringen.”

“Ich tue nichts dergleichen”, meinte Eryn achselzuckend, wusste jedoch genau, dass Malriel Recht hatte – ihren Sohn hineinzuziehen war alles andere als reif. “Der Klang von Königin der Dunkelheit gefällt ihm einfach. Es klingt stattlich für ihn. Betrachte es als Kompliment.”

“Ich würde es vorziehen, wären seine Komplimente weniger beleidigend, besonders da jede einzelne Person, die es mitangehört hat, sehr genau weiß, woher ein Ausdruck dieser Art gekommen sein muss”, zischte sie.

Das hob Eryns Laune beträchtlich. “Es waren also viele Leute in der Nähe, die es gehört haben?”

Malriel kniff die Augen zusammen. “Ich sehe schon, dass sich mit dir keine Unterhaltung führen lässt, die einer Erwachsenen würdig ist. Darüber werde ich ein Wörtchen mit deinem Vater reden.”

Die jüngere Frau stöhnte. Valrad würde ihr auf jeden Fall das eine oder andere darüber zu sagen haben, dass sein Enkel Eryns Beleidigungen über seine Gefährtin wiederholte, ganz egal, ob es öffentlich oder in privatem Umfeld geschah.

“Im Ernst? Das mächtige Oberhaupt von Haus Aren läuft zu ihrem Gefährten um Hilfe, wenn sie mit ihrer eigenen Tochter am Ende ihrer Weisheit angelangt ist? Ist das nicht ein wenig erbärmlich?”

Ihre Mutter lächelte dünn. “Ich weiß, was du hier versuchst, aber es wird nicht funktionieren. Es ist keine Schande, wenn ich auf die Hilfe meines Gefährten zurückgreife in einer Angelegenheit, bei der ich allein wenig Aussicht auf Erfolg habe. Ich werde etwas gegen deine Haltung unternehmen, und da ich nicht zu dir durchzudringen vermag, muss ich es an jemanden delegieren, dem du zuhören wirst. Vielleicht weise ich sogar das Oberhaupt deines eigenen Hauses darauf hin, dass es nicht eben dazu beiträgt, die Beziehung zwischen unseren Häusern so harmonisch wie in den letzten Jahren zu erhalten, wenn mich sein Erbe öffentlich beleidigt.”

“Vedric ist gerade einmal fünf Jahre alt!”, stöhnte Eryn. “Du übertreibst das alles maßlos!”

“Auf ihn mag das zutreffen, nicht aber auf dich. Und wir wissen beide, dass Vedric hier nicht das Problem ist”, betonte Malriel. Jetzt, wo sie die Oberhand in dem Gespräch gewonnen hatte, war auch ihre Gelassenheit zurückgekehrt. Sie drehte sich um, damit sie die paar Terrassenstufen hinabsteigen und sich wieder zu ihren Gästen gesellen konnte. Lächelnd warf sie über ihre Schulter zurück: “Geh nicht zu weit weg, Theá, Valrad wird bald mit dir reden wollen.”

Eryn mahlte mit den Zähnen. Verflucht.

* * *

Enric seufzte, als er zur Terrassentür blickte und Valrad von Haus Vel’kim aus dem Raum kommen sah, in dem sich Eryn seines Wissens die letzten zwanzig Minuten versteckt hatte. Ihr Vater wirkte ein klein wenig angespannt um den Mund herum, obwohl er es zu verbergen suchte um nicht zu zeigen, dass etwas nicht in Ordnung war. Bei einem Anlass wie diesem hier schickte sich das nicht. Nicht, dass irgendjemand unter den Gästen mit Frieden und Harmonie rechnete, solange Eryn und Malriel länger als ein paar Minuten auf einmal am gleichen Ort weilten.

Eryn folgte einige Schritte hinter Valrad. Anders als er, hielt sie sich nicht mit irgendwelchen Bemühungen auf, ihre eigene Unzufriedenheit zu verbergen. Ihre Lippen waren zu etwas verzogen, was ein wohlmeinender Beobachter wohl als ein Lächeln bezeichnen mochte, doch ihre Augen waren verengt und ließen keinen Zweifel an dessen Aufrichtigkeit.

Somit schien es also, als hätte Eryn soeben eine Standpauke über sich ergehen lassen müssen. Enric zweifelte nicht daran, dass es etwas mit Malriel zu tun hatte. Valrad hatte sich in den letzten fünf Jahren redlich bemüht, sich nicht in eine Position zwischen seiner neuen Gefährtin und seiner neu entdeckten Tochter drängen zu lassen. Ein Bestreben, das in seinem Fall zum Scheitern verurteilt war. Klug wäre gewesen, sich einfach von ihren Zankereien, Streitereien und spitzen Bemerkungen abzuwenden und sie allein damit fertig werden zu lassen. Doch Enric wusste, dass dies für Valrad ebenso unmöglich war, wie sich für eine Seite zu entscheiden. Er steckte in der Rolle als ewiger Vermittler fest.

Malriel war die Liebe seines Lebens, die er jahrzehntelang aus der Ferne bewundert hatte. Erst vor ein paar Jahren hatte er entdeckt, dass sie seine Gefühle erwiderte – nach ihrer Gefangenschaft in einem fremden Land, wo ihr die Angst um ihr Leben den Mut gegeben hatte, ihm ihre Liebe zu erklären.

Und auf der anderen Seite stand Eryn, bei der er erst ein paar Monate vor seinem Kommitment zu ihrer Mutter entdeckt hatte, dass sie seine leibliche Tochter und nicht seine Nichte war. Eine Tochter, um die er hart kämpfen musste, damit sie schlussendlich ihre Verbitterung darüber überwand, dass er seinen eigenen Bruder auf diese Weise betrogen hatte.

Sein Beruf als Heiler und seine Position als Leiter der Klinik gingen mit einer gewissen Neigung zum Helfen, Lösen von Problemen und zur Verbesserung von Situationen einher. Eine noble, allerdings nach Enrics Dafürhalten selbstzerstörerische Gesinnung, soweit es Malriel und Eryn betraf.

Die beiden Frauen waren an einem Punkt angelangt, wo sie einander nicht mehr offen bekriegen konnten. Die Zuneigung zu Valrad, die sie beide empfanden, und der Wunsch, ihn nicht zu verletzen, machten das unmöglich. Die Tatsache, dass ihnen der gleiche Mann am Herzen lag, hielt sie davon ab, einander an die Kehle zu gehen. Aber auch nicht mehr als das. Die Spannung war im Allgemeinen unter Kontrolle, brach aber gelegentlich hervor und wurde in ihrer Körpersprache oder sarkastischen und zuweilen verletzenden Bemerkungen offenbar.

Es gab so Vieles, das zu vergeben Eryn nicht über sich brachte. Wie Malriels fehlgeschlagenen Versuch, ihr den Tod des Mannes zur Last zu legen, den sie damals als ihren Vater betrachtet hatte. Und auch ihren erfolgreichen Vorstoß, mit dem sie Eryns Verhütungsmaßnahmen mit Hilfe eines höchst wirksamen – und höchst illegalen, sofern ohne Zustimmung der Empfängerin verabreichten – magischen Fruchtbarkeitstranks außer Kraft setzte.

Malriel war im Gegenzug noch immer etwas gekränkt darüber, dass Eryn dem Haus, in das sie geboren worden war, entsagt hatte. Und die Tatsache, dass Eryn sich ganz fabelhaft mit ihrer Großmutter Malhora verstand, mit der Malriel selbst seit Jahrzehnten immer wieder ihre Schwierigkeiten hatte, sorgte für zusätzliche Reibung.

Alles in allem war der Friede in dieser Familie in etwa so stabil wie ein Dach aus Pergament bei einem Gewitter. Enric schien es, als wären es nur die Männer – nämlich Valrad, sein Sohn Vran’el und er selbst – die eine Eskalation verhinderten, wenn schon Friede nicht immer möglich war.

“Was hat sie jetzt wieder angestellt?”, flüsterte Pe’tala, nachdem sie neben Enric getreten war. “Vater bringt sie irgendwohin. Siehst du, wie sein linker Nasenflügel zuckt? Ein sicheres Zeichen dafür, dass er unter diesem wenig überzeugenden Lächeln verärgert ist.”

“Malriel kam einige Minuten zuvor aus dem Haus, also gehe ich davon aus, dass die beiden wieder Streit hatten”, murmelte er zurück.

Pe’talas Gefährte Rolan kam hinzu. “Vedric sagte mir gerade, dass Malriel böse zu sein schien, weil er sie als Königin der Dunkelheit bezeichnet hat.”

Enric unterdrückte ein Stöhnen. “Ich habe Eryn gesagt, sie soll aufpassen, wenn sie das in seiner Anwesenheit sagt. Aber ich schätze, die Konsequenzen zu tragen ist wirksamer als alles, was ich ihr sagen könnte, um sie von dieser Gewohnheit zu kurieren.”

Sie sahen zu, wie Valrad Eryn zu der Gruppe um Malriel führte. Dabei handelte es sich wohl um diejenigen, die Vedrics Worte mitangehört hatten. Es schien, als bestünde Valrad auf gewissen Bestrebungen zur Schadenskontrolle von Eryns Seite.

Eryn lächelte die versammelte Gruppe an, sagte etwas, nickte und lachte dann. Ihre Handgesten deuteten darauf hin, dass sie versuchte, eine plausible Erklärung für den Ausrutscher ihres Sohnes zu liefern. Nach weniger als zwei Minuten entschuldigte sich Eryn und deutete auf Enric, den sie wahrscheinlich als Ausrede für ihr Weggehen benutzte.

“Malriel wirkt zufrieden”, grinste Pe’tala hämisch, sobald ihre Schwester zu ihnen gestoßen war. “Offensichtlich hast du deine Speichelleckerei dort überzeugend betrieben.”

Kurzerhand nahm Eryn Rolan sein Glas aus der Hand, legte den Kopf zurück und leerte es mit einem Schwung, bevor sie meinte: “Das habe ich. Und jetzt fühle ich mich schmutzig. Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich morgen sein werde, diese Frau für sechs Monate los zu sein.” Sie sah sich um. “Mein Kind sollte mit eurem spielen. Wo sind sie? Es ist kein gutes Zeichen, wenn sie außer Sichtweite sind und es dermaßen ruhig ist.”

Rolan nickte zu den Bäumen in einer abgelegeneren Ecke des Gartens fernab von zerbrechlichen Gegenständen wie Gläsern und Tellern. “Vern spielt dort drüben mit ihnen Verstecken. Er sagte, er wollte uns noch einen letzten ruhigen Abend mit dir gönnen, bevor wir wieder ohne dich auskommen müssen.”

Eryn schnaubte. “Er findet diese Anlässe in etwa so erhebend wie ich selbst. Das war bloß eine Ausrede, um ein paar Minuten lang von diesen Leuten wegzukommen. Und noch dazu eine, die ihn rücksichtsvoll erscheinen lässt, während er tatsächlich egoistisch war.”

Pe’tala zog die Schultern hoch. “Ich weiß. Aber da dies bedeutet, dass ich hier ein paar Minuten lang ungestört mit anderen Erwachsenen stehen kann, bin ich mehr als willens, ihn damit durchkommen zu lassen. Ich könnte mir denken, dass er den ewig gleichen Fragen entgegen will: Freut er sich schon darauf, nach so langer Zeit wieder nach Hause zu kommen? Wird er Takhan sehr vermissen? Wie sehen seine Pläne aus, wenn er erst einmal wieder zurück ist?”

Eryn musste zugeben, dass genau diese Fragen im Laufe der letzten Wochen regelmäßig aufgetaucht waren. Kein Wunder, dass er es müde war, sie zu hören und zu beantworten. Aus mehr als einem Grund, wie sie vermutete. Ihre Versuche, mit ihm über seine Rückkehr zu reden, hatte er mit einem Lächeln abgetan und ihr erklärt, dass alles in Ordnung wäre und er sich auf die Rückkehr nach Anyueel freute. Eryn konnte nicht glauben, dass er ganz so entspannt war, wie er ihr weismachen wollte, doch mit zweiundzwanzig Jahren war er sicherlich alt genug, um selbst zu entscheiden, ob er über etwas reden wollte, das ihn belastete.

“Wie sehen eure Pläne für euren letzten Morgen hier aus?”, fragte Pe’tala.

“Ram’an hat uns in seine Residenz zu einem Frühstück mit ihm und Valcredy eingeladen”, antwortete Eryn mit klar erkennbarem Mangel an Freude. Valcredy war die zweite Person, die sie nur allzu gerne zurückließ. Damals in Anyueel war sie Enrics Geliebte gewesen, bevor Eryn aufgetaucht war, und nun war sie aus keinem anderen Grund mit Ram’an verbunden als in den Genuss des bequemen Lebens und des erhabenen Status zu kommen, den er bieten konnte. Dass Ram’an ihr genau das angeboten hatte im Austausch dafür, dass sie ihm zwei Kinder gebar, die Mitglieder seines Hauses waren und somit in der Lage, ihm nachzufolgen und eines Tages Haus Arbil zu übernehmen, machte für Eryn wenig Unterschied.

Rasch schnappte sie sich ein weiteres Glas Weißwein von einem Tablett, als ein Kellner vorbeikam.

“Es sieht so aus, als würde ich heute Vedric ins Bett bringen müssen”, stellte Enric resigniert fest. “Wenn du weiterhin in diesem Tempo Alkohol zu dir nimmst, stehen die Chancen gut, dass du vor ihm schläfst.”

“Ich bin zivilisiert und gesellig, obwohl die Königin der Dunkelheit anwesend ist”, knurrte Eryn. “Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich das weiterhin durchziehe und dabei auch noch nüchtern bleibe.”

“Auf so einen Gedanken wäre ich niemals gekommen”, lächelte ihr Gefährte und stieß mit seinem Glas gegen ihres. Was auch immer ihr half, Malriel einen letzten Abend lang auszuhalten, ohne dabei auszurasten.

* * *

“Hm?”, meinte Eryn und hob ihren Kopf von der Hand, auf der er gestützt war. Ein Kopf, der heute unglaublich schwer wog und nicht von allein aufrecht bleiben wollte.

“Ich habe gefragt, ob ihr gestern in der Aren Residenz einen netten Abend verbracht habt”, wiederholte Ram’an seine Frage.

Eryns Augen verengten sich, als sie Valcredys kaum wahrnehmbares abfälliges Lächeln über Eryns verkaterten Zustand bemerkte.

“Wunderbar. Reizend wie immer”, erwiderte sie ausdruckslos und griff nach ihrem Saftglas.

Enric beugte sich rasch vor, hob es vom Tisch auf und drückte es ihr in die Hand. Offensichtlich traute er ihrer Koordinationsfähigkeit im Moment nicht so ganz.

Vedric, der sein Frühstück bereits zuvor beendet und die Erlaubnis zum Verlassen des Tisches erhalten hatte, stürmte auf sie zu und warf sich in die Arme seiner Mutter. Dabei entging das Glas nur knapp einem scherbenreichen Schicksal.

“Mutter!”, beschwerte er sich lautstark, “Akalee hat mich gebeißt!”

Eryn zuckte zusammen ob der Lautstärke seiner Mitteilung und korrigierte ihn dann gedankenverloren: “Akalee hat mich gebissen.”

Die braunen Augen des Jungen weiteten sich vor Erstaunen. “Dich auch?”

Seine Mutter runzelte die Stirn, verwirrt von der Wendung des Gesprächs. “Was?”

“Was?”, erwiderte Vedric ebenso perplex.

Enrics Lippen krümmten sich leicht amüsiert. Er wandte sich an seinen Sohn, damit er seine Gefährtin davor bewahren konnte, sich an einer auch nur halbwegs vernünftigen Unterhaltung beteiligen zu müssen. “Nein, sie hat deine Mutter nicht gebissen. Du hast es nur falsch gesagt. Also, warum hat sie dich gebissen?”

Vedrics Blick huschte zu Valcredy und Ram’an, als wäre er unwillig, Details vorzubringen solange die Eltern der Missetäterin lauschten.

“Ich weiß es nicht”, murmelte er schlussendlich zurückhaltend.

Enric war nicht bereit, einfach so aufzugeben. “Was hast du getan oder gesagt, bevor sie dich gebissen hat?”, bohrte er nach.

Nach dem Gesichtsausdruck seines Sohnes zu urteilen, schien er nicht länger geneigt, seine Spielgefährtin zu verpetzen, wo dies nun unerwarteterweise dazu führte, dass er sich damit selbst Ärger einhandelte.

“Äh… nichts”, stammelte Vedric.

“Wirklich?”, fragte Enric mit gerunzelter Stirn nach. “Wenn das die Wahrheit ist, dann hast du gewiss nichts dagegen, das unter einem Lügenfilter zu wiederholen.”

Die entsetzte Miene des Jungen verriet ihn noch bevor er seinen Mund öffnen und seine vorhergehende Aussage ergänzen konnte. “Vielleicht habe ich zu ihr gesagt, dass sie ein hässlicher Stein ist.”

“Hast du das. Dann war es womöglich nicht ganz unverdient, dass sie dich gebissen hat, was meinst du?”, antwortete Enric vernünftig.

Vedric mied den Blick seines Vaters, als er wortlos nickte.

In diesem Moment kam Akalee, ein zierliches Mädchen von vier Jahren mit dem blonden Haar ihrer Mutter, um die Ecke. Sobald sie die Gruppe bemerkte, füllten sich ihre großen Augen mit Tränen, und einen Moment später entwich ihrem weit offenen Mund, der den Blick auf all ihre Zähne und ihr rosa Zahnfleisch gewährte, ein gepeinigtes Heulen.

Eine recht begabte kleine Schauspielerin, ging es Eryn durch den Kopf – trotz der Pein, die das Geräusch verursachte, als es in ihrem Kopf widerhallte. Entweder gab es unter Jungs kein Weinen auf Abruf, oder Vedric hatte aus Gründen männlichen Stolzes entschieden, nicht auf solche Methoden zurückzugreifen. Sein verblüffter Blick ließ sie allerdings eher vermuten, dass er das bislang lediglich noch nicht gemeistert hatte.

Ram’an und Valcredy standen beide gleichzeitig auf, dann sahen sie einander verlegen an, als wären sie unsicher, wer von ihnen nun ihre Tochter trösten sollte.

Lächerlich, dachte Eryn säuerlich. Diese beiden hatten zwei Kinder miteinander gemacht und mussten einander daher nackt gesehen haben. Wie war es also möglich, dass sie sich noch immer benahmen, als wären sie schüchtern miteinander? Wie geschäftsmäßig konnte ein Arrangement bleiben, wenn es erforderte, dass man seit mehreren Jahren unter dem gleichen Dach lebte und gemeinsam Kinder großzog? Nicht, dass es sie irgendetwas anging, gemahnte sie sich verdrossen.

Das war eine alte Diskussion, eine, die sie ein ums andere Mal mit Ram’an vom Zaun brach, nachdem er ihr vor ein paar Jahren mitgeteilt hatte, dass er Valcredy sozusagen eine Stelle als seine Gefährtin und Mutter seiner Kinder angeboten hatte. Die Diskussionen hatten nie irgendwohin geführt und meist in einem Streit geendet. Danach sprachen sie üblicherweise mindestens eine Woche lang kein Wort miteinander. Jedes Mal, wenn das passierte, nahm sich Eryn fest vor, es nie wieder zur Sprache zu bringen. Bislang hatte sie es mehr als ein Jahr lang geschafft, sich an diesen Vorsatz zu halten. Dabei zählte sie selbstverständlich auch die sechs Monate mit, die sie nicht in diesem Land verbrachte. Man musste sich an kleine Siege klammern, wo auch immer sie zu finden waren.

Valcredy war schließlich diejenige, die zu ihrer Tochter ging, das Mädchen hochhob und sie mit zu den Sitzkissen brachte.

“Ich bin kein hässlicher Busch!”, schniefte Akalee.

“Busch habe ich nicht gesagt!”, warf Vedric ein. Ganz eindeutig war er aufgebracht darüber, dass seine Worte ungenau wiedergegeben wurden. “Ich habe gesagt, dass du ein hässlicher Stein bist!”

Daraufhin heulte das Mädchen noch lauter auf, während sie ihre gebräunten Ärmchen um den Hals ihrer Mutter schlang.

Mit einer Hand bedeckte Eryn ihre Augen. Ihr Sohn, der Diplomat.

“Als wäre ein hässlicher Stein irgendwie besser als ein hässlicher Busch”, seufzte sie und ließ dann ihren Kopf zurücksinken. “Keines von beiden ist besonders hässlich. Beide sind für eine Beleidigung ungeeignet. Warum nennst du sie nicht einfach nur hässlich?”, murmelte sie lauter als es ihre Absicht gewesen war.

“Denkst du etwa, das hier sei witzig?” Valcredys Stimme war so tödlich wie ihr Blick.

Eryn schüttelte den Kopf und beobachtete, wie die blonde Sängerin ihr Kind an sich drückte, um ihm Trost zu spenden. “Nein, keineswegs. Die Beleidigung war einfallslos, und die Reaktion darauf ist für meinen Geschmack viel zu laut. Das alles ist mit nichts als Nachteilen verbunden.”

Ram’ans Gefährtin kniff die Augen zusammen. “So gehst du also mit dem rüden Benehmen deines Sohnes um?”

Eryn verdrehte die Augen. “Was soll ich denn deiner Ansicht nach tun? Ich meine, er bekam, was er verdient hat – deine Tochter hat ihn gebissen! Warum lassen wir sie das nicht unter sich ausmachen? Das ist eine wertvolle Gelegenheit für sie, Problemlösungsfähigkeit zu entwickeln.”

“Unfassbar”, murmelte Valcredy und schüttelte den Kopf, während sie weiterhin den Rücken ihrer schluchzenden Tochter streichelte. “Aber was hätte ich auch erwarten sollen von einer Frau, die ganz offensichtlich unter den Nachwirkungen von zu viel Alkohol leidet? Du bist vielleicht ein tolles Vorbild!”

“Nun, wir können uns nicht alle dadurch auszeichnen, dass wir mit unserem hübschen Aussehen und unserer Gebärmutter unseren Lebensunterhalt sichern. Welch ein Glück deine Töchter haben, dass es von dir so vieles zu lernen gibt”, erwiderte Eryn ausdruckslos. Sie war zu müde und verstimmt, um sich mit falschem Lächeln und verschleierten Beleidigungen aufzuhalten. Auch wenn es keinesfalls als höflich erachtet wurde, seine Gastgeberin zu beleidigen, so war sie doch zumindest weder ein Mitglied des Senats in Takhan, noch des Rats der Magier in Anyueel. Somit würde das hier abgesehen von ein wenig Missmut keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen.

Enric und Ram’an tauschten einen eindringlichen Blick, bevor beide wie auf’s Stichwort auf die Beine kamen.

“Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen”, verkündete Enric. “Unser Schiff legt in weniger als drei Stunden ab, und wir müssen sicherstellen, dass auch alles gepackt ist.”

“Keine Minute zu früh”, ätzte Valcredy beinahe unhörbar.

“Wie war das?” bellte Eryn.

Weit aufgerissene, blaue Augen sahen sie an. “Nichts.”

Eryn ergriff Enrics Hand und ließ sich von ihm von den Kissen auf dem Boden hochziehen. Mit einem boshaften Blick zu Valcredy trat sie auf Ram’an zu und zog ihn in eine Umarmung. Eine lange und feste Umarmung. Als Enric sich räusperte, küsste sie Ram’an auf beide Wangen und ignorierte die Gastgeberin vollkommen, als sie sich den Toren zuwandte.

Enric küsste Valcredy auf eine Wange, dann ergriff er mit entschuldigender Miene Ram’ans Arm.

Ram’an winkte ab, noch bevor er etwas von sich geben konnte. “Sorge dich nicht, mein Freund. Sie werden einander sechs Monate lang nicht sehen. Dann werden wir es erneut mit einer zivilisierten Zusammenkunft versuchen. Ich wünsche euch eine sichere Heimreise. Sei so gut und schicke mir eine Nachricht, sobald ihr wohlbehalten angekommen seid. So wie immer. Gehab dich wohl, werter Kollege.”

Enric lächelte und nickte, bevor er seinen Sohn hochhob und Eryn den Weg hinab zum nächstgelegenen Ausgang folgte. Unglücklicherweise hatte Eryn nicht gerade die vorteilhafteste Route auserwählt, um sich hocherhobenen Kopfes davonzumachen. Sie mussten das Grundstück umrunden und somit einen beträchtlichen Umweg in Kauf nehmen. Doch wer war er schon, um ihren entschlossenen Abgang zu ruinieren?

* * *

An die Reling des Schiffs gelehnt blickte Enric auf das Meer hinaus. Sonnenuntergänge versetzten ihn stets in einen entspannten, wenn auch nachdenklichen Gemütszustand. Die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen, kam dem Meer gemächlich immer näher.

Ohne den Kopf zu drehen lächelte er, als Eryn neben ihn trat. Das bedeutete, dass Vedric endlich eingeschlafen sein musste, was seinen Eltern ein wenig Zeit allein miteinander ermöglichte.

Eryn und das Meer hatten im Laufe der letzten paar Jahre einen zerbrechlichen Waffenstillstand geschlossen. Die Wellen machten sie nicht länger seekrank, und im Gegenzug sah sie davon ab, ihren Mageninhalt in das Meer zu entleeren und alles Maritime farbenfroh zu verfluchen.

Wortlos schob sie ihren Arm durch seinen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, während sie zusahen, wie die Sonne den Horizont berührte. Obwohl Schiffe nicht eben ihr liebstes Transportmittel waren, war dies die Tageszeit, wo sie die Vorzüge der Seefahrt nachvollziehen konnte.

Winzige Wellen reflektierten das schwächer werdende Licht der versinkenden Sonne in einer Säule aus tanzenden glitzernden Punkten, die mit Schatten durchsetzt waren. Über ihnen wurde ein Teil des dunkler werdenden Lichts von den Wolkenbändern reflektiert, während ein anderer Teil verschluckt wurde. Es wirkte wie ein besänftigendes Bild für die Welt, um sie schrittweise auf die Dunkelheit vorzubereiten, die sie bald einhüllen würde.

Nahezu geräuschlos glitt das Schiff durch das finstere Gewässer, keineswegs behindert durch den fehlenden Wind, der die Segel aufblähen und ihrem Fortkommen dienen sollte. Magie hatte seinen Platz eingenommen und stellte eine angemessene Vorwärtsbewegung sicher.

Eryn sah zu ihrem Gefährten auf, als sie seinen leichten Stoß in ihre Seite spürte. Er nickte mit dem Kinn in Richtung des Schiffsbugs, wo Vern einige Schritte von ihnen entfernt mit verschränkten Armen und grüblerischer Miene stand.

Sie nickte kurz und richtete sich auf, bevor sie auf den jungen Mann zuging.

“Es ist wunderschön, nicht wahr?”, bemerkte er, ohne seinen Blick von der untergehenden Sonne abzuwenden. “Ich habe gerade daran gedacht, als ich das Meer vor sechs Jahren zum ersten Mal überquerte.”

Eryn lächelte. Sie erinnerte sich ebenfalls daran. Er war ein Junge von sechzehn Jahren gewesen, aufgeregt ob des Abenteuers, bei dem er es geschafft hatte, sich anzuschließen. Damals hätte sich niemand auch nur entfernt vorstellen können, dass bis zu seiner Rückkehr nach Anyueel sechs Jahre vergehen würden. Sechs Jahre – im Zuge derer er sich gemäß den Standards der Westlichen Territorien zum Heiler hatte ausbilden lassen, sämtliche ihm offenstehende künstlerischen Richtungen erkundet und sich einen beachtlichen Ruf als Frauenheld erworben hatte.

Es war seltsam, ihm beim Erwachsenwerden zuzusehen. Da sie alle sechs Monate den Ort gewechselt hatten, war sie jedes Mal überrascht, wenn sie nach Takhan zurückgekehrt war und gesehen hatte, wie sehr Vern sich sowohl in seinem körperlichen Erscheinungsbild als auch seiner geistigen Reife verändert hatte. Er war gewachsen und nun sogar ein wenig größer als sein Vater. Aber das war so ziemlich die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen. Der Krieger hatte den muskulösen, sehnigen Körper eines Kämpfers. Vern, wenn auch weit entfernt von dürr, war eindeutig nicht von der athletischen Sorte. Er hatte lange, schlanke, sensible Finger, die sich sowohl auf das Heilen als auch das Schaffen meisterhafter Kunst verstanden. Sein blondes, leicht gewelltes Haar reichte ihm bis auf die Schultern und folgte damit dem Stil, den Künstler in Takhan bevorzugten.

Seine Augen blickten nicht mehr ganz so ernst wie früher. Die Gesellschaft in Takhan hatte ihn mit offenen Armen willkommen geheißen, ihn als Ausnahmetalent gefeiert, während er Zuhause in Anyueel ein Außenseiter war, ein seltsamer Junge mit ungewöhnlichen Interessen und Talenten, mit denen kaum jemand wirklich etwas anzufangen wusste.

Mit der Entscheidung, Valrads Angebot zur Verlängerung seines Aufenthalts in Takhan anzunehmen, hatte er sein Leben in Anyueel zurückgelassen, ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern.

Außer seiner Familie hatte es dort kaum etwas gegeben, um ihn zurückzuhalten. Dafür waren die Chancen und Gelegenheiten, die Takhan bot, einfach zu verführerisch.

Orrin hatte seinen Sohn zweimal jedes Jahr für ein paar Wochen besucht und jedes Mal seine Gefährtin Junar und seine Tochter Téa mitgebracht. Er hatte es so eingerichtet, dass er sich Eryn und Enric anschließen konnte, wenn sie Anyueel verließen und ein zweites Mal kurz vor ihrer Rückkehr aus Takhan hinreiste. Dieses Mal allerdings würde er stattdessen auf dem Landungssteg warten, um seinen Sohn zuhause willkommen zu heißen.

Eryn überlegte, ob der Krieger in den letzten Tagen oder sogar Wochen vor der sehnsüchtig erwarteten Rückkehr seines Sohnes wohl empfindlich und launisch gewesen war. Und wie Verns Wohnsituation aussehen mochte. Würde er wieder bei seinem Vater einziehen oder sich ein eigenes Quartier nehmen? Mit dem Geld, das er mit dem Verkauf seiner Gemälde in Takhan verdient hatte sowie mit dem Lohn, den er bei Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Heiler in Anyueel erhalten würde, konnte er sich auf jeden Fall eine eigene Unterkunft leisten.

“Wie kommst du dieser Tage mit Loft zurecht?”, fragte Vern nach ein paar Minuten des Schweigens in ihre Gedanken hinein.

Eryns Wangen blähten sich mit der Luft ihres Atemzugs, als sie an den administrativen Leiter der Klinik in Anyueel dachte. Loft. Vor einiger Zeit war er Berater des Königs gewesen, einer von zweien. König Folrin hatte sich entschlossen, eine andere Position für ihn zu finden, nachdem der Mann sich als weniger anpassungsfähig gegenüber Veränderungen erwiesen hatte als für seine Position ratsam war. Pe’tala hatte Rolan, den ersten administrativen Leiter, nach Takhan entführt, als sie selbst abreisen und in ihre Heimat zurückkehren musste. Daraufhin hatte der König nach einer Konsultation mit Rolan und Lord Poron, dem Oberhaupt der Klinik, seinen früheren Berater zum Nachfolger bestimmt.

Eryns eigene Geschichte mit Loft sprach nicht eben von großer Freundschaft. Er störte sich an Eryn seit dem Tag, an dem sie als Gefangene des Königs in die Stadt gebracht worden war. Er hatte sogar vorgeschlagen, der König möge sie benutzen, damit sie seine Kinder austrug und damit zu der verbotenen Praktik zurückkehren, magisch begabte Thronerben zu zeugen. Seine Übernahme von Rolans Position war keine erfreuliche Enthüllung für sie gewesen. Doch mit Lord Poron als Oberhaupt der Heiler hatte sie als einfache Heilerin kaum etwas mit dem administrativen Leiter zu tun.

“Ich gehe ihm aus dem Weg, und ich denke, dass er sich mir gegenüber der gleichen Taktik bedient”, meinte sie schulterzuckend. “Wenn ich denke, dass etwas zur Sprache gebracht werden sollte, dann gehe ich damit zu Lord Poron und überlasse es ihm, sich mit Loft abzugeben.”

“Soweit ich letztes Mal von Vater gehört habe, leistet er gute Arbeit.”

“Das stimmt wohl”, räumte sie widerwillig ein. “Aber er muss auch nur zusehen, dass er das am Laufen hält, was Rolan eingeführt hat.” Sie wusste, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Die Klinik wuchs immer weiter und war einem ständigen Wandel unterzogen, also wäre es kaum ausreichend gewesen, nur aufrecht zu erhalten, was ein paar Jahre zuvor festgelegt worden war. Doch bei dem Gedanken daran, irgendetwas auch nur entfernt Positives über diesen Mann zu sagen, anerkennen zu müssen, dass er tatsächlich nützlich oder fähig war, zog sich alles in ihr zusammen.

“Weißt du schon, wo du wohnen wirst? Wenn du möchtest, kannst du eine Weile in unserem Gästezimmer unterkommen, bis du dich für einen Ort entschieden hast”, meinte sie, um das Thema zu wechseln.

Er schüttelte den Kopf. “Das ist ein wirklich freundliches Angebot, aber Vater hat mir bereits eine Unterkunft besorgt. Dort kann ich sofort einziehen.” Ein Lächeln umspielte seine Lippen. “Vollkommen allein zu leben wird eine ganz neue Erfahrung für mich werden. Nun, zumindest so allein wie es geht, wenn jemand anderer das Kochen und Putzen für mich übernimmt. Nachdem dein Vater bei Malriel einzog und ich bei Vran’el blieb, nahm dein Bruder Valrads Versprechen meinem Vater gegenüber wirklich ernst, sogar nachdem ich volljährig war.”

“Typisch Juristen. Sie vermeiden es aus Prinzip, bindende Versprechen zu brechen. Vorwiegend, weil sie zu träge sind, um sich mit den Konsequenzen zu plagen, wie ich vermute”, scherzte sie.

Vern lächelte und blickte auf das Meer hinaus. Die Sonne war nun vollkommen verschwunden. Nur ein Hauch eines rötlichen Glühens, das in ein paar Minuten verblasst sein würde, war verblieben.

“Ich freue mich schon darauf, wieder nach Hause zu kommen. Der verlorene Sohn kehrt zurück, bereit, die ganze Weisheit zu teilen, die er aus der Ferne mitbringt”, verkündete er hochfliegend.

“Oh Mann”, seufzte sie und schüttelte den Kopf. “Was für ein Blödsinn.”

 

Kapitel 2

Wiedereingewöhnung

Enric stand an Deck gegen die Reling gelehnt und hob seinen Arm zum Gruß, sobald er die vier Leute erkannte, die auf dem Pier standen und sie erwarteten. Orrin hob seine Hand in gleichermaßen gelassener Manier, während Junar und ihre fünfjährige Tochter Téa mit erheblich größerer Aufregung winkten. Doch für zwei Ordensmagier geziemte sich solch eine ungerechtfertigte Zurschaustellung von Gefühlen nicht. Es war einfach nicht angemessen. Die Leute würden darüber genauso schwatzen wie sie sich über jeden anderen Unsinn ausließen, der ihnen eine kleine Abwechslung von ihrem tristen Alltagsleben bot.

Vern kniff die Augen zusammen, um die vierte Person zu identifizieren, die bei seiner Familie stand. Kurz darauf riss er sie erstaunt auf.

“Ist das Plia?”, fragte er nach Luft ringend.

Eryn sah ihn von der Seite an. “Natürlich ist das Plia. Sie erwartet uns jedes Mal hier, wenn wir aus den Westlichen Territorien zurückkehren.

Vern starrte noch immer geradewegs auf die kleine Gruppe, die mit jedem Moment ein wenig besser erkennbar wurde. “Sie ist auf jeden Fall erwachsen geworden”, bemerkte er.

Sie schmunzelte. “Nun, was hast du erwartet? Sie hat nicht einfach aufgehört zu altern, damit dir die Eingewöhnung leichter fällt, falls du mit so etwas gerechnet hattest.”

“Nein, ich habe nur…”, begann er, beendete den Satz aber nicht. Ihm fehlten die Worte.

Eryn grinste und zwang sich, seine Reaktion nicht zu kommentieren. Sie erinnerte sich, dass es damals eine gewisse… Anziehung zwischen Plia und Vern gegeben zu haben schien, bevor der Junge sich entschieden hatte, seine Heimat für so lange Zeit zu verlassen. Eine reizende, unschuldige Bewunderung zweier junger Menschen, die gerade erst damit begonnen hatten, die wundersamen Empfindungen zu entdecken, die mit dem Erwachsenwerden einhergingen.

Plia war damals gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen – zu jung, als dass er dieser Anziehung, die er ihr gegenüber empfunden haben mochte, Taten folgen ließ. Eryn hatte ihn gewarnt, er solle die Hände von ihr lassen, bis das Mädchen älter war.

Eryn hatte Plias Gesicht wiederhergestellt, das im Babyalter durch ein Feuer entstellt worden war, indem sie den Schaden wegheilte. So erlangte das Mädchen die ihr eigene Schönheit, mit der die Natur sie ursprünglich ausgestattet hatte, wieder. Erst vor kurzem war sie volljährig geworden und zu einer ernsthaften, etwas reservierten jungen Frau herangewachsen, die sehr stolz auf ihre Arbeit war. Dies war der einzige Bereich, wo sie tatsächlich für das einstand, woran sie glaubte und keinesfalls willens war, irgendetwas zu akzeptieren, das sie als nachteilig für die Qualität ihrer Medizin erachtete. Sogar Loft, der administrative Leiter der Klinik und ihr Vorgesetzter, hatte sich mehr als einmal ihrem unerbittlichen Starren in Verbindung mit ihren streng verschränkten Armen gegenübergesehen, als er etwas einzuführen versucht hatte, das die junge Frau als ihrer Arbeit abträglich einschätzte.

“Lebt sie noch immer bei Enrics Mutter?”, fragte Vern, seine Augen noch immer auf Plia gerichtet.

“Sicher. Obwohl ich nicht weiß, wie lange sie das noch tun wird”, erwiderte Eryn, bevor sie ihn erstaunt ansah. “Wie kommt es, dass du das nicht weißt? Hätte sie dir davon nicht geschrieben, falls sie ausgezogen wäre?”

Vern schluckte, seine Miene plötzlich gepeinigt. “Nun, wir sind nicht wirklich in Kontakt geblieben.”

Eryn blinzelte. Das kam unerwartet. “Du hast ihr in all der Zeit niemals geschrieben? Warum nicht? Hattet ihr einen Streit oder so etwas?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein. Ich hatte einfach nur so viel zu tun, zu sehen, zu lernen…”

Sie presste ihre Lippen aufeinander, um den Vorwurf, der ihr auf der Zunge lag, für sich zu behalten. Somit hatte er sich also schlichtweg nicht die Mühe gemacht, Plia zu schreiben – sozusagen der einzigen Freundin seines Alters, die er im Königreich jemals gehabt hatte. Die Freude an seinem neuen Leben, sein Status als künstlerisches Genie, als Heilerlehrling, als Ziel der Aufmerksamkeiten zahlreicher Frauen waren ihm wichtiger gewesen als sich ein wenig Zeit dafür zu nehmen, um mit einem jungen Mädchen in Kontakt zu bleiben, von dem er stets nur Liebenswürdigkeit und Wertschätzung erfahren hatte.

In all diesen Jahren hatte Plia dies Eryn gegenüber kein einziges Mal erwähnt – weder hatte sie ein einziges Wort der Beschwerde ausgesprochen noch sich verstimmt gezeigt, wenn Eryn über ihn sprach. Obwohl solch eine Vernachlässigung schmerzhaft für sie gewesen sein musste. Und nun kehrte er zurück, einfach so, und entschied, dass sie jetzt, wo er sie nach mehr als fünf Jahren wieder zu Gesicht bekam, hübsch genug war, um sein Interesse zu wecken. Einfach famos.

Eryn schluckte ihren Ärger darüber, dass er Plia so gedankenlos fallengelassen hatte, fest entschlossen, ihren Unmut nicht zum Ausdruck zu bringen. Das war nicht ihr Problem, sondern Plias. Weder würde sie dem Mädchen raten, Vern nicht besser zu behandeln als er es verdiente, noch würde sie Vern für sein Verhalten tadeln – ganz egal, wie groß die Versuchung war. Beide waren volljährig und damit offiziell erwachsen.

Sie blickte nach unten, als sich zwei schmale Arme um ihre Oberschenkel schlangen. Vedric war zu kurz, um über die Reling zu spähen und zu sehen, was vor sich ging.

“Sind wir schon da?”, wollte er wissen.

“Beinahe”, antwortete sie, froh über die Ablenkung von ihrem Ärger auf Vern. Das hier war ein freudiger Anlass, und dafür wollte sie nicht übel gelaunt sein.

“Wie lange noch?”, beharrte Vedric.

“Nicht mehr lange.”

“Sind wir schon da?”

“Ja.”

Sein kleines Gesicht, das so viel Ähnlichkeit mit seinem Vater aufwies, hellte sich auf. “Wirklich?”

“Nein. Hör auf mich zu fragen, oder ich werde dich jetzt sofort schlafen schicken, und du kannst Téa nicht begrüßen”, drohte sie. Sie bemerkte, wie ihr einer der Seemänner einen missbilligenden Blick zuwarf. Dieser Austausch hatte wohl ein winziges Stück weit herzlos angemutet, doch sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass es auf endlose Diskussionen mit Wiederholung der gleichen Frage hinauslaufen würde, wenn sie Vedric nicht rechtzeitig Einhalt gebot.

Schließlich wurde der massive Anker mit einem lauten Rumpeln der Ketten hinuntergelassen, und fleißige Hände platzierten die Landungsbrücke, damit die Passagiere nach zweieinhalb Tagen auf See von Bord gehen konnten. Eryn war froh darüber, dass der Schiffsverkehr zwischen Bonhet und der Stadt eingerichtet worden war und ihnen damit die Reisezeit auf der Straße erspart blieb. Dank der magisch begabten Seefahrer stellte die Fahrt stromaufwärts kein Problem dar, auch ohne den Einsatz von Tieren, die das schwere Gefährt mit kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit zogen.

“Du darfst meine Hand halten und das Schiff mit mir als Erster verlassen”, bot sie an. Eifrig umschloss Vedric ihre Finger und setzte dazu an, zur Landungsbrücke zu laufen.

“Gemach, Vedric. Es besteht kein Grund zur Eile. Sei lieber achtsam, damit du nicht ausrutscht und in den Fluss fällst”, warnte sie ihn, wusste aber noch bevor sie fertig gesprochen hatte, dass er ihr nicht zuhörte. Er hatte Téa erblickt. Sie wurde von ihrem Vater auf ähnliche Weise unter Kontrolle gehalten, damit sie nicht einfach losrannte und die Neuankömmlinge begrüßte, ohne sich vorzusehen und Gefahr lief, so nahe am Wasser auszurutschen.

“Téa!”, rief Vedric und versuchte, seine Mutter an der Hand zu ziehen, damit sie ihre Schritte beschleunigte.

Junar lachte, als die Reisenden ihr kleines Begrüßungskommitee erreichten. “Euer Wirbelwind ist genauso ungeduldig wie unserer! Willkommen zurück, ihr alle!” Eryn umarmte zuerst die Schneiderin, dann Plia. Téa, ihre kleine Namensvetterin, schien sich in so etwas wie eine Schlacht der Wörter mit Vedric gestürzt zu haben. Beide schnatterten mit solch unglaublicher Geschwindigkeit, dass Eryn sich wunderte, ob irgendeiner von beiden verstand, was der andere von sich gab oder ob das Ziel darin lag, einfach nur die eigenen Neuigkeiten so rasch wie möglich loszuwerden.

Sie wandte sich Orrin zu, der seinem Sohn in einer herzhaften, mannhaften Begrüßung auf den Rücken klopfte, auf die gleiche Weise, wie er auch Enric begrüßte, nachdem sie einander ein paar Monate lang nicht gesehen hatten. Dies wirkte wie eine seltsam distanzierte Art für einen Mann, um seinen Sohn nach so langer Zeit zu begrüßen, doch Eryn wusste, dass es hier nur darum ging, den Anschein zu wahren. Der höchste Krieger des Ordens sollte sich in der Öffentlichkeit nicht allzu menschlich zeigen. Und einen anderen Mann zu umarmen hätte womöglich genau diesen Eindruck hinterlassen, auch wenn es sich dabei um seinen Sohn handelte. Doch sie wusste genau, dass Orrin genau das tun würde, sobald sie sich hinter geschlossenen Türen befanden.

Glücklicherweise kamen solche Einschränkungen im Umgang mit Frauen nicht zum Tragen. Somit was sie in der Lage, Orrin öffentlich zu umarmen, ohne seinen sorgsam kultivierten Ruf als furchteinflößender Kämpfer zu gefährden. Jeder wusste, dass das schwächere Geschlecht nahezu abhängig von Berührungen und Umarmungen war – wohingegen Männer sich selbstverständlich lieber die Augäpfel mit einem rostigen Rasierer behandeln würden als zuzugeben, dass sie solch einer enormen und peinlichen Schwäche wie einer Vorliebe für körperliche Nähe zum Opfer fielen.

Unauffällig beobachtete Eryn aus dem Augenwinkel, wie Plia Vern ein höfliches Lächeln schenkte und ihm ihre Hand entgegenstreckte.

“Willkommen zurück, Vern. Es ist lange her”, meinte sie freundlich.

Eryn applaudierte innerlich. Das hatte sie außergewöhnlich gut gemacht. Plia hatte ihm gezeigt, dass das völlige Fehlen von Kontakt zwischen ihnen in den letzten Jahren ihr nicht das Geringste ausmachte, dass sie nichts anderes als Bekannte waren, die einander eine Weile nicht getroffen hatten. Eryn bezweifelte, dass dies Plias wahren Gefühlen entsprach, dennoch hatte sie die Situation gut gemeistert.

Vern wirkte, als hätte ihn die Begrüßung vollkommen verwirrt. Eryn vermutete, dass er womöglich entweder einen tränenreichen oder aber einen kühlen Empfang als Ausdruck verletzter Gefühle erwartet hatte. Nun gut, wenn ihn das bereits aus der Bahn warf, dann würde er keineswegs angetan davon sein, wenn er erfuhr, dass Plia mit einem charmanten jungen Zimmermann liiert war.

“So, Orrin”, wandte sie sich an den Krieger und begrüßte ihn dann wie jedes Mal, wenn sie einander nach längerer Abwesenheit begegneten, immer mit der gleichen Frage: “Wurde dieser entsetzliche Orden nun endlich aufgelöst oder in etwas Nützliches verwandelt? Wie eine Gruppe reisender Musiker oder etwas in dieser Art?”

“Nein, er ist noch immer intakt”, erwiderte er gutmütig und fragte im Gegenzug: “Wie sieht es aus, nehmen wir unser Kampftraining morgen früh wieder auf? Ich wette, du hast es in der Fremde vernachlässigt, so wie du es jedes Mal tust.”

“Morgen?” Sie gab vor, darüber nachzudenken. “Ich glaube nicht, dass ich morgen verfügbar bin. Dieser fordernde Vorgesetzte, den wir haben, und die königliche Nervensäge werden uns gleich sehen wollen, darauf wette ich alles.”

Enric schüttelte leicht den Kopf, sparte sich aber die Mühe, ihr einmal mehr zu erklären, wie unklug es war, solche Bemerkungen zum Besten zu geben, solange sich ihr Sohn in Hörweite befand. Es schien, als hätte sie von dem kleinen Zusammenstoß mit Malriel erst vor wenigen Tagen nichts gelernt.

* * *

Sobald sie bei ihrem Haus eintrafen, öffnete Enric die Tür zum Innenhof, um die Bergkatze hinauszulassen. Erst vor ein paar Minuten hatte er Urban geweckt, nachdem sie die letzten vier Tage in einem magisch herbeigeführten Schlaf in einer Holzkiste verbracht hatte. Nun musste sie sich wieder an ein anderes Klima gewöhnen, an kühlere Temperaturen. Das dauerte in der Regel einen Tag oder zwei.

Anpassung war jedes Mal ein Thema, wenn sie den Ort wechselten, für alle von ihnen. Sechs Monate lang fort zu sein mochte nicht allzu lange erscheinen, doch es gab stets kleine Veränderungen sowohl in der jeweiligen Gesellschaft, in die sie zurückkehrten, als auch bei ihnen selbst.

Bei Vedric war das eindrucksvoll ersichtlich. Jedes Mal, wenn sie entweder in Takhan oder Anyueel ankamen, mussten sie seine gesamte Garderobe ersetzen, weil ihm nichts mehr passte, das für das lokale Klima angemessen war.

Er ging in sein Arbeitszimmer und nahm die Nachrichten zur Hand, die im Laufe der letzten paar Tage angekommen waren. Alles davor war an ihre Residenz in Takhan übermittelt worden. Eine Nachricht war von Tyront, eine weitere vom König, die ihn beide sehr höflich anwiesen, sie am Tag nach ihrer Ankunft aufzusuchen. Das war zu einer Routine geworden, eine, die er auch verfolgt hätte, wäre er nicht vorgeladen worden. Eryn würde die gleichen Nachrichten auf ihrem eigenen Schreibtisch vorfinden, vielleicht noch mit einer dritten von Lord Poron. Diese letzte jedoch würde tatsächlich eine freundliche Einladung sein, sich mit einer Tasse Tee zusammenzusetzen und zu besprechen, was sich in der Klinik tat.

Was das Heilen anbelangte, war Eryns Position ein klein wenig kompliziert. Schon die letzten sechs Jahre, seit Lord Poron zum Oberhaupt der Heiler bestellt wurde – die Position, die Eryn ursprünglich selbst bekleiden hatte wollen. Nach Stärke gemessen war Lord Poron die Nummer fünf, Eryn Nummer drei. In einer Institution, wo der Rang von der magischen Stärke abhing, war sie somit seine Vorgesetzte. Da Eryn allerdings auch in einer Eigenschaft als Heilerin in der Klinik Arbeit verrichtete, war sie damit Lord Poron unterstellt, der dieser Disziplin vorstand. Somit war sie die Untergebene ihres eigenen Untergebenen.

Nach ein paar anfänglichen Schwierigkeiten bezüglich Zuständigkeit hatten Eryn und Lord Poron zu einer bequemen, halb-offiziellen Routine gefunden. Lord Poron berichtete an Eryn – wozu er verpflichtet war. Und er fragte sie nach ihrer Meinung und ihrem Rat und teilte seine persönlichen Gedanken mit ihr – wozu er nicht verpflichtet war. Eryn behandelte ihn im Gegenzug nicht wie einen Untergebenen und akzeptierte seine Entscheidungen, auch wenn sie selbst womöglich anders gehandelt hätte. Sie schafften es, die Klinik in einer Gesinnung von Zusammenarbeit und Gleichheit am Laufen zu halten und sie ständig zu verbessern. Enric vermutete, dass es die Sache beträchtlich erleichterte, dass Eryn keine große Freundin von Hierarchien war. Auch wenn sich Lord Poron bislang kein einziges Mal in einer Weise geäußert hätte, die auf Unmut darüber schließen ließ, dass er einer Frau unterstellt war, die nicht einmal die Hälfte seiner Jahre zählte, machte Eryns Aversion gegen das Ausspielen ihres Rangs die Dinge zweifellos unkomplizierter.

“Die Üblichen?”

Er blickte auf, als Eryn in sein Arbeitszimmer schlenderte, in ihrer Hand ein paar Nachrichten.

“Ja, der König und Tyront.” Er nickte zu den Blättern in ihrer Hand. “Und du hattest zudem noch eine von Lord Poron, wie ich annehme?”

“Ja, so wie immer.” Sie ließ sich auf das Sofa neben seinem Schreibtisch sinken. “Für mich ist das zu einer Art Willkommensritual geworden – heimkommen und jedes Mal die gleichen drei Nachrichten in meinem Arbeitszimmer vorfinden. Ich schätze, ich wäre ernsthaft besorgt, sollten eines Tages nur zwei davon auf mich warten.” Sie hob eines der Blätter. “Der König will mich zweimal sehen. Einmal gemeinsam mit dir und einmal mit Vedric. Das ist neu. Hast du irgendeine Ahnung, was der Grund sein könnte?”

Enric dachte einen Moment lang nach. “Er ist Vedrics Pate. Und der Junge wird nun langsam alt genug, damit man eine halbwegs vernünftige Unterhaltung mit ihm führen kann.”

“Du denkst also, er will ab jetzt den netten Onkel spielen? Warum will er mich mit dem Jungen sehen, warum nicht uns beide?”

“Nun, seine Anziehung dir gegenüber war stets stärker ausgeprägt als zu mir”, erwiderte er, sein Tonfall etwas trocken.

Sie lachte. “Ich bezweifle, dass das sein primäres Motiv ist. Mich kann er einfach nur leichter manipulieren als dich.”

Er lächelte. Damit hatte sie Recht. Obwohl sich ihre eigenen Fähigkeiten in politischer Strategie, oder wie sie es zu nennen pflegte die Disziplin, andere zu manipulieren und zu belügen, damit sie taten, was man von ihnen wollte in den letzten paar Jahren ebenfalls verbessert hatten.

Er beobachtete, wie sie die Nachricht des Königs ein weiteres Mal durchlas. Eine wunderschöne, dunkelhaarige Frau Mitte Dreißig, ihre Haut gebräunt von ihrem Aufenthalt in einem Wüstenland, deren braune Augen den Zeilen auf dem Papier vor ihr folgten. Mittlerweile waren sie seit sieben Jahren zusammen. Bislang die besten sieben Jahre seines Lebens. In der Vergangenheit hatte es ein paar beträchtliche Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden gegeben, doch soweit sie waren siegreich daraus hervorgegangen.

Sie hatte sein Leben weit über seine Vorstellungen hinaus bereichert. Zum einen hatte er natürlich eine Person an seiner Seite, die er mehr liebte als sein Leben. Das allein war bereits eine bemerkenswerte Verbesserung im Vergleich zu den ersten vierunddreißig seines Lebens. Doch die Verbindung mit Eryn beinhaltete noch einiges mehr. Dank ihres Bruders Vran’el, dem Oberhaupt des Hauses, in das sie sich hatte adoptieren lassen, mussten sie sechs Monate jeden Jahres in Takhan verbringen. Vran’el wollte engen Kontakt zu Vedric, dem aktuellen Erben seines Hauses, halten. Und auch zu seiner Schwester aus der Fremde. Wäre nicht der König, der ebenso starke Ansprüche auf Eryn und Enric geltend machte, hätte Vran’el womöglich sogar versucht, sie zu einem dauerhaften Umzug in die Westlichen Territorien zu zwingen.

Eryns Gefährte zu sein hatte ihm kurz gesagt eine vollkommen neue Familie, neue Freunde, eine neue Kultur, neue Geschäftsmöglichkeiten und auch eine neue Perspektive hinsichtlich verschiedener Dinge eingebracht. Sie war in bescheidenen Verhältnissen aufgezogen und von dem Mann, den sie für ihren Vater gehalten hatte, unterwiesen worden. Das bedeutete, dass die Anhäufung großer Geldsummen für sie kein Ziel war, das es Wert war, sein Leben danach auszurichten. Das hatte in der Vergangenheit zu zahlreichen Diskussionen zwischen Eryn und Enric geführt. Schließlich hatte er ihr Gewissen zu beruhigen vermocht, indem er ihr einen Teil ihrer beträchtlichen finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellte, damit sie sie für die Errichtung und den Betrieb eines Waisenhauses sowie jegliche anderen wohltätigen Zwecke, die sie für unterstützungswürdig befand, verwenden konnte.

Und dann hatte sie ihn noch mit einem Sohn beschenkt – wenn auch nicht unbedingt freiwillig. Eine Zeitlang hatte er gehofft, sie würden ein weiteres Kind bekommen, doch Eryn hatte ursprünglich nicht einmal ihr erstes gewollt und somit sichergestellt, dass es kein weiteres geben würde. Niemals. Sie hatte dauerhafte Maßnahmen ergriffen, die kein Fruchtbarkeitstrank, mochte er auch noch so mächtig sein, jemals überwinden würde können.

“Ich bin müde”, seufzte Eryn.

“Dann geh und leg dich hin, Liebste. Vedric wird noch eine Weile bei Orrin und Junar sein, und die Diener kümmern sich um unser Gepäck. Möchtest du zuerst ein Bad nehmen?”

Sie lächelte sehnsüchtig. Ein Bad. Sie liebte Bäder. Doch ein halbes Jahr in einer Gegend zu verbringen, wo Wasser recht rar war, bot ihr diese Gelegenheit nicht besonders oft. Zumindest nicht ohne ein schlechtes Gewissen, wenn sie an die Leute in der Stadt dachte, die es nötiger brauchten.

“Ja, ich denke, das werde ich. Ich suche mir nur noch ein Buch aus, über dem ich hinterher einschlafen kann.” Damit stand sie auf und verließ sein Arbeitszimmer. Ihre Nachrichten ließ sie gedankenverloren auf seinem Sofa zurück.

* * *

“Lady Eryn. So wie jedes Mal nach Eurem Aufenthalt in Takhan bin ich froh, Euch wieder hier zu haben. Das Leben in der Stadt mutet während der Zeit, die Ihr hier mit uns verbringt, abwechslungsreicher und unterhaltsamer an”, lächelte der König und ergriff ihre beiden Hände, um sie zu sich zu ziehen und ihre Wangen zu küssen.

Innerlich seufzte sie. Niemand anderem als sich selbst konnte sie die Schuld dafür zuschreiben. Vor fünf Jahren hatte sie ihm kühn demonstriert, dass sie seine Berührung nicht länger fürchtete. Daraufhin hatte er sich entschlossen, ihr gegenüber den traditionellen Gruß aus ihrem Heimatland anzuwenden, wenn er sie mehr oder weniger allein antraf. Hinsichtlich ihrer Beziehung als König und Untertanin fand sie dies ein wenig zu dreist, doch sie verstand, dass dieser Faktor – das Übertreten einer Grenze – genau das war, was für ihn den Reiz ausmachte.

“Eure Majestät”, erwiderte sie, “es ist auf jeden Fall gut, wieder zurück zu sein.”

Der Blick des Königs wanderte zu dem fünfjährigen Vedric, der sich daraufhin wieder erinnerte, dass es in Gegenwart des Mannes mit der goldenen Krone ein gewisses Protokoll zu befolgen gab und eine hastige, leicht ruckartig anmutende Verbeugung vollzog.

“Junger Mann.” Der Monarch nahm ihn mit einem Nicken zur Kenntnis. “Wie stehen die Dinge um Takhan?”

Der Junge dachte einen Moment lang nach, dann hellte sich sein Gesicht auf. “Da war ein großer Sandsturm! Der Sand war überall, sogar in meiner Unterwäsche und zwischen meinen Zehen! Und in meinen Ohren!” Dann verdüsterte sich seine Miene. “Aber dann haben die Magier ihn einfach aufhören lassen.”

“Wir haben ihn nicht wirklich aufgehalten, Liebling.” Eryn lächelte über seine Enttäuschung darüber, dass diese spezielle Naturgewalt entschärft worden war, noch bevor er Gelegenheit hatte, alle möglichen Schrecken auszukosten. “Wir haben lediglich einen Schild um die Stadt errichtet.”

Vedric zuckte mit den Schultern. Offensichtlich sah er wenig Sinn in der Betonung dieses Details, wo doch das Ergebnis aus seiner Sicht das gleiche war. Er blickte zurück zum König. “Und ich habe eine Nacht im Waisenhaus verbracht! Es war einfach toll – sie können dort im gleichen Zimmer mit anderen Kindern schlafen, und da ist immer jemand, der spielen will! Aber am nächsten Morgen nach dem Frühstück musste ich wieder nach Hause”, fügte er hinzu, erneut einer Gelegenheit für Spaß beraubt.

“Die Idee war nicht, dass du dich dort amüsierst”, betonte seine Mutter ihn mit einem leicht irritierten Unterton. “Du solltest dabei etwas lernen und erkennen, wie privilegiert dein eigenes Leben ist im Vergleich zu anderen Kindern.”

Der König lächelte. “Ich verstehe. Offensichtlich teilt Euer Sohn Eure eigene Gleichgültigkeit Luxus gegenüber, meine liebe Lady. Ich könnte mir denken, dass das Abenteuer, eine Nacht in einem Haus voller Kinder zu verbringen, die fehlende Pracht, die er von seinem Zuhause kennt, mehr als ausgleicht. Ein Einzelkind hat andere Prioritäten als eines mit Geschwistern – wie zum einen die ständige Verfügbarkeit von Spielgefährten.”

Eryn lächelte gekünstelt. Sie war es müde, dass dieses Thema einmal mehr zur Sprache gebracht wurde. Als wäre es nicht nervenaufreibend genug, dass Malriel sie dazu drängte, sich noch einmal fortzupflanzen und alle möglichen Leute sie mit gutgemeinten Hinweisen bedachten. Aber natürlich würde der König solch eine praktische Gelegenheit sie zu irritieren nicht vorüberziehen lassen. Es wäre untypisch für ihn.

“Oh, selbstverständlich”, nickte sie und fügte dann mit vor Sarkasmus triefender Stimme hinzu: “Dann sollte ich besser zusehen, dass er Geschwister bekommt, um diese schreckliche Leere in seinem Leben zu füllen.”

“Ein Bruder!” Vedric sprang auf und ab und klatschte in die Hände. “Ich will einen Bruder!”

Sie wandte sich in seine Richtung und sah auf ihn hinab. Wie nur schaffte er es, dass sich jede Unterhaltung, an der er teilnahm, in letzter Zeit so mühsam für sie gestaltete? “Erstens war das eine sarkastische Bemerkung. Über Sarkasmus haben wir gesprochen – das ist, wenn du nicht wirklich meinst, was du sagst, sondern genau das Gegenteil. Ich habe nicht die Absicht, noch ein Kind zu bekommen. Und zweitens bestünde selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ich doch ein Kind bekomme, die Möglichkeit, dass es ein Mädchen wäre.”

“Aber wir haben doch schon so viele Mädchen!” protestierte er und ignorierte den Teil, wo man ihm erklärt hatte, dass es keine Geschwister mehr geben würde, vollkommen. Mit Hilfe seiner Finger erstellte er eine Liste der weiblichen Kinder seines Alters auf beiden Seiten des Meeres. “Da ist Téa, Ha’im, Akalee und Zahyn!” Es klang, als hätten Orrin, Pe’tala und Ram’an nur Mädchen gezeugt, um ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen.

“Ich gehe davon aus, dass es im Waisenhaus Jungs gab?”, erkundigte sich der König mit einem wissenden Lächeln.

“Ja, viele!”, bestätigte Vedric eifrig, seine Augen groß bei der erfreulichen Erinnerung. “Einer davon konnte meinen Namen rülpsen!”

Der König nickte, offenkundig nicht im Mindesten überrascht von Vedrics Bewunderung für diese spezielle Fertigkeit. “Tatsächlich ein eindrucksvolles Kunststück. Wie bedauerlich, dass deine Eltern nicht willens scheinen, dir entgegenzukommen, indem sie dir einen Bruder schenken, mein junger Freund.”

“Vater würde schon. Mutter sagt nein”, seufzte der Junge und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

“Wer sagt das?”, schnappte Eryn.

“Großmutter”, gab er triumphierend zurück, als hätte er den Wahrheitsgehalt der Aussage über alle Zweifel hinweg bewiesen, indem er diese besonders vertrauenswürdige Quelle zitierte.

“Wenn wir gerade von deiner Großmutter sprechen”, warf König Folrin ein, bevor Eryn etwas darauf erwidern konnte. “Wie ergeht es Malriel?”

Vedric seufzte. “Sie sagt, ich darf nicht Königin der Dunkelheit zu ihr sagen. Weil es nicht nett ist.”

Der Monarch nickte langsam. “Sie hat Recht, das ist es nicht. Ich könnte mir denken, dass deine Mutter auf jeden Fall daran arbeiten wird, von nun an ihre Zunge in deiner Gegenwart besser im Zaum zu halten. Aufmerksame junge Ohren und ein Mund, der wenig Zurückhaltung zeigt, wenn es um die Weitergabe von heiklen Kleinigkeiten geht, sind niemals eine unproblematische Kombination.” Er sah nachdenklich auf den Jungen hinab, bevor er fragte: “Welche Ausdrücke benutzt deine Mutter, wenn sie von mir spricht?”

Eryns Augen weiteten sich alarmiert. Sie schluckte, dann nahm sie rasch die Hand des Jungen in ihre und drückte sie warnend. Was war gar nicht gut.

“Eure Majestät, ich denke…”, begann sie, doch der Monarch hob lediglich – ohne auch nur einen Blick für sie zu erübrigen – eine Hand, die ihr zu schweigen gebot.

Seine Augen blieben auf den Jungen gerichtet, und er lächelte. “Bitte, Lady Eryn, unterbrecht nicht die Unterhaltung, die ich mit Eurem Sohn führe. Es ist nicht höflich.” Er deutete auf das dünne goldene Band auf seinem Kopf. “Nun, junger Mann, du bist dir im Klaren darüber, was das hier bedeutet?”

Vedric nickte und antwortete fröhlich: “Ihr seid der König, und alle müssen tun, was Ihr sagt.”

“Sehr gut. Eine Lektion, die ein junger Mensch meiner Ansicht nach nicht zu früh lernen kann. Natürlich musst du auch die Anweisungen deiner Mutter befolgen. Sollten jedoch meine Wünsche und ihre nicht die gleichen sein, müsstest du dich den meinen beugen. Verstehst du das?”

“Ja. Ihr seid wichtiger als sie”, verkündete der Junge feierlich.

“Ja, warum nicht?”, stimmte der König nach kurzer Überlegung zu. “Drücken wir es der Einfachheit halber so aus. Nun, wie nennt deine Mutter mich im Allgemeinen, wenn sie von mir spricht?”

Eine Plage wie sie im Buch steht”, antwortete Vedric wie der wohlerzogene kleine Junge, der er nicht war, den er jedoch zuweilen so überzeugend imitieren konnte, wenn es seinen Zwecken diente.

“Ich verstehe. Sonst noch etwas?”

Königliche Nervensäge”, fügte Vedric nach einem Moment des Nachdenkens hinzu, dann zuckte er mit den Schultern.

Eryn schloss die Augen. Sie hätte seine Stimmbänder vorübergehend außer Gefecht setzen sollen, um ihn vom Antworten abzuhalten, sobald der König ihn ansprach. Warum fiel ihr das erst jetzt ein?

“Wie ungemein interessant. Vielen Dank, Vedric. Gut gemacht. Lass mich dir eine weitere Frage stellen: Wie spricht dein Vater von mir?”

“Seine Majestät. König Folrin. Oder der König”, antwortete der Junge ohne Zögern.

“In der Tat. Und wie verweist er auf deine Großmutter?”

“Malriel.”

“Immer? Da gibt es keinen anderen Namen, mit dem er sie bedenkt? Nicht einmal, wenn er verärgert ist?”

Vedric dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf.

“Bestens. Ich gestehe, dass mich Lord Enrics Voraussicht hinsichtlich seiner Ausdrucksweise sogar in privatem Umfeld nicht überrascht. Ich könnte mir denken, dass es hier eine Lektion zu lernen gibt, sowohl für dich als auch deine Mutter. Nämlich, dass man sich auf lange Sicht Ärger ersparen kann, wenn man von einer Person stets mit ihrem ordentlichen Namen oder ihrem Titel spricht, selbst wenn man verstimmt ist.”

“Jawohl, Eure Majestät”, murmelte Eryn und hielt ihren Blick zurückhaltend zu Boden gerichtet, um ihre Frustration darüber zu verbergen, dass sie gemeinsam mit einem Fünfjährigen belehrt wurde.

“Vedric”, fuhr König Folrin fort, “ich habe einen wichtigen Auftrag für dich. Ich brauche deine Unterstützung, damit wir deiner Mutter bei ihrem… Problem mit dem Zeigen von Respekt helfen können. Somit ersuche ich dich also, sie jedes Mal zu korrigieren, wenn sie einen Ausdruck benutzt, den man nicht als höflich oder respektvoll betrachten würde. Kann ich mich in dieser Sache auf dich verlassen?”

Der Junge straffte die Schultern und nickte, unverkennbar begeistert, dass man als wichtig genug erachtete für das Privileg, dem König persönlich zu Diensten sein zu dürfen.

“Ausgezeichnet.”

* * *

Tyront bedeutete Enric, im Salon Platz zu nehmen, während er selbst zwei Gläser mit dem Wein füllte, den Enric bekanntermaßen bevorzugte. Obwohl der Grund für diese Zusammenkunft Ordensangelegenheiten betraf, wollte er sie dennoch nicht in seinem Arbeitszimmer abhalten. Sein erstes Zusammentreffen allein mit Enric nach einigen Monaten der Trennung, im Laufe derer es lediglich schriftlichen Austausch gab, musste in einer freundlicheren Umgebung stattfinden. Seit ihrer ersten und bislang einzigen Auseinandersetzung vor einigen Jahren, als Enric den Befehl seines Vorgesetzten ignoriert und den König beinahe bis zur Leblosigkeit gewürgt hatte, war Tyront darauf bedacht, dass sie sich stets freundschaftlich trennten, wenn Enric das Land verlassen musste, und mit gleicher Wärme wieder aufeinandertrafen.

“So”, sagte Enric, nachdem er das Glas entgegengenommen hatte. “Heraus damit.”

Tyront hielt sich nicht damit auf vorzugeben, es gäbe nichts, das er ansprechen wollte. Etwas, das er nicht während ihres ersten Treffens am gleichen Tag in Eryns Gegenwart hatte erwähnen wollen.

“Ich muss dich nach Bonhet schicken, damit du einen Blick darauf wirfst, wie die Dinge in dem neu errichteten Ordensaußenposten laufen. Unsere Kollegen dort sollen nicht vergessen, dass sie uns weiterhin Rechenschaft schulden, auch wenn sie nun an einem anderen Ort als dem Hauptquartier stationiert sind.”

Enric nickte. Der Auftrag versetzte ihn nicht eben in Begeisterung, doch er war vernünftig. Und ganz unerwartet kam er zudem nicht. Dies war das erste Mal seit Jahrhunderten, dass Magiern gestattet wurde, die Hauptstadt zu verlassen und sich anderswo niederzulassen. Nun, nicht genau dort, wo sie wollten, sondern in einem designierten Ordensaußenposten, aber dennoch. Es musste von Beginn an klar sein, dass dieser neue Standort ihnen keinerlei Unabhängigkeit von den Richtlinien des Ordens oder den damit verbundenen Pflichten gewährte. Und wer war besser dazu geeignet, ihnen das ins Gedächtnis zu rufen als die Nummer zwei des Ordens? Tyront stand es nicht frei herumzureisen, er musste kurzfristig verfügbar sein und den Rat der Magier im Zaum halten.

“Du könntest Eryn und den Jungen mitnehmen”, schlug Tyront vor als wollte er den Befehl, mit dem er ihn so kurz nach seiner Ankunft aus den Westlichen Territorien schon wieder auf den Weg schickte, etwas abmildern. “Ein paar Heiler werden dort immerhin ebenfalls stationiert sein. Sie könnte sich bei deren Eingewöhnung als hilfreich erweisen.”

Der jüngere Mann lächelte in Anerkennung der Geste, schüttelte aber bedauernd den Kopf. “Es wäre nicht fair, sie schon so bald wieder von hier fortzubringen. Sie braucht etwas Zeit, um den Kontakt mit den Leuten, die ihr nahestehen, wieder zu festigen und sich über all die Veränderungen in unserer Abwesenheit zu informieren. Es gibt immer ein paar Schwierigkeiten, die es in keine der Nachrichten schaffen, die man uns schickt und die nach unserer Rückkehr hierher Stück für Stück aufgedeckt werden müssen. Und Vedric muss sich auch rasch hier an den Alltag gewöhnen. Immerhin soll er in ein paar Monaten seinen Unterricht hier beginnen.”

“Ich weiß, dass du es ebenfalls vorziehen würdest, nicht zu gehen”, meinte Tyront und lehnte sich mit seinem Glas zurück. “Und ich schätze es, dass du dich weder beschwerst noch versuchst, mich umzustimmen. Ich werde dich nicht lange fortschicken. Zwei oder drei Tage sollten ausreichen um sicherzustellen, dass dort alles in Ordnung ist.”

Für den Moment, dachte Enric. Der zweite neue Außenposten in Rokhstend sollte in ein paar Monaten eröffnet werden, und er hegte keinen Zweifel daran, dass man ihn auch dorthin entsenden würde. Und ihn immer auf die Reise schicken würde, wenn es Schwierigkeiten an einem Standort gab und seine Autorität oder Erfahrung erforderlich waren, um sich darum zu kümmern. Doch zumindest waren Vögel verfügbar, um zügig mit den Außenposten zu kommunizieren und kleinere Angelegenheiten rasch und ohne die Notwendigkeit einer Reise zu erledigen, wenn sich Schwierigkeiten ergaben.

“Dann würde ich vorschlagen, dass du dich in den nächsten paar Tagen auf den Weg machst, damit du bald wieder zurückkehren und dich endlich hier eingewöhnen kannst. Wie ich höre, hat Vern sein neues Quartier bereits bezogen”, bemerkte Tyront und lenkte das Thema damit von der unbequemen Entsendung weg.

“Ja, das hat er. Es ist nicht weit von der Klinik entfernt, also hat er einen kurzen Arbeitsweg. Das Geld, das er in Takhan mit seiner Kunst verdient hat, ermöglicht ihm, sich eine Unterkunft zu nehmen, die sich nicht viele in seinem Alter leisten könnten, ohne auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern zurückzugreifen.”

Der Anführer des Ordens nickte. “Ich weiß. Zumindest wird er es gemütlich haben. Das ist ein positiver Aspekt, da ich annehme, dass es nicht leicht für ihn sein wird, hierher zurückzukehren, wo sein künstlerisches Talent so wenig geschätzt wird.”

Genau das bereitete auch Enric Sorgen. Vern war seit dem Beginn seines Trainings in Takhan kein einziges Mal zurück in Anyueel gewesen. Außer den Gelegenheiten, wo ihn seine Familie in Takhan besuchte, hatte er keinerlei Kontakt mit seinem Heimatland gepflegt. Seinen Möglichkeiten hier in Anyueel waren Grenzen gesetzt, die es in Takhan einfach nicht gab. Er fragte sich, ob Vern dies frustrierend finden und ob der Junge, oder eher junge Mann, damit fertigwerden würde.

“Orrin ist enorm froh, seinen Jungen zurückzuhaben”, schmunzelte Tyront. “Ich kann nicht einmal mehr zählen, wie oft ich ihm versichern musste, dass Vern keine Möglichkeit hat, seinen Aufenthalt nach dem Ablegen seiner Zertifizierungsprüfungen noch zu verlängern, dass der Orden einer möglichen Anfrage dieser Art nicht zustimmen würde. Nicht, dass der Junge es versucht hätte, wohlgemerkt. Entweder hat er seine Heimat vermisst und wollte zurückkommen, er wollte seinem Vater nicht das Herz brechen, oder er wusste, dass es wenig Hoffnung gab, dass wir ihn noch länger dortbleiben lassen.”

“Wir werden ihm allerdings die Erlaubnis erteilen müssen, gelegentlich für kurze Besuche nach Takhan zurückkehren”, betonte Enric. “Er hat dort viele Freunde gewonnen und wird auch den Kontakt mit seinen Kollegen und den anderen Künstlern pflegen wollen.” Was ein weiterer Punkt war, der das Potential barg, Vern Kummer zu bescheren – er ließ wesentlich mehr Freunde in Takhan zurück als er in Anyueel vorfand. Doch zumindest Geliebte hatte er keine in Takhan zurücklassen müssen. Ein gebrochenes Herz zusätzlich zu seinem Neubeginn in Anyueel hätte ihm die Sache erheblich erschwert. Allerdings waren Verns Affären für ihre kurze Dauer und große Anzahl bekannt. Sie hatten niemals lange genug gedauert, als dass daraus eine ernsthafte Verbundenheit mit einer seiner Partnerinnen für vergnügliche Stunden entstehen hätte können.

“Das wird kein Problem sein. Wir werden darauf bestehen, dass er seine Besuche so ansetzt, dass er gemeinsam mit euch nach Anyueel zurückkehren kann.”

Enric schwenkte den Wein in seinem Glas und beobachtete, wie die dunkle Flüssigkeit das Licht schluckte. “Du fürchtest also, dass er nicht freiwillig zurückkehren würde, wenn niemand sicherstellt, dass er an Bord des Schiffes geht?”

“Ganz so drastisch würde ich es nicht ausdrücken, doch es schadet nicht, auf Nummer sicher zu gehen.”

Enric nickte. Dem stimmte er vollkommen zu.

* * *

Zum ersten Mal in sechs Monaten stieß Eryn die Türen der Klinik wieder auf. Dieser Akt vermittelte ihr das Gefühl, als käme sie zum zweiten Mal nach Hause. Ganz egal, dass Lord Poron zum Oberhaupt der Heiler bestellt worden war – sie betrachtete all das hier immer noch als ihres. Sie hatte es ins Rollen gebracht, aufgebaut, darüber gewacht und sein Wachstum unterstützt. Obgleich sie Bedauern verspürte, wenn sie daran dachte, dass ein beträchtlicher Teil dieses Wachstums und der Veränderungen nun in ihrer Abwesenheit geschahen. Natürlich hatte Lord Poron sie mit seinen Nachrichten über alles, was während ihrer Aufenthalte in Takhan passiert war, auf dem Laufenden gehalten, doch es war ein Unterschied, ob man aktiv daran teilnehmen konnte, einen Ort zu formen, oder ob man darüber informiert wurde, wie es andere taten.

Selbst jetzt nach ihrer Rückkehr war Eryn nicht wirklich in einer Position, Entscheidungen zu treffen. Sie konnte Lord Poron und den König lediglich beraten und abwarten, ob man ihre Ideen als brauchbar genug erachtete, um sie umzusetzen. Nicht, dass sie sich darüber beschweren konnte, dass man ihren Rat ignorierte. Ganz im Gegenteil – beide waren bestrebt, sie einzubinden und den Eindruck zu vermeiden, sie gehöre nicht länger hierher. Dennoch war dieser Tage alles so ungemein bürokratisch geworden. Sicher, eine wachsende Anzahl an Heilern aus zwei verschiedenen Ländern, die in der Klinik arbeiteten, sowie die erste Gruppe an nicht-magischen Heilern, die sie vor einem Jahr aufgenommen hatten, erforderte eine gewisse Struktur – das war ihr durchaus bewusst. Doch ihrer Ansicht nach war hier auch die Handschrift des Ordens unverkennbar. Wenn die Dinge ohnehin bereits kompliziert waren, dann vermochte es der Orden, sie beinahe undurchschaubar zu gestalten. Alles hatte auf ihre lange bewährte, staubige, bürokratische Art und Weise zu geschehen.

Sie setzte ihren Weg in die obere Küche, die sie vor zwei Jahren eingerichtet hatten, fort. Dank der wachsenden Zahl an Heilern sowohl aus Takhan als auch Anyueel war der kleine Raum unten der Herausforderung, allen Platz zu bieten, einfach nicht mehr gewachsen gewesen.

Neuankömmlinge gewöhnten sich rasch an die Routine, den Tag mit einer informellen Zusammenkunft in der Küche zu beginnen, ein warmes Getränk zu sich zu nehmen und über dieses und jenes zu tratschen. Es war ein wirksamer Weg, um unter den Heilern ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu stärken und half auch dabei, Neuzugänge der gesamten Belegschaft vorzustellen.

Jubel brach aus, als Eryn den Raum betrat, und Lebern – einer der ersten Heiler, die sie nach Eröffnung der Klinik vor sieben Jahren aufgenommen und ausgebildet hatte – rief aus: “Seht nur, wer von der anderen Seite des Meeres zurückgekehrt ist! Lady Maltheá von Haus Vel’kim!”

Eryn warf ihm einen bösen Blick zu. Er wusste genau, wie sehr sie es hasste, mit ihrem Titel und ihrem in Takhan offiziellen Namen angesprochen zu werden. Der Name, der sie noch immer mit Malriel von Haus Aren verband, da er zeigte, dass sie der gleichen Familie entstammten.

“Mach nur weiter so, und ich werde die Sachen, die ich aus Takhan mitgebracht habe, wieder zurückschicken.”

Lebern horchte auf. “Du hast Geschenke mitgebracht?”

“Natürlich habe ich das. Einige Instrumentengarnituren für Diagnose und Behandlung, zwei weitere Bücher über Heilkräuter, die mein Vater verfasst hat, und einige Fässer von diesem entsetzlichen Getränk, das ihr so toll findet, weil es euch wach und aufmerksam hält.”

Onil lachte. “Wenn du so weitermachst, werden wir dich jedes Mal mit einer Parade begrüßen müssen, wenn du aus Takhan zurückkommst.”

Eryn schüttelte den Kopf, froh darüber, dass sie trotz der zunehmenden Anzahl an Heilern und ihren eigenen immer wiederkehrenden langen Abwesenheit so mühelos ihren Platz unter ihnen fand. “Opportunistischer Haufen. Geht mir aus dem Weg, ich brauche etwas zu trinken.”

“Das Übliche?”, fragte ein anderer Heiler. Auf ihr Nicken hin nahm er einen Becher zur Hand, füllte ihn mit Wasser und schüttelte ein wenig ihres bevorzugten Kräuterpuders aus einem Vorratsglas hinein, bevor er das Getränk mit etwas Magie erhitzte und ihr reichte.

Eryn lächelte dankbar und genoss das wohlige Gefühl, an einen Ort zurückzukehren, wo die Leute ihr das Gefühl gaben, dass sie dazugehörte, wo man wusste, was sie morgens gerne trank und wo man sie jedes Mal nach ihrer Ankunft willkommen hieß.

“Bist du auf dem Weg zu LP?”, fragte Lebern grinsend. Mit LP bezog man sich dieser Tage auf Lord Poron, zuweilen sogar in seiner Gegenwart. Ihn störte es allerdings nicht, sondern er betrachtete es als Kosenamen.”

“Ja, warum?”

“Dann mach dich auf eine winzig kleine Überraschung gefasst.”

Auf ihren fragenden Blick hin grinste er nur und hegte ganz offensichtlich keinerlei Absicht, sie wissen zu lassen, was sie erwartete.

“Also schön, dann gehe ich mal los und sehe mir an, was diese kryptische Bemerkung zu bedeuten hat. Die Sachen aus Takhan sollten heute irgendwann vom Hafen geliefert werden. Seht zu, dass jemand dafür unterschreibt und sie dann verstaut.”

Damit wandte sie sich ab und ging die paar Schritte zu Lord Porons Arbeitszimmer.

“Herein”, hörte sie ihn auf ihr Klopfen hin antworten und öffnete die Tür.

Loft mit seinem kahlen Haupt und ewigem Stirnrunzeln stand vor dem Schreibtisch, ohne mehr als einen flüchtigen Blick in ihre Richtung zu werfen. Augenscheinlich war er ebenso wenig begeistert über das Zusammentreffen mit ihr wie sie es war, ihn zu sehen. Sie tauschten ein knappes Nicken, dann machte sich Loft in Richtung der Verbindungstür davon und verschwand in sein eigenes Zimmer.

Lord Poron stand von seinem Stuhl auf und lächelte bei ihrem Anblick erfreut.

Eryn erwiderte das Lächeln, dann blinzelte sie. Ach du lieber Himmel! Er sah anders aus, und zwar radikal. Das war es offenkundig, worauf Lebern angespielt hatte. Lord Poron erschien nicht länger wie ein Mann in seinen Achtzigern, sondern hatte etwa zwanzig Jahre abgestreift.

“Ihr seht…” Sie hielt inne und überlegte, wie sich dieser unverkennbare Wandel höflich ansprechen ließ. Manche Leute reagierten etwas empfindlich, wenn jemand eine kosmetische Veränderung kommentierte.

“Jünger aus?”, schlug Lord Poron mit einem amüsierten Glänzen in seinen Augen vor.

Gut. Zumindest gab er sich nicht der Illusion hin, die Leute würden die dramatische Veränderung seines Erscheinungsbildes nicht sofort bemerken.

“Ja. Jünger.” Sie näherte sich seinem Schreibtisch und nahm davor Platz, als er auf einen Sessel deutete. “Wie kommt das? Ihr wart stets recht widerwillig, auch nur die Beschwerden wegzuheilen, die das Alter mit sich brachte. Ihr sagtet, Ihr fändet es frivol, Eure Magie und Euer Heilerwissen für so etwas einzusetzen. Was hat Eure Meinung geändert?”

Er lachte leise. “Mehrere Faktoren. Zum einen war da Aurna.”

Sie grinste. Wie es aussah, hatte seine Gefährtin also weniger Bedenken dabei, Magie für Zwecke außerhalb der medizinischen Notwendigkeit einzusetzen.

Er fuhr fort: “Vor ein paar Monaten überredete sie mich, sie ein wenig jünger erscheinen zu lassen. Nun, nicht nur ein wenig, wenn ich vollkommen ehrlich bin. Sie sieht jetzt so alt wie Vyril aus.”

Eryns Augenbrauen wölbten sich nach oben. So alt wie Tyronts Gefährtin? Das bedeutete, dass Aurna nun fünfundzwanzig Jahre jünger aussah!

“Aurnas Falten haben mich nie gestört”, seufzte er. “Zusammen alt zu werden ist ein Privileg, wenn man eine Person findet, an der man hängt. Sich dem Teil mit dem Altern zu verwehren und einfach nur das Zusammensein genießen fühlt sich noch immer ein wenig wie Schummeln an. Als wären wir unwillig, den Preis zu bezahlen. Doch nach einigen Monaten, in denen ich mich geweigert hatte, schaffte Aurna es schlussendlich, mich zu überreden. Sie ist meine Gefährtin, also wie könnte ich ihr auf Dauer verweigern, was sie sich so inniglich wünscht, wenn es in meiner Macht steht, ihr solch eine Veränderung zu gewähren?”

Sie nickte. “Natürlich konntet Ihr das nicht. Und das hat Euch dazu bewogen, auch Euer eigenes Erscheinungsbild zu verändern?”

“Nicht zu Beginn. Ich war durchaus zufrieden damit, meinem Alter entsprechend auszusehen. Doch eines Tages gingen wir zu einem der Geschäfte auf der anderen Seite der Stadt, wo wir uns sonst nicht aufhalten und man uns nicht kennt. Irgendeine Freundin von Aurna hatte ihr ein kleines Porzellangeschäft für besonders kunstvolle Schalen empfohlen. Ich war an diesem Tag ohne meine Robe unterwegs.” Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. “Der Betreiber des Geschäfts fragte mich, ob ich nicht ein reizendes Set an kunstvoll gefertigten und bemalten Vasen für meine zauberhafte Tochter erstehen wollte.”

Eryn lachte und sah die Entrüstung, die die Erinnerung daran noch immer auslöste, in sein Gesicht geschrieben.

“Nun, ich bin froh, dass Ihr Euch auf eine Lösung geeinigt habt, die Euch beide glücklich macht.”

“Mit glücklich bin ich mir in meinem Fall noch nicht ganz sicher. Ich betrachte es immer noch als frivol, doch meine Irritation darüber, für den Vater meiner eigenen Gefährtin gehalten zu werden, wog erheblich schwerer als mein Unwille, mich einer kosmetischen Veränderung zu unterziehen.”

Sie grinste. “Das kleinere Übel zu wählen mag nicht immer der Pfad zu wahrer Glückseligkeit sein, doch zuweilen müssen wir uns damit zufriedengeben, wenn wir das Unglücklichsein vermeiden können.”

Der alte Mann lächelte, wobei er nun erheblich weniger Falten zeigte. “Weise Worte, meine Liebe. So, erzähl mir von deinen Plänen für die Klinik, jetzt, wo du wieder zurück bist. Die Dinge bleiben kaum lange unverändert, sobald du aus den Westlichen Territorien zurückkehrst. Ich möchte lediglich wissen, worauf ich mich dieses Mal einstellen muss.”

Schulterzuckend nahm sie einen Schluck aus ihrem Becher. “Ob Ihr es nun glaubt oder nicht, langsam gehen mir die revolutionären neuen Konzepte aus. Ich glaube, dieses Mal können wir uns auf die Veränderungen konzentrieren, die Ihr in Euren Briefen als notwendig bezeichnet habt. Wie die Vergrößerung der Räumlichkeiten, jetzt wo wir weiterhin neue Heilerlehrlinge sowie Praktikanten und Heiler aus Takhan aufnehmen.”

“Das ist eine Erleichterung, muss ich gestehen. Ich bin nicht sicher, dass wir über die Ressourcen verfügen, um mehrere Innovationen gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Der König ließ mich wissen, dass es mir grundsätzlich freisteht zu tun was immer ich möchte, solange er nicht dafür bezahlen oder sich hinterher mit irgendwelchem Ärger herumplagen muss”, informierte Lord Poron sie. “Bedauerlicherweise ist der Platz um unser Gebäude herum beschränkt, weshalb es uns nicht freisteht, die Klinik nach Herzenslust umzubauen und zu vergrößern. Jedoch lässt sich wohl ein ähnlich brauchbares Resultat erzielen, wenn wir nahegelegene Gebäude erwerben. Damit würde einhergehen, dass wir Bereiche, die weitgehend unabhängig operieren, in die andere Örtlichkeit umsiedeln.”

“Wie kosmetische Veränderungen”, meinte Eryn nachdenklich. “Oder vorbeugende Schwangerschafts- und Gesundheitsuntersuchungen.”

Er nickte. “Genau daran dachte ich auch. Ich bin froh, dass wir hier übereinstimmen. Ich habe zudem überlegt, Plia und die Kräuter umzusiedeln, doch das würde wenig Sinn ergeben. Wir brauchen sie dort, wo der Bedarf an Medizin am größten ist. Auf lange Sicht könnten wir auch in Betracht ziehen, den Unterricht in ein anderes Gebäude zu verlegen. Der Unterrichtsbereich umfasst derzeit fünf ganze Räume, und wenn wir zusätzliche Nichtmagier als Heilerlehrlinge aufnehmen wollen, wird das nicht reichen.”

Eryn biss sich auf die Lippe. Eine Heilerschule… Das klang umwerfend.

Der ältere Heiler lächelte über ihren Gesichtsausdruck. “Ich kann sehen, dass dir die Idee zusagt. Nichts anderes hatte ich erwartet, gebe ich zu.”

“Da Ihr davon sprecht, weitere Nicht-Magier aufzunehmen, gehe ich davon aus, dass sich der erste Jahrgang an Schülern wacker schlägt? Das Konzept entwickelt sich vielversprechend?”

“Ich freue mich berichten zu können, dass dies auf jeden Fall zutrifft. Sarol von Haus Roal war dabei eine enorme Hilfe. Wir korrespondieren regelmäßig miteinander, und seit unserer Aufnahme von nichtmagischen Schülern hat er uns bereits zweimal besucht. Unter all diesem rauen Verhalten war erkennbar, dass er große Stück auf das hält, was wir hier tun – obwohl Magier diejenigen sind, die es tun.”

Eryn wusste, dass das stimmte. Er selbst hatte als Heiler ohne magische Fähigkeiten in einer Stadt, in der das Heilen vorwiegend von Magiern in Angriff genommen wurde, mehr als genug Hindernisse überwinden müssen. Die Konsequenz davon war, dass Nicht-Magier mit Diskriminierung zu kämpfen hatten. Natürlich nicht offiziell. Zumindest nicht in einer Klinik, wo Valrad von Haus Vel’kim an der Spitze stand.

“Ich habe dir geschrieben, dass ich überlegt habe, unsere Vereinbarung mit den Apothekern aufzukündigen, wenn du dich erinnerst”, fuhr er fort. Sie nickte, woraufhin er weitersprach: “Sie lassen nicht davon ab, Plia das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die meisten von ihnen fühlen sich ungerecht behandelt, wenn sie von einer Sorte Medizin mehr bestellt als von einer anderen. Sie unterstellen ihr, dass sie sich ihre Lieblinge herauspickt. Was vollkommener Unsinn ist. Ich bat Loft, die Ausgaben und die Anzahl der Verschreibungen zu überprüfen, und sie bestellt die Produkte in Übereinstimmung mit dem, was benötigt wird. Sie ist übrigens recht geschickt darin geworden, den Bedarf erstaunlich genau vorauszusehen. Eine sehr fähige junge Dame.”

Stolz und Vergnügen durchströmten Eryn bei dem Lob. Es tat gut zu hören, dass Plias harte Arbeit und Fertigkeiten geschätzt wurden. Später würde sie die Lobesworte an das Mädchen weitergeben.

“Hat sich die Situation seither verbessert?”, wollte sie wissen.

Mit einem traurigen Seufzen äußerte er sich gegenteilig. “Nein, überhaupt nicht. Ich habe entschieden, unsere Zusammenarbeit mit ihnen zu beenden und Plias Bereich zu erweitern. Sie vor einigen Jahren als medizinische Herbalistin aufzunehmen war ein schlauer Zug. Andernfalls wären wir nun stark von den Apothekern abhängig. Wie auch immer, mit einem der Apotheker würde ich gerne weiterhin arbeiten; ich werde ihm ein Angebot unterbreiten, in der Klinik anzufangen. Sofern er zustimmt, unter Plia zu arbeiten, versteht sich. Dann werde ich mit Plia besprechen, wie viel mehr Leute ihrer Ansicht nach benötigt werden, um die erforderlichen Mengen und die Bandbreite an Medizin herzustellen.”

“Das klingt fabelhaft. Ich denke, wir haben uns ihre ständigen Streitereien jetzt lange genug angesehen. Habt Ihr schon entschieden, welche Heiler Ihr zum neuen Ordensaußenposten nach Bonhet schicken werdet?”, fragte sie.

“Das habe ich tatsächlich. Felden bat mich, ihn zu entsenden, und ich denke, er ist eine gute Wahl. Als einer der Heiler der ersten Stunde hier hat er genug Erfahrung, um ohne ständige Beaufsichtigung außerhalb der Hauptstadt und mit recht beschränkten Ressourcen zu heilen. Zwei der drei Heiler aus Takhan haben sich ebenfalls freiwillig gemeldet. Ich vermute, dass sie einen Standort näher an ihrer Heimat vorziehen. Das würde ihre Reisezeit für einen Besuch in Takhan um ein Drittel reduzieren. Ich werde einen von ihnen mitschicken. Und zusätzlich noch einen der frisch ausgelernten Heiler. Drei Heiler sollten für den Moment ausreichen. Sollte es vorübergehend Bedarf für mehr geben, können wir ihn decken, wenn es schlagend wird.”

Eryn nickte langsam. Sie würde Felden auf jeden Fall vermissen, stimmte aber zu, dass er eine gute Wahl war. Jemand würde seinen Unterricht übernehmen müssen. Aber mit zwei qualifizierten Heilern aus Takhan mit weitreichender Erfahrung im Heilen, die hier verblieben, war das kein Problem. Die der ersten Klasse an frisch qualifizierten Heilern wollte sie noch nicht zum Unterrichten einsetzen. Sie sollten sich zuerst wahrhaftig in ihren neuen Beruf einfinden anstatt zu versuchen, Erfahrung an andere weiterzugeben, die sie selbst noch nicht gesammelt hatten.

Lord Poron hob die Hände. “Das war es so ziemlich von meiner Seite. Ich schätze, du wirst deine Arbeit hier bald wiederaufnehmen?”

“Morgen, wenn es Euch recht ist. Ich habe die meisten der ermüdenden Treffen, die mich nach meiner Rückkehr hier immer erwarten, hinter mir. Somit kann ich meine Zeit nun für etwas Nützliches verwenden.”

“Ich werde Loft instruieren, er möge dich ab morgen in den Dienstplan miteinbeziehen. Deine üblichen Präferenzen? Dreimal pro Woche, einmal davon Nachtschicht?”

“Ja, so wie immer”, bestätigte sie. “Werde ich Euch heute Abend bei Inads Veranstaltung sehen?”

“Aber auf jeden Fall. Wie du sehr wohl weißt, meine liebe Eryn, würde Aurna niemals eine Zusammenkunft versäumen, bei der du anwesend bist.”

Eryn schnalzte mit der Zunge. “Hofft sie etwa immer noch auf irgendwelche Skandale oder unterhaltsamen Ausrutscher?”

Hilflos hob er die Hände. “Was soll ich dazu sagen? Ganz egal, wie höflich und zurückhaltend du dich in diesen letzten paar Jahren gezeigt hast, so glaubt sie doch immer noch, dass es diesen ungezähmten Teil von dir gibt, der eines Tages wieder hervortreten wird. Und sie ist fest entschlossen dabei zu sein.”

Sie schnaubte. “Das ist keine besonders freundliche Gesinnung, muss ich sagen. Zumindest nicht, wenn es um Leute geht, die sie zu mögen behauptet.”

Lord Poron zog die Schultern hoch. “Ich widerspreche dir nicht. So ist Aurna eben, immer bereit, sich auf Kosten anderer zu amüsieren. Aber in deinem Fall zieht sie es vor, wenn du nicht diejenige bist, die einstecken muss, wie ich wohl hinzufügen sollte.”

Sie kam auf die Beine und seufzte. “Das macht keinen großen Unterschied. Wenn jemand anderer als ich Ärger abbekommt, bin ich für gewöhnlich trotzdem diejenige, die hinterher entweder mit Tyront oder dem König Schwierigkeiten hat. Eure Gefährtin wird es mir also verzeihen, wenn ich nach einem friedlichen, wenn auch wenig erinnerungswürdigen Abend strebe anstatt ihr die Abwechslung zu bescheren, nach der sie sich sehnt.”

Er lachte. “Ich werde das so an sie weitergeben – und eine Standpauke riskieren, weil ich dir überhaupt davon erzählt habe.”

Das entlockte ihr ein Grinsen. “Die Gefahren einer Beziehung, was?”

* * *

Eryns Schritte wurden langsamer, als sie Vern vor den Türen der Klinik erblickte. Er starrte darauf, während sich seine Fäuste öffneten und erneut ballten, als wäre er dabei, den Mut zum Betreten des Gebäudes zu sammeln. Das war seltsam. Das war nicht sein erstes Mal in der Klinik seit seiner Rückkehr aus Takhan; soweit sie wusste, hatte er bereits zwei oder drei Schichten hier gearbeitet. Warum zögerte er hineinzugehen? War etwas vorgefallen?

Sie beschleunigte wieder, näherte sich ihm und gab vor, seine offenkundige Scheu nicht bemerkt zu haben.

“Guten Morgen”, sagte sie fröhlich und lächelte ihn an.

Er erwiderte das Lächeln, doch es reichte nicht bis zu seinen Augen.

Sie ließ jegliche Verstellung fallen, griff nach seinem Ärmel und zog ihn mit sich fort vom Eingang und um die nächste Ecke.

“Was ist los?”

“Nichts!”, versicherte er ihr eilig, unverkennbar lügend.

“Vern, ich bin weder blind noch dumm. Heraus damit! Irgendetwas stimmt nicht, und ich will wissen, was. Hast du mit irgendeinem der Heiler Ärger? Oder mit einem Patienten?”

“Nein, nichts dergleichen. Es ist nur…” Er gestikulierte hilflos. “Es liegt an mir. Oder an allem anderen, wie auch immer man es sehen will. Ich meine… ich bin hierher zurückgekommen in der Erwartung, ich würde zu Dingen zurückkehren, die ich kenne, zu einer Stadt, mit der ich vertraut bin. Aber nichts ist mehr so wie damals, als ich fortging! Ich fühle mich verloren und allein in meinem neuen Quartier. Ich habe noch nie zuvor allein gelebt. Und dann ist da die Klinik. Schau, es ist großartig, dass sich die Dinge auf diese Weise entwickelt haben, doch ich ging von hier weg als es gerade einmal eine Handvoll Heiler und Rolan gab und wir versucht haben, die Dinge irgendwie am Laufen zu halten. Es war nicht wichtig, dass keiner von uns irgendeine Ahnung davon hatte, wie man ein Heilzentrum führt, wir haben einfach herumexperimentiert und die Dinge währenddessen verbessert. Jetzt ist dieser Ort jeden Tag für das Heilen geöffnet und voll mit neuen Heilern und Lehrlingen. Da ist noch etwas – nicht einmal die Straßen sehen wie früher aus, wenn ich sie entlanggehe. Der Hafen, den Enric neu bauen hat lassen, sieht jetzt vollkommen anders aus. So riesig. Viele Magier, die ich sehe, tragen jetzt violette Roben anstatt der braunen Kriegerroben, die vor sechs Jahren fast die einzigen waren, die man sah. Und dann sind da die Leute aus den Westlichen Territorien mit ihrer dunkleren Haut und schwarzen Haaren… Versteh mich nicht falsch – ich liebe es, wie sich die Dinge entwickelt haben, diesen ganzen Austausch zwischen den beiden Ländern. Doch es ist einfach nur ein weiterer Faktor, der mich erkennen lässt, dass ich tatsächlich nicht mehr an den Ort zurückgekehrt bin, den ich vor einigen Jahren verlassen habe. Ich war ein Gast in Takhan, und nun fühle ich mich wie ein Eindringling in Anyueel.” Er schloss die Augen und lehnte seine Stirn gegen die kühle Steinwand der Klinik.

Eryn schluckte. Das war eine Menge gewesen. Und sie wusste, dass sie ihm damit nicht wirklich helfen konnte. Das war ein Prozess der Wiedereingewöhnung, den er irgendwie durchstehen musste.

“Ich weiß, dass es schwierig ist, Vern. Ich erinnere mich daran, wie es war, als ich nach sechs Monaten zum ersten Mal aus Takhan zurückkam. Das war eine wesentlich kürzere Zeitspanne als die, die du dort verbracht hast, also gab es nicht ganz so viele Veränderungen, doch ich kann mir vorstellen, dass das hier wirklich hart für dich sein muss. Du wirst Zeit brauchen um herauszufinden, wo dein neuer Platz in Anyueel ist, um wieder ein Teil davon zu werden. Du bist ebenfalls nicht die gleiche Person, die du warst, als du von hier fortgingst, also müssen sich die Leute auch erst wieder an dich gewöhnen.”

“Ich vermisse meine Freunde in Takhan bereits”, murmelte er. “Und ich habe keine Kleider, die sich für die Temperaturen hier eignen. Unter meiner Heilerrobe friere ich ständig.”

“Aber das kann kaum ein großes Problem darstellen, oder? Du erinnerst dich doch wohl, dass die Gefährtin deines Vaters eine Schneiderin ist?”

“Ich bin deprimiert, nicht hirntot, vielen Dank”, knurrte er. “Ich habe mich bereits von ihr vermessen lassen, aber sie wird noch zwei Tage brauchen, bis sie die ersten beiden Garnituren an Kleidung für mich fertig hat. Sie hat mir angeboten, in der Zwischenzeit ein paar Sachen von meinem Vater zu tragen, aber die sehen absolut lächerlich an mir aus. Ich meine, er ist ein Krieger mit breiten Schultern – in eines seiner Hemden passe ich fast zweimal!”

“Also hast du dich stattdessen entschieden zu frieren?”, fragte sie nach.

“Nun, ja. Das ist auf jeden Fall die würdevollere Option.”

Eryn nahm seinen Arm, um ihn zurück zum Eingang der Klinik zu ziehen. “Zumindest in dieser Sache kann ich dir helfen, denke ich. Nimm einfach zwei zusätzliche Garnituren an Heilerkleidung mit, wenn du heute heimgehst. Wenn du sie in Verbindung mit deiner Robe trägst, solltest du das Frieren auf ein Minimum begrenzen können.”

“In Ordnung. Danke. Das schätze ich wirklich.”

Sie betraten das Gebäude und sahen, wie Loft aus einem Behandlungszimmer herauskam und das nächste betrat, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

“Und wessen vollkommen irrsinnige Idee war es überhaupt, ihn zu Rolans Nachfolger zu machen?”, flüsterte Vern.

“Offiziell die von Rolan und Lord Poron. Aber ich verdächtige den König”, erwiderte Eryn ebenso leise. “Ich glaube, dass dies zwei Zwecken dienen sollte: Er wollte den Klotz loswerden und sich außerdem gut damit unterhalten, indem er in den kommenden Jahren zusieht, wie ich mich mit ihm herumplage.”

Loft tauchte wieder aus dem Zimmer auf und hielt kurz inne, um sie anzusehen, woraufhin sie augenblicklich zu sprechen aufhörten. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. Er öffnete seinen Mund, schien seine Meinung aber dann zu ändern und entfernte sich wortlos in Richtung der Treppe, zweifellos auf dem Weg in sein Arbeitszimmer.

Sie setzten ihren Weg zur oberen Küche fort, wo bereits ein paar Heiler und Lehrlinge vor ihrer Schicht zusammensaßen oder standen. Eryn bemerkte, wie sich Vern versteifte, als er Plia mit Onil sprechen sah. Es schien also erhebliche Spannungen zwischen den beiden zu geben.

Als Plia die Neuankömmlinge erblickte, lächelte sie Eryn an und nickte Vern höflich zu, bevor sie sich damit entschuldigte, es warte viel Arbeit auf sie.

Vern nahm Eryns betont ausdruckslose Miene in sich auf. “Dir gefällt das, oder? Du denkst, dass ich genau das verdiene. Oder irre ich mich?”

In gespielter Überraschung erwiderte sie: “Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.”

“Ich werde das wieder in Ordnung bringen. Ich werde sie heute nach der Arbeit nach Hause begleiten und mich entschuldigen.”

Eryn nickte. “Ein guter Plan. Finde ich fabelhaft. Auf diese Weise wirst du den netten jungen Mann kennenlernen, mit dem sie sich seit zwei Jahren trifft. Er ist großartig. Jeden Abend nach der Arbeit holt er sie ab und bringt sie heim. Das befürworte ich sehr, weil es sie dazu motiviert, ihre Schichten zu einer zivilisierten Stunde zu beenden.”

Sie beobachtete, wie Verns Miene in sich zusammenfiel.

“Sie trifft sich mit jemandem? Schon seit zwei ganzen Jahren?” Er klang ungläubig.

Ein paar Gesichter drehten sich zu ihnen um, also zog Eryn ihn in eine Ecke und flüsterte: “Du bist in Takhan von einem Bett in das nächste gesprungen, also wie kann es dich überraschen, dass Plia eine Beziehung hat? Sie ist eine ungewöhnlich schöne und kluge junge Frau mit einem respektablen Beruf und einem guten Einkommen – wie kommst du auf die Idee, niemand könnte sich für sie interessieren? Die Leute drehen sich nach ihr um, wenn sie sie auf der Straße sehen, und wann immer sie etwas kauft, bieten ihr die Händler einen Preisnachlass an, nur damit sie lächelt! Was hast du erwartet?”

Vern errötete und stammelte: “Ich… nun… also… nichts. Ich habe nichts erwartet. Ich muss jetzt los. Und wegen zusätzlicher Kleidung nachsehen…”

Eryn rieb sich über das Gesicht. Armer, törichter junger Mann. Zusätzlich zu allem, mit dem er jetzt schon kämpfte, schien er nun auch noch entdeckt zu haben, dass er sich noch immer zu Plia hingezogen fühlte. Damit sollte er wohl besser achtgeben, dachte sie. Plias Galan war nicht gerade von der lesewütigen Sorte, sondern arbeitete täglich mit scharfen und schweren Werkzeugen. Und er war angetan von Plia und beschützte sie. Sie war absolut sicher, dass es Ärger bedeutete, wenn ein anderer Mann Interesse an ihr zeigte.

 

Kapitel 3

Gespräche von einem Erben

Enric klopfte bei Lord Remdels Haus. Ein Diener öffnete kurz darauf die Tür, verbeugte sich, gewährte ihnen Zutritt zum Eingangsbereich und nahm sich alsdann ihrer Umhänge an.

Ein Ausbruch schrillen Gelächters aus dem Salon zu ihrer Linken ließ Eryn resigniert ausatmen. “Das war es, was ich in diesen letzten Monaten vermisst habe – Inads gezierte Heiterkeitsbekundungen”, murmelte sie.

“Dann bin ich ja froh, dass du nicht länger ohne sie auskommen musst. Zumindest eine Zeitlang nicht”, erwiderte Enric.

Der Diener, der ihre Umhänge an sich genommen hatte, kehrte zurück und führte sie in den Salon.

“Lady Eryn! Lord Enric!”, rief Inad mit solch tiefempfundenem Entzücken, dass Eryn sich ob ihrer eigenen Gefühle ein klein wenig schuldig fühlte. Von jemandem gemocht zu werden, den sie selbst gerade so tolerierte, löste ein schlechtes Gewissen bei ihr aus. Soweit es Inad betraf, war ihr dieses Gefühl in den letzten sechs Jahren ein ständiger Begleiter gewesen.

“Inad”, lächelte Enric und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Wie stets erfreute er sie auch dieses Mal damit, dass er die formale Begrüßung aus den Westlichen Territorien vollführte und ihre Hand küsste.

Somit blieb Eryn kaum eine andere Wahl als es ihm gleichzutun und die Geste zu vollführen, mit der Frauen einander in ihrem Herkunftsland begrüßten, indem sie die Finger ihrer linken Hand mit Inads verschränkte. Es bescherte Inad die Gelegenheit, weltgewandt zu wirken.

“Ich bin so erfreut, Euch hier zu haben. Es ist schon zu einer Art Tradition geworden, dass Ihr Euren ersten geselligen Abend bei einer meiner Zusammenkünfte verbringt, ist es nicht so?”, schwatzte sie laut genug, um von allen gehört zu werden.

Sicher, dachte Eryn, das war auch der Grund, weshalb Inad erhebliche Mühen darauf verwendete herauszufinden, wann genau sie zurückkehrten, damit sie die Erste sein konnte, die exakt zwei Tage nach ihrer Rückkehr nach Anyueel Einladungen ausschicken konnte.

“Ja”, lächelte Eryn, “es ist wirklich ein charmanter Zufall, dass du diese Anlässe stets so kurz nach unserer Ankunft veranstaltest.”

Enric warf ihr einen warnenden Blick zu, doch ihre Gastgeberin lächelte nur mit vorgetäuschter Bescheidenheit, offenkundig zuversichtlich in der Illusion, dass ihr kleiner Plot unentdeckt blieb.

Sie gingen weiter in die Richtung, wo Enrics Mutter Gerit mit Vyril zusammenstand und sich zwanglos mit ihr unterhielt.

“Guten Abend, Mutter”, begrüßte ihr Sohn sie und beugte sich hinab, um ihre Wangen zu küssen, bevor er sich Vyril zuwandte. “Und auch dir einen guten Abend. Wo ist Tyront?”

“Er wird etwas später zu uns stoßen. Da gibt es irgendein Detail mit der Schatzkammer, um das er sich mit Lord Seagon kümmern muss, soweit ich das verstanden habe. Aber ich gehe davon aus, dass es nichts Wichtiges ist, sonst hätte man dich ebenfalls verständigt”, fügte sie hinzu, als sie seine Gedanken erriet.

Junar und Orrin betraten den Salon, erspähten sie und kamen sofort auf sie zu.

“Ich frage mich, wie gut Vern damit zurechtkommen wird, wenn er zwei Kinder zu hüten hat”, sorgte sich Junar, nachdem sie alle begrüßt hatte. “Ich weiß, dass er mehr als in der Lage ist, sich um Téa zu kümmern, aber Téa und Vedric gemeinsam…”

Eryn winkte ab. “Er bekommt das sicher ganz fabelhaft hin. Außerdem weiß er genau, wohin er sich wenden kann, sollte er sich nicht mehr zu helfen wissen. Ich habe Plia gebeten, sie möge zuhause bleiben, damit er ihr einen Boten schicken kann, falls er Hilfe benötigt.”

“Vielleicht hätten wir überhaupt besser Plia gefragt”, erwiderte die Schneiderin. “Sie hat früher schon auf die beiden aufgepasst und weiß somit, womit sie es zu tun hat.”

“Ich finde deinen Mangel an Vertrauen in meinen Sohn verstörend”, meinte Orrin, den ihre Zweifel an den Fähigkeiten seines Nachkommens ein wenig schmerzten. “Ich bin zuversichtlich, dass er alles im Griff hat. Es wird auf jeden Fall eine Herausforderung für ihn werden. Doch er ist mein Sohn, er wird sich durchsetzen.”

Das brachte Eryn zum Lachen. “Ich erinnere mich an das erste Mal, als du dich um beide gekümmert hast. Du warst nach ungefähr drei Stunden kurz davor, vor Verzweiflung in Tränen auszubrechen.”

“Das ist vollkommener Unsinn”, bestritt der Krieger steif. “Das kannst du nicht beweisen.”

“Das brauche ich auch nicht. Ich weiß, was ich gesehen habe. Und du weißt ebenfalls, dass ich Recht habe.”

Junar räusperte sich. “Themenwechsel. Gerit, wie ich höre, hast du dich entschieden, im Waisenhaus auszuhelfen? Ich finde, das ist eine ganz wunderbare Idee.”

Eryn blinzelte und wandte sich Enrics Mutter zu. “Tatsächlich?”

Gerit nickte. “Ja. Ich habe mehr Zeit zur Verfügung als ich füllen kann, wenn ihr drei in Takhan seid. Also entschied ich mich dazu, Vyril im Waisenhaus unter die Arme zu greifen. Es hilft mir auch dabei, die Zeit zu überbrücken, bis ich meinen Enkel wiedersehe”, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das die Traurigkeit hinter ihren Worten nicht ganz zu überdecken vermochte.

Natürlich. Aus dem Haus ihres früheren Gefährten Anwin fortzugehen war nicht nur eine Befreiung von einem Leben als Dienerin sowohl ihres Gefährten als auch ihres Sohnes gewesen, sondern hatte sie auch den Kontakt zu ihren beiden dort lebenden Enkelkindern gekostet. Die beiden anderen Enkel, die Kinder ihrer Tochter Leris, lebten zu weit von der Stadt entfernt, um sie regelmäßig zu sehen. Somit überschüttete sie Vedric jedes Mal, wenn er ein halbes Jahr in Anyueel verbrachte, mit all ihrer großmütterlichen Zuwendung. Und solange er fort war, musste es da eine Lücke in ihrem Leben geben; eine, die sie offensichtlich zu füllen entschieden hatte, indem sie Kindern eine Großmutter ersetzte, die keine hatten.

Eryn befürwortete die Idee. Sowohl die Waisen als auch Gerit würden davon profitieren.

Lord Poron und Aurna gesellten sich als nächste zu ihnen, wodurch es erforderlich wurde, den Kreis ein wenig zu vergrößern.

Eryns Augen wanderten von Vyril zu Aurna. Sie wirkten in der Tat, als wären sie etwa gleich alt. Verblüffend. Natürlich hatte sie selbst ihren Anteil an kosmetischen Veränderungen durchgeführt, da dies dafür sorgte, dass Geld in die Schatzkammer der Klinik floss; doch kaum jemals so ausgiebige und nicht bei Leuten, die sie gut kannte.

Vyril schüttelte den Kopf. “Aurna, ich kann noch immer nicht glauben, wie fabelhaft du aussiehst. Niemals im Leben hätte ich gedacht, dass neben dir zu stehen jemals dazu führen könnte, dass ich mich alt fühle. Ich verspüre den Drang, Eryn ebenfalls um eine Verjüngung anzubetteln. Oder deinen Gefährten, was das betrifft. Offensichtlich hat er ein beachtliches Talent dafür.”

Lord Poron lachte. “Ich musste rasch eines entwickeln; das war nichts als reine Notwendigkeit, um unser Überleben zu sichern. Bevor Heiler aus Takhan zu uns stießen, war Eryn die Einzige, die in der Lage war, diese Prozeduren durchzuführen und so die finanzielle Unabhängigkeit der Klinik sicherzustellen. Das bedeutete, dass es mir als Oberhaupt der Heiler zufiel, diese Pflicht zu übernehmen. Da die Nachfrage nach kosmetischen Veränderungen seither immens gewachsen ist, hatte ich ausreichend Gelegenheit, meine Fertigkeiten in diesem Bereich zu praktizieren und zu verfeinern.” Er zwinkerte Vyril zu. “Meine Dienste stehen dir zur Verfügung, Vyril – im Austausch für ein kleines Vermögen, versteht sich.”

“Schande über dich, Poron”, rief Vyril in gespielter Verzweiflung aus, “du würdest mir tatsächlich den vollen Preis verrechnen? Nach all den Jahren, die wir uns nun schon kennen? Und auch wenn man bedenkt, dass die Veränderungen, die du an deiner Gefährtin durchgeführt hast, der Grund dafür sind, weshalb ich es selbst in Betracht ziehe?”

Lord Poron zuckte mit den Schultern. “Du kannst immer noch deine gute Freundin Eryn konsultieren. Ich habe keinerlei Zweifel, dass sie dir für ihre Dienste sehr wenig – wenn überhaupt etwas – verrechnen würde. Doch es ist bekannt, dass sie kaum Begeisterung dafür aufbringt. Wenn du willens bist, ihr verstimmtes Gesicht zu ertragen, um dir Geld zu ersparen…”

Enric grinste. “Wenn man die Preise für kosmetische Veränderungen bedenkt, würde ich meinen, dass eine Menge Leute bereit wären, Eryns schmollende Miene für eine Weile zu ertragen, wenn sie im Gegenzug eine kostenlose Behandlung erhielten.”

“Herzallerliebst”, kommentierte Eryn säuerlich. “Sprecht doch einfach weiterhin so über mich, als stünde ich nicht direkt neben euch.” Sie drehte erleichtert den Kopf, als Inad sich zu ihnen stellte, hinter ihr ein Diener mit einem Tablett mit Weingläsern.

“Bitte, nehmt ein Glas”, drängte die Gastgeberin. “Das Abendessen wird in ein paar Minuten serviert, also bleibt noch ein wenig Zeit, um uns entspannt zu unterhalten.”

Jeder der Gäste nahm gehorsam ein Glas entgegen.

Anstatt weiterzugehen zu ihren anderen Gästen, blieb Inad bei der Gruppe und schickte den Diener mit einer Geste fort. Trotz der Tatsache, dass Eryn Inads Gegenwart nicht eben genoss, war sie froh, dass dadurch die anderen davon abgehalten wurden, ihre Unterhaltung über Eryns Abneigung kosmetischen Veränderungen gegenüber fortzusetzen.

“Gerit”, rief die Gastgeberin aus, nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort auf eine Weise zu äußern, als wäre es nicht von allergrößter Wichtigkeit, “du musst ja ungemein glücklich sein, dass du deine Familie wieder aus der Fremde zurückhast! Der kleine Vedric muss enorm gewachsen sein – das tun sie in dem Alter doch immer, nicht wahr?” Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: “Du musst kommen und mich besuchen, wenn du das nächste Mal auf ihn aufpasst! Mein eigener Enkel ist mit siebzehn Jahren nicht mehr wirklich ein Kind.” Sie wandte sich Eryn zu. “Übrigens wurde mir gesagt, dass er in Betracht zieht, in den Heilerberuf einzusteigen! Wie wunderbar – unser eigener Heiler in der Familie!”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln, während sich in ihrem Inneren alles verkrampfte. “Einfach wunderbar.” Natürlich wäre Inad ungemein erfreut darüber, einen Heiler zu ihrer Verfügung zu haben – sie rechnete mit kostenlosen kosmetischen Veränderungen für sich selbst. Eryn erinnerte sich an Inads Enkel, als sie Orrin vor ein paar Jahren bei seinem Kampfunterricht assistieren hatte müssen. Ein frecher Junge, der seine Gedanken geradeheraus sagte und der ungemein überzeugt war von der Wichtigkeit sein Großvaters, der einen Sitz im Rat der Magier hatte. Es war ungerecht von ihr anzunehmen, dass er noch immer die gleiche Person war, dass das Älterwerden ihn nicht auf die eine oder andere Weise hatte reifen lassen. Und doch war sie froh, dass die Entscheidung, ob man ihn als Heilerlehrling aufnehmen sollte, nicht die ihre war, sondern Lord Poron zufiel.

“Ich hoffe doch, dass du keinerlei bevorzugte Behandlung für deinen Enkel erwartest, Inad”, warnte Lord Poron sie mit für ihn ungewohnter Strenge. Es schien, als wäre er ebenfalls darüber besorgt, Inads Wünschen nachkommen zu müssen. “Wir sind sehr gewissenhaft, wenn es um die Auswahl derer geht, die sich dem ausgiebigen Training unterziehen dürfen. Wir suchen uns jene Kandidaten aus, die uns überzeugen, dass sie über die Ausdauer, Disziplin und Fähigkeiten verfügen, um das mühsame und lange Training erfolgreich abzuschließen und dann hinterher Erfüllung in ihrem Beruf als Heiler finden.”

“Aber selbstverständlich nicht”, kam Inads hastiger Ausruf. Augenscheinlich war sie zutiefst betroffen von solch einer Unterstellung. Auch wenn ihr Gesichtsausdruck nur allzu deutlich zeigte, dass sie genau darauf gehofft hatte.

Eryn fragte sich, ob Inads Enkel wohl dahingehend beeinflusst worden war, das Heilen als eine wünschenswerte Berufswahl zu erachten, oder ob das tatsächlich seinen eigenen Neigungen entsprach. Nun, das herauszufinden war Lord Porons Aufgabe.

Ein Diener näherte sich seiner Herrin und flüsterte in ihr Ohr. Inad nickte einmal, dann wandte sie sich ihren Gästen zu und verkündete: “Das Mahl ist serviert! Bitte folgt mir in das Esszimmer.”

Orrin war der Mann, der der Gastgeberin am nächsten stand und zögerte keinen Augenblick, als es darum ging zu tun, was von ihm erwartet wurde – ihr seinen Arm anzubieten. Lord Poron geleitete Junar und Aurna, während Enric seine Mutter und Eryn zum Esstisch führte. Vyril akzeptierte huldreich Lord Woldarns Arm, da Tyront noch nicht aufgetaucht war.

Eryn beteiligte sich nicht an den Unterhaltungen während des Essens, schenkte ihnen nicht einmal Aufmerksamkeit, sondern erlaubte ihren Gedanken, zu ihrer bevorstehenden ersten Schicht am nächsten Tag zu schweifen. Obwohl sie in der Einrichtung alles andere als eine Fremde war, so war doch jeder erste Tag immer wieder anders. Jedes Mal, wenn sie zurückkehrte, waren da neue Leute und kleine Veränderungen, mit denen sie sich erst vertraut machen musste. Und auch ihr übliches Spiel, Loft so gut es ging aus dem Weg zu gehen.

“Wie geht es der guten Malriel?”, drängte sich Inads Stimme in ihre Gedanken. Die Frage war nicht an sie, sondern an Enric gerichtet, doch trotzdem weckte sie ihre Aufmerksamkeit. Anspannung – eine natürliche Reaktion auf alles Gefährliche, dachte sie ironisch und kehrte zu ihren Gedanken zurück, als Enric zu antworten begann.

Erst als die Nachspeise serviert wurde, wandte man sich einem Thema zu, das Eryns Aufmerksamkeit fesselte.

“…langsam Zeit für ihn, dass er zusieht, dass er dem Land einen Erben beschert, oder etwa nicht?”, äußerte sich Lord Woldarns Gefährtin und Inads enge Freundin Elset im Brustton der Überzeugung. “Wie alt ist er mittlerweile? Vierunddreißig? In dieser Sache hat er die Dinge wahrlich schleifen lassen, muss ich sagen.”

“Nun, in den letzten Jahren war er recht beschäftigt damit, einen stabilen, dauerhaften Kontakt mit einem Land zu etablieren, von dem wir über Jahrhunderte hinweg abgeschnitten waren”, warf Eryn zur Überraschung der Anwesenden ein. Sie konnte selbst kaum glauben, dass sie den König und was die Gesellschaft offensichtlich als eine Pflichtverletzung von seiner Seite erachtete, verteidigte.

“Das mag eine Ansicht sein”, kam Lord Woldarn seiner Gefährtin zu Hilfe, “doch ein Kind zu zeugen ist wohl kaum solch eine aufwändige Aufgabe, sollte man meinen.”

Diese geistlose Bemerkung brachte ihm ein paar leise Lacher ein. Eryn unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen.

“Das ist wohl wahr, doch ein Kind so großzuziehen, dass es in der Lage ist, die Führung eines ganzen Landes zu übernehmen, ist jedenfalls ein beträchtlicher Aufwand. Und ich sehe nicht wirklich, wie er diese Aufgabe an irgendjemanden sonst delegieren könnte. Immerhin ist er der Einzige, der in dieser Hinsicht über Erfahrung verfügt.” Im Interesse von Höflichkeit und Diplomatie schluckte sie den letzten Teil, den sie noch hinzufügen hatte wollen – dass es für den König nicht ganz so leicht war wie für die meisten anderen reichen Leute in diesem Land, die die Erziehung ihrer Kinder schlicht an Diener übertrugen.

Das Geistesband vermittelte ihr, dass sich Enric amüsierte. Immerhin war sie normalerweise nicht dafür bekannt, zur Verteidigung des Königs zu eilen. Ganz im Gegenteil.

“Elset hat nicht ganz Unrecht”, meldete sich nun Lord Poron zu Wort. “Der König muss langsam darüber nachdenken, Kinder in die Welt zu setzen. Anders als unsere Freunde in den Westlichen Territorien, die ihre Anführer wählen, sind wir hier auf einen Thronerben aus der Blutlinie des Königs angewiesen. Wie die Geschichte uns bereits mehr als einmal gezeigt hat, führt das Fehlen eines direkten Nachkommen tendenziell zu Spannungen und zuweilen sogar zu Erbfolgekriegen. Das würden wir doch nicht wollen.”

Eryn erwiderte nichts darauf. Es gab wenig, das sie sagen konnte, um sein Argument zu entkräften. Und doch war der Gedanke, sich zum Nutzen anderer Leute fortzupflanzen nichts, dem sie zustimmen konnte, ganz egal, ob König oder nicht. Sie selbst war gezwungen worden, ein Kind zu bekommen, weil Malriel auf einem Enkelkind aus ihrer direkten Abstammung bestand. Somit wäre sie also die Letzte, die Druck auf den König ausüben würde, damit er dem Königreich einen Erben schenkte. Es gab immer noch einen anderen Weg, um die Nachfolge zu sichern. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, einen fähigen Cousin dafür heranzuziehen. Wäre das Königreich weniger traditionell in seiner Herangehensweise an Adoptionen, hätte dies eine weitere Lösung dargestellt. Doch Adoption war nur so lange erlaubt, wie die zu adoptierende Person noch unmündig war. Eine Einschränkung, mit der man sich in den Westlichen Territorien nicht aufhielt; dort fand man die Ansichten im Königreich in dieser Hinsicht recht befremdlich und unpraktisch.

Später, als sie in ihrer Kutsche den Heimweg angetreten hatten, fragte Eryn: “Stimmst du dem zu? Denkst du ebenfalls, dass der König als Teil seiner Pflichten dem Königreich gegenüber ein Kind bekommen sollte? Das würde miteinschließen, dass er sich eine Gefährtin sucht, die weitgehend nur diesem Zweck dient, sofern Zeit wirklich solch ein wichtiger Faktor ist, wie die Leute zu denken scheinen.”

Enric spitzte die Lippen. Wenn er ihre eigene Erfahrung mit Malriels Fruchtbarkeitstrank bedachte und auch ihre Missbilligung von Ram’ans Entscheidung, sich eine Gefährtin nur für die Bereitstellung eines Erben zu nehmen, wusste er, dass er hier achtsam antworten musste.

“Ich glaube nicht, dass es darauf eine simple Antwort gibt, Liebste. In unserer Kultur ist es bedauerlicherweise recht klar, was von einem König erwartet wird. Idealerweise würde er sich in eine Frau mit passendem Hintergrund verlieben, zwei oder drei Kinder mit ihr bekommen und das Geschäftliche mit dem Vergnüglichen verbinden. Doch die einzige Frau, die er sich bislang an seiner Seite hätte vorstellen können, warst du. Die Frage ist nun, wie tolerant wir als seine Untertanen sein können oder wollen, wenn es darum geht, ihm ausreichend Zeit zuzugestehen, auf dass er seine Suche nach einer Frau fortsetzen kann, die er tatsächlich lieben anstatt nur an seiner Seite akzeptieren kann.”

Sie seufzte. “Du hast das Problem ungemein kurz und bündig zusammengefasst, gut gemacht. Allerdings hast du es versäumt, meine Frage zu beantworten.”

“Ich denke, dass er ziemlich rasch eine Lösung für diese Situation finden muss. Es kümmert mich nicht wirklich, ob er das tut, indem er ein Kind mit einer zufällig ausgewählten Frau zeugt oder die Adoptionsgesetze ändert. Aber du darfst dich darauf verlassen, dass er sich sehr wohl darüber im Klaren ist, dass er in dieser Sache handeln muss – mehr als jeder andere.”

Das konnte sie glauben. So etwas würde der Aufmerksamkeit des Königs wohl kaum entgehen.

*  *  *

Eryn pfiff leise durch die Zähne, als sie mit Enric um die Ecke zum Thronsaal bog und Ram’kel von Haus Arbil, Ram’ans jüngeren Bruder und Botschafter in Anyueel, vor der hohen Doppeltür erblickte.

“Sieh dir das an”, murmelte sie. “Wir sind offenbar nicht die Einzigen, die heute vorgeladen wurden. Ich werde immer neugieriger, was der König will.”

Enric teilte dieses Gefühl und nickte Ram’kel zu, als sie zu ihm stießen. Er war gerade von seinem kurzen Besuch in Bonhet zurückgekehrt, wohin Tyront ihn entsandt hatte. Nicht so sehr, um wirklich irgendetwas dort zu erledigen, sondern vorwiegend, um Präsenz zu zeigen und als Mahnung zu fungieren, dass die Anführer des Ordens niemals weit entfernt waren. Nach seiner Rückkehr hatte Eryn ihn informiert, dass er mit ihr zum König kommen sollte. Wie immer hatte seine Nachricht keinerlei Hinweis darauf enthalten, weshalb er sie zu sehen wünschte.

“Eryn. Enric. Eure Anwesenheit verspricht, dass die Sache interessant wird”, kommentierte der Botschafter, der offenbar ebenso wenig informiert war.

Erst jetzt öffneten die Wachen die Türen und verkündeten die Namen der drei.

“Lord Enric von Haus Aren. Lady Eryn von Haus Vel’kim. Botschafter Ram’kel von Haus Arbil.”

“Das klingt, als würde er doppelt so viele Leute ankündigen dank all dieses unnötigen Unsinns mit den Häusern”, murmelte Eryn, trat aber gehorsam mit den beiden Männern ein.

König Folrin und sein Berater Marrin standen auf dem Thronpodest und warteten geduldig darauf, dass sie sich näherten.

“Lady Eryn. Lord Enric. Botschafter”, begrüßte König Folrin sie mit einem knappen huldvollen Kopfnicken. “Es gibt da eine Angelegenheit, die viele als eine von beträchtlicher Bedeutsamkeit beurteilen würden, und in deren Zusammenhang ich Euch um Euren Rat bitten möchte”, begann er, ohne Zeit auf irgendwelche Höflichkeiten zu verschwenden. “Und um Eure Hilfe bei dem Unterfangen, das in Angriff zu nehmen ich im Begriff bin. Wie Ihr alle wisst, bin ich nicht nur bestrebt, unsere freundschaftliche Beziehung zu den Westlichen Territorien aufrechtzuerhalten, sondern ich will sie auch auf jede erdenkliche Weise fördern, die ich als klug erachte. Zusätzlich dazu gibt es da eine Pflicht, die zu erfüllen von mir erwartet wird. Eine, von der viele meinen, ich hätte sie bislang vernachlässigt. Bis zu einem gewissen Grad muss ich einräumen, dass dies nicht ganz unwahr ist. Somit möchte ich diese Gelegenheit ergreifen, um zwei Ziele auf einmal zu verfolgen.”

Eryns Gedanken sprangen zurück zu dem Abend vor ein paar Tagen – der, bei dem die recht dringliche Pflicht des Königs zur Bereitstellung eines Thronerben diskutiert wurde. Und nun sprach er von einer Pflicht, die er vernachlässigt hatte, und seinem Wunsch, die Verbindung zu den Westlichen Territorien zu stärken.

Sie lächelte. Davon ausgehend gab es nur eine einzige offensichtliche Schlussfolgerung, was seine Absichten betraf. Das war ein Thema, das ihm unangenehm war, weshalb er darum herumredete anstatt zum Punkt zu kommen, wie er es sonst typischerweise vorzog.

“Die Gelegenheit, eine Gefährtin aus den Westlichen Territorien zu nehmen”, äußerte sie gelassen.

Der König starrte sie an, unfähig, seine Überraschung und Fassungslosigkeit zu verbergen. Das dauerte allerdings nur eine Sekunde, dann hatte er sich wieder im Griff und lächelte sie an.

“Ein Kompliment an Eure Kombinationsgabe, Lady Eryn. Wie immens befriedigend, dass all der Unterricht und die praktische Erfahrung der letzten paar Jahre Eure Fähigkeit zur Anwendung von gesundem Menschenverstand zu schärfen vermochten.”

Darüber zog sie nur eine Augenbraue hoch und begegnete seinem Blick ohne zu blinzeln. Spiel nur herunter, dass ich dich durchschaut habe und dir das überhaupt nicht passt, dachte sie, zufrieden mit seiner Verstimmung. Dies war das allererste Mal, dass sie seine Absichten rascher erraten hatte, als ihm lieb war. Sie beabsichtigte, diesen Moment auszukosten, ihn in ihrem Gedächtnis zu verankern, damit sie ihn zu ihrer Aufmunterung hervorholen konnte, wenn sie ihn brauchte. Sein Versuch, sie zu entmutigen, damit er damit seine eigene Unzulänglichkeit überdenken konnte, machte es nur umso süßer.

König Folrin wandte sich wieder an die beiden Männer. “Wie Lady Eryn so scharfsinnig bemerkt hat, beabsichtige ich, eine Gefährtin zu nehmen. Idealerweise würde diese Dame aus den Westlichen Territorien stammen. Ich muss Euch nicht sagen, dass diese Auswahl keine Aufgabe ist, die leichtfertig in Angriff genommen werden kann. Meine Wahl wird sehr wahrscheinlich erheblichen Einfluss auf das politische Gleichgewicht in Takhan haben. Das Haus, zu dem meine zukünftige Gefährtin gehört, wird beträchtlichen Einfluss gewinnen, was dazu führen mag, dass sich existierende Allianzen auflösen und neue formen werden, die entweder von dieser neuen Entwicklung profitieren oder ihr entgegenwirken wollen.”

Enric gefiel nicht, wohin das führte. “Das bedeutet, Ihr befehlt uns, Euch beim Treffen einer Wahl zu assistieren, die so wenig politische Unruhe wie möglich nach sich zieht?”

Der Monarch hob sein Kinn. “Nein, nicht befehlen, Lord Enric. Ich bitte um Eure Unterstützung.”

Unterstützung, dachte Enric verärgert. Er wollte die Verantwortung delegieren, falls sich seine Wahl als problematischer herausstellte, als irgendjemand voraussehen konnte.

Des Königs Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. “Ich weiß, was Ihr denkt, Lord Enric. Es ist genau das, was ich an Eurer Stelle ebenfalls vermuten würde. Doch lasst mich Euch versichern, dass ich absolut willens und in der Lage bin, die Konsequenzen meiner Handlungen selbst zu tragen.” Er trat direkt vor Enric hin, dann hob er seine Hand und berührte seinen eigenen Hals; eine Erinnerung an damals, als es Enrics Hand gewesen war, nachdem der König Eryn diesen einen Kuss aufgezwungen hatte. “Das habe ich schon immer. Oder würdet Ihr dem nicht zustimmen?”, meinte der König mit gedämpfter Stimme. Er trat einen Schritt zurück und wandte sich wieder an alle drei. “Worum ich Euch ersuche, ist Eure Hilfe bei meiner Entscheidung. Das Wissen, die Einblicke und die Erfahrung mit Takhan, über die Ihr verfügt, sind allem überlegen, was meine Quellen bereitzustellen imstande waren. Ihr sollt jene Dinge mit mir teilen, nach denen zu fragen ich nicht auf den Gedanken käme. Die Entscheidung, ob Ihr Eure Mitwirkung in diesem Prozess öffentlich machen wollt oder nicht, obliegt Euch selbst.”

Ram’kel war der Erste, der sich verbeugte und erwiderte: “Es wäre mir eine Ehre, Euch in dieser Angelegenheit zu Diensten zu sein, Eure Majestät.”

Enric zögerte noch ein paar Sekunden, dann nickte er. “Sowie auch mir.”

Alle drei wandten sich Eryn zu, die ihre Stirn in Falten zog und die Arme verschränkte. “Ich verstehe, weshalb Ihr ihre Hilfe wollt. Aber warum meine? Ich bin nicht darauf bedacht, Kontakte zu wichtigen Leuten zu pflegen. In vielen Fällen vermeide ich es sogar bewusst. Welche Unterstützung könnte ich wohl bieten, die mein Gefährte und der Botschafter nicht bereitstellen könnten?”

König Folrin bedachte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ihr unterschätzt Eure Nützlichkeit, meine liebe Lady. Euch mag weder die gute Meinung, noch die Gesellschaft wichtiger Leute interessieren, doch Euer Status ist ein recht erhabener, Dank der Tatsache, dass Ihr die Tochter einer Triarchin und die Schwester des Oberhaupts eines Hauses seid sowie den höchstrangigen Heiler der Westlichen Territorien zum Vater habt. Zu Eurer Familie allein gehören ein paar der mächtigsten Leute des Landes. Selbst wenn Ihr also nicht die Nähe der Hohen und Mächtigen sucht, so lässt sich das in Eurem Fall nicht vermeiden. Und außerdem schätze ich Eure Meinung, meine Lady. Ich zähle auf Eure Hilfe bei der Bewertung jedes Vorschlags, der mir unterbreitet wird. Darf ich also auch auf Eure Hilfe hoffen, Lady Eryn? Sie wäre höchst willkommen.”

Nun, sie hatte kaum eine große Wahl in der Sache. “Selbstverständlich, Eure Majestät.”

“Ausgezeichnet. Ich würde Euch alle ersuchen, mir eine allgemeine Bewertung der aktuellen politischen Situation in Takhan zukommen zu lassen. Dies mag einen ersten Einblick dahingehend gewähren, welche Häuser schon aus Prinzip ausgeschlossen werden müssen. Lady Eryn, aufgrund Eures Desinteresses in allem, was Politik betriff, erwarte ich nicht, dass Euer Bericht ebenso detailliert ausfallen wird. Dennoch ist es eine gute Übung für Euch, um einen besseren Einblick zu erlangen, was in einem Eurer Aufenthaltsländer vor sich geht. Ich erwarte Eure Berichte samt ersten Empfehlungen hinsichtlich vorteilhafter Häuser in zehn Tagen. Ich verlasse mich darauf, dass Ihr diese Angelegenheit vorläufig vertraulich behandelt. Ihr seid entlassen.”

Eryn verbeugte sich steif und wartete, bis die beiden Männer es ihr gleichtaten, bevor sie sich alle umdrehten und den Thronsaal verließen.

Marrin lächelte. “Lord Enric und der Botschafter schienen sich nicht besonders an dem Einsatz zu stören, nachdem Ihr klargestellt habt, dass man sie nicht zur Verantwortung ziehen würde, sollte sich die schlussendliche Wahl als problematisch erweisen. Doch Lady Eryn war alles andere als begeistert darüber, dass sie sich involvieren soll. Ich frage mich, ob sie sich als so nützlich erweisen wird, wie Ihr hofft.”

König Folrins Lippen zuckten. “Nicht, wenn es darum geht, politische Situationen zu analysieren, da stimme ich rückhaltlos zu. Doch ich möchte sie von Anfang an miteinbeziehen, da sie sich als nützlich erweisen wird, wenn ich nach Takhan gehe und die Kandidatinnen, die wir auswählen, persönlich treffe. Trotz all der Zurückhaltung, die sie in höfischer Gesellschaft zu zeigen gelernt hat, ist sie von den dreien noch immer diejenige, die mir ihre Meinung am ehesten unverfälscht kundtut. Ich will sie keinesfalls dazu ermutigen, dies frei nach ihren Launen zu praktizieren, doch zweifellos ist es von Vorteil, wenn eine wichtige Entscheidung wie die Auswahl einer zukünftigen Königin für mich und mein Königreich ansteht.”

*  *  *

“Ich kann einfach nicht glauben, dass er uns da hineinzieht”, seufzte Eryn, nachdem Enric die Tür zu seinem Arbeitszimmer hinter ihr und Ram’kel, der ihnen in stillschweigender Übereinkunft gefolgt war, geschlossen hatte. Sie ließ sich auf das Sofa fallen, während die beiden Männer stehenblieben.

“Offensichtlich will er sich dieser Herausforderung nicht allein stellen”, meinte Ram’an achselzuckend. “Und bei Menschen mit Verbindungen und Einfluss in den Westlichen Territorien sowie einer engen Bindung zu ihm selbst ist es naheliegend, dass sie miteinbezieht”, strich er hervor. “Lasst es uns als Vertrauensbeweis anstatt einer mühsamen Aufgabe betrachten.”

Eryn rollte mit den Augen. “Du genießt es unverkennbar, wenn du wichtig sein kannst.”

Des Botschafters Miene blieb unbeeindruckt, als er erwiderte: “Aber natürlich. Was denkst du, was mich in erster Linie dazu bewogen hat, ein Botschafter zu werden? Nun lasst uns lieber über die Aufgabe sprechen, mit der wir betraut wurden.” Er sah zu Enric, der ihm signalisierte, er solle weitersprechen. “Ich kann euch eine allgemeine Übersicht über die Nachkommen der führenden Familie jedes Hauses zukommen lassen, an wen die aktuellen Generationen versprochen wurden und bereits verbunden sind, und auch, wer noch immer verfügbar ist. Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass in den Hauptzweigen der Familien nicht mehr viele Kandidaten zur Verfügung stehen.”

“Ja”, murmelte Eryn, “weil ihr Kommitment-Vereinbarungen für sie abschließt, sobald sie alt genug sind, um einen Löffel zu halten. Sofern ihr überhaupt so lange wartet.”

Enric warf ihr einen warnenden Blick zu, um sie zum Schweigen zu bringen. Das war im Moment keine besonders hilfreiche Einstellung.

Ram’kel ließ sich dadurch nicht aus der Bahn werfen. “Für detailliertere Informationen über andere Mitglieder der Häuser, die nicht der direkten Linie des Oberhaupts entstammen, werden wir jemanden in Takhan kontaktieren müssen, der Zugriff auf diese Informationen hat.” Er sah Eryn an. “Ich würde vorschlagen, dass du deinen Vater ersuchst, uns hier behilflich zu sein. Zum einen lagern in der Klinik sämtliche medizinischen Akten über jeden, der jemals in Takhan geboren und behandelt wurde, und zum anderen hat die Vel’kim Familie noch ihre eigenen Aufzeichnungen über Erkrankungen und vererbte Leiden. Du wirst einfach nur zusehen müssen, dass du den Grund, weshalb wir diese Informationen benötigen, unerwähnt lässt, damit wir die Anforderungen seiner Majestät hinsichtlich Vertraulichkeit erfüllen.”

Eryn nickte. Das klang nach einem vernünftigen Plan. Auf diese Weise konnten sie sehen, wer überhaupt noch zu haben war. Mit ein wenig Glück würde das die Auswahl einschränken.

“So”, meinte Ram’kel mit einem Lächeln, “was denkt ihr über die Entscheidung des Königs, sich endlich eine Gefährtin zu nehmen und sein Land mit einer Königin und einem Erben zu beglücken?”

“Wir sind selbstverständlich begeistert”, erwiderte Enric trocken.

Eryn enthob sich einer Antwort. Sie war nicht ganz sicher, wie sie dazu stand. Sie hatte ihre eigenen unangenehmen Erfahrungen mit dem König gemacht, und eine Frau an ihn auszuliefern fühlte sich irgendwie… abartig an. Welche Art Frau würde sowohl zum König als auch dem Land passen? Eine, die genauso skrupel- und bedenkenlos war wie er selbst, damit sie auf persönlicher Ebene miteinander harmonierten? Aber was würde das für das Königreich bedeuten? War eine solche Person an der Spitze nicht mehr als genug? Doch was war die Alternative? Eine gütige und einfühlsame Frau, die sich um das Wohlergehen der Menschen sorgte, und die womöglich unter dem politischen Druck und der Frustration darüber, dass sie einen Gefährten mit vollkommen gegenteiligen Prioritäten hatte, zugrunde gehen würde? War der Versuch, jemanden zu finden, der sowohl zum Charakter des Königs passte als auch eine taugliche Königin war, überhaupt realistisch?

Und darüber hinaus musste diese Frau auch noch der richtigen Familie entstammen, damit sich politische Spannungen vermeiden ließen, die jede Vernunft sprengten. Ihm eine Gefährtin zu finden war wahrscheinlich die unangenehmste Aufgabe, die sie bislang von ihm erhalten hatte. Welch pures Vergnügen!

Natürlich konnte sie Ram’kel gegenüber nichts davon verlauten lassen, auch wenn sie den Verdacht hegte, dass ihm klar war, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. Selbst nach fünf Jahren war sie noch immer nicht sicher, ob es ein schlauer Zug gewesen war, ihm zu der Position als Botschafter in Anyueel zu verhelfen. Er leistete keine schlechte Arbeit, wie sie widerwillig gestehen musste. Auch wenn er ihr die zweifelhafte Ehre zuteilwerden ließ, dass er in ihrer Gegenwart sein glattes, diplomatisches Benehmen ablegte und sie neckte und provozierte. Nicht in einem Ausmaß, dass es erforderlich machte, ihm Grenzen zu setzen, dafür war er zu klug. Aber genug, um sie zuweilen zu irritieren und den Drang in ihr zu wecken, ihm einen ordentlichen Tritt zu verpassen.

Ram’kel blickte zu Enric, da er offenkundig von Eryn keine hilfreichen Wortmeldungen erwartete. “Gibt es sonst noch etwas, das ich tun kann, um euch bei der Vorbereitung der Analyse zu helfen, die wir in zehn Tagen präsentieren sollen? Obwohl ich weiß, dass ihr eure eigenen Quellen habt, würde ich vorschlagen, dass wir die gleichen Informationen nicht mehr als einmal einholen. Das könnte sonst Argwohn auslösen und Gerüchten zum Start verhelfen – genau das, was wir zu diesem Zeitpunkt zu vermeiden trachten. Wir wollen nicht, dass die Häuser uns mit Vorschlägen für passende Kandidatinnen überhäufen und mit Warnungen, wenn wir ein Haus dem anderen vorziehen.”

Enric nickte. “Ich stimme zu. Wir werden es dich wissen lassen, falls wir zusätzliche Informationen benötigen, damit wir unsere Bemühungen zu deren Beschaffung koordinieren können.”

Der Botschafter nickte und ergriff Eryns Hand für einen Kuss, stets erfreut über den Funken an Ärger, der in ihren Augen auch nach all diesen Jahren immer noch aufblitzte. Es war eine unnötige Geste, wenn sie unter sich waren, und sie wusste, dass er es nur tat, weil sie Formalitäten jeder Art hasste. Umso mehr, wenn sie so vollkommen überflüssig waren wie in genau diesem Moment. Wenn er besonders verschmitzter Stimmung war, sprach er sie sogar mit Lady Maltheá an. Allerdings nicht heute. So weit ging er nie, wenn Enric zugegen war.

Sobald Ram’kel ihr Haus verlassen hatte, stöhnte Eryn und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

“Kannst du das glauben? Dieser Mann hat mich dazu gezwungen, dass ich deine Gefährtin werde, indem er mich bedrohte, dass er die Nacht mit mir verbringt, drängte mir einen Kuss auf, um dich zur Reise in die Westlichen Territorien zu veranlassen und hatte eine Affäre mit meiner eigenen Mutter! Und jetzt soll ich ihn dabei unterstützen, dass er eine Gefährtin findet? Wie absurd ist das denn bitte? Wo finde ich eine Frau, die ich ausreichend hasse, um ihr so etwas anzutun? Besonders, seit Valcredy nicht mehr verfügbar ist?”

Enric ignorierte ihre abschließende Bemerkung über Ram’ans Gefährtin. “So schlimm ist das nicht, Eryn. Der König hat uns beträchtlichen Einfluss auf die Zukunft des Königreichs gewährt, in dem er uns bat, ihm in dieser Angelegenheit zu helfen. Vorausgesetzt, er handelt gemäß unseren Empfehlungen, versteht sich.”

“Ich will diesen Einfluss nicht! Das mag dazu führen, dass die Leute oder der König selbst uns die Schuld geben, falls es danebengeht. Was ist, wenn sich die Königin als eine Art machthungrige Irre erweist? Der Kreis der verfügbaren Frauen wird immerhin nicht besonders groß sein. Abgesehen davon, dass sie aus dem richtigen – oder zumindest nicht dem falschen – Haus stammen soll, muss sie auch noch eine Nicht-Magierin sein, damit unsere Gesetze hier diesbezüglich nicht verletzt werden. Was schätzt du, wie viele Nicht-Magierinnen wir in führenden Familien einer Gesellschaft finden werden, wo im Verlauf der letzten paar Jahrhunderte auf magische Stärke bei Nachkommen größter Wert gelegt wurde?”

Er nickte. “Ich weiß. Niemand sagte, dass es eine einfache Aufgabe werden würde.”

Sie knirschte mit den Zähnen, schluckte aber ihre Antwort, als sich die Eingangstür öffnete und Vedrics Stimme erklang, als er sich mit seiner Großmutter unterhielt. Die hatte während ihres Treffens mit dem König auf ihn aufgepasst.

Wenig später kam der Junge in das Arbeitszimmer seines Vaters gerannt und warf sich in die Arme seiner Mutter.

“Wir haben heute Inad besucht!”, strahlte Vedric. “Sie sagt, wir sind verwandt!”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln. Zumindest irgendjemand war erbaut über diese Kleinigkeit. “Dann hat es dir also bei Inad gefallen? Das freut mich zu hören.”

Gerit kam kurz darauf nach – wahrscheinlich, nachdem sie ihren eigenen und Vedrics Umhang ordentlich aufgehängt hatte. Da der Junge die Haken noch nicht erreichen konnte, ließ er den seinen einfach auf den Boden fallen. Sie musste zusehen, dass ein weiterer, tiefer liegender Haken an der Wand befestigt wurde, damit sie ihm beibringen konnte, nicht überall, wo er gerade unterwegs war, eine Unordnung zu hinterlassen.

“Danke, dass du dich um ihn gekümmert hast”, meinte Enric zu seiner Mutter. “Wie ich höre, hat ihm der Besuch bei Inad gefallen.”

Gerit schenkte dem Jungen auf Eryns Schoß ein warmes Lächeln. “Ja, das hat er. Und er war so artig.”

Eryn zog eine Augenbraue hoch. “War er das? Bist du sicher, du hattest das richtige Kind dabei?”

“Oh, Mutter!”, jaulte der Junge. “Das war gemein! Ich bin anbetungswürdig. Inad hat das gesagt.”

“Mein Fehler. Ich würde Inad doch wohl nicht widersprechen wollen.”

Zufrieden, dass seine Mutter ihren Fehler eingestanden hatte, wandte er sich einem weiteren wichtigen Thema zu. “Kann ich ein Brötchen haben?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Nein. Wir essen in etwa einer Stunde. Du würdest dir nur den Appetit verderben.”

“Nur eines? Biiiiiitte?”

Seine Mutter schüttelte den Kopf. “Nein. Du kannst eines haben, wenn du aufgegessen hast.”

“Du bist so streng!”, heulte er. “Warum nicht?”

“Weil du die Nährstoffe brauchst, damit du zu einem kräftigen Burschen heranwächst, und Brötchen enthalten die einfach nicht.”

“Warum?”

“Weil der Bäcker sie nicht dafür gedacht hat, dass sie anstatt einer richtigen Mahlzeit vertilgt werden, sondern als Nachspeise oder kleinen Imbiss zwischendurch.”

“Warum?”

Eryn entschied, den Fragen nun einen Riegel vorzuschieben. Es war eine Sache, ihrem Sohn Dinge zu erklären, damit er die Welt um sich herum etwas besser verstand, aber eine ganz andere, sich von ihm auf ihren Nerven herumtrampeln zu lassen. “Du solltest gehen und ihn das fragen.”

Er blinzelte. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Sie beraubte ihn der Möglichkeit, seine knapp formulierte Fragerei fortzusetzen. Doch er konnte immer noch zum Ausgangsthema zurückkehren.

“Ich will ein Brötchen!”

Nun trat Enric vor und warf ihm einen strengen Blick zu. “Deine Mutter hat nein gesagt. Und wenn du nicht damit aufhörst, sie zu quälen, wird es später keine Nachspeise für dich geben.”

Vedric schmollte und verschränkte die Arme, erwiderte dieses Mal aber nichts darauf.

Gerit meldete sich zu Wort und streckte dem Jungen ihre Hand entgegen. “Ich habe Vyril versprochen, sie heute im Waisenhaus zu besuchen. Du kannst mich begleiten, wenn du möchtest.”

“Das Waisenhaus?” Vedric spitzte die Ohren. Seine Frustration darüber, dass er seiner Vorliebe für süße Brötchen nicht frönen durfte, war bereits vergessen. “ Gibt es in dem hier viele Jungs? In dem in Takhan leben ganz viele Jungs!”

“Ich denke, es gibt dort einige von ihnen, ja”, erwähnte seine Großmutter leichthin. “Bedeutet das, du kommst mit mir?”

“Ja! Ja! Ja!” Vedric sprang auf und klatschte in die Hände, bevor er aus dem Zimmer stürmte.

Eryn seufzte ausgiebig und blickte zu ihrem Gefährten empor. “Warum hört dieser Junge bloß niemals auf mich? Warum braucht es immer ein strenges Wort von dir, damit er still ist? Bin ich zu nachsichtig mit ihm? Sicher nicht! Junar sagt sogar, ich wäre strenger als notwendig. Nicht, dass das viel aussagt. Sie und Orrin verwöhnen ihre Tochter nach Strich und Faden. Das passiert, wenn eine Frau, die dachte, sie wäre unfruchtbar, und ein Mann in seinen Fünfzigern ein Kind miteinander haben.”

“Ich glaube nicht, dass es an dir liegt, Liebste. Es ist womöglich meine imposanter körperliche Erscheinung. Vergiss nicht, dass er mich beim Schwertkampf gesehen hat. Das mag ausreichen, um ihn zweimal nachdenken zu lassen, bevor er sich mir widersetzt.”

Seine Gefährtin schnaubte. “Genau das ist es, was er nicht lernen soll – dass ein Schwert zu schwingen und groß zu sein alles ist, was im Leben zählt.”

“Er ist erst fünf Jahre alt. Es wird noch ausreichend Gelegenheit für uns geben, ihm ordentliche Werte zu vermitteln.” Er zog sie vom Sofa hoch. “Komm, bereiten wir das Abendessen vor, solange Mutter Vedric beschäftigt.”

*  *  *

Mürrisch zog Eryn das Schwert. Zeit, es hinter sich zu bringen. Die erste Trainingsstunde mit Orrin nach ihrer Rückkehr aus dem Westen war immer die schwierigste. Während ihr gelegentliches Training in Takhan mit Kilan, Pe’tala oder Enric dazu diente, ihre Fähigkeiten lediglich auf dem aktuellen Level zu halten, war Orrin noch immer entschlossen, sie zu verbessern. Ganz egal, für wie unnötig sie selbst das erachtete. Doch Tyront hatte Orrin freie Hand gegeben, so fortzufahren, wie er es als nützlich erachtete, also konnte sie kaum etwas dagegen tun.

“Du weißt, dass das nächste Spiel in zwei Wochen stattfindet, nehme ich an?”, fragte Orrin, während er sie langsam zu umkreisen begann.

“Ich habe nicht die Absicht, daran teilzunehmen, wenn es das ist, worauf du hinauswillst”, erwiderte sie.

Seit sie vor sechs Jahren in Takhan mit der Idee aufgewartet hatte, war das Spiel zu einer regelmäßigen Veranstaltung gewachsen. Orrin und Enric hatten ein Regelwerk dazu entwickelt und sofort das Potential erkannt, dass sich die Leute auf diese Weise freiwillig zum Training ihrer Kampffertigkeiten veranlassen ließen. Seither hatte sich das Spiel in einen Wettkampf verwandelt. Sowohl in Takhan als auch in Anyueel veranstaltete man zweimal pro Jahr ein Spiel für die eigenen Leute – und eine größere Veranstaltung, bei der die besten Spieler jedes Landes gegeneinander antraten. Der Gewinner des Vorjahres war sodann der Gastgeber für das nächste Spiel.

Orrin hatte vor ein paar Jahren damit aufgehört, Kinder zu trainieren und konzentrierte sich nun darauf, die ehrgeizigen Spieler auf beiden Seiten des Meeres in fortgeschrittener Schlachtstrategie zu unterweisen. Interessant war, dass ein paar der besten Spieler im Königreich tatsächlich als Heiler tätig waren. Etwas für Eryn vollkommen Unverständliches. Ihrer Vorstellung nach musste die Hinwendung zum Heilen für viele Magier die einzige Möglichkeit sein, um dem ständigen Streben nach der Verbesserung ihrer Kampffertigkeiten zu entkommen und stattdessen etwas Nützliches tun zu können. Dass sie das Heilen zu ihrem Beruf erkoren hatten und in ihrer Freizeit die Schlacht suchten, passte irgendwie nicht zu Eryns Bild von der Wirklichkeit.

Das anstehende Spiel war nicht das große, sondern eines der beiden kleineren. Jedes Jahr versuchte Orrin erneut, sie zur Teilnahme am Spiel zu bewegen. Er betonte, dass die Erfinderin nicht nur ein Teil davon sein, sondern auch danach trachten sollte, möglichst lange im Spiel zu verbleiben.

Jahr für Jahr erklärte Eryn ihm immer wieder das Gleiche – dass ihre Inspiration für diese Idee aus der Beobachtung von Kindern beim Versteckspiel erwachsen war, wo sie gesehen hatte, wie sehr diese das Spiel genossen, das sie selbst bereits in deren Alter gespielt hatte. In ihrer Vorstellung gab es da wesentlich weniger Schlachtstrategie, Formationskampf und Fallenstellen. Für sie war dies nicht länger ein Spiel, sondern ein Probedurchlauf für einen Krieg. Was auch der Grund war, weshalb Orrin in seiner Kapazität als Oberhaupt der Krieger von diesem Spiel so angetan war.

Wenngleich er ihre Einstellung kannte, versuchte er immer aufs Neue, sie miteinzubeziehen, zu starrköpfig, um einfach zu akzeptieren, dass Kriegsspiele allem zuwiderliefen, wofür sie stand.

Zu ihrer Überraschung verfolgte er das Thema nicht weiter, sondern wandte sich in eine vollkommen andere Richtung, als er meinte: “Ich sorge mich wegen…” – er griff an und zog sich wieder zurück, als sie seinen Hieb parierte – “…Vern.”

“Ach ja?”

“Ich habe den Eindruck, dass er mir aus dem Weg geht. Und wenn ich es endlich schaffe, dass er einmal mit uns zu Abend isst, wirkt er unaufmerksam und verdrossen. Sag mir nicht, dass du nichts bemerkt hast?”

Eryn nickte. “Das habe ich. Aber das war zu erwarten. Nach all dieser Zeit ist er nach Hause zurückgekehrt, an einen Ort, der so ganz anders ist als der, von dem er einst fortging.”

“Sollte er diese Veränderung nicht gutheißen? Dass dieser Ort so war wie er war, bewegte ihn immerhin, von hier wegzugehen”, argumentierte der Krieger.

“Das mag sein, trotzdem er hat damit gerechnet, zu etwas Vertrautem zurückzukehren. Aber die Stadt hat sich so stark verändert, dass er sich einmal mehr wie ein Fremder fühlt. Ein wenig inspirierendes wenngleich vertrautes Zuhause ist besser als ein fortschrittliches aber unbekanntes. In Takhan war er dieser leuchtende Stern, dieser junge, immens talentierte Künstler, der gleichzeitig ein Heiler ist – eine Kombination, die man dort nicht kannte und als höchst wünschenswert betrachtete. Doch hier, trotz all dieser Veränderungen, wird sein Talent für das Zeichnen und Malen noch immer zu wenig geschätzt. Und mit den Heilern aus Takhan, die nun hier stationiert sind, gehört er nun nicht einmal mehr in diesem Bereich zu den am weitesten fortgeschrittenen Fachleuten. Es ist schwierig für ihn, und er kämpft dagegen an, nicht in seine alte Rolle zurückzufallen – in die eines Außenseiters.”

Orrin ließ sein Schwert sinken, ein unverkennbares Anzeichen seiner Bestürzung. Er war ein großer Verfechter dessen, dass man seine Deckung niemals vernachlässigte, besonders, wenn man jemandem mit einer gezogenen Waffe gegenüberstand.

“Das ist alles andere als ermutigend. Solange er sich hier nicht zugehörig fühlt, mag er in Betracht ziehen, wieder in die Westlichen Territorien zurückzukehren. Ich habe ihn gerade erst zurückbekommen; ich will nicht, dass er wieder fortgeht.” Er seufzte schwer. “Kann ich irgendwas tun? Oder gibt es etwas, das du tun kannst?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Mir fällt nichts ein. Sofern du nicht ein nettes junges Mädchen kennst, in das er sich womöglich verlieben könnte.”

Orrin schürzte die Lippen. “Er scheint recht angetan von Plia, jetzt wo du es erwähnst. Jedes Mal, wenn er uns besucht, fragt er Junar ganz beiläufig, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen ist.”

Sie kniff die Augen zusammen. “Das schlägst du dir am besten gleich wieder aus dem Kopf, Orrin! Vern verdient Plia nicht, nach dem, wie er sie während seiner Abwesenheit behandelt hat. Wusstest du, dass er ihr nicht ein einziges Mal geschrieben hat? Sie hat für ihn geschwärmt, als er nach Takhan ging, und wenig später erfuhr sie und auch jeder andere, dass er eine Affäre nach der anderen hatte. Plia trifft sich jetzt schon seit mehr als zwei Jahren mit ihrem jungen Freund, einem soliden und zuverlässigen Kerl – genau das, was ein Mädchen braucht und verdient, das in seiner Kindheit nicht wusste, woher es seine nächste Mahlzeit bekommen sollte. Wage es bloß nicht, sie zu benutzen, um deinen Sohn an diesen Ort zu binden, ich warne dich! Du würdest auch nicht wollen, dass deine eigene Tochter auf solch eine Weise benutzt wird.”

Der Krieger blinzelte, überrascht über diesen Ausbruch. “Natürlich nicht”, versicherte er ihr eilig. “Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich sie für meine eigenen Zwecke benutzen wollte.”

Gut, dachte sie. Nicht, dass sie es zugelassen hätte.

“Wie laufen die Dinge in der Klinik?”, erkundigte sich Orrin, unverkennbar bestrebt, zu einem Thema mit weniger Streitpotential zu wechseln.

“Soweit läuft alles gut. Wir sehen uns derzeit nach passenden Gebäuden in der Nähe der Klinik um. Uns geht langsam der Platz aus.”

Sie nahmen den Schwertkampf wieder auf und attackierten und parierten eine Weile, ohne zu sprechen.

“Er ist ein guter Junge, weißt du”, meinte Orrin schließlich. “Er mag etwas gedankenlos gehandelt haben in der Art und Weise, wie er Plia behandelt hat, doch dass ihm sein rauschender neuer Lebensstil zu Kopf stieg bedeutet nicht, dass er sie verletzen wollte.”

Eryn nickte. “Das weiß ich. Trotzdem muss er die Konsequenzen tragen und entscheiden, ob er versuchen will, sie als Freundin zurückzugewinnen. Ich hoffe aufrichtig, dass er nicht versuchen wird, ihre Beziehung für seine eigenen selbstsüchtigen Wünsche zu ruinieren.”

“Selbstverständlich wird er das nicht”, behauptete Orrin zuversichtlich.

Eryn erwiderte nichts darauf. Diese Überzeugung teilte sie nicht ganz so rückhaltlos.

»Ende der Leseprobe«

Neues Cover für „Der Orden“ – Buch 1

Genau zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung vom ersten Band der Reihe „Der Orden“ bekommt Buch 1 nun ein neues Gesicht. Der Gedanke dahinter war allerdings nicht, irgendwie meine überschüssige Freizeit totzuschlagen, sondern auf gehäufte Rückmeldungen bezüglich des wenig ansprechenden Covers zu reagieren.

Die Elemente auf dem Cover bleiben die gleichen, da jedes davon einen maßgeblichen inhaltlichen Aspekt repräsentiert. Aber nach einer weitere Fotosession und einer Weile vor dem Computer sieht das Buch nun etwas anders aus.

Alt:

Neu: