„Ein neuer Weg“ – Der Orden: Buch 9

Kapitel 1

Ein Irrtum

Eryn stand wie erstarrt und fixierte weiterhin die seltsam gekleidete Gestalt, die sich bislang noch nicht dazu bequemt hatte, auf ihre und Malriels Frage zu antworten. Von einem Moment zum nächsten mutete die Vorstellung, sie hätten Malhora von Haus Aren vor sich, eine Frau in ihren späten Siebzigern, plötzlich vollkommen lächerlich an. Abgesehen davon, dass sie zweifellos tot war, hatten sie soeben beobachtet, wie diese Wüstennomaden scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren. Malhora hatte in Eryns Gegenwart noch niemals irgendwelche athletischen Körperbewegungen vollführt, die darauf hingedeutet hätten, dass sie beweglich oder flink genug war, um so etwas wie ein Untertauchen im Sand zu bewerkstelligen, um dann emporzuschnellen und einer sich gerade günstig in Reichweite befindlichen Person die Kehle aufzuschlitzen.

Doch ihre Augen klebten an dem Schlitz in der Kopfbedeckung, durch den grimmige braune Augen hervorblitzten. Braune Augen waren keineswegs eine Seltenheit in einem Land, wo dunkles Haar vorherrschte, soviel war ihr bewusst. Ganz im Gegenteil. Braune Augen waren bei praktisch jeder Person, die in den Westlichen Territorien geboren wurde, der Normalfall. Das machte Enric mit seinen blonden Haaren und blauen Augen zu einem Kuriosum, wann immer sie nach Takhan kamen.

Malhoras Stimme gehört zu haben musste wohl nur eine Einbildung gewesen sein. In diesem Fall jedoch musste Malriel unter denselben Wahnvorstellungen leiden…

Ram’an trat vor, um die Frage zu beantworten, die die Erscheinung gestellt hatte. Wie sich die die Kette als Durchgang durch die Barriere verwenden ließ. Weder Eryn noch Malriel waren zu einer Antwort imstande.

“Man hebt sie einfach an und schiebt sie dann mit einem kräftigen Stoss durch die Barriere. Dann kannst du sie als Durchgang benutzen.”

Die Gestalt folgte der Anweisung, und einen Moment später trat sie durch den Schild und nickte anerkennend angesichts eines simplen Prinzips, das sich dermaßen effektiv umsetzen ließ.

Einen Moment später nahm sie das Tuch ab, das ihr Gesicht bedeckte, und Malriel vermochte gerade noch mit einer Hand vor den Mund das Aufschluchzen, das ihr entwichen war, zu dämpfen.

Da war sie in ihrer ganzen Pracht – Malhora von Haus Aren, allem Anschein nach eine ehrenamtliche Meuchelmörderin der Wüstenstämme.

“Großmutter!” flüsterte Eryn, noch immer ungewiss, ob sie ihren Augen trauen durfte. “Du lebst!” Sie streckte ihre Arme aus und zog die alte Frau in eine Umarmung.

“Natürlich lebe ich. Wie kommst du auf die Idee, es wäre anders?”

“Weil alle anderen auf deinem Anwesen abgeschlachtet wurden!” schrie Malriel ihr entgegen, woraufhin einige der Umstehenden zusammenzuckten.

Die Takhaner wichen ein paar Schritte zurück. Das hier zeigte alle Anzeichen eines weiteren bevorstehenden Aren-Zusammenstoßes.

“Jedoch befand sich meine Leiche nicht unter ihnen”, erwiderte Malhora ruhig.

“Ich habe um dich getrauert, du selbstsüchtiges, rücksichtsloses, verantwortungsloses altes…”

“Mutter, bitte!”, versuchte Eryn zu bremsen, was verdächtig nach einem drohenden Nervenzusammenbruchs aussah. Malriel bekleidete das Amt der Obersten Triarchin der Westlichen Territorien. Die Leute sollten sie nicht in einem solchen Zustand erleben. Das würde ihr Vertrauen in die geistige Stabilität ihrer Anführerin untergraben.

“…Ungeheuer!”

“Reiß dich zusammen, Malriel”, schoss Malhora streng zurück. “Denk an deine Position!” Einen Moment später wurde ihr Kopf durch eine kräftige Ohrfeige zur Seite geschleudert.

“War es zu viel verlangt, einen Vogel zu schicken und mir mitzuteilen, dass es dir gut geht, Mutter?” zischte Malriel und wischte sich wütend eine Träne von ihrer Wange.

“Die Wüstenstämme halten nichts von Vögeln, wie du sehr wohl weißt”, knirschte die alte Frau mit zusammengebissenen Zähnen, während sie ihrer Tochter einen mörderischen Blick zuwarf.

Eryns Blick wanderte zu dem Mann, der immer noch blutend auf dem Boden außerhalb der Barriere lag. Es war im Moment wohl kaum die ratsamste aller Vorgehensweisen, eine Frau zu provozieren, die zu so etwas fähig war.

Sie packte Malriel an den Schultern und flehte sie mit eindringlichem Flüsterton an: “Beruhige dich gefälligst! Auf der Stelle! Die Leute blicken zu dir auf – sie müssen sehen, dass du dich unter Kontrolle hast! Ich verspreche dir, dass du dich später auf sie stürzen kannst! Bitte!” Sie schloss für einen Moment die Augen und fügte hinzu: “Ich bin so erschöpft, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ich habe nicht die Kraft, dich außer Gefecht zu setzen und von hier wegzutragen.”

Eryn drehte den Kopf und sah, wie Orrin und König Folrin mit ihren Männern den Hügel herab auf sie zu kamen. Ein wenig zu spät, kam ihr der unwillkürliche Gedanke. Sie hatten all die interessanten Ereignisse verpasst.

Ihr Blick wanderte zu Enric und Ram’an, dann zu Neled. Sie alle erweckten den Anschein, als brauchten sie ebenso dringend ein Bett wie sie selbst.

Sie hob den Arm und deutete auf die Residenz, aus der Etor Gart vor nicht allzu langer Zeit in der Gewissheit geflohen war, dass sich alles zu seinen Gunsten wenden würde. “Ich werde dort oben etwas Schlaf nachholen.”

“Dafür kannst du ebenso gut zur Aren Residenz laufen, die ist nicht viel weiter entfernt”, rief Malhora ihr nach, als sie sich in Bewegung gesetzt hatte.

“Es gibt keine Aren Residenz mehr, Großmutter”, warf Eryn über ihre Schulter zurück, zwang einen Fuß vor den anderen und ergriff im Vorbeigehen Enrics Hand, um ihn mit sich zu ziehen.

“Was meint sie damit, es gibt keine Aren Residenz mehr?” erfragte Malhora von ihrer Tochter.

“Er hat sie zerstört, Mutter”, schnappte Malriel. “Also wird es jetzt keinen Streit mehr darüber geben, wem das Hauptschlafzimmer zusteht, wenn du in der Stadt bist!”

Enric schüttelte den Kopf, legte seiner Gefährtin einen Arm um die Schultern und schleppte sich in Richtung des Hügels, der vor ihnen lag. Er wirkte beinahe unbezwingbar in diesem Moment, wo die Aufregung des Schlachtgetummels nicht länger durch seine Adern pulsierte. “Ist es nicht erstaunlich, wie schnell sich alles wieder normalisiert hat?”

“Ich denke, Malriel geht auf Malhora los, damit sie nicht stattdessen in Tränen ausbricht”, vermutete Eryn. “Ich hatte Recht, möchte ich anmerken”, fügte sie dann hinzu. “Malhora ist nicht tot. Es ist mir ein Bedürfnis, das hervorzuheben.”

“Gut gemacht, Liebste. Ich habe eindeutig unterschätzt, wie schwer es ist, deine Sippe auszurotten.”

In der Zwischenzeit hatten der König und Orrin die beiden erreicht.

“Lord Enric, was hat es mit all dem auf sich? Wer sind diese Leute?” verlangte König Folrin zu wissen und deutete auf die Loman Ergen.

“Bei allem Respekt, Eure Majestät”, antwortete Enric, “das wird Euch jemand anderer beantworten müssen. Versucht es bei Malriel. Sie könnte im Moment etwas Ablenkung gebrauchen. Ich muss meine Gefährtin an einen Ort bringen, wo sie sich hinlegen kann.”

Eryn runzelte die Stirn. “Du nicht? Du siehst nahezu so erschöpft aus wie ich mich fühle.”

“Du bist schlimmer dran als ich, weil du dich dringend von der Heilung erholen musst, die du erhalten hast. Ich dagegen bin lediglich müde. Ich kann noch ein paar Stunden durchhalten und mich um ein paar Dinge kümmern.”

“Wartet auf mich”, rief ihnen Ram’ans Stimme hinterher. “Wenn die mächtigen Anführer des Ordens sich zur Ruhe begeben können, dann muss das auch bei mir zulässig sein.”

Enric unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass er selbst noch eine Weile wach zu bleiben hatte.

Als Ram’an zu ihnen aufgeschlossen hatte, nickte er dem König zu. “Eure Majestät.” Dann deutete er auf die Residenz vor ihnen. “Ihr wisst, wem die gehört, nicht wahr?”

“Das ist mir gleichgültig, solange es dort Schatten und Wasser gibt”, entgegnete Eryn müde. “Ich nehme sogar mit dem Boden vorlieb, solange ich mich nur hinlegen kann.”

“Sie gehört Haus Roal, Haus Arens größtem Widersacher”, fühlte er sich bemüßigt, sie aufzuklären.

Sie seufzte und drehte sich zu ihm um. “Wenn du unbedingt schwierig sein musst, können wir dich nicht mitnehmen. Halt einfach den Mund, Arbil.”

Ram’an zuckte mit den Schultern, und als sie stolperte, stützte er sie mit einem Arm um ihre Taille, zusätzlich zu Enrics Arm um ihre Schultern.

Arm in Arm, wankend wie Betrunkene, nahmen sie zu dritt den beschwerlichen Aufstieg in Angriff.

*  *  *

Enric erwachte mit schmerzendem Rücken, bedingt durch die leicht schräge Position seines Körpers auf den Sitzkissen im Hauptraum der Roal-Residenz. Eryn hatte es nicht einmal mehr in ein Schlafzimmer geschafft, sondern war auf der ersten bequem wirkenden Oberfläche zusammengeklappt. Den Kissen. Als Enric etwa fünf Stunden später zurückgekehrt war, hatte er sich einfach neben ihr niedergelassen. Nach dem schwachen Licht der frühen Morgendämmerung zu urteilen, hatte er in etwa fünfzehn Stunden lang geschlafen. Allzu erfrischt fühlte er sich nicht, was nach den Strapazen der letzten Tage jedoch kaum zu erwarten war. In den kommenden Tagen würde er den Preis dafür bezahlen, dass er sich mit Magie auf den Beinen gehalten hatte. Dazu kam noch die Tatsache, dass er auch nicht eben jünger wurde und sein Körper nicht müde wurde, ihn darauf hinzuweisen.

Er versuchte, seine Umgebung in dem schwachen Licht zu erahnen. Eryn hatte sich neben ihm auf den Kissen ausgestreckt. Aufgrund ihres beachtlichen Platzanspruchs beim Schlafen war er selbst gezwungen gewesen, sich mit einer weniger bequemen Position zufrieden zu geben. Bei dieser Frau war ein breites Bett nicht lediglich ein Luxus, sondern eine Überlebensfrage.

Sie trug immer noch den Großteil ihrer Rüstung am Leib. Im Gegensatz zu ihm hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich auch nur von einem einzigen der steifen Lederteile zu befreien.

Zu ihren Füßen lag Ram’an, dessen Beine zu Boden hingen. Er hatte es geschafft, zwei weitere Kissen für sich zu ergattern.

Unbeholfen und mit einer Grimasse angesichts seiner verspannten Muskeln kämpfte sich Enric auf die Beine, darauf bedacht, jedes Geräusch zu vermeiden, das die anderen beiden aus dem Schlaf reißen könnte. Er verspürte den Drang sich zu strecken, etwas zu trinken und dann die Toilette aufzusuchen. Da Haus Roal nicht zu den Kreisen zählte, in denen sich die Mitglieder von Haus Aren nach Belieben bewegen konnten, war er noch nie bei einer der geselligen Zusammenkünfte oder Feiern in dieser Residenz zu Gast gewesen und daher mit deren Grundriss nicht vertraut.

Gewisse Gegebenheiten unterschieden sich kaum von einer Residenz zur anderen, wie beispielsweise die Anordnung des Hauptraums im ersten Stock, der angrenzenden Küche und des gesamten Lagerbereichs im Erdgeschoss. Die verbleibenden Räume allerdings, einschließlich des Badezimmers, waren eine Frage der persönlichen Vorlieben.

Er trat auf die Terrasse hinaus, atmete die kühle Morgenluft ein und genoss den Luxus, seine Gedanken ausnahmsweise nicht um einen zu erwartenden oder einen geplanten Angriff kreisen lassen zu müssen. Beim Strecken seiner Arme und Beine spürte er, wie seine Gelenke mit einem leisen Schnappen wieder einrasteten. Seine Muskeln erinnerten sich unter Protest daran, dass Bewegung ihr Existenzzweck war. Als Nächstes entledigte er sich seines Leinenhemds und setzte seine Haut der kühlen Morgenluft aus.

Kurz darauf kehrte er in das Gebäude zurück und bewegte sich auf der Suche nach Wasser leise in die Richtung, in der er die Küche vermutete. Er trank eine ganze Karaffe leer und begab sich sodann auf die Suche nach einem Badezimmer.

Im ersten von zwei Korridorein öffnete er eine Tür nach der anderen. So verging eine Weile, bis er fand, wonach er suchte. Im Inneren der Residenz war es noch fast völlig dunkel.

Gedanklich sortierte er die Aufgaben, die dieser Tag mit sich bringen würde. Sie mussten sich mit ihren Familien in Verbindung setzen, ihnen mitteilen, dass die Rückkehr nach Takhan nun wieder sicher war; dafür sorgen, dass die Anwesen ihre Lieferungen in die Stadt wieder aufnahmen; die Gefangenen aus dem Anwesen in den Hügeln herbeischaffen; die Leichen der feindlichen Soldaten beseitigen und sich darum kümmern, dass ihre eigenen gefallenen Soldaten angemessen bestattet wurden. Weiters mussten die Schäden, die die Stadt erlitten hatte, begutachtet und in einigen Fällen rasch behoben werden. Der Hafen musste einsatzbereit sein, sonst konnten sie weder diejenigen, die sie weggeschickt hatten, wieder zurückzuholen, noch die Waren in Empfang nehmen, die Anyueel ihren Verbündeten zukommen lassen musste, bis sie wieder in der Lage waren, sich aus eigener Kraft zu versorgen.

Außerdem mussten er und Eryn mit der Triarchie, Malriel und Neled – und nun wohl auch mit Horam – konferieren und besprechen, wie es nun weitergehen sollte. Es gab einen wichtigen Aspekt, den es herauszufinden galt – nämlich was exakt dieses Bündnis zwischen Neled und Horam beinhaltete. Was genau hatte Neled versprochen? Würde sie dafür ihre Position in Takhan aufgeben müssen? Oder war sie so unvorsichtig gewesen, den Loman Ergen eine Bleibe in Takhan zu versprechen, ohne zuvor jene um ihre Zustimmung zu bitten, die dort das Sagen hatten?

Als er in den Hauptraum zurückkehrte, sah er, dass Ram’an in der Zwischenzeit ebenfalls aufgewacht war. Eryn hingegen schlummerte noch immer tief und fest. Kurz zog er in Betracht, sie zu wecken, um ihr etwas zu trinken einzuflößen, bevor er sie wieder ruhen ließ. Er entschied sich dagegen und platzierte stattdessen Wasser auf einem Tisch in der Nähe für später, sobald sie von selbst aufwachte.

Ram’an gähnte und streckte sich, erhob sich und folgte Enric auf die Terrasse, um Eryn nicht zu stören.

“Was wird jetzt geschehen?”, fragte das Oberhaupt von Haus Arbil und ließ sich auf die Sitzkissen fallen.

“Wir müssen das Land aus dem Ausnahmezustand heraus und zurück in die Normalität führen. Unsere ersten Prioritäten sind die Beseitigung der Toten, bevor eine Seuche über uns hereinbricht, und die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln. Kaum eines der Anwesen ist angegriffen worden, daher erwarte ich bei letzterem keine Probleme.”

“Und das erste? Ich nehme an, ihr wollt eure toten Soldaten und natürlich die Ordensmagier zurück nach Anyueel schaffen?”

Enric nickte. “Das müssen wir. Als Sieger haben wir keine andere Wahl. Diejenigen, die wir in der Wüste verloren haben, mussten wir bereits begraben, aber jene, die in der Stadt gefallen sind, müssen nach Hause gebracht werden.”

“Insbesondere Lord Tyront, nehme ich an?”

“Ja, vor allem er”, antwortete Enric leise und sinnierte darüber, wie er Vyril die grausige Nachricht überbringen sollte. Vorausgesetzt, der König hatte sie nicht bereits informiert, während sich Enric in der Wüste auf die Jagd nach Etor Garts Männern begeben hatte.

“Was ist mit dem Kadaver von Etor Gart? Verfüttern wir ihn an die Fische oder lassen wir ihn in der Wüste verrotten, so wie er es verdient hat?”

“Nein. Ich wünschte, wir hätten diesen Luxus. Wir werden ihn zurückbringen müssen als Beweis für seine Niederlage.”

Ram’an runzelte die Stirn. “Du willst nach Kar reisen, um ihnen die verwesenden Überreste ihres kriegstreiberischen Anführers zu präsentieren? Oder hast du vor, die Kriegsgefangenen freizulassen und sie ihnen mitzugeben?”

Enric streckte sich erneut und unterdrückte ein Gähnen. “Das kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Es ist nicht allein meine Entscheidung.”

Es folgten einige Sekunden des Schweigens, dann fragte Ram’an: “Wegen Malhora. Hattest du schon Gelegenheit, mit ihr zu sprechen? Das muss wohl das Seltsamste gewesen sein, was ich je mitangesehen habe. Ich wusste nicht, dass sich die Nomaden auf diese Weise unter dem Sand bewegen können – von der Oberfläche aus völlig unbemerkt! Und wie ist Malhora überhaupt bei ihnen gelandet?”

“Malriel war noch nicht fertig damit, sie anzuschreien, als ich sie gestern verlassen habe, und seitdem habe ich sie beide nicht mehr gesehen. Ich war beschäftigt, während du dich ausgeruht hast”, fügte er spitz hinzu.

Ram’an zuckte mit den Schultern. “Nun, anders als du und deine Männer bin ich nicht mein ganzes Leben lang auf einen Krieg vorbereitet worden. Ich habe einen Beruf erlernt, der Bücher und Schreibmaterial erfordert, keine Schwerter und Magie. Du solltest mir also zugute halten, dass ich so lange auf den Beinen geblieben bin, wie ich es vermocht habe.”

Enric seufzte. Selbstverständlich hatte er Recht. Für einen Zivilisten hatte er sich bei all dem durchaus wacker geschlagen. Er hatte bis zum bitteren Ende durchgehalten und war bei der Begegnung mit dem Feind nicht ein einziges Mal verzagt.

“Entschulde bitte. Ich wollte dich nicht herabwürdigen.”

“Kein Grund zur Sorge, mein Freund. Wie geht es nun weiter? Darf ich darauf hoffen, dass ich bald in meine Residenz zurückkehren kann, um mir wenigstens frische Kleidung zu besorgen, oder muss ich ihr fernbleiben, solange der König sie noch benutzt?”

“Es ist gewiss kein Problem, wenn du dir frische Kleidung besorgst. Du kannst dich mir anschließen, mein erster Weg führt dorthin, um mich mit dem König und Orrin zu beraten. Du kannst dich in der Zwischenzeit gerne in mein Haus zurückziehen. Zum Glück steht es noch. Möglicherweise halten sich dort jedoch auch Malriel und Malhora auf. Wenn du meine Gastfreundschaft akzeptierst, mach dich darauf gefasst, dass es wahrscheinlich keine allzu ruhige Erfahrung wird.”

Ram’an nickte dankbar. “Das Angebot nehme ich dankend an. Was ist mit Theá?”

“Ich werde ihr eine Nachricht hinterlassen und sie anweisen, dass sie nach Hause gehen soll, sobald sie aufwacht. Ich vermute allerdings, dass sie noch ein paar Stunden schlafen wird.”

“Gut. Dann werde ich das Bad benutzen und etwas Wasser trinken, während du die Nachricht verfasst.”

“Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo ich ein Arbeitszimmer mit etwas Papier und einem Stift finden kann?”

“Überhaupt keine.”

Enric drehte sich um und begab sich erneut auf Zimmersuche.

*  *  *

Eryn gönnte sich ein finales, ausgedehntes Gähnen, bevor sie an die Eingangstür der Arbil Residenz klopfte. Die Morgendämmerung kündigte sich bereits durch eine deutlich erkennbare orange Färbung des Sonnenlichts an.

Als sie etwa eine Stunde zuvor aufgewacht war, allein und leicht verwirrt an einem ihr unbekannten Ort, hatte sie sich vage daran erinnert, dass Ram’an etwas von der Roal-Residenz erwähnt hatte. Abgesehen von der geschmackvollen, gediegenen Einrichtung hatte das Gebäude einen offenen, luftigen und modernen Eindruck auf sie gemacht. Es wurde ganz eindeutig dem Ruf des Hauses als fähige Bauherren gerecht.

Enrics Zettel auf dem niedrigen Tisch forderte sie auf, in ihr offenbar noch intaktes Haus zurückzukehren und sich zu waschen, bevor sie in die Arbil Residenz aufbrechen sollte. Einige Themen würde man auch ohne sie angehen, aber für andere war ihre Anwesenheit erforderlich.

Hier stand sie also und wartete geduldig darauf, eingelassen zu werden. Malriel war diejenige, die ihr die Tür öffnete und dann zur Seite trat, um sie eintreten zu lassen, bevor sie ihr ein feuchtes Handtuch reichte.

“Wie geht es dir, Maltheá?”, erkundigte sich ihre Mutter. “Wie ich höre, war die Heilung, die du erhalten hast, recht umfassend, was bedeutet, dass du dich noch ein paar Tage lang erschöpft fühlen wirst. Unter normalen Umständen würden wir dir raten, dich zu schonen und so viel zu ruhen, wie es dir möglich ist.”

Eryn lächelte. “Ich danke dir, Mutter. Das Verfahren ist mir bekannt. Ich war früher selbst Heilerin, wie du dich vielleicht noch erinnerst?” Wie war es möglich, dass die Leute ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet so schnell aus den Augen verloren, nur weil sie den Beruf nicht länger aktiv ausübte? Nicht-Heiler waren plötzlich von dem Bedürfnis beseelt, ihr die grundlegendsten medizinischen Prinzipien zu erklären.

“Verzeih mir. Ich bin lediglich besorgt.”

Eryn musterte ihre Mutter und erinnerte sich, wie verstört diese zuvor an der Barriere gewesen war, als sie alle Zeugen des dramatischen Vorfalls geworden waren, mit dem Malhora die Welt davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass die Gerüchte über ihr Ableben übertrieben und verfrüht gewesen waren. Nichts davon hatte Spuren in Malriels gegenwärtigem Aussehen hinterlassen. Sie strahlte einen Hauch mehr Eleganz aus als in den letzten Wochen, um den Menschen unmissverständlich zu signalisieren, dass sie in eine neue Phase eingetreten waren – eine Phase, die noch weit entfernt war von aufwendigen gesellschaftlichen Zusammenkünften in luxuriösen Residenzen, die aber trotz all der Arbeit, die noch vor ihnen lag, ein erster Schritt in Richtung der Normalität war, nach der die Sehnsucht so groß war. Eryn fragte sich, wessen Kleidung sie gerade trug. Hatte sie es geschafft, unter den Trümmern ihrer Residenz ein paar intakte Kleidungsstücke zu bergen? Diese Tunika kam ihr allerdings bekannt vor…

“Wie geht es dir, Mutter? Hast du dich schon mit Großmutters unerwarteter Rückkehr von den Toten abgefunden?” Sie betrachtete die dunkle Hose, die etwas weniger körperbetont geschnitten war, als es Malriel bevorzugte. Vielmehr wirkte das Kleidungsstück wie für eine Frau gemacht, deren Fokus eher darauf lag, sich viel zu bewegen als verführerisch auszusehen… “Sind das meine Kleider?”

Malriel sah an sich hinab, als müsse sie sich vergewissern, was genau sie gerade am Leib trug. “Ja, das sind sie. Enric war so freundlich, mir eine Auswahl aus deinem Kleiderschrank anzubieten, da die einzigen Kleider, die ich derzeit besitze, entweder verschwitzt, staubig und zerrissen sind oder unter den Ruinen meines Hauses verschüttet liegen”, erklärte sie etwas spitz. Ganz so als wollte sie ihre Tochter herausfordern, ihren Unmut darüber zu äußern, dass sie ihre Kleidung vorerst teilen musste.

“Das ist kein Problem”, versicherte Eryn ihrer Mutter umgehend. Und das war es auch tatsächlich nicht. Was sie allerdings ein wenig verärgerte, war die Tatsache, dass sie ihre eigenen Sachen nicht auf Anhieb erkannt hatte, weil die Art, wie Malriel sie trug, sie irgendwie… stilvoller wirken ließ. Es war nicht nur die Art, wie sie die einzelnen Stücke kombiniert hatte, sondern auch, wie sie sich mit ihrem Körper bewegten, wie das Licht mit den Falten im Stoff spielte, wenn sie sich drehte oder umherging.

“Also, wegen Malhora…?”

Malriel seufzte. “Wir haben so ziemlich genau dort angeknüpft, wo wir vor ihrem Verschwinden aufgehört haben.”

Eryn schnitt eine Grimasse. Das bedeutete, dass sie sich nach wie vor gegenseitig als formidable Gegnerinnen betrachteten und die Illusion hegten, dies sei eine Art Kompliment, das sie einander zollten, ein Ersatz für eine intakte Beziehung. Und keine von beiden war mutig genug, der anderen zu signalisieren, dass sie sich beide wünschten, die Dinge zwischen ihnen stünden anders. Und das, davon war Eryn überzeugt, war der Grund, weshalb sowohl Malriel als auch Malhora das lang vermisste Kind – nämlich sie selbst – benutzten, um das zu kompensieren, was sie der jeweils anderen vorenthielten. So viel zu dem Ruf der Aren, von dem Malriel noch vor einem Tag behauptet hatte, er entbehre jeglicher Grundlage; sie unterwarf sich diesem Ruf, so wie man es von ihr erwartete. So viel zu ihren ach so vernünftigen Worten, als sie das Thema kurz vor dem Explodieren der Mauer erörtert hatten.

“Komm mit. Wir sollten nach oben gehen zu den anderen. Horam ist nur wenige Minuten vor dir angekommen, und ich denke, es wird dich interessieren, was sie uns zu sagen hat.”

Eryn runzelte die Stirn. “Das klingt, als wüsstest du bereits, was das sein wird.”

Malriel lächelte nur und ging voraus die Treppe hinauf.

Die Sitzkissen waren recht gut besetzt, wie Eryn bemerkte. Da waren der König, die Triarchen, Enric, Orrin, Neled, Horam, Valrad und nun auch sie selbst. Bei einem geselligen Beisammensein würde der Gastgeber die Sitzgelegenheiten für eine so große Anzahl von Menschen etwas umgestalten. Aber im Moment würden sie sich einfach zusammenquetschen müssen.

Sie begrüßte alle mit einem herzlichen Lächeln und bezog dann einen Platz zwischen Enric und Neled. Enric hatte sich für sein bevorzugtes schwarzes Gewand entschieden und die dunkelrote Schärpe ergänzt. Auf diese Weise verwandelte er sein legeres Gewand in ein halbwegs formelles, das seine Stellung widerspiegelte, ohne dass er dafür eine Rüstung oder seine Robe tragen musste, beides ausgesprochen unbequem in diesem Klima.

“Lady Eryn”, nickte der König ihr zu. “Ich nehme an, Ihr habt Euch soweit erholt, dass Ihr Eure Pflichten wieder aufnehmen könnt?”

“Das habe ich in der Tat”, antwortete sie. Dann sah sie Horam an. “Ich bin froh, dich wiederzusehen. Du hast uns gestern einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nun ja – mir zumindest. Neled wusste immerhin, was zu erwarten war.” Sie schürzte die Lippen und sah Malriel und den König an. “Und vielleicht auch ihr beiden, wie ich vermute.”

Malriel lächelte leise. “Ja und nein. Ich wusste von Neleds Vereinbarung mit Horam. Sie hatte mich bereits darüber informiert, als sie das erste Mal in die Stadt kam und unser Angebot annahm, in Takhan zu bleiben. Dennoch war ich mir nicht sicher, ob es sich bei der Verstärkung, die Etor Gart erwartete, wirklich um die Loman Ergen oder um reguläre Soldaten der Armee Pirinkars handelte. Mein erster Impuls, als ich sie in der Ferne sah, war Panik, das will ich zugeben.”

Eryn erinnerte sich an ein Gespräch zwischen ihr und Neled, als sie im Süden nach feindlichen Truppen gesucht hatten. Neled hatte angedeutet, dass sie bestimmte Dinge plante – Dinge, von denen Malriel Kenntnis hatte.

König Folrin räusperte sich und warf einen kühlen Blick in Malriels Richtung. “Ich allerdings wurde über eine solche Vereinbarung nicht informiert, und in der Folge auch nicht die Befehlshaber meiner Truppen.”

“Verzeih mir, Folrin”, flötete Malriel, “dieses Geheimnis zu teilen stand mir nicht zu. Und solange wir nicht mit Sicherheit sagen konnten, ob und wann sie auftauchen würden, brachte es keinerlei strategischen Vorteil, es dir mitzuteilen.”

Der König erwiderte darauf nichts, doch seine Miene verriet deutlich genug, wie wenig er mit ihr übereinstimmte.

Eryn verbarg ein Lächeln und dachte, dass es ihn zutiefst verärgern musste, nun selbst die Art von Behandlung zu erfahren, die er bevorzugt anderen angedeihen ließ.

“Du solltest deine Schärpe tragen, damit wenigstens irgendein Zeichen deiner Position erkennbar ist”, flüsterte Enric ihr ins Ohr, während alle Aufmerksamkeit auf Malriel gerichtet war.

“Sie ist mit Staub und getrocknetem Blut beschmutzt”, antwortete sie. “Ich hatte keine Zeit, sie zu waschen, bevor ich hierher kam.” Ein kurzer Blick auf Enrics eigene Schärpe zeigte ihr, dass sie sauber war. Offensichtlich hatte er sich also entweder selbst die Zeit genommen, sie zu waschen, oder jemand anderen damit beauftragt, das für ihn zu erledigen. Da es in der Stadt aktuell keine Bediensteten gab, hatte er es vermutlich selbst übernommen und dabei seine unfreiwillig in den Bergen erworbene Fähigkeit genutzt, als Malriel auf dem Rückweg von Pirinkar darauf bestanden hatte, dass die Männer ihre Kleidung selbst wuschen, um dem Stamm, bei dem sie zu Gast gewesen waren, die modernen Gepflogenheiten der Stadtbewohner zu demonstrieren.

König Folrin sah Neled und dann Horam an. “Meine werten Damen, ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mich und alle anderen hier über die Art eurer Vereinbarung aufklären könntet. Horam, ich habe gehört, dass du die Anführerin einer Gruppe bist, die sich Loman Ergen nennt, was sich grob mit die Unerschrockenen übersetzen lässt.”

Horam legte den Kopf schief. “Ich gehöre zu den Unerschrockenen, das ist richtig. Jedoch ordnen wir uns keinem Anführer unter. Ich bin lediglich eine der Älteren, die das Glück hat, das Vertrauen vieler zu genießen, die meinen Rat suchen. Ich nehme an, Ihr wurdet auch darüber informiert, dass wir seit Jahrhunderten ein wanderndes Volk sind, das immer in Bewegung ist, um der Unterdrückung zu entkommen, die sonst aufgrund unserer Magie unser Schicksal wäre. Ich selbst wurde in der Stadt Kar geboren und als Säugling dem grausamsten und abscheulichsten der Tempel übergeben. Wie so viele andere wurde mir das Sprechen verboten und ich wurde unmenschlichen und entwürdigenden Praktiken unterworfen. Es gelang mir zu flüchten, und ich wurde von den Loman Ergen verloren und allein in den Wäldern aufgelesen. Seither bin ich eine von ihnen.”

Eryn schluckte. Sie erinnerte sich daran, dass Horam ihr von ihrem bitteren Start bei den Anhängern von Amel Harp erzählt hatte. Hatte sie sich deshalb auf die Seite des Volkes geschlagen, das ihre Landsleute als Feind betrachteten? Weil sie sich gegen jene stellen wollte, die ihr so schreckliche Dinge angetan hatten? Die Gelegenheit nutzen, es einer Gesellschaft heimzuzahlen, die nicht nur tolerierte, sondern aktiv unterstützte, was Magiern im Allgemeinen und insbesondere den armen Kreaturen, die im Tempel von Amel Harp landeten, angetan wurde?

Als sich abzeichnete, dass Horam nicht weitersprechen würde, ergriff Neled das Wort. “Wir verließen Kar, sobald unsere Vorbereitungen abgeschlossen waren – nachdem ich mich endgültig zu diesem Schritt entschlossen hatte. Der Gedanke, mich den Loman Ergen anzuschließen, hat mich bereits seit Jahren beschäftigt, aber es bedurfte offensichtlich der Bedrohung, von unseren Unterdrückern in den Krieg geschickt zu werden, um mich zum Handeln zu bewegen. Ich wusste, dass Etor Gart durch den Verlust der Bendan Ederbren über keine Magier mehr verfügte, die für einen Krieg gegen Kampfmagier ausgebildet waren. Damit war es für ihn nur logisch, sich an die Loman Ergen zu wenden. Also habe ich sie aufgesucht, um sie zu warnen.” Sie lächelte bei der Erinnerung, ihr Blick in die Ferne gerichtet. “Sie zu finden, ist entweder eine Frage des Zufalls oder des Wissens, wo man suchen muss. Da ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte, und die Zeit wegen unserer Flucht aus dem Land drängte, beschloss ich, mich stattdessen von ihnen finden zu lassen. Ich kleidete mich in mein Priestergewand und verbrachte eineinhalb Tage auf einer erhöhten Lichtung, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ich schickte die anderen voraus und behielt nur ein paar meiner Leute zum Schutz bei mir, für den Fall, dass irgendwelche übereifrigen, gehorsamen Dorfbewohner versuchen würden, mich in die Stadt zurückzuschaffen. Sie fanden mich tatsächlich und beschlossen, sich mir zu nähern, obwohl sie sich normalerweise von Fremden fernhielten und sie nur aus der Ferne beobachteten. Doch mein Gewand hatte ihr Interesse geweckt, genau wie ich gehofft hatte. Nach ein paar weiteren Tagen des Reitens traf ich schließlich Horam. Ich warnte sie, dass die Regierung sie wahrscheinlich kontaktieren und mit Versprechungen dazu bewegen wollen würde, in einem Krieg kämpfen, der nicht der ihre war – einem Krieg gegen ein Volk, das keinem von uns etwas angetan hatte, außer dass es das Pech hatte, ein geeignetes Ziel für die Machtbestrebungen eines einzelnen Mannes zu sein. Wir unterhielten uns die ganze Nacht hindurch. Mein ursprüngliches Ziel bei der Suche nach ihnen war nicht ein Bündnis irgendeiner Art gewesen. Ich war ein Flüchtling, der sich und die Menschen, die unter ihrer Obhut standen, der Gnade von Fremden auslieferte, die keinen Grund hatten, uns zu vertrauen. Es gab ohnehin wenig, was ich hätte anbieten können. Und noch weniger hatte ich das Recht, um etwas zu bitten. Ich wollte sie lediglich warnen, sie anflehen, sich nicht auf diese Weise missbrauchen zu lassen – und für ein Freiheitsversprechen oder Ähnliches den Fehler zu begehen, den Leuten, die sie schon so lange jagten, ihren Aufenthaltsort zu verraten oder gar freiwillig ihr Leben für sie zu opfern.”

“Und trotzdem haben wir uns am Ende der Nacht verbündet”, übernahm Horam und lächelte Neled an. “Zwei Frauen, die auf der Flucht vor ihren Verfolgern waren und die einander nicht viel mehr zu bieten hatten als Entschlossenheit und ein gemeinsames Empfinden von Ungerechtigkeit aufgrund der Misshandlungen, die wir erleiden und bei anderen mitansehen mussten.”

Eryn spürte, wie die Spannung im Raum merklich zunahm, während alle darauf warteten, dass die Einzelheiten dieser Vereinbarung offengelegt wurden. Alle außer Malriel, die bereits Bescheid wusste.

Die Frau, die behauptete, nicht die Anführerin der Loman Ergen zu sein, fuhr fort: “Ich habe versprochen, Etor Gart in dem Glauben zu lassen, dass er sich unsere Unterstützung für den Krieg gesichert hat, für den Fall, dass er wahrhaftig beabsichtigt, uns für seine Zwecke zu benutzen, wie Neled es vorausgesagt hatte. Es war besser, ihn in dem Glauben zu lassen, wir würden auf seiner Seite in den Krieg ziehen und ihm später eine Lektion erteilen, als ihm eine Absage zu erteilen und ihn zu zwingen, sich eine andere Lösung einfallen zu lassen. Im Gegenzug versprach Neled, am Ende von Etor Garts Bemühungen zurückzukehren, ob diese schlussendlich erfolgreich waren oder nicht, und mit den Loman Ergen nach Kar zu marschieren, um unsere Brüder und Schwestern aus ihren Gefängnissen hinter den Mauern der Tempel zu befreien.”

Eryn spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Nach Jahrhunderten hatten die Loman Ergen beschlossen, sich ihren Unterdrückern entgegenzustellen anstatt weiterhin vor ihnen zu fliehen. Der Zeitpunkt dafür war hervorragend: Nun hatten sie zum ersten Mal Verbündete, die nicht nur Magier, sondern auch ausgebildete Krieger waren. Und die dank Etor Gart nun sogar wertvolle Kampferfahrung gesammelt hatten, die ihnen helfen würde, sich gegen die Reste von Pirinkars Armee zu behaupten. Die Frage war nur, ob es sich dabei noch um eine ernstzunehmende Macht handelte, auch wenn sie aus Nichtmagiern bestand. Eine ausreichend große Zahl fähiger Kämpfer war eine Gefahr für deutlich weniger Magier – vor allem, wenn sie über Geschosse mit goldenen Spitzen verfügten.

“Du wirst uns also bald verlassen, wenn ich das richtig verstehe”, wandte sich Golir an Neled, und sein Ton klang besorgt. “Es tut mir unendlich leid, das zu hören, zumal wir noch nicht sicher sein können, ob der bloße Sturz Etor Garts sämtlichen Feindseligkeiten ein Ende setzen wird.”

Enric lächelte leise. “Wenn sich die Loman Ergen mit den Bendan Ederbren vereinigen, um gegen Kar zu marschieren, wird die Regierung auf absehbare Zeit kaum in der Lage sein, weitere Angriffe auf uns in Betracht zu ziehen.”

“Wir könnten die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Krieges mit ihnen erheblich verringern”, formulierte Eryn etwas, das sie bereits vor nicht allzu langer Zeit auf dem Rückweg nach Takhan bereits gegenüber Enric und Ram’an erwähnt hatte, “wenn wir dafür sorgen, dass die Machthaber nicht geneigt sind, uns erneut anzugreifen.”

Der König hob die Brauen und sah sie an. “Betrügen mich meine Ohren, Lady Eryn, oder erlebe ich wahrlich den Tag, an dem Ihr den Vorschlag unterbreitet, die Invasion eines anderen Landes in Angriff zu nehmen?” Er schüttelte verblüfft den Kopf. “Du liebe Zeit, was haben wir nur aus Euch gemacht?”

“Ihr habt mich zu nichts gemacht, was ich nicht schon vorher war”, erwiderte sie, aus irgendeinem Grund irritiert über seine Worte. “Ich war nie ein Mensch, der bereit war, eine Bedrohung für Unschuldige hinzunehmen, und das gilt für beide Seiten. Ich möchte auch nicht, dass mein Sohn an einem Ort aufwächst, an dem Frieden ein zerbrechliches Konstrukt ist, das davon abhängt, von welcher Laune irgendjemand in Pirinkar gerade getrieben wird. Und ich billige auch nicht, wie Magier in Pirinkar unterdrückt, versklavt, gequält und verfolgt werden. Euer Einfluss hat lediglich dazu geführt, dass ich neue Ansätze zur Durchsetzung meiner Werte in Betracht ziehe.”

“Ansätze wie eine Invasion”, antwortete König Folrin mit einem Lächeln.

“Wenn wir die Einwohner von Pirinkar lediglich in ihrem Bestreben unterstützen würden, die Sklaverei zu beenden, anstatt dort einzumarschieren und das Land zu übernehmen, würde ich es kaum als Invasion bezeichnen”, meldete sich Enric zu Wort.

Der König warf ihm einen direkten Blick zu. “Ich verstehe.” Er hielt einen Moment inne, als überlege er, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte. “Gehe ich recht in der Annahme, Lord Enric, dass Ihr mir in Eurer Eigenschaft als Anführer des Ordens der Magier mitteilt, dass Ihr die Entsendung unserer Truppen nach Pirinkar befürwortet?”

Eryn hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Enric hatte sich nie wirklich zu ihrer Aussage, gegen Pirinkar zu marschieren, geäußert, als sie nach der Schlacht zurückgeritten waren. Sie waren einfach eine Weile schweigend weitergeritten und hatten anschließend über andere Dinge gesprochen. Sie war also nicht sicher, mit welcher Antwort er nun aufwarten würde.

Enric hob sein Kinn leicht an. “So ist es.”

Stille trat ein. Eryn bemerkte, wie angespannt Horam und Neled den Austausch verfolgten. Den Orden an ihrer Seite zu haben würde ihre Erfolgschancen deutlich erhöhen.

Torka’na ergriff nun das Wort: “Wenn unser Hauptziel darin besteht, unser Land vor zukünftigen Angriffen zu schützen, können wir ebenso gut die gleiche Art von Barriere errichten, die unsere Vorfahren benutzt haben, um das Königreich Anyueel fernzuhalten. Immerhin haben wir wiederentdeckt, wie sich das bewerkstelligen lässt. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Pirinkars ist eine prekäre Angelegenheit. Im Grunde genommen stellen wir uns auf die Seite jener, die bestrebt sind, einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Sollten wir uns in der Position wiederfinden, die Verliererseite unterstützt zu haben, müssen wir mit Sicherheit mit den Feindseligkeiten rechnen, die vorher lediglich eine mögliche Option waren.”

Eryn biss sich auf die Lippe, um sich den Hinweis zu verkneifen, dass dies zwar der Sicherheit der westlichen Territorien dienen würde, aber wohl kaum der Sicherheit der in Kar unterdrückten Priester. Sie wusste, dass es der Triarchie in erster Linie um den Schutz ihres eigenen Volkes gehen musste. Torke’nas Argument war berechtigt; etwas anderes zu behaupten wäre sinnlos. Es nutzte auch nichts, sich über das zu ärgern, was Eryn als Gefühllosigkeit empfand. Torke’na hatte noch nie mit eigenen Augen erblickt, wie das Leben in Pirinkar für Magier aussah. Und selbst wenn sie es gewusst hätte – eine Entscheidung wie diese musste auf Vernunft und validen Argumenten beruhen, nicht auf bloßer Solidarität.

Malriel ergriff als nächstes das Wort. “Ich stimme zu, dass Pirinkar im Falle einer Niederlage wahrscheinlich Vergeltung üben wird. Ebenso ist es allerdings eine Tatsache, dass wir nicht sicher sein können, ob sie den gegenwärtigen Krieg als beendet betrachten oder nicht. Sie könnten die Niederlage ihrer Truppen als Vorwand für einen Vergeltungsschlag nutzen. Den Luxus, dass wir nun davon ausgehen, dass Frieden herrscht, können wir uns nicht leisten. Was eine weitere Barriere betrifft, muss ich zur Vorsicht mahnen. Etor Gart hat einen Weg gefunden, die Barrieren, die wir um die Stadt errichtet haben, zu überwinden. Wir müssen davon ausgehen, dass dies keine neue Entdeckung war, sondern eine in Pirinkar bekannte Technik, was bedeutet, dass sie in der Lage wären, selbst den mächtigsten magischen Schild zu überwinden, den wir errichten können.”

“Lord Enric”, begann der König, “was wäre, wenn ich anordne, dass der Orden nach Anyueel zurückzukehren und diesen Krieg als beendet zu betrachten hat?”

“Dem würde ich mich selbstverständlich beugen, Eure Majestät. Solange ich Euer Untertan bin und das Amt des Anführers des Ordens bekleide, werde ich mich Euren Wünschen fügen.” Enric ließ unausgesprochen, dass sich seine Amtszeit dem Ende zuneigte und dass ihn und Eryn danach nichts und niemand mehr davon abhalten konnte, den Bendan Ederbren und Loman Ergen ihre Unterstützung zu gewähren. Die geschürzten Lippen des Königs waren ein deutliches Zeichen dafür, dass die Botschaft angekommen war. Enric fuhr fort: “Ich bin mir sicher, dass die Westlichen Territorien es Euch nicht verübeln würden, falls Ihr beschließt, Euch um Euer eigenes Volk zu kümmern, nachdem Ihr Euer Versprechen, ihnen im Krieg beizustehen, erfüllt habt. Und ich bin ebenso zuversichtlich, dass Ihr nicht zögern würdet, wenn sich in der nächsten Zeit die Notwendigkeit ergeben sollte, zurückzukehren, um sie erneut zu verteidigen.”

Eryn musste die Art und Weise bewundern, wie sein Gehirn arbeitete. Er hatte geschickt angedeutet, dass er gegen Kar marschieren würde, sobald er sich aus der Umklammerung des Königs befreit hatte, und König Folrin auf die möglichen politischen Folgen einer Weigerung hingewiesen, Schritte zu unternehmen, die mancher als geeignet ansehen würde, den Konflikt mit Pirinkar auf eine dauerhaftere Weise zu beenden. Außerdem würde die Wiederaufnahme eines Krieges, den man von vornherein nicht richtig beendet hatte, die Beliebtheit des Königs bei seinem eigenen Volk nicht eben fördern.

Malriels Mundwinkel zuckten für einen kurzen Moment, dann nahm ihr Gesicht wieder seinen neutralen Ausdruck an. Natürlich fand die Königin der Finsternis Gefallen an einer solch hinterhältigen Antwort.

Der durchdringende Blick des Königs blieb auf Enric gerichtet, als er antwortete: “Natürlich werden wir auch weiterhin alle Maßnahmen unterstützen, die die Triarchie für notwendig erachtet, um den Frieden herzustellen und zu sichern.”

Ah, dachte Eryn, und jetzt hatte er die Entscheidung an die Triarchie delegiert.

Malriel lächelte ihn an. “Wir sind unendlich dankbar, das zu hören, Folrin. Doch da unser System etwas anders funktioniert als das von Anyueel, wo du die schlussendliche Entscheidungsinstanz bist, müssen wir den Senat darüber abstimmen lassen. Da sich derzeit nur ein Teil davon noch in Takhan befindet, werden wir noch mindestens ein oder zwei Tage warten müssen, bis die anderen mit ihren Familien aus den Bergen zurück sind.” Sie sah ihre beiden Kollegen an. “Ich schlage vor, dass die Triarchie diese Angelegenheit bespricht. Wir müssen entscheiden, ob wir uns alle einig sind, was getan werden muss, oder ob wir uns aufteilen und jeder dem Senat Argumente für seinen Standpunkt vortragen wird. Sollte sich der Senat gegen die Entsendung von Truppen in den Norden entscheiden, werde ich den Antrag stellen, dass diejenigen unserer Bürger, die sich der Sache unserer Freunde anschließen wollen, dies aus eigenem Antrieb tun können.”

Die Sache unserer Freunde, dachte Eryn. Eine nicht allzu subtile Erinnerung daran, dass die Westlichen Territorien zumindest den Loman Ergen etwas schuldete. Man mochte argumentieren, dass die Bendan Ederbren lediglich ihre Pflicht erfüllt hatten, nachdem man ihnen Schutz und eine neue Heimat gewährt hatte, als sie aus ihrem Herkunftsland geflohen waren. Dennoch war es Neleds Abkommen mit Horam, das einer entscheidenden Schlacht, deren Ausgang unklar gewesen wäre, ein schnelles Ende gesetzt hatte. Was bedeutete, der Krieg hätte sich in die Länge ziehen und vielleicht sogar in einer Niederlage enden können. Daher war durchaus legitim argumentierbar, dass Neled Unterstützung, wenn nicht gar eine Gegenleistung, geschuldet wurde.

Nun, zumindest war klar, welche Option Malriel bevorzugte. Und sie würde es sicher nicht versäumen, den Senat zu beeindrucken, ganz gleich, wo die beiden anderen Triarchen standen. Malriel hatte die Führung übernommen, als Golir sich der Herausforderung als nicht ausreichend gewachsen erwiesen hatte, sie hatte ihr Leben riskiert, um den Gefährten ihrer Tochter zu retten, als dieser oben in Pirinkar als vermisst gemeldet worden war, und es war ihre eigene Mutter gewesen, die den Kommandanten der Gegenseite auf höchst spektakuläre Weise niedergestreckt hatte – eine Geschichte, die noch lange nach Malhoras eigenem Ableben fortbestehen würde. Malriel selbst und später auch ihre Tochter hatten sich in den Norden begeben, um alles zur Vermeidung eines Krieges zu unternehmen, und Malriel hatte sowohl ihr Zuhause als auch eines der Anwesen ihres Hauses verloren – und beinahe auch ihre Mutter. Haus Aren hatte eine Zeit lang darauf hingearbeitet, den Krieg zu vermeiden, und dann mehr als seinen Teil dazu beigetragen, ihn zu gewinnen. Wenn Malriel von Haus Aren vor dem Senat sprach und ihm erklärte, dass sie nicht sicher sein würden, bis die Menschen, die Etor Garts Vorgehen billigten, zur Vernunft gebracht wurden, dann würde man ihr Gehör schenken.

Es war merkwürdig. Eryn fühlte sich seltsam beflügelt von der Vorstellung, nach Pirinkar zurückzukehren, wo sie eigentlich erwartet hätte, dass sie ein Ende dieser ganzen Angelegenheit herbeisehen und rasch in ihr altes oder vielmehr neues Leben zurückkehren würde. Doch die Angelegenheit war noch nicht hinreichend zu Ende gebracht worden. Nicht für sie selbst und ebenso wenig für die Loman Ergen oder Neled.

In Wahrheit standen Horam zwei Optionen offen – entweder in ein Leben im Verborgenen zurückzukehren, da es kaum eine Chance gab, dass sich irgendjemand in Kar verpflichtet fühlen würde, Etor Garts Versprechen einzuhalten, oder die Gelegenheit zu nutzen und die Regierung zu stürzen, jetzt, wo sie auf ausreichend Unterstützung zurückgreifen konnte für eine realistische Chance auf Erfolg.

Es war gut, dass Malriel sich dafür aussprach, den beiden Frauen beizustehen. Doch Eryn kam nicht umhin sich zu fragen, ob es dafür nicht einen Preis zu bezahlen gab. Malriel war erfahrungsgemäß keine Frau, die dafür bekannt war, ausschließlich von philanthropischen Motiven geleitet zu sein.

“Sollten wir in der Lage sein, euch bei der Einnahme von Kar von Nutzen zu sein”, wandte sich die führende Triarchin mit einem Lächeln an Horam und Neled, “sollten wir uns darüber unterhalten, ob ihr eure sehr fortschrittlichen Technologien und euer Wissen mit uns teilen wollt.”

Ah ja, dachte Eryn mit grimmiger Genugtuung darüber, dass sie Malriel richtig eingeschätzt hatte – da war er auch schon, der Preis.

*  *  *

“Wo ist Großmutter eigentlich?” erkundigte sich Eryn bei ihrer Mutter, als sie die Arbil Residenz verließen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Da die meisten Bewohner noch auf dem Weg zurück in die Stadt waren, brannten nur wenige Lichter. “Ich habe sie nicht gesehen, als ich mich vor ein paar Stunden zuhause umgezogen und gewaschen habe. Ich nehme an, sie hat sich bei uns einquartiert?” Wo sonst sollte sie unterkommen, nun wo der Familiensitz nicht länger stand? Auch eine Rückkehr zu ihrem eigenen Anwesen kam nicht in Frage, da das ebenfalls zerstört worden war.

“Sie sagte mir, sie wolle die Ruinen unseres Hauses inspizieren, um zu sehen, ob die unterirdische Struktur noch intakt ist.”

Eryn nickte. Das leuchtete ein. Das verborgene Gewölbe unter dem Gebäude war schließlich der Aufbewahrungsort für den Großteil des Goldes von Haus Aren. Und auch für die privaten Rücklagen des Oberhauptes, von denen im aktuellen Fall allerdings nicht mehr viel übrig war, nachdem das meiste davon vor einigen Jahren in den Bau eines Waisenhauses geflossen war…

Zwar stünde die Familie auch bei einem unwiederbringlichen Verlust der Rücklagen kaum am Rande des Bankrotts, doch der Bau eines neuen Wohnsitzes würde in diesem Fall dann vorerst wohl mit anderen Mitteln finanziert werden müssen.

Die zahlreichen Unternehmen und Produktionsstätten von Haus Aren boten ein verlässliches und sicheres Einkommen, so dass keines der Häuser zögern würde, einen Kredit zu gewähren. Allen voran Haus Vel’kim, ebenso auch Haus Arbil, sofern es ihren gegenwärtigen finanziellen Möglichkeiten entsprach. Ram’an hatte das Haus seit dem Tod seines Vaters rehabilitiert und mit klugen, umsichtigen Investitionen in eine finanziell stabile Situation geführt, dennoch würde es bis zur Wiederherstellung des ursprünglichen Wohlstandes noch einige Jahre dauern.

Und dann war da noch der Gefährte des zukünftigen Oberhauptes des Hauses, der eine solche Summe mühelos aufzubringen vermochte. Und das mehr als bereitwillig. Schließlich war er selbst Mitglied des Hauses und hatte die Absicht, in der neu zu errichtenden Residenz zu leben.

Trotzdem. Auf Hilfe angewiesen zu sein, war für kein Haus wünschenswert. Deshalb war die Frage nach den intakten Reserven unter dem Gebäude durchaus von Bedeutung.

“Der schlimmste denkbare Fall”, meinte Enric, “wäre eigentlich, dass das Gewölbe eingestürzt ist und wir es ausgraben müssen, um das Gold zu bergen. Es wäre uns nicht entgangen, wenn Etor Gart jemanden mit einer beträchtlichen Menge des Aren-Goldes nach Pirinkar zurückgeschickt hätte. Mehrere prall gefüllte Truhen sind schwer zu transportieren, selbst für Magier. Man bräuchte einen ganzen Konvoi dafür, da kein Wagen mehr als zwei Truhen auf einmal transportieren kann, wenn überhaupt so viele.”

“Er hätte das Gold holen und es irgendwo anders in dem Teil der Stadt verstecken können, den er kontrolliert”, widersprach Eryn.

“Warum sollte er so etwas tun? Das hätte ihm keinerlei Nutzen gebracht”, runzelte Malriel die Stirn.

Eryn zuckte mit den Schultern. “Um uns zu verhöhnen. Es hätte uns erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wenn wir es nicht wiederfänden. Ich würde es ihm durchaus zutrauen, das Gold zu verstecken, auch wenn er selbst keinerlei Nutzen daraus gezogen hätte.”

Enric nickte. Diese Überzeugung teilte er.

In stillem Einverständnis schlugen sie die Richtung ein, die zu den Aren-Ruinen und damit zu Malhora führte.

Eryn kaute einen Moment lang auf ihrer Lippe, dann sah sie ihre Mutter an. “Gestern hast du etwas erwähnt. Als wir auf der Lauer lagen, falls irgendwelche von Etor Garts Männern die Flucht ergreifen würden. Etwas, das Malhora getan hat, sei Grund für diese Distanz zwischen euch. Kannst du mir sagen, was zwischen euch beiden vorgefallen ist? Man hat mir immer wieder gesagt, es sei typisch für die Aren-Familie, dass Mütter und Töchter nicht miteinander auskämen, weil unsere Mütter unsere stärksten Widersacherinnen seien und uns so lehren, wie man eine starke Anführerin ist. Selbst wenn das wahr wäre und nicht nur ein weiterer Teil des Aren-Bildes, das alle hochhalten, muss es da trotzdem noch mehr zwischen euch beiden gegeben haben. Wirst du mir davon erzählen?”

Malriels Kiefermuskeln spannten sich sichtlich an, während sie weiterging und den Blick nach vorne gerichtet hielt. “Das war vor langer Zeit, Maltheá. Sogar noch vor deiner Geburt. Damals ist etwas vorgefallen, das mich schwer getroffen hat. Trotzdem würde ich mir nicht wünschen, dass dies deine Beziehung zu ihr zerstört. Ich bin froh, dass du und sie ein Maß an Nähe gefunden habt, das mir nicht gegeben war. Das missgönne ich euch beiden nicht, zumindest heute nicht mehr. Ich gebe zu, dass es für mich schwer zu mitanzusehen war, dass ihr beide euch so gut verstanden habt, während du meine Gesellschaft nicht einmal ertragen konntest.”

“Das ist schön und gut, Mutter, aber du solltest mich inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass ich es nicht dulde, wenn man mir zu meinem eigenen Besten Informationen vorenthält.”

Enric nickte. “Das kann ich bestätigen.”

“Wenn meine Beziehung zu Malhora davon abhängt, dass ich nicht weiß, was sie dir angetan hat, dann ist sie ohnehin zerbrechlich. Und es ist nur eine Frage der Zeit. Jetzt wo ich weiß, dass es etwas herauszufinden gibt, werde ich nicht eher ruhen, bis ich es herausfinde.”

Die Triarchin seufzte müde. “Lass es vorerst gut sein, Maltheá. Eines Tages, wenn sich die Dinge wieder normalisiert haben, werden wir uns zusammensetzen und reden.”

Eryn knirschte mit den Zähnen. Wie ein Kind auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft vertröstet zu werden, war frustrierend. Und es zeigte ihr, dass sich Malriel und sie aus der Perspektive ihrer Mutter nicht auf Augenhöhe gegenüberstanden. Das würde sich als interessant erweisen, sobald Eryn Haus Aren übernahm. Da Malriel eine Triarchin war, konnte sie nicht einfach auf ein abgelegenes Anwesen verbannt werden, wie es andere Häuser mit ihren ehemaligen Anführern zu tun pflegten. Sie sah in ihrer unmittelbaren Zukunft die Notwendigkeit voraus, dem ehemaligen Oberhaupt von Haus Aren stets aufs Neue ins Gedächtnis zu rufen, dass es nicht gut ankam, wenn sie ihrer Nachfolgerin über die Schulter blickte. Zumindest nicht unaufgefordert.

Enric nahm ihren Arm und zog sie etwas näher zu sich heran, so dass er murmeln konnte: “Denk an den Abend vor der Schlacht im Hügelland zurück.”

Sie blinzelte. Was für eine merkwürdige Sache, sie hier und jetzt daran zu erinnern. “Du meinst, in der Badewanne, als du und ich…?”

Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. “Nein, Liebste, nicht das. Das, worüber wir am Feuer gesprochen haben. Mit Golir.”

Eryn blieb plötzlich stehen und klatschte sich mit der Handfläche gegen die Stirn. Einmal mehr war sie dämlich gewesen. Sie verfügte bereits über alle nötigen Informationen, und es fehlte ihr allein an der Fähigkeit, die einzelnen Stücke miteinander zu verbinden. Zum Glück war Enric darin viel besser als sie. Ihn würde sie auf jeden Fall in ihrer Nähe behalten, sobald sie ein mächtiges Hausoberhaupt war.

Das Geräusch ließ Malriel ihren Kopf drehen. Ihre Augen verengten sich eine Spur. Offensichtlich ahnte sie, dass Eryn auf eine mögliche Erklärung gestoßen war.

“Omed von Haus Tokmar”, rief Eryn aus. “Dein Vater!” Sie verfluchte sich dafür, dass sie bei dieser Schlussfolgerung nicht früher angelangt war und erinnerte sich daran, dass sie sich sogar gefragt hatte, ob Malhoras sich Rolle beim Ableben ihres Gefährten irgendwie auf die Beziehung zu ihrer Tochter ausgewirkt haben mochte, ob dies vielleicht etwas mit der Distanz zwischen ihnen zu tun hatte.

Malriels Gesicht verriet ihr, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

“Lass es gut sein, Maltheá. Ich werde nicht darüber sprechen. Wenn du deine Neugier befriedigen willst, schlage ich vor, du fragst deine Großmutter nach all dem.” Damit wandte sich Malriel um und beschleunigte ihre Schritte.

Nach einigen Minuten schweigenden Marsches erreichten sie den Hügel, auf dem bis vor kurzem noch ein prächtiges Bauwerk gethront hatte, das vom Erfolg des Hauses zeugte. Vor ihnen sahen sie mehrere brennende Fackeln, deren Licht schwach von den Trümmern reflektiert wurde. Malhora befand sich also noch immer dort oben.

Als sie die Ruinen praktisch erreicht hatten, fanden sie sie, die Scharfrichterin feindlicher Anführer, auf dem Boden kniend, während sie ein mächtiges Mauerstück von der unscheinbaren Tür entfernte, die den Eingang zu einem Raum markierte, der von innen wie ein Wurzelkeller aussah, in Wahrheit aber als Vorraum diente, der den Zugang zu einer geheimen Gewölbetür ermöglichte. Vorausgesetzt, man gehörte zu den wenigen Eingeweihten, die wussten, wonach sie suchen mussten.

“Ah, Kinder”, grinste die alte Frau und winkte sie näher heran.

Kinder, dachte Eryn mit einem nachsichtigen Lächeln. Sie selbst war keine große Freundin davon, von Malriel mit Kind angesprochen zu werden, und für ihre Mutter musste es noch irritierender sein, wenn man bedachte, dass sie Mitte fünfzig war. Im Moment wirkte Malhora wie eine rüstige Großmutter, verstaubt und aktiv, keineswegs wie die in Stoff gehüllte Verkörperung von Vergeltung mit einem bluttriefenden Dolch in einer Hand.

“Ich habe gute Nachrichten: Der Boden unter den Ruinen ist unversehrt, das Gewölbe wurde also weder entdeckt noch ist es eingestürzt. Die Reichtümer von Haus Aren sind in Sicherheit”, verkündete die alte Frau feierlich.

Malriel nickte, aber ohne zu lächeln. Es schien, als sei sie noch immer leicht erschüttert von dem Gespräch mit ihrer Tochter vor wenigen Minuten.

“Es ist eine Schande”, seufzte Malhora und sah sich um. “Es war ein beeindruckendes Gebäude. Ich selbst habe es im Laufe der Jahre mehrfach modernisieren lassen. Ich habe nie eine sentimentale Bindung an veraltete Dinge gehegt, wenn neue Entwicklungen und Entdeckungen mehr Komfort boten.”

“Ja”, murmelte Malriel, “sentimental warst du nie, das kann man dir kaum vorwerfen.”

Malhoras Augen verengten sich leicht. “Ich nehme an, wir sprechen hier nicht mehr über die Residenz. Heraus mit der Sprache, Malriel. Du weißt, ich habe wenig Geduld für kryptische Bemerkungen. Entweder du sagst, was du zu sagen hast, oder du hältst den Mund. Mit allem dazwischen verschwendest du meine Zeit.”

“Oh nein”, murmelte Enric. “Das sieht ganz danach aus, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen.”

Eryn nickte, fasziniert davon, wie sich die Atmosphäre plötzlich zu etwas gewandelt hatte, das sich dezent prekär anfühlte. Zwei furchterregende Frauen, stur, stolz, gefährlich und stark in ihrer Magie, standen inmitten der vom Feuer erleuchteten Trümmer dessen, was jede von ihnen viele Jahre lang als ihr Zuhause betrachtet hatte. Irgendwie drängte sich das Gefühl auf, als schreie diese dramatische Kulisse förmlich nach einer epischen Konfrontation. Und beide schienen in der richtigen Stimmung zu sein, um den Umständen Rechnung zu tragen. Niemand konnte einer Aren vorwerfen, sie würde sich eine fabelhafte Gelegenheit für einen Konflikt entgehen lassen.

“Ja”, erwiderte Eryn trocken, “gut, dass das Gebäude bereits in Trümmern liegt.”

Falls eine der beiden Frauen diese Bemerkung gehört hatte, verzichteten sie auf eine Reaktion.

Malriel hob den Kopf. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. “Auf unserem Weg hierher wollte deine Enkelin wissen, was genau du getan hast, das zu diesem Bruch zwischen dir und mir geführt hat. Möchtest du das beantworten, Mutter?”

“Ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage, Tochter. Aber du hast mir nie gesagt, was genau du mir vorwirfst.”

Malriels erwiderndes Lachen war bitter. “Ja, ich habe dich nie damit konfrontiert, nicht wahr? Ich war so überzeugt davon, dass es eine Beleidigung für dich gewesen wäre, etwas so Offensichtliches in Worte zu fassen.” Sie deutete auf ihre Tochter. “Sie hat es erraten, und es fällt mir schwer zu glauben, dass du, begabt mit einem der größten Köpfe unserer Zeit, das mehr als drei Jahrzehnte lang nicht vermocht hast.”

Malhora seufzte und wirkte plötzlich müde und von einem Moment auf den anderen deutlich älter. “Drei Jahrzehnte… Sag mir bloß nicht, dass es dabei um deinen Vater geht.”

“Warum sollte es nicht um meinen Vater gehen? Bist du enttäuscht, dass ich nicht so sorglos mit dem Töten anderer umgehe wie du?” Sie warf die Hände in die Luft und rief in den Himmel: “Malhora von Haus Aren, Schlächterin der Feinde ihres Volkes – und untreuer Gefährten!”

Malhora stand einige Sekunden lang still, bevor sie mit ruhiger Stimme, die im krassen Gegensatz zu Malriels Schrei stand, erwiderte: “Du bist eine Närrin, Malriel. Ich hätte nie gedacht, dass ich dir erklären muss, dass du nicht auf die Gerüchte hereinfallen sollst, die für die Öffentlichkeit geschaffen wurden. Gerüchte, die sowohl dem Ruf unseres Hauses als auch dem deines Vaters geholfen haben. Mehr als fünfunddreißig Jahre lang bist du einem Irrtum unterlegen. Und anstatt mich zu konfrontieren und die Sache mit einem Streit aus der Welt zu schaffen, hast du beschlossen, es köcheln zu lassen und zuzulassen, dass es uns entzweit. So habe ich dich nicht erzogen.”

Malriel sah aus, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten.

Eryn empfand ein gewisses Mitleid mit ihr, doch gleichzeitig tröstete sie die Tatsache, dass Malhora die gleiche Macht über ihre Tochter hatte wie Malriel über Eryn – die Macht, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie wäre klein und unsicher. Und im Fall von Malriel von Haus Aren wollte das durchaus etwas heißen.

Malhora schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, was ihre Tochter ihr gerade vorgeworfen hatte. “Du hast also wirklich gedacht, ich hätte deinen Vater getötet. Was für ein unfassbarer Schwachsinn.”

“Er hat dich betrogen!” rief Malriel, als ob sie verzweifelt versuchte, sich zu rechtfertigen. “Ein Mann, der einer mächtigen Aren untreu ist – das hat er sich selbst zuzuschreiben, nicht wahr? Er hat es gewagt, in den Armen einer anderen Frau etwas zu suchen, was er in deinen offensichtlich nicht gefunden hat!”

“Setz dich hin, du Idiotin”, knurrte Malhora.

Eryn zuckte leicht zusammen. Dieser Ausdruck war vermutlich etwas harsch, wenn man ihn auf eine Frau anwandte, die so aussah, als stünde sie kurz davor, die Fassung zu verlieren.

Malriel verschränkte nur die Arme und blieb stehen.

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern und nahm auf einem halbwegs eben aussehenden Stück Wand Platz. “Wie du willst. Welch Ironie, dass wir die Trümmer unserer Beziehung inmitten derer unseres Zuhauses besprechen.” Sie holte tief Luft, dann begann sie: “Du weißt, wie ich mit dir schwanger wurde – daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich habe deinen Vater benutzt, um mich aus einer Kommitment-Vereinbarung zu befreien, zu deren Einhaltung mich meine eigene Mutter gezwungen hätte. Dieser Ansatz, unsere jungen Leute selbst entscheiden zu lassen, ist moderner als zu meiner Zeit. Ich habe deinen Vater ausgewählt, weil er ein ansehnlicher, umgänglicher Mann war. Ich werde dich nicht anlügen und vorgeben, ich wäre in ihn verliebt gewesen. Es war eine Entscheidung, die ich mit klarem Verstand getroffen habe, nicht unter dem Einfluss einer flüchtigen Vernarrtheit. Und ich habe es nie bereut. Ich wusste schon viel länger als alle anderen von seinen Liebschaften.”

Malriel lächelte grausam. “Und natürlich hattest du keinerlei Einwände dagegen.”

“Warum sollte ich? Ich hatte ebenso meinen Anteil an Liebhabern. Wir waren uns einig, diskret zu sein, um unseren Ruf zu schützen. Und damit auch dich. Omed hat vielleicht nie mehr als körperliche Leidenschaft für mich empfunden, aber dich hat er wahrhaftig geliebt. Ich habe deinen Vater respektiert, Malriel. Ihm wurde ein Kind zuteil, das er keinerlei Absicht hatte zu zeugen, aber er vermittelte mir nicht ein einziges Mal das Gefühl, dass er mir das übel genommen hätte. Und ich weiß gewiss, dass er dir nie das Gefühl gegeben hat, unerwünscht zu sein. Wir haben uns sogar gelegentlich ein Bett geteilt.” Sie lächelte bei der Erinnerung daran. “Es war, als hätte ich eine Affäre mit meinem eigenen Gefährten. Manchmal haben wir zusammen ein Glas Wein getrunken und dann die Nacht im selben Bett verbracht. Unsere Beziehung war bis zum Schluss geprägt von Zuneigung, auch wenn wir nie ineinander verliebt waren. Dass du das Verhältnis zwischen deinem Vater und mir als weitgehend spannungsfrei und vergleichsweise harmonisch wahrgenommen hast, lag nicht an meiner Unwissenheit in Bezug auf seine Affären. Es war das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen Erwachsenen, das für alle Beteiligten von Vorteil war.”

Eryn starrte ihre Großmutter an, fasziniert von der Enthüllung solch unerwarteter Aspekte ihres Lebens. Auch Malriel schien ein wenig erschüttert zu sein, wahrscheinlich aufgrund der Erkenntnis, dass die Beziehung ihrer Eltern so vollkommen anders funktioniert hatte, als sie bisher dachte.

“Wie ist er dann gestorben?” Eryn konnte sich die Frage nicht verkneifen. “Wenn du ihn nicht umgebracht hast…”

“Du wirst das vielleicht nicht glauben, aber er starb eines natürlichen Todes”, seufzte Malhora traurig. “Unnötigerweise, wenn du mich fragst. Ich habe ihn ständig gedrängt, sich regelmäßig in der Klinik untersuchen zu lassen, zumal er reichhaltigem Essen und Wein nicht abgeneigt war. Aber er lachte nur und nannte mich übervorsichtig. Aber ich nehme an, er ist so gestorben, wie er es sich gewünscht hätte – in den Armen eines hübschen jungen Mädchens. Sie trafen sich in einem der Weinkeller, die seinem Haus gehörten. Sein Herz ließ ihn im Stich. Hübsch und jung mag seine kleine Geliebte gewesen sein, doch jemand mit einem klaren Kopf und grundlegenden Heilfähigkeiten hätte ihm in dieser Situation besser gedient. Das Mädchen rannte zum Oberhaupt seines Hauses und berichtete hysterisch, was geschehen war, anstatt einen Heiler aufzusuchen. Als sie im Weinkeller ankamen, war er bereits tot. Sie riefen mich an den Schauplatz. Ich hatte eine lange Diskussion mit dem damaligen Oberhaupt von Haus Tokmar. Wir waren uns einig, dass wir die Fakten rund um seinen Tod für die Öffentlichkeit anpassen mussten. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass das kleine Roal-Mädchen den Mund hält.”

Eryn hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. “Roal?”

Malhora schnaubte. “Du glaubst doch nicht wirklich, dass unser Groll gegenüber Haus Roal bis heute auf nichts anderem beruht als auf diesem kleinen Betrugsfall vor einhundertfünfzig Jahren, Maltheá? Mach dich nicht lächerlich.”

Ihre Enkelin schüttelte verwirrt den Kopf. “Aber wenn du von der Affäre wusstest und kein Problem damit hattest – warum solltest du das Haus Roal dann verübeln? Oder ist das Ganze wieder nur für die Öffentlichkeit bestimmt?”

“Es gab hinterher einen handfesten Streit, aber nicht wegen der Affäre selbst. Vielmehr wegen der Art und Weise, wie seine Gespielin und infolgedessen ihr Haus sich nach dem Tod von Omed gebärdet haben. Ich und das Oberhaupt von Omeds Haus waren uns einig, dass wir, da es unwahrscheinlich war, dass die Affäre geheim gehalten werden konnte, etwas tun mussten, um den Ruf unserer beiden Häuser zu wahren. Den von Haus Tokmar, denn Omed hatte offiziell gegen die Bedingungen unseres Kommitments verstoßen, was bedeutete, dass sein Haus verpflichtet war, mir Schadenersatz zu leisten. Hätte ich auf mein Recht, eine solche Zahlung zu verlangen, verzichtet, hätte das merkwürdig ausgesehen. So wollte Haus Aren nicht wahrgenommen werden – verraten und nicht einmal bereit, eine Entschädigung dafür zu akzeptieren. Also sprengte ich mit der Erlaubnis von Haus Tokmar den Weinkeller mit Omeds Leiche in die Luft. Seine kleine Roal-Geliebte hatte keine Ahnung, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, und verbreitete überall das Gerücht, dass seine rachsüchtige Gefährtin ihn getötet habe, weil er außerhalb ihres kalten, lieblosen Bettes Befriedigung suchte. Und genau hier liegt der Grund für unseren Groll gegenüber Haus Roal – ihr Oberhaupt hat es nicht nur versäumt, sie zur Räson zu bringen, sondern hat sie sogar dabei unterstützt, eine gründliche Untersuchung gegen mich einzufordern und zu versuchen, mich wegen Mordes an meinem eigenen Gefährten verurteilen zu lassen. Omeds Hausoberhaupt und ich haben uns mit den Triarchen unterhalten und sie über die wahren Umstände informiert und sie gebeten, diese vertraulich zu behandeln.” Malhora hob die Hände. “Und das war alles, Malriel. Dein Vater starb eines natürlichen Todes, und ich habe einen Weinkeller in die Luft gejagt, um uns alle zu schützen. Es lag nie in meiner Absicht, dass die Leute sich fragen, ob ich ihn getötet habe oder nicht. Die Geschichte sollte lauten, dass ich von seinem Tod erfuhr und so wütend war, dass ich die Kontrolle über mich verlor. Aber diese idiotische Frau hat darauf bestanden, dass er noch lebte, als ich den Weinkeller in die Luft sprengte – und dabei unterschlagen, dass sie gar nicht in der Lage war, so etwas zu wissen, da sie nicht mehr vor Ort war, als ich eintraf.”

Malriel schloss die Augen. Schließlich nahm sie doch Platz, lehnte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie saß mehr als eine Minute lang in dieser Position, bevor ihre gedämpfte Stimme hinter ihren Händen hörbar wurde: “Und du hast nie daran gedacht, mir gegenüber irgendetwas davon zu erwähnen?”

Malhora blickte zum Himmel, als ob sie um Ratschläge für den Umgang mit ihrer unverbesserlichen Tochter bitten wollte. “Ich hätte es getan, wenn ich geahnt hätte, dass du eher auf das Geschwätz eines schwachsinnigen Mädchens hörst, als deiner eigenen Mutter zu vertrauen, dass sie nicht so etwas Törichtes anstellt wie deinen Vater umzubringen.”

Der Schmerz in der Stimme ihrer Mutter ließ Malriel aufblicken. “Was hätte ich denn denken sollen, Mutter?”

“Ich kann dir nicht sagen, was du hättest denken sollen, aber Denken wäre ein guter Anfang gewesen. Du hättest anfangen können, die Ungereimtheiten in den Aussagen dieser Frau vor dem Senat selbst zu untersuchen, anstatt ihr zu glauben, weil es so viel einfacher war, den Tod deines Vaters auf mich zu schieben, als dich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass das Leben manchmal grausam und ungerecht ist.”

Eryn erstarrte beim dem Anblick, wie Malriels Schultern zu zittern begannen, während stumme Tränen über ihr Gesicht liefen. Malriel von Haus Aren, die von ihren Gefühlen überwältigt wurde, nachdem ihr bewusst geworden war, dass sie ihre eigene Mutter dreieinhalb Jahrzehnte lang ohne triftigen Grund abgelehnt hatte. Was für ein Anblick!

Malhora betrachtete ihre Tochter, offensichtlich unsicher, wie sie auf diesen ungewöhnlichen Ausdruck von Trauer und Verletzlichkeit bei einer Tochter reagieren sollte, die so viele Jahre lang nie gewagt hatte, irgendeine Form von Schwäche zu zeigen.

Enric stupste Eryn in die Seite und flüsterte: “Sag etwas.”

Entsetzt blickte sie zu ihm auf. “Was soll ich denn sagen?”

“Sie sind beide hilflos, wie sie im Moment miteinander umgehen sollen. Was auch immer du sagen wirst, wird eine Erleichterung für sie sein”, beharrte er.

Eryn sah die beiden Frauen an. Er hatte Recht. Malhora sah aus, als wolle sie ihre Tochter umarmen, wagte es aber nicht, aus Angst, weggestoßen zu werden, und Malriel erweckte den Eindruck, als hätte sie genau diese Umarmung bitter nötig. Sie räusperte sich.

“Ich hoffe, ihr habt beide etwas daraus gelernt”, ermahnte sie die beiden streng und verschränkte die Arme. “Ihr seid beide Idioten! Ich meine – die eine von euch hegt aufgrund eines Gerüchts einen Groll und macht sich nicht die Mühe, ihre eigene Mutter damit zu konfrontieren, und die andere merkt, dass ihre Tochter sich von ihr entfernt, ohne nach den Gründen zu forschen. Die Schuld für diese unglaubliche Dummheit könnt ihr zu gleichmäßig zwischen euch aufteilen.”

Beide blickten mit einem Stirnrunzeln zu ihr auf.

Enric schüttelte schwach den Kopf. “In Ordnung, ich bekenne meinen Irrtum. Du hast es geschafft, sie beide zu verärgern. Was für eine Leistung.”

Eryn schnitt eine Grimasse. “Das funktioniert normalerweise!”

“Nur wenn man zwei Leute davon abhalten will, sich zu streiten, indem man ihre Wut auf sich selbst lenkt. Sie haben sich nicht gestritten. Bis berade eben waren sie noch nicht einmal wütend.”

“Also schön, oh großer Friedensbringer, was schlägst du dann vor? Eine Gruppenumarmung?”

Er grinste. “Das würde mir gefallen.” Kurzerhand schritt er auf die beiden Frauen zu und zog sie in eine Umarmung. Dann sah er seine Gefährtin an. “Kommst du?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Nein. Ich will zuerst sehen, ob du das überlebst.”

Malriel seufzte und streckte ihre Hand aus. “Komm schon, Maltheá! Das ist eine derart absurde Situation, dass du dich ebenso gut anschließen kannst.”

“Genau”, mischte sich Enric ein. “Ohne dich werden sie keine Balladen über die Nacht singen können, in der ich auf den traurigen Überresten der Aren Residenz stand und die drei beeindruckendsten Frauen des ganzen Landes in meine Arme schloss.”

Sie musste grinsen und trat schließlich auf die seltsame Gruppe zu, spürte, wie sich warme Arme um sie schlossen und sie heranzogen.

Malhora, die noch ein paar Sekunden lang eine etwas steife Haltung beibehielt, entspannte sich schließlich und schüttelte den Kopf, soweit das möglich war. “Du bist ein sonderbarer Zeitgenosse, Enric von Haus Aren.”

“Sei nett zu ihm, Großmutter. Dank ihm gibt es neues Blut in der Aren-Linie. Ich wette, nach weiteren hundert Jahren hätte uns diese ganze Zuchtpolitik zusätzliche Ohren oder überschüssige Zehen beschert”, murmelte Eryn.

“Halt die Klappe, du vorlautes Ding, und sag mir lieber, wie du unsere Residenz wieder aufzubauen gedenkst.”

“Das werde ich – im Austausch dafür, dass du mir erzählst, wie du den Angriff auf dein Anwesen überlebt hast und bei einem Wüstenstamm gelandet bist.”

Sie lösten die Umarmung, und Malriel nickte, während sie sich lächelnd eine Träne von der Wange wischte. “Ja, ich muss zugeben, das würde mich auch sehr interessieren.”

Malhora zuckte mit den Schultern. “Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich wurde bei dem Angriff verletzt, konnte mich aber auf dem Dach verstecken. Als sie weg waren, habe ich mich so gut wie möglich geheilt und mich in die Wüste begeben. In der Nähe gibt es einen Brunnen, von dem ich weiß, dass die Wüstennomaden dort gerne ihre Wasservorräte auffüllen. Also habe ich gewartet, bis sie endlich auftauchten. Ich habe mit ihrem Häuptling ausgehandelt, dass er mir für eine Weile ein paar seiner jungen Männer überlässt, und dann habe ich mich auf die Suche nach dem Kerl gemacht, der die unter meinem Schutz Stehenden getötet hat, um es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.”

Eryn begann zu lachen. “Du hast einfach einen Wüstenstamm übernommen und hast dich auf die Jagd begeben?”

“Nicht den ganzen Stamm, nur einen Teil davon, und das auch nur für kurze Zeit”, berichtigte ihre Großmutter achselzuckend. “Sie waren willig genug, sich zu fügen, da ich regelmäßig mit ihnen Handel treibe und meine Türen für sie offen halte, wenn sie während eines Sandsturms in der Nähe sind und Schutz brauchen. Sie haben mir sogar ihren kleinen Trick beigebracht, wie man sich unter der Oberfläche bewegt. Dazu braucht man natürlich Magie, und einige von ihnen haben zumindest ein wenig davon. Wir sind ihm eine ganze Weile gefolgt, aber dann erreichte er Takhan, nachdem er sich von einem Teil seiner Truppe abgespalten hatte. Ich beschloss, abzuwarten und festzustellen, ob er versuchen würde zu fliehen. Zehn meiner Männer behielten die gesamte Umgebung der Stadt im Auge und informierten mich, sobald er aus der Barriere heraustrat. Und auf sandigen Untergrund.” Sie hob die Brauen. “Und nun zur Residenz.”

Eryn atmete aus, sah sich um und nahm den deprimierenden Anblick dessen, was ihr Zuhause hätte werden sollen, in sich auf. “Nun, ich werde sie natürlich wiederaufbauen lassen. Aber dieses Mal werde ich dafür sorgen, dass der Platz richtig genutzt wird. In diesen übermäßig ausgedehnten Gärten lassen sich problemlos zwei Wohngebäude unterbringen. Eines für das Oberhaupt des Hauses und das andere für den Fall, dass ein anderes Mitglied unserer Familie in den Rang eines Triarchen aufsteigt und eine Unterkunft benötigt, die diesem Status angemessen ist.”

Malriel starrte sie mit offenem Mund an. “Willst du mir sagen, Maltheá, dass du bereit bist, auf demselben Stück Land zu leben wie ich?”

Eryn lächelte, froh, dass es ihr gelungen war, ihre Mutter aus ihrer gedrückten Stimmung zu reißen. “Ja. Aber gib dich keinen Illusionen hin – dein Gebäude wird so weit wie nur irgendwie möglich von meinem entfernt sein. Wir werden uns einen Garten teilen, aber sicher keinen Haushalt. Und wenn du meinst, alle paar Tage einen deiner lästigen gesellschaftlichen Anlässe veranstalten zu müssen, dann sorge dafür, dass sie nicht in meine ruhige und harmonische Residenz überschwappen.”

Malriel bedurfte ein paar Augenblicke, um sich von dieser Ankündigung zu erholen, dann lächelte sie. “Soweit ich weiß, wäre das das erste ruhige und harmonische Aren-Zuhause überhaupt. Aber ich nehme deinen Vorschlag gerne an. Natürlich wirst du an meinen geselligen Zusammenkünften teilnehmen. Und zwar mit Freuden. Das Oberhaupt von Haus Aren wird sich nicht in seiner Höhle verkriechen, sondern seinen Pflichten nachkommen, zu denen auch die Pflege von Bündnissen mit anderen Häusern und anderen nützlichen Kontakten gehört.”

“Ich bin sicher, es wird mehr als genug Gelegenheiten geben, das zu diskutieren.”

Malriel lächelte. “Darauf darfst du dich getrost verlassen.”

“Wenn mir nicht gefällt, was du sagst, könnte ich dich allerdings rauswerfen.”

“Das wirst du nicht tun. Es würde auch bedeuten, deinen Vater hinauszuwerfen. Dazu wärst du niemals imstande.”

Eryn winkte ab. “Gewiss nicht. Er kann natürlich bleiben.” Sie spürte, wie das Geplänkel ihr eigenes Herz erleichterte, als ob das Festhalten an etwas, das ihr in den letzten Jahren so vertraut geworden war, seltsam tröstlich war, ungeachtet der Tatsache, dass der feindselige Unterton nun fort war. Malriels Miene verriet ihr, dass es ihr ebenso erging.

“Ich hatte gehofft, Haus Roal mit dem Bau beauftragen zu können.”

Malhora verschränkte die Arme. “Nein. Ich bin entsetzt, dass du das überhaupt in Erwägung ziehst, nachdem, was ich dir gerade offenbart habe.”

Eryn straffte die Schultern. Sie würde lernen müssen, sich gegen die beiden ehemaligen Oberhäupter von Haus Aren zu behaupten, wenn sie die Familie jemals so führen wollte, wie es ihr angemessen erschien. Und kein Zeitpunkt war dafür so geeignet wie die Gegenwart.

“Sie haben jetzt ein anderes Hausoberhaupt – und ich habe keinen Grund zu glauben, dass Amgil von Haus Roal unvernünftig ist. Ich werde ihm eine Möglichkeit anbieten, die Angelegenheit zu regeln, indem er einer Entschädigungszahlung für die Handlungen seines Hauses in der Angelegenheit mit meinem Großvater zustimmt. Wenn er sich darauf einlässt, kann er auch in Naturalien zahlen, indem er uns einen besonders vorteilhaften Preis für den Wiederaufbau unserer Residenz anbietet.”

“Meine Ehre wurde damals beleidigt”, schniefte Malhora. “Das ist nichts, was sich mit irgendeiner Menge an Gold begleichen lässt.”

Malriel rollte mit den Augen. “Was für eine unfassbare Behauptung, Mutter! Was willst du von ihnen, um das zu regeln? Eine öffentliche Entschuldigung?”

Eryn seufzte. Noch bevor sie offiziell das Amt übernahm, versprach ihre künftige Position bereits eine Herausforderung zu werden. “Ich werde sehen, was ich tun kann.”

“Fordere eine höhere Entschädigungszahlung, als du ursprünglich vorhattest”, schlug Malriel vor, “und biete dann an, sie im Gegenzug für eine öffentliche Entschuldigung zu senken.”

Eryn seufzte. “Ja, Mutter. Natürlich, Mutter. Danke für die Annahme, dass ich mit den elementarsten Verhandlungsprinzipien nicht vertraut bin. Du weißt, dass der zweite Wohnsitz noch nicht gebaut ist, und ich meine Pläne zu diesem Zeitpunkt problemlos ändern kann, nehme ich an? Vielleicht hat mein Gefährte ohnehin Vorbehalte dagegen, so nahe bei dir zu wohnen. Vor allem, wenn du nicht aufhörst, mich wie ein Kind zu behandeln.”

Malhora begann, die Fackeln zwischen den Trümmern zu löschen. “Lasst uns zu eurem Haus zurückkehren. Ich bin müde. Ich habe natürlich das große Schlafzimmer bezogen.”

Malriel grinste, während Eryn resigniert die Augen schloss. Diese Frau kannte keine Grenzen. Keine von beiden. “Natürlich, Großmutter.”

Sie musste dafür sorgen, dass Malhoras Anwesen so rasch wie nur irgendwie möglich wiederaufgebaut wurde.

 

Kapitel 2

Eine königliche Überraschung

Mit jeder verstreichenden Minute spürte Enric, wie seine Ungeduld ein Stück weit wuchs. Schon vor einiger Zeit hatten sie die ersten Schiffe am Horizont gesichtet, die nach mehreren Wochen die aus Takhan evakuierten Bewohner zurückbrachten. Darunter Pe’tala und damit auch ihr neugeborener Sohn – sofern er seinen Aufenthalt in dem zwar komfortablen, aber letztendlich doch etwas beengten Quartier nicht über Gebühr verlängerte.

Auf den Schiffen würden auch die Senatoren von Takhan zurückkehren, die nur einen Tag Zeit hatten, sich in ihren Wohnstätten einzufinden, bevor sie aufgerufen waren, sich gegen oder für den Einmarsch in Pirinkar zu entscheiden. In seiner Funktion als Anführer des Ordens stand es für ihn außer Frage, ob dies eine vernünftige Vorgehensweise war oder nicht. Die Bedrohung war noch immer nicht vollständig abgewendet, so dass die Rückkehr der Truppen nach Anyueel das Risiko eines weiteren Krieges in absehbarer Zeit in sich barg.

Doch als Vater war der Gedanke an eine verlängerte Trennung von seinem Sohn quälend. Der Anblick der zahlreichen Kinder und ihrer Wiedervereinigung mit ihren Familienangehörigen, während er sich selbst genau danach sehnte, erleichterte ihm die Sache nicht unbedingt.

Er und Eryn standen in der Menge, ausnahmsweise nicht in ihrer offiziellen Funktion als Ordensleitung, und das war eine Erleichterung. Die Triarchie und der König standen in der vordersten Reihe und waren die ersten, die die Rückkehrer willkommen hießen.

Valrad rieb sich eifrig die Hände. “Das erste Schiff sollte jeden Moment anlegen! Ich hoffe, unsere Familie ist an Bord! Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen und mich zu vergewissern, dass es ihnen allen gut geht. Und mein neuestes Enkelkind kennenzulernen.”

“Ja”, kommentierte sein Sohn, “das hoffe ich auch, sonst muss ich dich ausschalten, damit du nicht so ungeduldig herumzappelst.”

“Das kannst du natürlich versuchen, mein Sohn, aber da ich jetzt damit rechne und nebenbei auch stärker bin als du, könnte das zu einem anderen Ergebnis führen als dem, das du beabsichtigt hast”, drohte sein Vater, wandte sich aber sogleich wieder den herannahenden Schiffen zu.

“Ihr wisst nicht einmal, ob er schon auf der Welt ist”, bemerkte Eryn. “Pe’talas Bauch könnte immer noch riesig und sie selbst noch reizbarer sein als zuvor.”

“Welch erfreulicher Gedanke”, seufzte Rolan neben ihr, dem vor dieser Möglichkeit unverkennbar graute.

“Wenn das Kind noch immer nicht da ist, werde ich die Geburt einleiten”, erwog Valrad. “Ich missgönne einem Baby keine zwei zusätzlichen Wochen, wenn es sie braucht, aber alles, was darüber hinausgeht, führt nur zu Komplikationen während der Geburt.”

Enric lächelte milde. “Ich bezweifle kaum, dass Pe’tala es geschafft hätte, die Heiler um sie herum zu überreden, ihrem Sohn in diesem Fall einen freundlichen Schubs zu verpassen.”

Eryn erinnerte sich, dass Heiler auf so etwas für gewöhnlich nicht allzu freundlich reagierten. In ihrem eigenen Fall hatten die Überredungsversuche – und gelegentlich auch Drohungen – gegenüber ihren Heilerkollegen nicht den Zeitpunkt der Geburt betroffen, da Vedric ein wenig zu früh aufgetaucht war. Aber sie hatte hitzige Diskussionen darüber geführt, wie lange sie den goldenen Gürtel danach tragen sollte, damit sie nicht in Versuchung geriet, Energie und Substanz, die sie für das Stillen ihres Kindes brauchte, für die Beschleunigung eines Heilungsprozesses aufzuwenden, der gemächlich und in dem Zeitraum ablaufen sollte, den die Natur für angebracht hielt.

Enric fragte sich, wie Pe’tala auf die Nachricht reagieren würde, dass Malriel und Malhora vorerst, nämlich bis die neuen Aren-Residenzen bezugsfertig waren, ihr Zuhause teilen würden. Da die Vel’kim-Residenz die Heiler aus Anyueel beherbergte, gab es für Malriel und Valrad kaum einen anderen Ort, an dem sie unterkommen konnten. Zumindest nicht, wenn sie das Gerede der Leute vermeiden wollten. Malriel würde im Moment bei so ziemlich jedem Haus Unterschlupf finden, wenn sie bekannt gab, dass sie eine Bleibe benötigte – sogar bei den Häusern, die in Opposition zu Aren standen. Die derzeit mächtigste Person des Landes war jemand, dem jedes Hausoberhaupt und jeder Senator gefallen wollte – oder zumindest vermeiden wollte, ihren Unmut auf sich zu ziehen.

Aber wenn ihre eigene Tochter eine Residenz besaß, die geräumig genug war, um sie zusätzlich zu den beiden Familien, die sie bewohnten plus Malhora unterzubringen, würde es doch einen seltsamen Eindruck hinterlassen, wenn Malriel woanders logierte – ungeachtet dessen, wie angespannt die Situation mit drei Aren-Frauen unter demselben Dach mit der Zeit zwangsläufig werden musste.

Mit Malhora, das wusste Enric, hatte Pe’tala keine Schwierigkeiten. Malhora machte keine Unterschiede und behandelte Pe’tala mit der gleichen strengen Zuneigung wie ihre eigene Enkelin. Das Gleiche galt für deren Kinder.

Und auch wenn sich die Beziehung zwischen Pe’tala und Malriel im Laufe der letzten Jahre von offener Feindseligkeit zu einer Beziehung des Respekts und der vorsichtigen Zuneigung gewandelt hatte, war das Teilen eines gemeinsamen Haushalts doch noch einmal eine ganz andere Dimension.

“Wer wird es ihr sagen?” fragte Enric die Umstehenden.

“Wem was sagen?”, wollte Valrad verwirrt wissen. Allerdings war er der Einzige, dem unklar war, wer wovon unterrichtet werden musste.

Vran’el grinste. “Dass du und Malriel vorläufig in ihr Heim eingezogen seid.”

Der Heiler runzelte missbilligend die Stirn. “Ich glaube nicht, dass das Zusammenleben mit ihrem eigenen Vater und ihrer Stiefmutter eine dermaßen große Belastung für sie sein wird. Sie und Malriel haben sich in letzter Zeit ausgesprochen gut verstanden.”

“Das heißt aber nicht, dass das Zusammenleben deshalb besonders harmonisch sein wird”, widersprach Rolan.

Vran’el zuckte mit den Schultern. “Wahrscheinlich ist Pe’tala aber froh, in ein intaktes Haus in einer unbesetzten Stadt zurückzukehren und wird solche Kleinigkeiten wie einen ungebetenen Gast beiseite schieben.” Sein zweifelnder Ton verriet, dass er sich durchaus bewusst war, welch optimistischen Vorstellungen er sich hier hingab.

“Ja”, erwiderte Eryn langsam, “aber wir sprechen hier von Pe’tala. Sie wird unter Schlafentzug leiden, weil sie ihr Neugeborenes alle paar Stunden stillen muss. Von der verbleibenden Erschöpfung ganz zu schweigen. Kaum ein Zustand, in dem sie sich als übermäßig nachsichtig oder diplomatisch erweisen wird.”

“Ihr solltet euch schämen, eure Schwester so zu verleumden, wo ihr doch froh sein solltet, sie bald wieder bei euch zu haben”, tadelte Valrad, doch in seiner Miene lag ein Hauch von Sorge, der darauf hindeutete, dass er die Besorgnis seiner Kinder insgeheim teilte, sich aber verpflichtet fühlte, sein jüngstes Kind zu verteidigen.

Eryn und Vran’el warfen einander einen amüsierten Blick zu, enthielten sich aber in unausgesprochenem Einverständnis jeglichen Kommentars.

Sie alle beobachteten aufmerksam, wie das erste Schiff in den Hafen einlief und wenig später direkt vor ihnen am Pier anlegte. Die Minuten schienen sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, bis der Landungssteg geräuschvoll an seinen Platz geschoben wurde und die ersten Passagiere von Bord gehen konnten. Unter ihnen befanden sich bekannte Gesichter, nicht aber jene, nach denen sie Ausschau hielten.

Die Menschen um sie herum brachen in Jubel aus, sobald sie ihre Liebsten entdeckten, und drängten sich an denen vorbei, die noch immer angespannt warteten. Tränen flossen in Strömen, als Familienmitglieder einander in die Arme fielen, unsagbar erleichtert, einander lebend und unverletzt vorzufinden.

Nach einigen weiteren Minuten hatte der letzte Passagier den Steg überquert, so dass eindeutig feststand, dass Pe’tala und Intrea mit ihren Kindern nicht unter den Passagieren dieses Schiffes gewesen waren.

Sie folgten dem Hafen ein Stück weiter hinab zur nächsten Anlegestelle, wo gerade ein anderes Schiff vertäut wurde. An der Reling winkten Erwachsene aufgeregt, mehrere von ihnen mit Kindern auf einem Arm. Die Jüngeren, denen das Verständnis für die Situation noch fehlte, wirkten je nach persönlicher Veranlagung entweder verwirrt angesichts des ganzen Trubels oder ließen sich mitreißen und ritten auf der Welle der Ausgelassenheit und Freude.

“Siehst du sie?”, fragte Rolan und ließ seinen Blick über die Menschen schweifen, die begierig darauf warteten, von Bord zu gehen.

“Nein”, antwortete Eryn, ebenso ungeduldig.

Es erwies sich, dass auch dieses Schiff nicht das gesuchte war.

Sie bewegten sich zur nächsten Anlegestelle weiter flussabwärts, wo gerade ein weiterer Steg vorbereitet wurde, um ein Schiffsdeck mit der Anlegestelle zu verbinden.

“Da! Ich sehe sie!”, rief Rolan plötzlich, wobei er ungeduldig das nächste verfügbare Handgelenk packte, das er blind fand – jenes von Vran’el – und sich rücksichtslos an den Menschen vorbeidrängte, die sich in tränenreichen Umarmungen befanden, wobei er nicht einmal davor zurückschreckte, mitten durch wiedervereinigte Familien zu pflügen, die gezwungen waren, entweder flink zur Seite zu weichen oder zu Kolateralschäden zu werden.

Enric lächelte, als er sie entdeckte, wie sie an der Reling stand, in einem Arm etwas, das wie ein kleines Bündel aussah, das genau die richtige Größe für ein Baby hatte, während der andere Arm auf Rolan deutete. Direkt vor ihr war der Kopf eines Kindes erkennbar, das gerade groß genug war, um über das Geländer zu spähen. Ihre Tochter Zahyn, die aufgeregt auf und ab zu springen begann, als sie ihren Vater in der Menge entdeckte. Ihre Mutter drehte sich vorsichtig zur Seite, um den kleinen Jungen davor zu schützen, vor Aufregung von unten gestoßen zu werden.

Intrea, die direkt neben Pe’tala stand, zeigte auf Vran’el, woraufhin das Gesicht ihrer eigenen Tochter beim Anblick ihres Vaters aufleuchtete.

Rolan wurde plötzlich seltsam ruhig und schloss die Augen.

Enric legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Ist alles in Ordnung mit dir?”

Der jüngere Mann nickte. “Es geht ihnen gut. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich wurde von bösen Träumen geplagt, in denen die Geburt schief ging oder ihr Unterschlupf von feindlichen Truppen entdeckt wurde…” Er sah erschöpft aus, als sei es vor allem die Anspannung gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatte. Eine Anspannung, die nun von ihm abfiel und durch eine ungeheure Erleichterung ersetzt wurde, die auch mit dem Verlangen des Körpers nach etwas Ruhe einherging, jetzt, wo klar war, dass seine schlimmsten Befürchtungen unbegründet gewesen waren. Rolan richtete sich auf, eindeutig noch nicht bereit, diesem Verlangen nachzugeben. Er wollte seine kürzlich erweiterte Familie willkommen heißen.

Nach einer weiteren quälend langen Wartezeit schritt Pe’tala schließlich auf sie zu, wobei sie darauf achtete, nicht von den ungeduldigen Rückkehrern um sie herum angerempelt zu werden und ihr kostbares Bündel sicher zu transportieren.

Dann stand sie vor ihnen und lächelte ihren Gefährten an, der seine Arme mehrmals wortlos hob und senkte, während sich Feuchtigkeit zwischen seinen Augenlidern sammelte.

Pe’talas Gesichtsausdruck wurde weich, als sie ihren Sohn in Enrics Hände drückte. “Nimm ihn mir kurz ab, ja?”

Dann zog sie Rolan in ihre Arme, drückte ihn an sich und wurde ebenfalls fest umarmt.

“Ich habe mir solche Sorgen gemacht…”, flüsterte er.

“Und ich mir um dich”, erwiderte sie und drückte ihre Wange an seine. “Wir haben keine Nachricht von Takhan erhalten, und ich hatte Alpträume, dass du verletzt sein könntest…”

Rolan löste seine Umarmung lange genug, um seine Tochter mit einem Arm hochzuziehen, damit er sie beide gleichzeitig halten konnte.

Eryn schluckte angesichts der Freude und Erleichterung, des vollkommenen Glücks, und schob den Gedanken beiseite, was sie dafür geben würde, jetzt ihren eigenen Sohn in die Arme schließen zu können. Stattdessen betrachtete sie das Bündel in Enrics Armen.

“Meine Güte”, seufzte sie, “ich vergesse immer wieder, wie winzig sie anfangen. Sieh nur, wie viele Haare er schon hat!”

Valrad neben ihr war hin- und hergerissen zwischen dem Warten darauf, dass seine Tochter ihren Gefährten losließ, um ihren Vater zu begrüßen, und der Hinwendung zu diesem Enkelkind. Nach einigen Sekunden der Ungewissheit entschied er sich schließlich, das neueste Familienmitglied zu untersuchen.

“Gib ihn mir, ja?”, bat er Enric und lächelte, als sich die blauen Augen zu ihm erhoben und sich die kleinen rosafarbenen Lippen wie vor Erstaunen öffneten.

Vran’el hatte in der Zwischenzeit Intrea und Obal erreicht, hob seine Tochter in die Luft und bedeckte ihre Wangen und Stirn mit Küssen. “Mein kleiner Wildfang – ich bin so froh, dich endlich wiederzuhaben! Es war furchtbar ruhig und langweilig ohne dich in der Stadt!”

Das zwölfjährige Mädchen kicherte. “Aber du hattest doch Krieg hier! Ruhig kann es also gar nicht gewesen sein!”

Vran’el schüttelte den Kopf, sein Blick war todernst. “Nachdem ich an dich gewöhnt war, mein kleiner Wirbelwind, habe ich von der Aufregung des Krieges kaum etwas bemerkt.”

Intrea lächelte Vran’el an und küsste ihn auf die Wange, nachdem sie von ihren Familienmitgliedern, die zur Verteidigung Takhans geblieben waren, umarmt worden war. “Wie immer ein Charmeur, Vran. Ich bin so froh, dich unversehrt vorzufinden. Hast du den Feind im Alleingang in die Flucht geschlagen, mein tapferer Gefährte?”, erkundigte sie sich grinsend.

“Gewiss – in diesem Moment komponieren sie Balladen über meine Heldentaten”, erwiderte er und nahm eine Pose ein, die er für heroisch hielt, indem er mit erhobenem Kinn und aufgeblähter Brust in die Ferne blickte.

“Ist das wahr, Eryn?” rief Obal in Richtung ihrer Tante.

Eryn wackelte mit dem Kopf, um anzuzeigen, dass ihr Bruder vielleicht etwas übertrieben hatte. “Vielleicht nicht ganz allein. Wir haben ein wenig geholfen. Aber dein Vater war ein tapferer Mitstreiter, der keinerlei Furcht gezeigt hat. Du hast auf jeden Fall Anlass, stolz auf ihn zu sein.”

Zufrieden schlang ihre Nichte ihre Arme um ihren Vater, den Kriegshelden.

Pe’tala, Rolan und Zahyn hatten sich endlich voneinander gelöst und waren nun bereit, den Rest der Familie zu begrüßen.

Pe’tala umarmte ihre Schwester und seufzte. “Ich bin so erleichtert, dass Enric es geschafft hat, dass dir nichts passiert ist. Diese Idioten bestehen darauf, dich in die Schlacht zu schicken, obwohl das weder deinen Wünschen, noch deinen Fähigkeiten entspricht.”

Eryn antwortete nicht darauf, sondern genoss die Wärme und Nähe ihrer kleinen Schwester. Dies war kein guter Zeitpunkt um zu erwähnen, dass sie sich im Krieg deutlich tüchtiger erwiesen hatte als ihr lieb war.

“Ich gebe dir zehn Goldstücke, wenn du mir den goldenen Gürtel abnimmst”, flüsterte Pe’tala ihr ins Ohr.

Eryn lachte, zog sich zurück und schüttelte den Kopf. “Nein, Teuerste – Vaters Rache in Kauf nehmen zu müssen ist kaum zehn Goldstücke wert.”

“Wie viel Gold wäre es denn wert?”, fragte die jüngere Schwester mit einem schiefen Grinsen.

“Mehr als du besitzt, fürchte ich.”

Valrad, der seinen Enkel nur widerwillig an Rolan weitergegeben hatte, wandte sich seiner Tochter zu und zog sie in eine feste Umarmung. Doch nicht ohne sie zu belehren.

“Wenn man bedenkt, dass du eine Heilerin bist, Tala, sollte ich dich nicht daran erinnern müssen, warum das Tragen des goldenen Gürtels eine wichtige Vorsichtsmaßnahme für frischgebackene Mütter ist, die zufällig Magierinnen sind. Wie du sehr wohl weißt, gibt es eine gewisse Tendenz zu…”

Eryn lachte leise und zwinkerte ihrer Schwester zu. “Willkommen zurück.”

*  *  *

Angenehm gesättigt schloss Eryn die Augen und lehnte sich auf den Sitzkissen in ihrer Residenz zurück, zufrieden mit sich und der Welt. Um sie herum schnatterte das lebhafte Geschwätz ihrer Familie und Freunde, neben ihr Vern, der gerade mit Stift und Papier beschäftigt war und Pe’tala zeichnete, während sie ihren Sohn stillte.

Die Aromen der Mahlzeit, die sie gerade beendet hatten, hingen noch in der Luft. Ein wenig von dem goldenen Licht des Abends, das den weiten Raum durchflutete, drang durch ihre geschlossenen Augenlider, leicht rötlich gefärbt durch die winzigen Blutgefäße darin.

Im Hintergrund hörte sie das fröhliche Geschrei ihrer Nichten Zahyn und Obal, die trotz ihres Altersunterschieds immer noch gelegentlich ein Spiel fanden, das sie beide erheiterte. Sie stellte sich vor, dass Vedric draußen bei ihnen war, im Garten herumlief und sich hinter Büschen und Bäumen versteckte.

Die Rückkehr der Kinder in die Stadt ließ sie die Abwesenheit ihres Sohnes noch schmerzlicher spüren. Es war leichter zu akzeptieren, dass sie getrennt sein mussten, solange Takhan kein sicherer Ort war, doch das war jetzt nicht mehr der Fall. Die Kinder waren zurück. Alle außer Vedric.

Sie versuchte, sich einen Grund auszudenken, warum es vernünftig und logisch sein sollte, nach Anyueel zurückzukehren, bevor sie nach Pirinkar marschierte. Die Tatsache, dass es alles andere als vernünftig oder logisch war, erleichterte die Sache nicht. Es war nichts weiter als ein verzweifelter Versuch, ihren Sohn wiederzusehen.

Warme Finger schlossen sich um ihre Hand, und sie lächelte, weil sie spürte, wie Enrics bloße Berührung ihr immer noch Trost zu spenden vermochte.

Das Essen war lebhaft gewesen, da alle abwechselnd Pe’tala über die Geschehnisse des Krieges informiert hatten, bis hin zu den unglaublichen Ereignissen, die ihn beendet hatten. Nämlich das Auftauchen von angeblicher Verstärkung für Etor Gart, die sich dann als Neleds Verbündete herausgestellt hatte, und das Erscheinen von Malhora, die die dramatischste Rückkehr von den Toten vollzogen hatte, die auch nur entfernt vorstellbar war – indem sie den Schurken persönlich beseitigte. Und zwar nicht mit einem magischen Blitz aus der Ferne, sondern auf so persönliche und spektakuläre Weise, die den Stoff für Legenden bot.

Eryn fragte sich, ob Enric es vorgezogen hätte, den Mann persönlich ein Ende zu setzen. Hätte er es auf kurze und leidenschaftslose Weise getan? Sie vermutete es. Er war kein Mann, der sich am Leid eines anderen ergötzte, unabhängig davon, womit der Betreffende es verdient hätte.

Und sie selbst? Sie hatte davon geträumt, Etor Gart zu beseitigen. Auf unzählige unterschiedliche Arten. Ihn über eine Klippe zu stoßen, ihn in einem Fluss zu ertränken, ihn in einem luftdichten Schild zu ersticken, ihn mit einem mächtigen Magieblitz zu erschlagen, ihm aus einer Distanz, die nahe genug war, um ihm in die Augen zu sehen und den Schmerz darin zu erkennen, goldene Pfeile in die Brust zu schießen… Sie war froh, dass dieser Mann sein Ende gefunden hatte, ohne dass sie sich einem weiteren Abgrund annähern musste, der ihr das gesamte Ausmaß an Grausamkeit offenbart hätte, zu dem sie imstande war. Sie wusste, dass die Versuchung, jenen Mann zu foltern, der Enric diese furchtbaren Dinge angetan hatte, möglicherweise zu groß gewesen wäre, um ihr zu widerstehen.

Doch nun war er tot, und sie musste nicht länger mit sich ringen, ob sie ihn schnell töten und sich ihrer Rache berauben oder es hinauszögern und in den nächsten Jahrzehnten mit ihrer Tat leben sollte.

Sie öffnete die Augen wieder, und ihr Blick wanderte zu Malhora, die wie eine zufriedene Großmutter inmitten ihrer Familie thronte. Keine Spur mehr von der tödlichen Feindin, in die sie sich verwandelt hatte, als es galt, die unter ihrem Schutz Stehenden zu rächen, die zu Schaden gekommen waren. War sie nicht einen einzigen Moment lang versucht gewesen, seinen Todeskampf in die Länge zu ziehen, ihren Rachedurst durch seine Qualen zu stillen?

Malhoras Blick traf den ihren, und sie hob eine fragende Augenbraue. “Was geht dir durch den Kopf, Maltheá?”

Die Frage war in leisem Ton gestellt worden, doch die kleinen Unterhaltungen um sie herum verstummten, als ahnten alle Anwesenden, dass etwas Bedeutsames folgen würde.

Eryn empfand in der plötzlichen Stille um sie herum einen Hauch von Unbehagen. Sie hätte es vorgezogen, sich in einem privateren Rahmen darüber zu unterhalten. Aber sie befand sich unter Menschen, die sich um sie sorgten, sie liebten.

“Als du Etor Gart getötet hast, hast du ihm einen schnellen Tod gewährt.”

Ihre Großmutter lächelte leise. “Und du hättest das nicht getan?”

Für einige lange Momente begegneten sich ihre Blicke, dann senkte Eryn den ihren. “Ich weiß es nicht. Mein Wunsch ihn zu quälen wäre womöglich zu mächtig gewesen.”

Malhoras Gesichtsausdruck wandelte sich für einen Moment und drückte solch immensen Schmerz und Zorn aus, dass Eryn der Atem im Hals stecken blieb. Innerhalb eines Wimpernschlages war es vorbei, nicht mehr als eine kurze Sekunde, doch es sagte ihr alles, was sie wissen musste. Malhora hätte nichts lieber getan, als das Leiden dieses elenden Mannes hinauszuzögern, ihn zehnfach für das Elend und den Kummer büßen zu lassen, den er ihr und denen, die unter ihrem Schutz standen, zugefügt hatte und noch zufügen wollte. Ungeheure Charakterstärke und die Beherrschung ihrer eigenen Triebe, so erkannte Eryn, hatten Malhora zurückgehalten und ihr geholfen, das zu überwinden, was sie dem Mann, dessen Leben sie auszulöschen beschlossen hatte, ein klein wenig ähnlicher gemacht hätte. Sie hatte nicht zugelassen, dass Etor Garts Taten sie zu etwas formte, das sie nicht sein wollte, wollte nicht erlauben, dass er ihr Erbe korrumpierte, indem ihre Tochter und ihre Enkelin mitansehen mussten, wie sie sich in ein Monster verwandelte.

“Die Frage ist, welchen Preis du dafür zu zahlen bereit bist, dass du solchen Gelüsten nachgibst, Maltheá”, antwortete ihre Großmutter. “In was du dich durch sie verwandeln lässt.” Sie sah ihre Tochter an. “Malriel, ich hoffe, du erinnerst dich daran, was ich dir gesagt habe, was das Wichtigste an einer Position als Anführerin ist?”

Falls die mächtige Obertriarchin der Westlichen Territorien sich daran störte, dass man sie wie ein Schulmädchen aufforderte, ihr Wissen kundzutun, so zeigte sie es nicht. Stattdessen antwortete sie: “Führung beginnt bei einem selbst. Du kannst nicht erwarten, dass andere sich deinen Prinzipien beugen, wenn du selbst keine hast.”

Zufrieden lächelte Malhora. “Sehr wahr.” Sie wurde wieder ernst. “Diesen Mann zu töten war eine Notwendigkeit. Und genau so musste ich es behandeln. Manchmal mag es keinen anderen Weg geben, als Leiden zu verursachen, aber es darf nur sein, um noch größeres Leid zu verhindern. Du darfst niemals zulassen, dass es zu deiner eigenen Befriedigung geschieht. Ganz gleich, wie sehr du dich danach sehnst. Sobald du diesen Weg beschreitest, bist du nicht mehr geeignet, eine Anführerin zu sein.”

Orrin nickte anerkennend. “Wir sollten dich einladen, unsere jungen Ordensmitglieder zu unterrichten, Malhora.”

Eryn schluckte. “Was, wenn… was, wenn es sich als einfacher erweist, andere zu verletzen, als es sein sollte?”, zwang sie sich zu fragen.

Malhoras Augen verengten sich. “Dann musst du dich noch strenger im Griff haben, Kind.”

“Es gibt keinen Grund, dich über Gebühr zu sorgen, Maltheá”, fügte Malriel sanft hinzu. “Ich habe dich oben in Kar beobachtet. Und auch seither ständig. Du hast dich ausgezeichnet im Griff, Tochter. Und du selbst vertraust dir weniger als alle anderen, die dich kennen. Deshalb hast du auch das Heilen aufgegeben.”

“Wie war das?” erkundigte sich Pe’tala leise, aber scharf, und bedeckte sich, nachdem ihr Sohn nun schon zum zweiten Mal während des Essens eingeschlafen war.

Eryn atmete aus, denn sie wusste, dass ihre anfängliche Bemerkung gegenüber Malhora über die Gewährung eines schnellen Todes letztlich dazu führen musste, dass sie denjenigen, die ihr am nächsten standen, das dunkelste ihrer Geheimnisse verriet. Es war eine Entscheidung, die sie getroffen hatte, indem sie das Thema verfolgte. Jetzt musste sie im Grunde nur noch den Mut aufbringen, das zu bestätigen, was diejenigen, die es noch nicht wussten, nun ohnehin bereits zu vermuten begannen.

Den Mut, sich zu ihrem Handeln zu bekennen. Die Kraft, die Konsequenzen zu tragen, die darin bestanden, wie ihre Freunde und Familie sie von nun an sehen würden.

Sie spürte Malriels Blick auf sich und hob ihre Augen, um ihm zu begegnen. Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen ihrer Mutter.

Malhora hatte keine Angst davor, anderen zu zeigen, wozu sie fähig war, und Malriel ebenso wenig. Und Eryn war ihre Erbin, nicht nur eines Namens und einer Position, sondern von etwas, das mehr bedeutete als der Ruf, zu Wutausbrüchen und Familienfehden zu neigen – von einer Reihe von Werten und der Entschlossenheit, sich ihnen zu beugen, sie sich zu eigen zu machen und sie so zu führen, wie ein Ordensmagier gelernt hatte, ein Schwert zu führen. Das war es, was es wirklich bedeutete, Aren zu sein. Die Erkenntnis legte sich über sie und beruhigte ihre innere Anspannung, wie Wasser brennenden Durst stillt.

Sie hob den Kopf. Und sah ihre Schwester an, als sie sich an alle wandte: “Ich habe jemanden gefoltert. Zweimal. Um Informationen zu erhalten, die für den Schutz anderer wichtig waren. Dabei habe ich gegen die Grundsätze des Heilens verstoßen. Ich bin nicht stolz auf das, wozu ich fähig bin. Aber ich werde mich auch nicht dafür entschuldigen.” Dieser letzte Satz war eine Warnung gewesen.

Pe’tala sah sie an, dann nickte sie. “Also gut, Schwester. Ich behaupte nicht, dass ich in der Lage bin zu beurteilen, ob diese Situationen anders hätten gelöst werden können. Ich behaupte auch nicht, dass ich unter solchen Umständen anders gehandelt hätte. Dennoch stimme ich zu, dass du nicht länger eine Heilerin bist.”

Diese letzten Worte zu hören, war schmerzhaft. Eryn antwortete nicht. Bislang hatte sie sich vormachen können, dass dies nur ihre persönliche Meinung war, aber zu hören, dass Pe’tala ihr zustimmte, machte es zur Realität. Sie sah Valrad an, der ihr ein trauriges Lächeln schenkte, was bedeutete, dass er seiner jüngsten Tochter zustimmte.

Sie wusste, dass es eine Tatsache war, ohne darauf vorbereitet zu sein, wie sehr es schmerzte. Und sie erkannte, dass sie sich erst jetzt vollkommen davon verabschiedete, jemals wieder Patienten zu behandeln. Bis sie dem Oberhaupt der Heiler in ihrer zukünftigen Heimat ihre Taten gebeichtet hatte, hatte es noch immer die Möglichkeit gegeben, eines Tages zu dem Beruf zurückzukehren.

Sie stellte fest, dass da nicht nur Schmerz war, sondern auch ein Gefühl von tiefer Erleichterung und Freiheit. Sich anderen gegenüber verletzlich zu machen, war ein mächtiger Akt – einer, den nur die Starken wagten.

Enric hob ihre Hand zu seinem Gesicht und drückte seine Lippen auf ihre Handfläche. “Ich wäre heute vielleicht nicht mehr am Leben, wenn du dich entschieden hättest, an diesen Prinzipien festzuhalten, anstatt mit ihnen zu brechen und schließlich das Heilen aufzugeben. Das ist ein Opfer, das ich niemals vergelten kann. Ich kann mir nur vornehmen, es dich nie bereuen zu lassen.” Er blickte zu den anderen auf. “Die Bendan Ederbren haben einen Begriff für solche Leute. Sie sprechen von einem wahren Krieger. Im Gegensatz zu unserem Verständnis in Anyueel ist ein wahrer Krieger nicht jemand, der sich bereitwillig in die Schlacht stürzt, um sein Leben für sein Land zu geben, wenn es sein muss, und dabei möglichst viele Feinde mitnimmt. Es ist jemand, der sich den Notwendigkeiten beugt, auch wenn es ihn persönlich viel kostet. Sie glauben, dass ein solcher Mensch eine Seltenheit ist. Ich gebe zu, dass ich zuerst ein wenig eifersüchtig war, als sie Eryn zu einer wahren Kriegerin erklärten, aber nur so lange, bis ich verstand, was es wirklich bedeutet und wie gut es sie beschreibt.”

Eryn spürte, wie ihr Herz warm wurde bei diesen anerkennenden Worten, bei diesem Beweis für seine tiefe Zuneigung zu ihr.

“Das ist eure Chance”, verkündete sie und sah jeden von ihnen nacheinander an. “Wenn ihr etwas zu meinen Taten zu sagen habt, dann tut es jetzt.”

Stille trat ein, dann räusperte sich Vern und zuckte mit den Schultern. “Sollte ich jemals gefangen genommen und an einen unbekannten Ort verschleppt werden, könnt ihr meine Entführer gerne foltern. Ich will das nur angemerkt haben.”

“Dem schließe ich mich an”, fügte Vran’el hinzu, wodurch sich die Stimmung wieder etwas löste.

Sie hörten ein Klopfen an der Eingangstür, und Eryn zuckte zusammen. Unangenehme Nachrichten tauchten für gewöhnlich während der Mahlzeiten auf, auch wenn sie streng genommen bereits fertig gegessen hatten.

Enric sprang mit verdächtigem Schwung auf, sodass sich seine Gefährtin fragte, ob er jemanden erwartete.

Der Trubel, der beim Öffnen der Eingangstür von unten hörbar wurde, ließ vermuten, dass mehr als nur eine Person eingetroffen war.

“War das Ram’ans Stimme?”, fragte Vern.

“Und die von Golir, wenn ich mich nicht irre”, fügte Valrad hinzu.

Wenig später tauchte Enric wieder auf, hinter ihm tatsächlich Golir und Ram’an sowie Kilan.

Der Gastgeber lächelte und streckte Eryn seine Hand entgegen, um sie auf die Füße zu ziehen. “Meine liebste Gefährtin, es gibt eine Kleinigkeit, bei der es mir ein Bedürfnis ist, mich jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorüber ist, darum zu kümmern. Ich möchte unser Kommittmentband dritten Grades wiederherstellen und habe mir erlaubt, unsere engsten Freunde und Familienmitglieder einzuladen. Golir hat sich erneut bereit erklärt, die Zeremonie durchzuführen. Vorausgesetzt, du hast keine Einwände. Das wäre sonst etwas peinlich für mich.”

Eryn starrte ihn einen Moment lang völlig überrascht an, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie zog seinen Kopf nach unten und küsste sein Gesicht. “Das fände ich ganz fantastisch.”

Golir sah zu Malriel und Vran’el. “Ich nehme an, die beiden haben die Erlaubnis ihrer jeweiligen Oberhäupter?”

“Natürlich”, stimmte Vran’el für seine Schwester zu.

Malriel bestätigte ihr Einverständnis für Enric mit einem huldvollen Nicken.

“Gut”, fuhr Golir fort. “Wir benötigen eine Menge Magie, die jene der beiden zu verbindenden Personen übersteigt. Was in diesem speziellen Fall keine Kleinigkeit ist. Wer von den Anwesenden möchte sich an der Herstellung des Bandes beteiligen, indem er seine Magie beisteuert?”

Jede einzelne Hand im Raum wurde erhoben. Der Triarch nickte. “Das sollte genügen. Auch wenn es ein wenig eng werden könnte. Gut, dann bitte ich alle, sich zu erheben. Wir sollten uns kurz fassen und die Zeremonie nicht zu sehr in die Länge ziehen, denn es ist bereits das dritte Mal, dass ich euch beide miteinander verbinde. In einem Bund, der eigentlich bis ans Ende eures Lebens bestehen sollte”, fühlte er sich bemüßigt zu betonen.

Eryn unterließ es, darauf hinzuweisen, dass dies kaum ihre Schuld war. Beim ersten Mal hatte Enric es aufgelöst, weil er nach Pirinkar gereist war, um Malriel zu retten, und beim zweiten Mal war es anlässlich des Krieges, den sie gerade gewonnen hatten.

Nachdem sie sich in einem Kreis aufgestellt hatten, der groß genug war, damit alle Platz fanden, aber klein genug, damit sie sich in der Mitte die Hände reichen konnten, sah Golir Eryn an.

“Ich nehme an, du bist bereit, den Bund einzugehen?”

“Das bin ich.”

“Enric, du auch?”

“Von ganzem Herzen.”

“Gut. Ich werde nun meine Magie fließen lassen, und alle anderen folgen meinem Beispiel. Lasst einfach eure Magie einfließen, ich werde sie entsprechend lenken und das Band schmieden.”

Einen Moment später spürte Eryn, wie Wärme in ihre Haut eindrang, durch die Hand, auf die Golir seine eigene gelegt hatte – und auf die auch alle anderen ihre platziert hatten.

Einige Sekunden später ließ die Wärme nach und Golir trat einen Schritt zurück und aus dem recht dicht gedrängten Kreis von Menschen heraus. “Es ist vollbracht. Ich gratuliere. Wieder einmal. Ich erwarte aufrichtig, dass es das letzte Mal sein wird. Ich hoffe, das erscheint nicht unhöflich, aber ich würde jetzt sehr gerne zu meiner Familie zurückkehren.”

Enric nickte. “Vielen Dank, Golir, dass du an deinem ersten Abend mit deiner Familie hierher gekommen bist. Es tut mir leid, dass ich dir einen Teil davon stehlen musste, aber ich war ungeduldig und wollte das erledigt haben.”

Golir lächelte. “Keine Sorge, Enric, es war mir ein Vergnügen.”

Als er weg war, räusperte sich Ram’an. “Ich habe ebenfalls nicht viel Zeit, da meine Töchter auf meine Rückkehr warten, aber ich denke, dieser Anlass rechtfertigt ein Glas des ausgezeichneten Weins, von dem ich weiß, dass Enric ihn hinten in seinem Keller versteckt. Dafür habe ich sicherlich ein paar Minuten Zeit.”

Enric seufzte in gespielter Resignation. “Offensichtlich habe ich ihn nicht gut genug versteckt, wenn du weißt, wo er zu finden ist, Arbil.”

*  *  *

Enric beobachtete von einem der Gästestühle im hinteren Teil des Senatssaals aus, wie sich sowohl die Senatoren, die während des Krieges in der Stadt geblieben waren, wie auch jene, die gerade erst zurückgekehrt waren, auf den Weg zu den ihnen zugewiesenen Plätzen begaben. Dabei hielten sie häufig inne, um Kollegen zu begrüßen, die sie eine Weile nicht mehr gesehen hatten, und freuten sich, sie lebend und unversehrt vorzufinden. Er bemerkte, dass sogar Senatoren aus verfeindeten Häusern ein Lächeln, ein Nicken und ein paar Worte austauschten. Der Krieg hatte erreicht, was in Friedenszeiten nur selten gelang – die Menschen gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinen. Das Hochgefühl eines gut geführten und gewonnenen Krieges machte die Menschen etwas zugänglicher, und das Gefühl von ‘wir’ und ‘sie’ verstärkte sich. Nichts verband die Menschen so stark wie ein rechtschaffener Grund, diejenigen abzulehnen, die nicht zu uns gehörten.

Enric wusste, dass dieses Gefühl in der nächsten Zeit nachlassen würde, da die Erinnerung an die äußere Bedrohung im Laufe der Zeit kaum mehr als das sein würde – eine Erinnerung. Sobald die Schäden in der Stadt und auf den Ländereien der Häuser behoben waren und alles wieder in gewohnten Bahnen verlief, und die Häuser und andere Geschäftsinhaber ihre Verluste wieder ausgleichen konnten, würden die Häuser wieder in erster Linie mit denjenigen verkehren, die ihren eigenen Interessen dienten, und sich an die kleinen Zwischenfälle und Beleidigungen erinnern, die sie veranlasst hatten, sich von bestimmten Personen und den mit ihnen verbundenen Kreisen fernzuhalten. Es würde nicht lange dauern, bis die Stadtmauer als einziges sichtbares Zeichen des Krieges zurückbleiben würde, und die neue Generation und die folgenden würden aufwachsen, ohne Takhan jemals als eine Stadt ohne Befestigungen kennengelernt zu haben.

Aber noch war die Zeit dafür nicht gekommen. Der Feind war noch frisch im Gedächtnis, und die Chancen standen gut, dass der Senat beschließen würde, dass der Krieg noch nicht zu Ende war, dass der endgültige Abschluss darin bestehen musste, Pirinkar klarzumachen, wie wenig wünschenswert ein weiterer Angriff – in ihrem eigenen Interesse.

Er wusste, dass die Chancen für eine Entscheidung zugunsten eines Angriffs auf Pirinkar gut standen – vor allem, wenn bekannt wurde, dass er selbst und Malriel dies unterstützten. Dennoch. Er hatte gelernt, sich nie zu sehr auf ein wünschenswertes Ergebnis zu verlassen. Sich vorschnell zurückzulehnen und darauf zu vertrauen, dass alles so laufen würde, wie er es sich vorstellte, konnte den Weg für unangenehme Überraschungen ebnen. Vor allem, wenn der König involviert war.

Ihm war klar, dass König Folrin, auch wenn er sich nicht offen gegen die Idee aussprach, die Weisheit einer Invasion in Pirinkar mit einer gewissen Skepsis beurteilte. Wofür er auch vernünftige Argumente vorbringen konnte. Sie wussten nur sehr wenig über die Verteidigungsanlagen von Kar – lediglich, dass das scheinbare Fehlen einer Stadtmauer nur irreführen sollte, denn die erste Reihe der Häuser, die wie Wohnhäuser wirkten, war in Wirklichkeit eine geschickt getarnte Festung mit einer Reihe von Kriegsmaschinen. Aber sie wussten nicht, wie groß Pirinkars Armee war, wie groß der Anteil, der in den Süden geschickt worden war – und wie viele davon noch übrig waren, um das Land zu verteidigen. Ein weiterer Punkt war, dass die Unterstützung von Neled und Horam bei ihrem Plan, die Priester aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, bedeutete, eine Seite in einem Bürgerkrieg zu unterstützen, was einen Verstoß gegen die Souveränität eines Landes darstellte. Dieser letzte Punkt war etwas, das König Folrin nur ungern auf sich nehmen würde, da er dies in Anyueel selbst unbedingt vermeiden wollte und daher zögerte, dies auch anderen aufzuerlegen.

Aus Enrics Sicht waren Souveränitätsvorstellungen jedoch kein gültiges Gegenargument mehr, wenn es um ein Land ging, das ohne eine echte Provokation einen Krieg gegen sie angestrengt hatte. Und er hatte noch weniger Verständnis für die königlichen Bedenken hinsichtlich der Bewahrung etablierter Machtstrukturen.

Eryn ließ sich auf einen Platz direkt neben ihm fallen und zeigte wie immer keinerlei Bedenken, wenn es darum ging, auf die Art von Eleganz zu verzichten, die sich Malriel zu eigen gemacht hatte.

“Sollten sie nicht schon angefangen haben?”, fragte sie und sah sich nach den Senatoren um, die sich noch immer unterhielten. “Wo ist diese übertriebene Pünktlichkeit, die sie normalerweise an den Tag legen?”

“Viele von ihnen sind gerade aus den Bergen zurückgekehrt”, erklärte Enric. “Man muss ihnen ein wenig Nachsicht entgegenbringen. Es sind schließlich außergewöhnliche Umstände. Bis vor kurzem wusste niemand, ob es jemals wieder eine Senatssitzung geben würde.”

“Ich weiß”, seufzte sie. “Aber im Moment wäre es mir lieber, wenn sie mit einer gewissen Eile vorgehen würden, denn ich möchte meinen Sohn wiedersehen. Und das wird nicht geschehen, bevor wir uns um Pirinkar gekümmert haben.”

“Vorausgesetzt, sie entschließen sich zu diesem Schritt”, fügte Enric bedächtig hinzu.

“Ja, das immer vorausgesetzt. Allerdings ist ihnen nicht mehr zu helfen, falls sie sich anders entscheiden.”

“Der König hat immer noch ein oder zwei gute Argumente dagegen.”

Eryn schnaubte. “So sehe ich das ganz und gar nicht. Er will nur nicht, dass die Leute auf die Idee kommen, dass der Umsturz existierender Herrschaftsverhältnisse manchmal eine gute Sache sein könnte. Vor allem nicht in einem Königreich, in dem Magier zwar nicht in der Weise unterdrückt werden, wie es in Pirinkar geschieht, aber dennoch gezwungen sind, dem Orden beizutreten.”

Enric lächelte. Da hatte sie nicht ganz unrecht. Ihm selbst und seinen Mitmagiern war beigebracht worden, dass die Zugehörigkeit zum Orden ein großes Privileg sei, und dass die Unterwerfung unter ein paar mickrige Regeln ein so winziges Zugeständnis sei, dass man es nicht einmal als Preis dafür ansehen könne. Aber die Freiheit, die die Magier in Takhan genossen, hatte die Magier in Anyueel dazu gebracht, darüber nachzudenken, warum sie selbst keine Wahl hatten, wo sie leben und welchen Beruf sie ausüben wollten. Zwei Punkte, die einen erheblichen Eingriff in die Willensfreiheit darstellten. Wenn man also genau diese Ordensmagier aussandte, um andere Anwender von Magie aus der Unterdrückung zu befreien, konnte das zu bestimmten Forderungen und Notwendigkeiten nach Veränderungen im Orden führen. Orrin würde in den kommenden Jahren zweifellos viel Freude bei der Führung dieser Institution haben.

“Du warst die Erste, die… überredet werden musste, dem Orden beizutreten. Alle anderen sind von sich aus eingetreten”, bemerkte Enric, aber eher um des Argumentes willen als um ihr zu widersprechen. Sie war tatsächlich in den Orden gezwungen worden, egal wie euphemistisch man es auch immer umschreiben wollte. Es hatte Verhandlungen gegeben, aber sie in Gold zu fesseln und an einen Ordensmagier zu binden um sicherzustellen, dass sie den Orden nicht verlassen konnte, hatte sicher nicht dazu beigetragen, Eryns Entscheidung zu einer freiwilligen zu machen. Für sie war es lediglich das geringere Übel gewesen.

“Ja, sicher”, knurrte sie, verstummte aber mit den anderen, als die drei Triarchen von rechts den Saal betraten und sich zügig auf das Podium und ihre Plätze zubewegten.

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde Golir den mittleren Stuhl einnehmen, doch er zog ihn nur mit einer höflichen Geste für Malriel zurück. Malriel würde also vorerst weiter auf ihrem Platz bleiben. Aber der Krieg als solcher war schließlich noch nicht ganz vorbei.

Torke’na war erneut diejenige, die alle begrüßte und die Versammlung eröffnete.

“Willkommen zurück, geschätzte Kollegen! Ich kann meine Dankbarkeit und Erleichterung gar nicht in Worte fassen, dass wir alle wieder hier sind und in in einer Stadt zusammenkommen können, die zwar ein wenig Schaden genommen hat, aber lange nicht zerstört oder unbewohnbar ist. Ich bedaure, dass wir euch nicht mehr Zeit einräumen konnten, um euch wieder in euer Leben einzufinden, sondern dass wir euch hierher gerufen haben, kurz nachdem ihr entweder selbst zurückgekehrt seid oder eure Familien wieder willkommen geheißen habt. Es gibt jedoch eine wichtige Entscheidung zu treffen, und die Triarchie kann sie nicht ohne euch treffen. Wir haben eine schwierige Zeit hinter uns, doch manche meinen, dass die Herausforderung des Konflikts mit unserem Nachbarn noch nicht vorüber ist. Wir haben uns heute hier versammelt um zu entscheiden, ob die Gefahr eines weiteren Angriffs aus dem Norden groß genug ist, um einen so extremen Schritt wie die Invasion Pirinkars zu wagen.”

Eryn zuckte leicht zusammen. Der letzte Teil war ein klarer Hinweis darauf gewesen, dass Torke’na solche Pläne nicht befürwortete. Und dass sie als Erste gesprochen hatte, bedeutete, dass sie in der Lage gewesen war, den Leuten die Idee zu vermitteln, dass die Invasion ein zu extremer Schritt sei.

“Sie ist dagegen”, flüsterte sie Enric zu.

Er nickte. “Auf jeden Fall. Leider hatte ich keine Gelegenheit, vor der Versammlung mit Malriel zu sprechen. Ich weiß also nicht, wo Golir steht. Zwei Triarchen, die gegen den Plan sind, könnten die Überzeugung des Senats zu einer beachtlichen Herausforderung für Malriel machen.”

Torke’na allein wäre nicht in der Lage, den Senat umzustimmen, aber Golir war eine völlig andere Sache.

Malriel ergriff als Nächste das Wort, entschied sich jedoch, nicht von ihrer erhöhten Position aus zum Senat zu sprechen, sondern erhob sich von ihrem Stuhl, um in den Kreis in der Mitte des Raumes zu treten und dem Senat in die Augen zu blicken.

“Senatoren”, begann sie mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, “lasst mich ehrlich zu euch sein. Innerhalb der Triarchie gibt es unterschiedliche Meinungen; wir sind uns nicht einig, was die richtige Vorgehensweise ist. Aber das soll euch nicht beunruhigen, denn Meinungsvielfalt ist ein kostbares Gut, das wir in diesen Hallen immer respektiert haben. In einer Gesellschaft, in der wir gemeinsam entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen, in der wir uns entwickeln und wachsen wollen, kann ein Konsens niemals selbstverständlich sein, sondern muss durch harte Arbeit und Anstrengung erreicht werden. Heute sind wir hier, um eine solche Anstrengung zu unternehmen, und ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende zu einer guten Entscheidung kommen werden. Wir haben beschlossen, euch die Vor- und Nachteile der einzelnen Optionen darzulegen und anschließend eine Diskussion zu führen, bevor wir darüber abstimmen. Ich muss mich dafür entschuldigen, dass wir euch nicht mehr Zeit einräumen können, um über diese wichtige Frage nachzudenken, denn die Zeit drängt. Ich bin dafür, nach Pirinkar zu gehen. Erlaubt mir darzulegen, weshalb.”

*  *  *

Die zwei Stunden hatten sich in die Länge gezogen, und Eryn fand die Besucherstühle von Minute zu Minute unbequemer und rutschte hin und her, um eine halbwegs erträgliche Position zu finden.

Malriel hatte ihre Argumente vorgetragen, dann hatte Torke’na gesprochen und auf die Nachteile hingewiesen. Beide hatten Gäste geladen, die vor dem Senat aussagen sollten. Malriel hatte Kommandantin Neled und Horam eingeladen, um über ihre eigenen Pläne zu sprechen und darüber, wie sie ihre Magierkollegen von dem Joch befreien wollten, unter dem diese seit Jahrhunderten litten. Nachfolgend war Enric aufgefordert worden, für den Orden zu sprechen. Und schließlich Orrin als Oberhaupt der Krieger.

Torke’na war nicht in der Lage gewesen, eine so beeindruckende Reihe von Unterstützern für ihre Seite zu mobilisieren, doch gab es eine Person, deren Worte sicherlich Gewicht haben würden: König Folrin. Er hatte betont, dass er weder dafür noch dagegen sei, Kommandantin Neled und Horam in ihren Bemühungen zu unterstützen, sondern sich der Entscheidung des Senats beugen würde, wie auch immer diese ausfallen möge. Um eine gewisse Balance herzustellen, hatte er jedoch beschlossen, einige Themen anzusprechen, die Beachtung verdienten, aber Gefahr liefen, vernachlässigt zu werden.

Die anschließende Diskussion begann höflich, wurde aber bald hitziger, und es kam häufig zu Ordnungsrufen, als die Emotionen überhand zu nehmen drohten und Stimmen erhoben wurden.

Malriel und Enric wurde unterstellt, nur zum Zweck eines Vergeltungsfeldzugs zu einer Invasion aufgerufen zu haben, und bereit zu sein, für ihren persönlichen Wunsch nach Rache alle in Gefahr zu bringen.

Die Gegner der Invasion wurden als Feiglinge und kurzsichtige Narren bezeichnet.

Ram’an wurde beschuldigt, sich allein deshalb auf die Seite von Haus Aren zu stellen, weil er noch immer Gefühle für die frühere – und zukünftige – Maltheá von Haus Aren hegte.

Mehrere Senatoren erklärten großspurig, dass sie sich weigern würden, Mitglieder ihres Hauses zur Teilnahme an einem solchen Unsinn zu zwingen – nur um es sich dann wieder anders zu überlegen, als man ihnen die schwerwiegenden Folgen einer Missachtung eines Senatsbeschlusses vor Augen führte.

“Entweder ich verschwinde hier auf der Stelle, oder ich lasse das Dach des Senats noch einmal einstürzen”, zischte Eryn leise. “Sie zanken sich wie kleine Kinder, anstatt wie Erwachsene darüber zu diskutieren! Ich bin froh, dass Vedric nicht hier ist, um das mit anzusehen – es wäre unmöglich, ihm hinterher Manieren beizubringen oder ihm zu erklären, warum Respekt eine wichtige Sache ist.”

“Du wirst eine von ihnen sein, sobald du Haus Aren übernommen hast”, erinnerte Enric sie sanft und fand, dass sich das hier nicht allzu sehr von einer Ratssitzung in Anyueel unterschied.

“Ich kann es kaum erwarten”, seufzte sie und schüttelte den Kopf.

Sie bewunderte, wie ruhig die Triarchen in der hitzigen und bisweilen alles andere als sachlichen Diskussion geblieben waren. Vor allem Malriel, die mehr als einmal persönlich angegriffen worden war, aber allen Anschuldigungen nur mit einer steinernen Miene begegnete und nicht so tief sank, die Verleumdungen zu würdigen indem sie sich verteidigte. Eryn vermutete jedoch, dass sie sich sehr genau merken würde, wer welche Äußerungen getätigt hatte. Und dass sie diese zu gegebener Zeit wieder aufgreifen und in ihre Überlegungen einbeziehen würde, wenn irgendwann in der Zukunft Anfragen an die Triarchie gestellt werden sollten. Eryn empfand bei diesem Gedanken eine grimmige Befriedigung und dachte darüber nach, wie sehr sich diese Vorgehensweise von dem unterschied, was der Orden als Reaktion auf einen verbalen oder sonstigen Angriff für angemessen hielt.

Wann immer eines der Ratsmitglieder sich geweigert hatte, ihr den Respekt zu erweisen, der ihr aufgrund ihres Ranges gebührte, hatten Enric und Tyront darauf bestanden, dass sie zeitnahe reagierte, um dem Ganzen ein Ende zu setzen und allen anderen zu signalisieren, dass dieses Verhalten inakzeptabel war und zu bestrafen sei. Sie fragte sich, ob dies einer der Aspekte war, die es Enric so schwer gemacht hatten, Oberhaupt eines Hauses und Senator in Takhan zu sein. Und ob sie selbst in absehbarer Zeit in der Lage sein würde, sich von den entschlossenen und schnellen Schritten zu distanzieren, die der Orden als Tugend erachtete.

Eine der drei Doppeltüren, die in den Senatssaal führten, wurde plötzlich geöffnet und ließ eine einsame Gestalt in das helle Mittagslicht treten, das von hinten hereinströmte. Die Erscheinung hielt einen Moment inne, als ob sie sich des Effekts bewusst war und ihn nutzte, dann setzte sie sich in Bewegung und schritt die Treppe hinab in Richtung des Tisches, an dem die Senatoren von Haus Aren saßen. Malhora vom Haus Aren.

Im Saal wurde es still, als alle auf die Frau blickten, die im Alleingang und ohne zu zögern den Mann erschlug, der ihnen allen so viel Kummer bereitet hatte. Die beiden Aren-Senatoren sprangen eilig auf und überließen Malhora die Wahl, auf welchem ihrer Stühle sie Platz nehmen wollte. Sie war zwar keine Senatorin, aber niemand in diesem Raum – die Triarchen eingeschlossen – würde es wagen, ihr vorzuschlagen, sie solle sich auf einen der Gästestühle setzen, wenn sie der Verhandlung folgen wolle.

Eryn verbarg ein Grinsen. Diese Frau wusste, wie man einen Auftritt hinlegte. Und von nun an würden die Leute sehr viel vorsichtiger sein, wenn sie entweder Haus Aren oder Malriel selbst irgendwelche niederen Beweggründe unterstellten.

Malhora nahm Platz und blickte dann auf, als bemerkte erst jetzt die Stille, die ihrer Ankunft gefolgt war.

“Bitte, lasst euch von mir nicht unterbrechen”, sprach sie, als hätte sie irgendetwas anderes als gebührend und angemessen erachtet.

Die Diskussion wurde langsam wieder aufgenommen, wenn auch von einer Minute auf die andere wesentlich unaufgeregter als zuvor.

“Es besteht die realistische Chance, dass sie erkannt haben, dass wir nicht so leicht zu besiegen sind”, meinte ein Senator von Haus Feral. “Wenn sie nicht die Absicht haben, erneut anzugreifen, dann wären wir die Aggressoren.”

Ohne Vorwarnung erschien ein Schild über Malriel, die immer noch im Kreis vor den Tischen stand. Auf ihm erschien ein Bild. Ein Gebäude, das vor seiner Zerstörung augenscheinlich ein beeindruckendes Anwesen gewesen war. Es folgten mehrere weitere Bilder, die jeweils lange genug gezeigt wurden, damit alle Anwesenden die Eindrücke aufnehmen konnten. Abgebrannte Bäume, vernichtete Ernten, zerstörte Nebengebäude. Und wie ein allgegenwärtiges Detail in all diesen Bildern waren Körper mit weit aufgerissenen Augen zu sehen, deren Gesichter in einem Ausdruck des unendlichen Entsetzens erstarrt waren.

Die meisten Senatoren erkannten die Überreste der Residenz von Malhora wieder, da ihnen einst das Privileg zuteil geworden war, an der jährlichen Jagd dort teilzunehmen. Es war also klar, wessen Erinnerungen sie gerade verfolgten.

Eryn zwang sich, die Augen nicht abzuwenden. Ein Teil von ihr fragte sich, wann Malhora die Zeit gefunden hatte, sich die Fähigkeit anzueignen, Bilder auf einem Schild darzustellen.

“Das ist wahr, mein junger Freund”, erklang Malhoras Stimme in der Stille, die erneut eingetreten war. Ihre sanfte Stimme bildete einen seltsamen Kontrast zu den grausigen Bildern, die sie durch ihre Magie mit ihnen teilte. “Doch die Frage ist, was das größere Risiko darstellt – zu hoffen, dass auch ohne irgenwelche Vorkehrungen zur Gewährleistung eurer Sicherheit keine eurer Ländereien das gleiche Schicksal erleidet wie meine eigenen, oder zu handeln und dafür zu sorgen, dass Pirinkar auf seiner Seite der Berge bleibt.”

“Die Leute da oben abzuschlachten ist dafür auch keine Garantie”, wagte sich ein besonders mutiger Senator vor. “Ganz im Gegenteil – das könnte sie dazu verleiten, sich zu rächen und anzugreifen, obwohl sie das ursprünglich nicht getan hätten.”

“Entschlossenes Handeln bedeutet nicht, dass wir uns auf eine Mission begeben, ihr Land zu plündern und niederzubrennen”, erwiderte Eryn darauf.

Alle Augen waren nun auf sie gerichtet.

“Meine Güte, Haus Aren trägt viel zur heutigen Versammlung bei”, witzelte das Oberhaupt von Haus Finran, “vor allem diejenigen, die nicht wirklich Mitglieder des Senats sind und daher eigentlich nicht das Recht haben zu sprechen, sondern von denen erwartet wird, dass sie still zuhören, ohne zu unterbrechen.”

Eryn lächelte nachsichtig. “Die Tatsache, dass du mich bereits als Mitglied von Haus Aren ansiehst, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch zu Haus Vel’kim gehöre, zeigt mir, dass du dir meiner Absicht bewusst bist, Haus Aren zu übernehmen und noch früh genug in deinen erlauchten Kreis einzutreten. Ihr mögt nun beschließen, mir wegen einer Formalität das Wort zu verbieten, aber ich rate euch, daran zu denken, dass es ein Zeichen der Wertschätzung für die Institution wäre, der ich angehöre und die euren Sieg ermöglicht hat – indem sie das Leben ihrer Mitglieder für euch aufs Spiel gesetzt hat. Und auch ein Zeichen des Respekts für eure zukünftige Kollegin.” Sie verschränkte die Arme und wartete. Hatte sie sich wirklich gerade auf den Orden berufen, um das Wort ergreifen zu dürfen? Sie unterdrückte ein Schaudern.

Vran’el räusperte sich. “Ich bitte um die Erlaubnis, Maltheá von Haus Vel’kim vor dem Senat das Wort zu erteilen. Ich denke, dass ihre einzigartige Position als hochrangige Vertreterin des Ordens, als zukünftiges Oberhaupt des Hauses und auch als jemand, der die Prinzipien des Helfens und nicht des Abschlachtens vertritt, es sicherlich wert sein wird, dass man ihr zuhört.”

Eryn war froh, dass ihr Bruder das Wort ergriffen hatte. Sonst hätte Ram’an es mit absoluter Sicherheit getan. Aber es sah erheblich besser aus, wenn ihr eigenes Hausoberhaupt um Erlaubnis bat, sie sprechen zu lassen.

Malriel drehte sich um und blickte zu den beiden anderen Triarchen auf. “Darf ich euch ersuchen, über diese Anfrage zu entscheiden? Ich fürchte, es hat wenig Sinn vorzugeben, als sei ich nicht zu Maltheás Gunsten befangen.”

Torke’na und Golir tauschten einen kurzen Blick aus, dann nickte Torke’na Eryn zu. “Du magst sprechen, Maltheá.”

Eryn erhob sich von ihrem Platz. “Trotz einiger Dinge, die ich getan habe, trotz der Menschen, die ich im Kampf getötet habe, bin ich kein Freund von unnötigem Blutvergießen. Unnötig bedeutet für mich, jemanden zu töten, der nicht darauf aus ist, mein eigenes Leben zu beenden. Und das ist derzeit in Pirinkar nicht der Fall. Ich schlage nicht vor, dorthin zu gehen, um ein Massaker zu begehen, sondern um dazu beizutragen, Umstände zu schaffen, unter denen wir sicher sein können, dass unsere Nachbarn nicht nur vorsichtig sind, wenn es darum geht, uns anzugreifen, sondern sich aktiv dagegen entscheiden – oder besser gesagt, es gar nicht erst in Betracht ziehen. Solche Umstände könnten geschaffen werden, indem wir Kommandantin Neled und Horam bei ihrem Vorhaben unterstützen. Die Magier oder Priester, wie man sie dort nennt, zu befreien, bedeutet, Menschen ein Mitspracherecht einzuräumen, die uns nicht als ihren Feind betrachten werden. Wir wollen keine Leute an der Macht haben, die Etor Garts Pläne entweder unterstützt oder zumindest geduldet haben. Und selbst wenn es uns nicht gelingt, ihre Führer zu stürzen, würden wir ihnen zeigen, dass wir uns nicht zurücklehnen, nachdem wir angegriffen wurden, sondern dass wir eine Kraft sind, mit der man rechnen muss – ein Land, das nicht willens ist, eine solche Behandlung einfach hinzunehmen. Keine Reaktion zu zeigen würde ihnen signalisieren, dass es nichts zu verlieren gibt, wenn sie uns angreifen – unabhängig davon, ob sie Erfolg haben oder nicht. Wir wollen ihnen zu verstehen geben, dass sie mehr zu verlieren als zu gewinnen haben, wenn sie gegen uns marschieren.” Eryn sah den Senator an, der darauf hingewiesen hatte, dass er wahlloses Abschlachten nicht unterstützte. “Ich stimme dir zu – Töten ist eine schreckliche Sache, und wer mich persönlich oder vom Hörensagen kennt, dem sollte meine Haltung in dieser Frage bewusst sein. Wir haben es sogar unterlassen, feindliche Soldaten im Kampf zu töten, wann immer es möglich war. Aus diesem Grund haben wir derzeit eine beträchtliche Anzahl von Gefangenen in unserem Gewahrsam. Gefangene, die wir als Geste des guten Willens in ihre Heimat zurückbringen wollen. Und als Mittel in einer Verhandlung nutzen wollen, von der ich zugeben muss, dass ich nicht erwarte, dass sie vollkommen friedlich verlaufen wird. Ich kann euch jedoch versichern, dass ich in meiner derzeitigen Funktion als zweite Befehlshaberin des Ordens weder dafür stehe, Zivilisten durch einen Angriff auf ihre Hauptstadt zu schaden, noch dafür, ihre Soldaten zu töten, wenn es einen anderen Weg gibt. Ebenso wenig bin ich allerdings bereit, eine solche Bedrohung für das Volk, das mir am Herzen liegt, zu akzeptieren.”

Torke’na nickte. “Ich danke dir, Maltheá.” Dann sah sie die Senatoren an. “Gibt es sonst noch einen Beitrag in dieser Angelegenheit? Wenn nicht, werden wir mit der Abstimmung fortfahren.” Als keine weiteren Wortmeldungen folgten, fuhr sie fort: “Handzeichen, wenn ihr für den Angriff auf Pirinkar stimmt.”

Achtzehn von vierundzwanzig Händen hoben sich, und Eryn ließ sich auf ihren Stuhl sinken und atmete aus. Das war eine klare Mehrheit – vor allem, da Golirs und Malriels Hände ebenfalls erhoben waren, was bedeutete, dass jeder von ihnen zwei Triarchenstimmen hinzufügte, anstatt nur die Stimme eines Senators.

Torke’na zeigte keine Anzeichen von Enttäuschung oder Ärger über das Ergebnis, sondern fuhr mit ihrer gewohnt kontrollierten Stimme fort: “Der Senat hat eine Entscheidung getroffen. Wir werden Vergeltung üben.”

“Das hätte nicht dermaßen schwierig sein sollen”, bemerkte Eryn leise, während sich um sie herum das übliche Gemurmel erhob. “Es war eine ziemlich offensichtliche Entscheidung, wenn du mich fragst.”

Enric zuckte mit den Schultern. “Von deinem Standpunkt aus mag sie offensichtlich sein, aber wir sollten nicht vergessen, dass wir uns immer noch in einem Land befinden, das schon lange keine Kriegsvorbereitungen mehr für nötig gehalten hat und daher kaum erpicht darauf ist, in so kurzer Zeit einen weiteren Krieg zu beginnen. Das Ergebnis ist eigentlich ein gutes. Ein klares Bekenntnis statt einer knappen Entscheidung.” Als Torke’nas Stimme über das Getümmel hinweg ertönte, um zu verkünden, dass die Versammlung nun beendet sei, stand Enric auf. “Komm, lass uns sehen, wie die Triarchie weiter vorgehen will. Ich denke, dass wir in den kommenden Nächten nicht viel Schlaf bekommen werden. Es gibt eine Menge vorzubereiten.”

Er wollte die wenigen Stufen zu Malriel hinabsteigen, die immer noch im Kreis stand, umgeben von mehreren Senatoren.

“Lord Enric, Lady Eryn”, veranlasste eine vertraute, schneidende Stimme sie, sich umzudrehen. König Folrin bedeutete ihnen, sich ihm zu nähern. “Die Triarchie wird Euch in Kürze über unser nächstes Treffen informieren. Ich schlage vor, dass Ihr in der Zwischenzeit zu Eurer Residenz zurückkehrt.”

Beide sahen ihn verdutzt an.

“Ist alles in Ordnung?” fragte Eryn vorsichtig.

“Gewiss, meine Lady. Ich verabschiede mich für den Moment von Euch.” Damit wandte er sich ab und schritt auf die Triarchie zu.

“War das eben ein Befehl?” fragte Eryn, unsicher.

“Ich denke schon, ja”, antwortete Enric langsam und sah dem Monarchen nach, wie er sich von ihnen entfernte.

“Warum schickt er uns nach Hause?” Ihre Augen verengten sich. “Er will uns aus irgendeinem Grund aus dem Weg haben.”

“Das ist durchaus möglich”, räumte ihr Gefährte ein. “Aber da wir einen Befehl erhalten haben, haben wir kaum eine andere Wahl. Komm.”

Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Residenz erreicht hatten, und Eryn seufzte erleichtert auf, als sie das Gebäude betraten und die unerbittliche Mittagshitze draußen ließen.

Ein Geräusch aus dem oberen Stockwerk ließ sie verstummen und einen Blick tauschen. Einen Moment später erwachten sie gleichzeitig aus ihrer Starre und eilten die Treppe empor, begierig zu sehen, ob ihre Ohren sie getäuscht hatten.

Das hatten sie nicht.

Direkt vor ihnen, auf den Sitzkissen, saß ihre Nichte Zahyn und spielte ein Brettspiel. Mit ihrem Cousin Vedric.

Seine Augen weiteten sich, als er seine Eltern erblickte, die ihn anstarrten, als wären sie über seinen Anblick zutiefst erstaunt.

“Da seid ihr ja!”, rief er, der Vorwurf in seiner Stimme unüberhörbar.

Eryn atmete aus und sank auf die Knie, als ihr plötzlich schwindelig wurde. “Vedric?”, flüsterte sie, als könne sie nicht glauben, dass ihr sehnlichster Wunsch soeben ohne jede Vorwarnung oder vernünftige Erklärung erfüllt worden war.

Einen Moment später wurde sie durch die Kraft von Vedrics Umarmung nach hinten gestoßen. Nur Enrics schnelles Eingreifen verhinderte, dass ihr Kopf auf dem Steinboden aufschlug. Dann war auch er auf den Knien, schlang die Arme um seine Gefährtin und seinen Sohn und fragte sich für eine kurze Sekunde, ob es sich dabei um eine Art Illusion handelte, in der er gefangen war, eine Blase, die gleich platzen würde, um ihn in einem Kerker zurückzulassen, frierend und hungrig. Das hier entbehrte immerhin jeglicher Plausibilität.

“Warum bist du hier?”, fragte er seinen Sohn, ohne von seiner Familie abzulassen.

“Weil der König gesagt hat, dass wir kommen dürfen”, berichtete er und löste seine Arme viel früher vom Hals seiner Mutter, als sie bereit war, ihn loszulassen. Stattdessen klammerte er sich nun an seinen Vater.

Eryn und Enric wechselten einen verwunderten Blick.

“Deshalb hat er uns gerade nach Hause geschickt!”, hauchte sie und fühlte sich schuldig, weil sie ihm unlautere Motive unterstellt hatte, obwohl er in Wahrheit so etwas Unglaubliches für sie getan hatte.

“Ah, da seid ihr ja!”, rief eine weitere unerwartete Stimme fröhlich.

Enric benötigte einen Moment, um sie zu erkennen, denn die Vorstellung, sie hier an diesem Ort zu hören, war eine so seltsamer Bruch mit dem für ihn gewohnten Kontext.

Langsam drehte er sich um. “Mutter?”

*  *  *

Enric lächelte über das Bild, das sich ihm bot. Pe’tala saß auf Kissen auf der Terrasse, die in den späten Morgenstunden noch im Schatten lag, und stillte ihren kleinen Jungen, der in diesem Stadium seiner Entwicklung kaum andere Prioritäten als Schlafen, Essen und… nun ja, Verdauen hatte.

Neben ihr saßen Gerit und Malriel und beobachteten das Treiben im Garten mit einem nachsichtigen Lächeln.

Seit seiner Ankunft am Vortag hatte Eryn jede einzelne Minute mit ihrem Sohn verbracht, abgesehen von dem Treffen mit der Triarchie und dem König am Abend, bei dem die weiteren Schritte bezüglich Pirinkar besprochen worden waren. In diesem Moment spielte sie mit ihm und ihrer Nichte Verstecken und verbarg sich hinter einem Gebüsch, während Zahyn einen Bereich absuchte, wo Vedric auf einem niedrigen Ast hockte und wahrscheinlich jeden Moment entdeckt werden würde.

Enric wusste, dass dieser sorglose Zeitvertreib, das ausgelassene Herumtollen, seiner Gefährtin ebenso gut tat wie den Kindern, wahrscheinlich sogar noch mehr.

“Ich habe Orrin und seine Familie eingeladen, mit uns zu Mittag zu essen”, informierte er drei der vier Frauen, die derzeit unter seinem Dach lebten. Seine Nichte nicht mitgerechnet.

Seine Mutter und sein Sohn waren nicht die einzige Familie, die der König nach Takhan hatte bringen lassen. Junar und Téa waren unter ihnen, ebenso wie Familienmitglieder der gefallenen Soldaten. Und seine eigene Gefährtin, Königin Del’na’bened von Anyueel. Heute Abend veranstaltete die Triarchie ein Bankett im Senatssaal, um die Königin gebührend willkommen zu heißen.

Zuvor jedoch mussten er und Eryn noch eine Sache erledigen, eine schwierige Aufgabe, vor der ihm regelrecht graute. Sie mussten Vyril gegenübertreten und ihr die Einzelheiten des Todes ihres Gefährten schildern. Der König hatte es auf sich genommen, sie schriftlich über Tyronts Ableben zu informieren, als er sie einlud, nach Takhan zu kommen, um seine sterblichen Überreste abzuholen, doch er hatte nicht dargelegt, wie genau sich die Dinge zugetragen hatten. Das oblag Eryn, da sie diejenige war, die es aus nächster Nähe miterlebt hatte.

Eine weitere Sache, die Enric Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Eryns Beliebtheit bei den Ordensmitgliedern zu schwinden schien, seit Etor Gart vor aller Ohren verkündet hatte, sie sei der Grund, weshalb Tyront sein Leben geopfert hatte. Ordensmagier waren trotz ihrer privilegierten Stellung nicht weniger anfällig für Klatsch und Tratsch als alle anderen Menschen. Enric hatte die Information erhalten, dass unschmeichelhafte Spekulationen und Anschuldigungen im Umlauf waren. Dass Eryn endlich einen Weg gefunden habe, den Mann loszuwerden, der sie vor Jahren gezwungen hatte, dem Orden beizutreten. Eine andere Variante war, dass sie ihrem Gefährten den Weg an die Spitze geebnet hatte. Abgesehen von der Behauptung, Enric würde seine Gefährtin für eine derart ungeheuerliche Tat benutzen, war er bestürzt darüber, dass es unter ihren Untergebenen tatsächlich Leute gab, die ihr eine solche Ehrlosigkeit unterstellten, nach allem, was sie für das Königreich und auch in diesem Krieg geleistet hatte.

All diese Anschuldigungen würden sich in Luft auflösen, sobald bekannt wurde, dass Eryn und Enric den Orden für immer verlassen und nach Takhan umziehen wollten, womit klar wäre, dass sie in keiner Weise von Tyronts Tod profitieren würden. Aber bis dahin mussten sie eine Institution leiten, in der einige ihrer Mitglieder begonnen hatten, das Vertrauen in ihre Vorgesetzten zu verlieren. Dies waren keine idealen Voraussetzungen für einen bevorstehenden Feldzug.

Er rang mit sich, ob er Eryn darüber informieren sollte. Wieder einmal sah er sich zwischen den beiden Rollen in ihrem Leben gefangen. Objektiv gesehen war sie seine rechte Hand, und er konnte ihr diese Art von Informationen nicht einfach vorenthalten, zumal sie selbst davon betroffen war. Jedoch als ihr Gefährte wusste er, welche Art von Schmerz er ihr damit bereiten würde. Diese Anschuldigungen, das wusste er, würden bei ihr auf fruchtbaren Boden fallen.

“Du siehst besorgt aus, mein Junge”, bemerkte Gerit leise und streckte ihm ihre Hand entgegen.

Er zwang sich zu einem Lächeln und drückte sie. “In meiner Position gibt es immer etwas, worüber man sich Sorgen machen kann, Mutter.”

“Du zerbrichst dir doch nicht den Kopf über das Wiedersehen zwischen Eryn und Junar, oder? Ich bin sicher, dass sie sich freuen werden, einander zu treffen, egal, was zu Hause zwischen ihnen vorgefallen ist.”

Enric unterdrückte ein Seufzen. Er war nicht wirklich beunruhigt, dass es während des Essens zu Auseinandersetzungen kommen könnte, sondern eher über die Distanz und Höflichkeit zwischen den beiden Frauen. Er schob den Gedanken beiseite und weigerte sich vorerst, sich im Geiste weitere problematische Situationen auszumalen.

Er zog seine Mutter an der Hand und lud sie ein: “Ich fange jetzt an, unser Essen zu kochen. Willst du mir dabei helfen? Ich könnte dir etwas über die hiesige Küche und die Zutaten beibringen, die hier verwendet werden. Wie du weißt, ist es bei uns üblich, dass der Gastgeber für seine Gäste kocht, anstatt das den Dienern zu überlassen. Es wird als Privileg betrachtet.”

Gerit nickte eifrig. “Dann wird es mir eine Ehre sein, dir bei dieser wichtigen Aufgabe meine helfende Hand zu reichen.”

*  *  *

“Eryn! Eryn! Eryn!” rief Téa an der Treppe zum Hauptraum und rannte auf die Person zu, die sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. “Sieh dir meine neuen Kleider an! Die sehen genauso aus wie deine!” Sie wirbelte herum und demonstrierte stolz ihre neue kleidsame Eleganz, die ihr die Schnitte und Stoffe aus den Westlichen Territorien verliehen.

Eryn grinste und nickte anerkennend. “Das tun sie wirklich! Und du siehst darin sehr gut aus – fast wie eine Eingeborene mit deinem braunen Haar.”

Erfreut über das Kompliment, wandte sich Téa sofort in Vedrics Richtung und lief auf ihn zu, als wäre ihr letzter Kontakt schon Monate und nicht erst einen Tag her.

Eryn machte sich darauf gefasst, Junar zu begrüßen, jetzt, da ihre Tochter nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.

Mit einem leicht angespannten Lächeln begrüßte sie die Schneiderin und ihren Gefährten. “Junar, Orrin, ich freue mich sehr, dass ihr hier seid. Wollt ihr nicht Platz nehmen und mir sagen, was ich euch zu trinken anbieten kann?”

Junar antwortete mit einem Lächeln, das genau so herzlich aussah, wie es gemeint war – nämlich überhaupt nicht. “Und wir danken euch für die freundliche Einladung in euer reizendes Haus. Ich nehme ein Glas von dem gelben Saft, wenn du welchen hast.”

“Wasser für mich”, fügte Orrin hinzu, ein wenig resigniert, als hätte er auf eine etwas weniger zurückhaltende Begrüßung zwischen den beiden Frauen gehofft.

Eryn teilte dieses Gefühl bis zu einem gewissen Grad. Ihre eigenen früheren Versuche, sich Junar zu nähern, waren mehrmals zurückgewiesen worden, so dass sie nicht wirklich die Kraft hatte, diesen in ihren Augen vergeblichen Kampf fortzusetzen. In letzter Zeit hatte es so viele Kämpfe gegeben, und es würde wahrscheinlich noch mehr geben, sobald sie sich nach Pirinkar wagten. Sie hatte keinerlei Lust, sich in einen weiteren Konflikt zu stürzen, der so wenig Aussicht auf Erfolg bot. Und Junar schien nicht genug Freude darüber zu empfinden, Eryn lebendig und gesund wiederzusehen, um den Groll zu überwinden, den sie während des vergangenen Jahres angesammelt hatte.

Plötzlich fühlte sich Eryn des Ganzen überdrüssig. Nach allem, was sie in letzter Zeit durchgemacht hatte, schien dies eine so unbedeutende, unnötige Sache zu sein, mit der sie sich nicht belasten wollte. Sie würde Junar die angemessene Höflichkeit und Gastfreundschaft erweisen, und sei es nur um Orrins willen. Junar hatte aus irgendeinem Grund beschlossen, dass sie keine Freunde mehr sein konnten, und sich sogar geweigert, den Grund dafür zu nennen, also würde Eryn es akzeptieren und keine Energie mehr darauf verschwenden, sich darüber zu grämen. Junar hatte sich von einer guten Freundin in jemanden verwandelt, dem sie einst nahe gestanden hatte, aber nicht mehr als das. Damit war sie eine Person weniger, die sie nach ihrem Weggang von Anyueel vermissen würde.

Sie spürte, wie diese Entschlossenheit, diese Bereitschaft, etwas zu akzeptieren, was sie bisher als unreifes und unfaires Verhalten abgelehnt hatte, ihr das Herz etwas leichter werden ließ, und sie fand, dass es nun etwas weniger beschwerlich war, Junar anzulächeln, als sie ihr das Getränk servierte.

“Was ist denn mit euch beiden los?” flüsterte Pe’tala, als Eryn sich neben sie auf die Kissen gesetzt hatte, scharfsinnig wie eh und je.

“Manche Dinge dauern einfach nicht für immer an”, antwortete ihre ältere Schwester leichthin, nicht gewillt, diese private Angelegenheit vor so vielen Anwesenden zu diskutieren. Nicht, dass Pe’tala, neugierige Nervensäge, die sie war, aufgeben würde.

Enric kam aus der Küche und brachte einen Stapel leerer Schüsseln.

Er grüßte die Neuankömmlinge und runzelte dann die Stirn. “Wo ist Vern?”

“Er untersucht die Gefangenen um festzustellen, ob sie medizinische Versorgung benötigen”, erklärte Orrin. “Viele von ihnen sind von der Hitze etwas überwältigt. Er sollte in Kürze zu uns stoßen.”

Valrad und Malriel betraten den Raum und trugen jeweils eine dampfende Schale zu dem niedrigen Tisch inmitten der Kissen, bevor sie ebenfalls Platz nahmen und die Gäste mit einem Lächeln begrüßten.

“Junar”, begrüßte die Triarchin sie, “wie schön, dich nach all dieser Zeit wiederzusehen. Téa hat sich zu einer so lebhaften jungen Dame entwickelt. Es wärmt mir das Herz, sie in diesen entzückenden Kleidern zu sehen, die du ihr genäht hast und die an ihren Geburtsort erinnern.”

Téa stürmte in diesem Moment auf ausgesprochen undamenhafte Weise in den Raum, als sei sie entschlossen, Malriel zu beweisen, dass ihre Einschätzung nicht der Wirklichkeit entsprach. Sie klatschte aufgeregt in die Hände, als sie die Schüsseln entdeckte, und rief über ihre Schulter: “Vedric, komm! Das Essen ist endlich fertig! Es wird auch Zeit!”

Sie erweckte den Anschein, als hätte sie schon eine Ewigkeit gewartet, obwohl sie tatsächlich gerade erst eingetroffen war.

Pe’tala, die sich bei spitzen Bemerkungen kein Blatt vor den Mund nahm, wenn sie es für angemessen hielt – was in jeder gegebenen Situation eher die Regel als die Ausnahme war – zog die Augenbrauen hoch. “Charmant. Téa, ich bitte dich zu bedenken, dass jemand Zeit und Energie aufgewendet hat, um für dich ein schmackhaftes Essen zuzubereiten. Dankbarkeit wäre also eine angemessenere Reaktion als sich darüber zu beschweren, dass es nicht schon auf dem Tisch stand, als du eingetroffen bist.”

Eryn war hin- und hergerissen zwischen der Zustimmung zu Pe’talas Direktheit und der Unruhe angesichts der Reaktion, die dies auslösen würde. Junar war nicht unbedingt jemand, der in der Vergangenheit besonders gut auf Kritik am Verhalten ihrer Tochter reagiert hatte.

Junar antwortete mit einem schmalen Lächeln. “Danke für den Hinweis, Pe’tala. Ich frage mich allerdings, wo deine eigene Tochter im Moment ist? Ich hätte gedacht, dass jemand, der so viel Wert auf gutes Benehmen legt wie du, seinem eigenen Kind nahelegen würde, so viel Rücksicht zu üben, dass es pünktlich zu den Mahlzeiten erscheint, anstatt anderen aufzubürden, dass sie warten müssen.”

Wie aufs Stichwort kam Zahyn aus der Küche und setzte mit äußerster Vorsicht einen Fuß vor den anderen, um kein Wasser aus der Karaffe zu verschütten, die sie trug.

“Was soll ich sagen? Ich sollte mich schämen”, lächelte Pe’tala sanft und fügte dann hinzu: “Möchtest du etwas von dem Wasser, das meine rücksichtslose Tochter gerade für uns alle bringt?”

Junars Gesicht verfärbte sich rot, nachdem ihr Angriff so spektakulär fehlgeschlagen war. Alle anderen am Tisch vermieden es sorgsam, sie anzusehen.

Eryn war in einer Mischung aus widersprüchlichen Gefühlen gefangen. Sie war überrascht und bestürzt über Junars Verhalten gegenüber Pe’tala, das eindeutig allem entbehrte, was man von einem Ehrengast in den Westlichen Territorien erwartete. Zwar ließe sich argumentieren, dass Pe’tala eine Grenze überschritten hatte, indem sie ein Kind zurechtwies, das nicht ihr eigenes war. Da Junar selbst allerdings keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich selbst darum zu kümmern, hatte sich Pe’tala die Freiheit genommen, die Regeln in ihrem eigenen Haus durchzusetzen. Eryn empfand jedoch auch Bedauern für Junar, weil sie plötzlich nicht länger zu den Menschen zu passen schien, mit denen sie sich vor sieben Jahren angefreundet hatte, als sie all die Monate in Takhan verbracht hatte. Und Traurigkeit über die Feindseligkeit gegenüber Pe’tala, die als eine Art Substitut für Eryn herhalten musste.

Es war unverkennbar, dass keiner der Anwesenden von ihrem Verhalten besonders angetan war. Malhoras Lippen waren missbilligend zusammengepresst, Valrad strahlte Unbehagen aus, Malriel verbarg ihre Bestürzung hinter einer höflichen Maske, Rolan hatte ein plötzliches Interesse an seinem Getränk entwickelt, Gerits Stirn war in Sorgenfalten gelegt, und Orrin wirkte hilflos – ein Gefühl, das er verabscheute. Und dann war da noch etwas anderes. Zorn, der Eryns Brust von innen her erwärmte. Allerdings nicht ihr eigener.

Sie sah zu Enric, der das Essen austeilte. Es gab kein sichtbares Zeichen einer Emotion, keine Anspannung in seinen Schultern, kein Zucken der Lippen oder zusammengekniffene Augen. Nur die ersten zarten Anzeichen in ihrem Kopf, dass das Geistesband sich allmählich wieder etablierte. Schade nur, dass dies die erste Emotion war, die sie durch die Verbindung wahrnahm.

Vedric kletterte über die Kissen, um sich neben seine Mutter zu setzen, und grinste zu ihr hoch, glücklich, wieder mit seinen Eltern vereint zu sein. Eryn strich mit einer Hand über sein dunkles Haar und fand, dass es unbedingt geschnitten werden sollte. Viele Geschäfte hatten bereits wieder geöffnet, ebenso die Märkte. Vielleicht würde sie ihn in den nächsten Tagen zu einem Friseur bringen. Oder sie würde Enric mit ihm losschicken. Er konnte sich ebenfalls die Haare schneiden lassen und gleichzeitig etwas wertvolle Zeit mit seinem Sohn verbringen.

Das Gespräch während des Essens plätscherte gemächlich vor sich hin. Gelegentlich wurde sogar versucht, Junar einzubeziehen, die jedoch nur mit einsilbigen Antworten oder höflichem Lächeln reagierte und sich weigerte, aktiv daran teilzunehmen. Es war offensichtlich, wie deplatziert sie sich fühlte. Eryn fragte sich, ob sie dieses Beisammensein als einen Preis betrachtete, den sie für das Wiedersehen mit ihrem Gefährten zahlen musste.

Als alle mit dem Essen fertig waren, zupfte Vedric am Ärmel seiner Mutter. “Können wir bald in ein Teehaus gehen? In das, in dem du dich manchmal mit Ram’an triffst?”

Eryn lächelte. “Das würde ich gerne. Wir müssen sehen, ob es schon wieder geöffnet ist. Wenn ja, können wir morgen Nachmittag vor meinem Treffen mit der Triarchie und König Folrin hingehen.” Sie sah Junar an. “Vielleicht hat Téa Lust, uns zu begleiten? Ich könnte mir vorstellen, dass sie diese Erfahrung genießen würde.”

Junar bedachte sie erneut mit einem höflichen Lächeln. “Das ist sehr freundlich von dir, aber wenn sie möchte, werde ich sie selbst mitnehmen.”

“Was ist los mit dir, Junar?” erkundigte sich Pe’tala barsch. “Ich erkenne dich kaum wieder.”

“Du bist unhöflich, Tala”, murmelte Eryn, die nicht gewillt war, eine angespannte Situation in einen offenen Konflikt zu verwandeln. Wenn es zu einer Konfrontation mit Junar kommen musste, dann brauchte sie dafür keine Zeugen. Und ganz gewiss würde sie ihn nicht ihre Schwester an ihrer Stelle ausfechten lassen.

Doch ganz so einfach ließ sich Pe’tala nicht zum Schweigen bringen.

“Und du findest, dass mehr als eine unhöfliche Person auf einmal zu viel ist?”, erwiderte sie, verschränkte die Arme und funkelte Junar an. “Du hast genug Zeit hier verbracht, um zu wissen, welch hohen Stellenwert wir Gastfreundschaft beimessen – und was wir als angemessenes Verhalten bei unseren Gästen ansehen. Es ist keineswegs das, was du gerade an den Tag legst!”

Die drei Kinder starrten die drei Frauen abwechselnd an.

“Können wir das bitte nicht hier austragen?” zischte Eryn und wünschte, sie könnte ihre Schwester einfach mit einem Magieblitz zum Schweigen bringen und die Sache damit beenden. Damit würde sie die Situation allerdings lediglich eskalieren.

Pe’tala presste einen Moment lang die Lippen aufeinander, augenscheinlich alles andere als zufrieden, aber sie nickte. “In Ordnung, Schwester. Ich werde deine Wünsche respektieren. Für den Moment.” Ihr feindseliger Blick richtete sich wieder auf Junar. “Eryn ist mehr als einmal in die Schlacht gezogen – unter großen persönlichen Opfern, möchte ich hinzufügen – weshalb sie wahrscheinlich ein so großes Bedürfnis nach Frieden hat, zumindest in ihrem Haus. Deshalb werde ich nichts weiter sagen.”

“Ja, und dass sie in die Schlacht gezogen ist, ist auch anderen teuer zu stehen gekommen”, konterte Junar. “Frag Vyril!”

Das Schweigen, das zuvor lediglich angespannt gewesen war, wandelte sich nun zu etwas Unheilvollem.

“Verzeihung?” fragte Malriel leise.

Junar reckte ihr Kinn in die Höhe. “Jeder weiß, dass Lord Tyront noch leben würde, wenn sie nicht gewesen wäre! Jeder im Orden redet davon – dass dies ihre Chance war, ihn endlich aus dem Weg zu räumen und ein Mitspracherecht bei all den Dingen zu haben, die er verweigert hat! Ihre Chance, die Macht zu ergreifen! Die Magier haben kein Vertrauen mehr in sie, sie glauben, sie hat es mit voller Absicht getan!”

Eryn schloss die Augen und atmete tief durch, als der unerwartete schmerzliche Stich sie erschütterte. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, wie Enric mit den Zähnen knirschte und Orrin einen Blick zuwarf, der keiner näheren Deutung bedurfte. Es war ein unausgesprochener, aber dennoch klarer Befehl, seine Gefährtin sofort zu entfernen oder die Konsequenzen zu tragen. Eryn spürte, wie sein Zorn in ihr brodelte und darum flehte, herausgelassen zu werden. Sie wusste, dass dies nur ein Bruchteil dessen war, was er im Moment fühlen musste, dass das Geistesband noch nicht zu seiner früheren Stärke zurückgekehrt war.

Orrin nickte fast unmerklich, dann stemmte er sich in die Höhe. Sein Gesicht war eine starre Maske, ein Versuch, seine eigene Bestürzung zu verbergen. Obwohl Eryn nicht wusste, über wen – Pe’tala, weil sie so heftig reagiert hatte? Junar für ihr feindseliges Verhalten? Enric, weil er ihn vor die Tür setzte? Eryn aus irgendeinem anderen Grund?

“Téa, wir gehen”, informierte der Krieger seine Tochter. Seine Stimme war sanft, aber bedrohlich. Es war die Art von Stimme, die Gehorsam verlangte oder versprach, andernfalls im Handumdrehen von sanft auf durchsetzungsfähig umzuschlagen.

Seine Tochter war jedoch entweder zu jung, um auf solche Feinheiten zu reagieren, oder sie hatte einfach beschlossen, sie auf eigene Gefahr zu ignorieren und ihre eigenen Wünsche über die Anordnung ihres Vaters zu stellen.

“Ich will nicht weg!”, jammerte sie. “Wir sind doch gerade erst gekommen! Ich will draußen im Garten spielen!”

Orrin warf ihr einen langen Blick zu, aber es schien, dass die Disziplin, die er ihr einst beigebracht hatte, während seiner Abwesenheit von Anyueel und unter der nachsichtigen Obhut ihrer Mutter ihren Einfluss auf sie verloren hatte.

“Lass sie hier und geh. Sofort.” Jedes von Malhoras Worten war wie ein Peitschenhieb. “Und bring deine Gefährtin nicht noch einmal hierher zurück. Sie ist nicht länger willkommen.”

“Großmutter”, sprach Eryn ruhig und kämpfte um Fassung. Sie wollte nicht, dass die Kinder mitansehen mussten, wie Junar aus diesem Haus verbannt wurde, schon gar nicht ihre kleine Namensvetterin. “Das hier ist mein Haus. Du wirst stets willkommen sein an jedem Ort, den ich mein Zuhause nenne, aber du kannst nicht entscheiden, wem der Zutritt verwehrt werden soll.”

Enric erhob sich. Seine imposante Größe wirkte jetzt in seinem kalten Zorn noch beängstigender. “Aber ich kann es. Junar, anders als dein Gefährte und deine Tochter, bist du in meinem Haus von nun an nicht länger ein willkommener Gast.”

Junar starrte ihn an und ihre Lippen teilten sich, als wolle sie etwas erwidern, aber es kam nicht ein Wort hervor. Orrin nahm ihre Hand und zog sie mit sich zur Treppe.

“Nein – Mutter! Geh nicht!” jammerte Téa plötzlich, als ihre Eltern die Treppe hinabstiegen.

“Aber sie muss! Sie war böse!” erklärte Vedric streng mit verschränkten Armen und zeigte wenig Mitgefühl oder Erbarmen für die missliche Lage seiner Freundin. Er war sich nicht ganz sicher, was genau soeben vorfallen war, aber ihm war klar, dass es etwas Gravierendes sein musste, wenn sein Vater Junar mitteilte, dass sie nie wieder in sein Haus zurückkehren sollte.

“Sie war nicht gemein!” beharrte Téa, hin- und hergerissen zwischen den Optionen, mit ihrem Fuß aufzustampfen, um ihrer Aussage mehr Nachdruck zu verleihen, und ihren Eltern hinterherzulaufen.

“Das war sie sehr wohl!” widersprach Vedric und schrie fast. “Sie hat gesagt, meine Mutter hat Lord Tyront getötet!”

Eryns Herz raste, und sie wünschte sich, alle würden den Mund halten und ihr etwas Zeit geben, um mit dieser Situation zurecht zu kommen. Mitanhören zu müssen, wie Vedric und Téa nun denselben Streit zwischen sich ausfochten, war eine grässliche Sache.

“Vedric, ich weiß es zu schätzen, dass du mich so eifrig verteidigst. Aber es hat keinen Sinn, sich zu streiten. Das ist keine Sache zwischen dir und Téa, sondern zwischen ihrer Mutter und mir. Keine von uns möchte, dass ihr beide da hineingezogen werdet.”

Vedric stieß die beschwichtigende Hand seiner Mutter von sich und ignorierte ihre Versuche, ihn zur Vernunft zu bringen.

“Aber sie hat es getan! Jeder weiß es!” schrie Téa.

“Halt die Klappe, du Dummkopf!” brüllte Vedric und sprang auf. Einen Moment später wurde er mit voller Wucht in die Kissen zurückgestoßen, als zwei magische Blitze aus seinen Handflächen schossen, von denen einer ein Fenster zerschmetterte und der andere Téa genau an der Schulter traf, sodass sie zu Boden sackte.

Nach einem Moment entsetzter Stille, den alle Anwesenden teilten, brach hektische Betriebsamkeit aus.

Valrad beugte sich eilig zu dem Mädchen hinunter, um den Schaden zu beurteilen. Eryn zog ihren Sohn in ihre Arme und hielt seine Handflächen zu Boden gerichtet, falls seine unbändige Wut noch nicht abgeklungen war.

Hastige Schritte waren von der Treppe aus zu hören, als Orrin und Junar zurückkehrten, nachdem sie vernommen hatten, was ganz eindeutig der Einschlag eines magischen Blitzes gewesen war.

“Mein Baby!” kreischte Junar und stolperte fast über ihre eigenen Füße, als sie ihre Tochter in Valrads Armen erblickte. “Was hast du getan?”

“Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Junar, es geht ihr gut”, erklärte Valrad mit einer entspannten, sanften Stimme, die ihm seit vielen Jahren gute Dienste leistete, wenn Patienten und Angehörige beruhigt werden mussten.

Kurzerhand zog Junar ihre bewusstlose Tochter in die Arme und verließ fluchtartig den Raum. Orrin, der müde und resigniert aussah, folgte ihr, und wenig später hörten sie, wie sich die Eingangstür unten mit einem Knall schloss.

Einige Augenblicke lang saßen sie alle schweigend da und tauschten Blicke aus.

Dann seufzte Valrad. “Was für ein Zeitpunkt für deine Magie, um sich zu manifestieren, mein Junge.”

Gerit fügte mit einem zittrigen Lachen hinzu: “Genau wie sein Vater. Er schlug damals seinen jüngeren Bruder bewusstlos, und wir hatten nicht den Luxus, einen Heiler in der Nähe zu haben, so dass wir uns stundenlang Sorgen machen mussten, ob Noren jemals wieder aufwachen würde.”

“Sitzt nicht so herum”, forderte Malhora mit einem breiten Grinsen im Gesicht, “bringt den Wein! Wenn die Magie in einem Kind erwacht, ist das ein Grund zum Feiern!”

Rolan nickte. “Ich könnte ein Glas gebrauchen, um ehrlich zu sein. Mir ist vorhin fast das Herz stehen geblieben!”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln. Ihr war nicht nach Feiern zumute, nachdem die Feindseligkeiten zwischen ihr und Junar einen neuen Höhepunkt erreicht hatten und sie erfahren musste, dass die Mitglieder des Ordens Tyronts Tod im günstigsten Fall für ihre Schuld und im schlimmsten Fall für ihre Absicht hielten.

“Es tut mir so leid”, flüsterte Vedric, der mit geweiteten Augen auf dem Schoß seiner Mutter herumzappelte. “Ich wollte ihr nicht wehtun! Oder das Fenster zerbrechen!”

“Keine Sorge”, beruhigte ihn Eryn. “Es war ein Versehen. Du hast ihr nicht wirklich wehgetan, du hast sie nur schlafen geschickt. Und wir werden das Fenster einfach reparieren lassen.”

Er starrte stumm vor sich hin, während er sich mit dem auseinandersetzte, was er gerade getan hatte. Dann veränderte sich seine Miene und wurde nachdenklich. “Bin ich jetzt ein Magier?”

Enric setzte sich neben ihn und gab Pe’tala ein Zeichen, Platz zu machen. “Das bist du, mein Sohn. Und ein mächtiger noch dazu. Lass das, was gerade passiert ist, deine erste Lektion im Umgang mit Magie sein – benutze sie mit besonderer Vorsicht, damit niemand aus Versehen verletzt wird.”

Pe’tala grinste. “Obwohl ich das Ziel passend finde. Da die Mutter nicht im Raum war, kam das Mädchen als Empfängerin seines allerersten magischen Blitzes sicher am besten in Frage.”

Verärgert schüttelte Eryn den Kopf über ihre Schwester. “Das ist nicht witzig. Du wärst nicht so unbekümmert, wenn sein Blitz Zahyn und nicht Téa getroffen hätte. Und Téa ist kaum Schuld an den… Trugschlüssen ihrer Mutter.” Sie sah Enric an. “Stimmt es, was Junar gesagt hat? Denken sie, ich hätte ihn getötet, um die Kontrolle über den Orden zu erlangen?”

Er zwang sich zu nicken. Auch wenn er in Erwägung gezogen hätte, ihr das zu verschweigen, um ihr den Schmerz zu ersparen, brachte er es nicht über sich, sie auf ihre ausdrückliche Nachfrage hin anzulügen. “Einige scheinen das zu glauben, ja.”

Sie schluckte. “Und warum hast du es bisher versäumt, mir diese Kleinigkeit mitzuteilen? Warum wurde ich mit einer solchen Tatsache völlig unvorbereitet konfrontiert?”

“Ich hatte vor, es dir zu sagen, bevor wir uns auf den Weg zu Vyril machen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir jemand zuvorkommt und du es auf diese Weise erfährst.” Er sah Vedric an und lächelte. “Wir werden anfangen müssen, die Kontrolle über deine Magie zu trainieren. Du wirst ein ungeheuer mächtiger Magier sein, doch mit großer Kraft kommt auch große Verantwortung.”

Vedric nickte und rümpfte die Nase. Verantwortung. Schon wieder dieses Wort. Er wusste in etwa, was es bedeutete – und dass es Schuld daran war, dass viele vergnügliche Dinge ruiniert wurden und er einige unangenehme Dinge ertragen musste. Zum Beispiel, sich zu entschuldigen. Was in der Regel die unangenehme Folge davon war, dass er sich etwas Vergnügliches gegönnt hatte – und somit traf es ihn gleich doppelt.

“Es hätte weitaus schlimmer kommen können”, bemerkte Rolan mit einem für ihn ungewöhnlichen Anflug von Optimismus. “Er hätte stattdessen den König ausschalten können.”

Enric nickte. “Da hat er nicht ganz Unrecht.” Er stand auf und streckte die Hand nach seinem Sohn aus. “Komm mit mir in den Garten, ja? Ich möchte dir gerne ein paar Dinge zeigen.”

Er empfand ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit, als er die kleine, warme Hand seines Sohnes in der seinen spürte und mit ihm zur Terrassentür ging.

An den Vorfall, den seine Mutter erwähnt hatte, erinnerte er sich noch gut. Nachdem er seine Magie mehr als zwei Jahre lang im Verborgenen hielt, hatte er bei diesem einen Mal die Kontrolle über sie verloren und damit bei seinen Eltern und allen anderen in seiner Umgebung Panik und Angst ausgelöst. Angst vor dem, wozu er noch fähig sein mochte. Sein Vater hatte ihn angebrüllt, dabei aber einen Abstand gewahrt, den er fälschlicherweise für sicher hielt. Und ihn in sein Zimmer eingesperrt, bis die Kutsche aus der Stadt eintraf, die Enric zum Orden der Magier brachte und ihn im Alter von zwölf Jahren seinem Zuhause entriss. Es war ein alles andere als harmonisches Zuhause und ein sicherer Hafen, aber das einzige, das er damals gekannt hatte.

Für seinen eigenen Sohn würde alles ganz anders verlaufen, und er dankte den Sternen, dass Vedrics Magie in einer Situation zum Vorschein gekommen war, in der er von Menschen umgeben war, die ihn liebten und Erfahrung mit solchen Dingen hatten. Und er war froh, dass es genau zu diesem Zeitpunkt geschehen war, kurz nach dem Wiedersehen mit seinen Eltern, so dass sie für ihn da sein und ihn in diesem wichtigen Lebensmoment anleiten konnten.

Anders als Enric selbst würde Vedric nicht gezwungen sein, sich jahrelang zu verstecken und sich zu fragen, was genau mit ihm nicht stimmte. Er würde lernen, mit seiner Magie umzugehen, sich das Wissen aneignen, das er brauchte, um sie richtig zu nutzen – und das alles, ohne von seinen Eltern getrennt und gezwungen zu werden, sich einer Institution anzuschließen, die in ihm in erster Linie einen Aktivposten für den Krieg sah.

Er setzte sich ins Gras, klopfte auf einen Platz neben sich und wartete, bis Vedric seinem Beispiel gefolgt war. Das erste, was er seinem Sohn beibringen würde, war nicht das Errichten von Schutzschilden. Oder seine Muskeln für Stärke oder Schnelligkeit zu verstärken. Das Erste, so beschloss er, würde etwas Unterhaltsames sein. Etwas, bei dem er sich nicht zurückzuhalten brauchte.

Er hob die Hand und ließ einen Blitz aus Magie in die Luft steigen. Einen Moment später explodierte er. Da es Tag war, waren die berstenden Lichter vor dem hellen Himmel noch nicht zu erkennen. Das würde sich in der Nacht ändern. Dann würde das, was jetzt nur ein lautes Geräusch erzeugt hatte, eine hübsche Lichteruption sein, die einem kleinen Jungen große Freude bereiten würde.

Vedric sah mit großen Augen zu. “Kann ich das auch?”

Enric lächelte. “Ich weiß es nicht. Kannst du?”

Kapitel 3

Schwierige Gespräche

Neben seinem eigenen Unbehagen spürte er durch ihr Band auch Eryns noch ausgeprägteres. Er war unendlich froh, dass ihre Verbindung mit jeder Auflösung und Wiederherstellung ihres Bandes schneller zurückkehrte, als würde ein fehlendes Stück in ein Loch mit genau der richtigen Form zurückfallen – mühelos und ohne Reibung. Doch in diesem Moment beschloss er, sich besser abzuschirmen.

Enric selbst hegte immer noch Schuldgefühle wegen Tyront. Nach zwei Jahrzehnten Freundschaft – mit gelegentlichen Spannungen – waren die jüngsten Entwicklungen nicht eben förderlich für ihre Beziehung als Ganzes gewesen. Aber vor Eryns Ankunft in der Stadt hatte es auch nicht allzu viel Anlass für Streit gegeben. Tyront war ein eifriger Akteur des politischen Spiels gewesen, um seine Machtbasis zu erhalten und auszubauen, während sich Enric in dieser Hinsicht nur im erforderliche Minimum involviert hatte, um seine Aufgaben in einem Amt erfüllen zu können, das er nie angestrebt hatte. Enric hatte seine Befriedigung in seinen geschäftlichen Unternehmungen als Gegengewicht zu den trockenen politischen Intrigen gesucht, so dass die beiden Männer nie wirklich Widersacher in diesem Machtspiel gewesen waren. Das war für eine harmonische Beziehung zweifellos förderlich gewesen. Enric hatte keinerlei Ambitionen zur Übernahme des Ordens gehegt – ganz im Gegenteil. Es gab gewisse Freiheiten, die er sich nur leisten konnte, weil die volle Verantwortung für den Orden auf anderen Schultern als seinen eigenen lastete.

Tyront hatte auf Maßnahmen zurückgegriffen, vor allem in Bezug auf Eryn, die seine und Enrics Freundschaft nachhaltig beeinträchtigt und sie am Ende sogar so weit geschwächt hatten, dass nicht mehr viel von ihr übrig geblieben war. Doch seine letzte Tat, das Opfern seines eigenen Lebens, um das ihre zu retten – wie dumm auch immer die Entscheidung gewesen sein mochte, sie in diese Schlacht überhaupt erst mitzunehmen – hatte ihn in Enrics Augen von allem entlastet, was er sich vorher ihr gegenüber hatte zu Schulden kommen lassen.

Er versuchte, sich einzureden, dass es möglicherweise am besten war, so wie die Dinge jetzt standen. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, wie Tyront darauf reagiert hätte, wenn ihm die Verantwortung für den Orden entzogen worden wäre. Welche Erklärung sich der König auch immer einfallen hätte lassen, um die Öffentlichkeit in dem Glauben zu lassen, es handele sich um etwas anderes als einen Vertrauensentzug, für Tyront wäre es jedenfalls eine enorme Schande gewesen, das erste Oberhaupt zu sein, das auf diese Weise abgesetzt wurde. Es hatte in der Vergangenheit Attentate auf Ordensführer gegeben, sei es durch Ratsmitglieder, ehrgeizige Untergebene oder sogar Könige. Doch kein einziger Ordensführer war jemals seines Kommandos enthoben worden und durfte – oder war wohl eher gezwungen – am Leben bleiben, um einer Zukunft ohne die gewohnte Macht entgegenzusehen. Zumindest nahm Enric an, dass König Folrin die Absicht hatte, Tyront am Leben zu lassen. Er wollte glauben, dass sie alle nun in zivilisierteren Zeiten lebten.

Eryns eigene Beziehung zu Tyront, so wusste Enric, war schon immer zwiespältig gewesen. Wie ein Pendel waren die Spannungen zwischen den beiden zeitweise so gut wie nicht vorhanden, nur um bei der nächsten Gelegenheit wieder in die Höhe zu schnellen. Genau wie Enric selbst war auch Tyront zunächst einer ihrer Bewacher, und die Tatsache, dass er die Institution geleitet hatte, der beizutreten man sie gezwungen hatte, hatte ihren Eindruck diesbezüglich im Laufe der Jahre nur verändert, jedoch niemals wirklich aufgelöst. Tyront hatte sie zwar hin und wieder beschützt, aber nur in dem Maße, wie es seinen eigenen Zielen diente. Wenn es stattdessen in seinem Interesse lag, sie zu benutzen, dann hatte er genau das getan.

Doch es lag nicht in Eryns Natur, einen Groll gegen einen toten Mann zu hegen, um ihre eigenen Schuldgefühle in Bezug auf die Umstände seines Todes zu mildern. Enric wünschte, sie würde nur dieses eine Mal diesen Weg wählen, um sich ihr eigenes Leben ein wenig leichter zu machen. Doch gleichzeitig wusste er, dass dies völlig untypisch wäre und wahrscheinlich ein noch größerer Grund, sich um sie zu sorgen.

Sie kamen zum Stehen und starrten auf die Tür der Botschafterresidenz, in der sich sowohl das Königspaar als auch Vyril aufhielten.

“Jemand sollte anklopfen”, meinte Eryn.

“Ja, ich nehme an, das würde helfen”, erwiderte er, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, den Worten die Tat selbst folgen zu lassen.

Sie hörten Schritte von drinnen, dann wurde die Tür aufgezogen, und Kilan sah sie mit ernster Miene an.

“Wollt ihr reinkommen, oder braucht ihr noch eine Minute?”, fragte er sanft, sichtlich im Wissen um ihren inneren Kampf.

“Nein, danke, wir sind bereit”, erwiderte Enric. Seine Hand auf Eryns Rücken schob sie vorwärts, so dass sie keine andere Wahl hatte, als einen Schritt nach vorne zu tun. Auch wenn Kilan ein langjähriger Freund war, so war er doch im Moment noch ein Untergebener, was bedeutete, dass es nicht angebracht war, in seinem Beisein Schwäche zu zeigen. So weit war die Ausbildung des Ordens in seinem Denken noch präsent.

“Wie geht es ihr?” murmelte Eryn, wohl wissend, dass sie damit nicht die intelligenteste aller Fragen stellte.

“Gefasst”, antwortete der Botschafter, “ruhig.” Er ging voraus und die Treppe hinauf. “Sie erwartet euch in meinem Arbeitszimmer.” Er hielt inne und drehte sich um. “Bedient euch ruhig aus dem Schrank, falls ihr einen steifen Drink braucht.”

Enric drückte Kilans Schulter, dann legte er die letzten Schritte bis zur Tür des Arbeitszimmers zurück und klopfte.

“Kommt herein”, antwortete Vyrils gedämpfte Stimme.

Sie folgten der Aufforderung und schlossen die Tür hinter sich wieder. Vyril stand vor dem Fenster und blickte hinaus, ohne sich umzudrehen. Trotz der Wärme war sie in eines ihrer Kleider aus Anyueel gewandet. Sie besaß keine Kleidung, die für das Wüstenklima geeignet war, doch Junar hätte ihr gewiss umgehend etwas genäht, hätte Vyril darum gebeten. Aber im Moment hatte sie andere Sorgen als ihre Garderobe.

Enric und Eryn standen vor dem Schreibtisch und warteten schweigend, bis Vyril bereit war, sich ihnen zuzuwenden. Zwei weitere Minuten verstrichen, bis sie sich schließlich zu ihnen umdrehte.

Ihr Gesicht wirkte blass und hager, als hätte sie sich seit dem Erhalt der schrecklichen Nachricht nicht wirklich um regelmäßige Nahrungsaufnahme gekümmert. Sie sah erschöpft und unsagbar traurig aus, doch ihre Augen waren trocken. Möglicherweise waren keine Tränen mehr übrig.

Eryn spürte, wie ihre eigenen Augen zu brennen begannen. Sie würde nicht weinen, schwor sie sich. Sie würde Vyril nicht in die unmögliche Lage bringen, jemand anderen trösten zu müssen, während sie selbst von Trauer überwältigt war.

“Ich bin froh, euch beide zu sehen”, begrüßte Vyril sie schließlich mit rauer Stimme, die klang, als sei sie in letzter Zeit nicht oft benutzt worden. Sie räusperte sich. “Ich weiß, es muss schwer für euch sein, hier zu stehen.”

Sie lächelte und trat auf Enric zu, wobei sie ihre Hand an seine Wange legte. “Er war so stolz auf dich. Auf den großartigen Mann, zu dem du dich entwickelt hast. Gegen Ende waren die Dinge zwischen euch beiden nicht mehr so, wie sie einmal waren, aber ich möchte, dass du weißt, dass er in dir den Sohn gesehen hat, der ihm niemals vergönnt war. Du hast es geschafft, eine Leere in seinem Herzen zu füllen, als wir nicht in der Lage waren, eigene Kinder zu haben. Er war nicht immer sanft zu dir, manchmal sogar grausam, aber ich weiß, dass das nicht seiner wahren Natur entsprach. So wurde er selbst erzogen und ausgebildet. Der ewige Kampf um die Macht war das, was ihm als würdige Aufgabe für sein Leben vermittelt worden war. Aber dank dir hatte er begonnen zu verstehen, dass es noch mehr als das gab. Du hast ihn dazu gebracht, über Dinge, die er für in Stein gemeißelt gehalten hatte, hinauszuschauen.”

Enric schloss die Augen und drehte seinen Kopf leicht, damit er ihre Handfläche küssen konnte. “Es tut mir so leid, Vyril”, murmelte er, unfähig, mit bedeutsameren Worten aufzuwarten. Was konnte man auch sagen? Die Worte klangen selbst für seine eigenen Ohren banal, doch ihm fiel nichts ein, das seine wahren Gefühle angemessener zum Ausdruck gebracht hätte.

Vyril zog ihre Hand zurück und sah Eryn an. “Und du, meine Liebe, warst seine größte Herausforderung. Er war so froh, dass Enric eine so tiefe Bindung zu dir aufgebaut hat, und machte sich Sorgen, ob du das mit der Zeit erwidern würdest. In einer Welt, in der die Erlangung von Informationen nur eine Frage der Fähigkeit ist, mit Gold zu bezahlen, hast du es geschafft, ihn zu überraschen. Regelmäßig. Er gab stets vor, über jede einzelne deiner Entdeckungen oder Ideen beunruhigt zu sein, aber in Wahrheit liebte er sie, weil sie ihn dazu zwangen, seinen wendigen Verstand richtig zu gebrauchen, während er normalerweise durch die Leitung des Ordens unterfordert war. Nach so langer Zeit war dies für ihn kaum mehr als Routine. Ich habe ihn nie so lebendig erlebt wie in der Zeit seit deiner Ankunft in der Stadt. Ich weiß, er hatte eine seltsame Art, es zu zeigen, aber er schätzte dich sehr. Ich will nicht sagen, dass deine regelmäßigen Abwesenheiten nicht förderlich dafür waren, die Lage zwischen euch beiden zu entspannen, aber nach ein oder zwei Monaten begann er schon, euch beide zu vermissen und freute sich auf eure Rückkehr.”

Eryn spürte, wie das Festhalten an ihrem Vorsatz, nicht zu weinen, fast unmöglich wurde, und verschloss kurzerhand ihre Tränenkanäle mit Magie. Sie hatte mit Wut, unvorstellbarem Kummer, Vorwürfen, vielleicht sogar mit Nichtbeachtung gerechnet, doch die Güte, mit der Vyril ihnen begegnete, war so viel schwerer zu ertragen. Schließlich musste sie von den Gerüchten gehört haben.

“Es ist nicht wahr, was sie sagen”, flüsterte Eryn, “ich wollte nicht, dass er ums Leben kommt.”

Vyril nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und trat einen Schritt näher, so dass sich ihre Stirne berührten. “Ich weiß, Kind. Wer so etwas behauptet, hat keine Ahnung, wer du bist und wofür du stehst. Damals hättest du nicht einmal diese Apotheker hinrichten lassen. Ich weiß, du wolltest nie, dass er stirbt, nur um dich vom Einfluss des Ordens zu befreien.”

Eryn verspürte bei diesen Worten eine so tiefe Erleichterung, dass ihre Knie nachgeben wollten.

Vyril trat einen Schritt zurück und ging auf einen Stuhl zu, auf den sie sich setzte. Eryn bemerkte das Glas auf der Fensterbank, das halb voll war mit etwas, das wie ein starkes Getränk aus dem Schrank aussah, den Kilan ihnen angeboten hatte. Eryn nickte in Richtung des Glases.

“Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich…?”

Vyril schüttelte den Kopf. “Nein, Liebes. Bediene dich. Ich selbst bin im Moment jenseits von solch belanglosen Sorgen wie der richtigen Tageszeit zum Trinken. Ich fürchte, ich bin im Begriff, in eine eher ungesunde Gewohnheit zu verfallen, aber im Moment kümmert mich das wenig.”

Sie gab Enric ein Zeichen, er möge ihr das Glas von der Fensterbank reichen, und er folgte der Aufforderung bereitwillig.

Sie starrte auf den kunstvoll geknüpften Teppich an der Wand und fuhr fort: “Wisst ihr, wenn ich zurückblicke, dann habe ich vermutlich nicht damit gerechnet, Tyront lebend wiederzusehen, nachdem er an Bord dieses Schiffes gegangen war.”

Die Worte ließen Eryn mitten im Einschenken erstarren. Was?

Enrics Augen verengten sich, aber keiner von beiden drängte sie zum Weitersprechen. Sie würde fortfahren, sobald sie dazu bereit war.

Vyril blickte zu Enric auf. “Er wusste von den Plänen des Königs, ihn zu ersetzen.” Sie nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Glas. “Nicht offiziell, natürlich. Es war alles Teil des Spiels, das die beiden seit mehr als zwanzig Jahren spielten. König Folrin versteckte Informationen, von denen er wollte, dass Tyronts Spione sie finden, an einem Ort, der nicht gerade offensichtlich oder leicht zugänglich war, wo sie aber dennoch von Leuten mit den Fähigkeiten, für die Tyront bezahlte, gefunden werden konnten.” Sie lächelte schwach. “Der König hatte sogar vor, Tyront selbst auf sein Amt verzichten zu lassen, damit er sein Gesicht nicht verliert. Dann hätte Tyront das Leben wählen können, das er sich gewünscht hätte. Er hätte um Kilans Position als Botschafter in Takhan bitten oder ein Berater des Königs werden können. Oder einfach einen Platz auf dem Lande wählen können, um ein Leben weit abseits all dieser Verpflichtungen und politischen Spiele zu genießen. Aber das war nicht Tyront. Er sah nur die Schande darin, ersetzt zu werden, damit leben zu müssen, als unzulänglich betrachtet zu werden.”

Eryn schloss die Augen. Tyront war sich dessen also wahrhaftig bewusst gewesen. Und Vyril schien zu glauben, dass er den Krieg als bequemes Mittel zum Selbstmord benutzt hatte. Auf eine Weise, die kein schlechtes Licht auf seine Gefährtin werfen würde. In der Schlacht fallen. Mit all dem Ruhm, den die Menschen mit dieser Art von Tod zu verbinden pflegten. In der Schlacht gefallen, vom Feind niedergestreckt, sein Leben für genau das hingegeben, wofür der Orden ursprünglich gegründet worden war.

“Er hätte nicht gewollt, dass die Leute dir die Schuld an seinem Tod geben, Eryn, oder dass sie über solch unschmeichelhafte und völlig unwahre Motive spekulieren. Leider neigen die Menschen dazu, Fakten zu ignorieren und versäumen zu bedenken, dass sie nicht im Besitz von allem sind, was wissenswert ist. Stattdessen schenken sie eifrig jeder Unterstellung Glauben, die gerade den größten Unterhaltungswert hat. Der Orden ist da keine Ausnahme – egal wie groß seine Anstrengungen sind, die Magier auszubilden.”

Eryn schluckte bei der Bemerkung, dass Ordensmagier kaum mit dem Ziel ausgebildet wurden, ihnen eigenständiges Denken beizubringen, sondern eher mit dem Wissen, das sie brauchten, um nützliche – und vor allem gehorsame – Werkzeuge zu sein.

“Die Tatsache, dass sie ihren Fehler erst erkennen werden, wenn ihr beide den Orden verlassen habt und gänzlich nach Takhan umgezogen seid, ist im Moment natürlich ein schwacher Trost für euch”, fuhr Vyril fort. “Leider könnt ihr es ihnen jetzt nicht mitteilen, denn das sähe aus, als würdet ihr den Orden in einer Zeit der Not im Stich lassen. Ich habe gehört, dass ihr gegen Pirinkar marschieren werdet. Dafür seid ihr auf die Loyalität des Ordens angewiesen. Sie über eure Rolle bei Tyronts Tod spekulieren zu lassen, ist immer noch das kleinere Übel anstatt ihnen zu sagen, dass ihr im Begriff seid zu gehen.”

Enric beobachtete Vyril neugierig. Seit er sie kannte, hatte sie es immer vermieden, sich zu den politischen Vorgängen rund um den Orden zu äußern. Er – das große strategische Genie, für das ihn die Leute und bis zu einem gewissen Grad auch er selbst hielten – hatte den Fehler gemacht, zu glauben, dass sie entweder nicht interessiert war oder dass Tyront sie so gut behütet hatte, dass sie kaum mit den Geschehnissen um sie herum in Berührung kam. Aber ihre einsichtsvollen Worte soeben hatten ihn eines Besseren belehrt – sie war weder uninformiert, noch unfähig, etwas beizutragen. Sie hatte sich lediglich dafür entschieden, nichts beizusteuern – trotz ihrer Fähigkeit, die Vorgänge mit so wenig offensichtlicher Anstrengung treffend zu analysieren.

Er bedauerte, dass er sich irgendwie nie die Zeit genommen hatte, sie genauer zu betrachten, mehr in ihr zu sehen als die Frau in Tyronts Schatten, die ihm ein angenehmes Heim bieten wollte, in das er sich nach einem weiteren Tag anstrengender Ordensarbeit zurückziehen konnte. Sie war die besonnene, wohlberatene Art von Frau, die immer unterschätzt wurde, weil sie so ruhig war, obwohl sie es sicherlich wert war, dass man ihr zuhörte. Allerdings bot das Königreich Anyueel kaum ein Umfeld, in dem intelligenten Frauen auf einer Ebene Gehör geschenkt wurde, auf der sie Einfluss auf die Staatsgeschäfte hatten. Zumindest nicht direkt. Ihre einzige Chance, etwas beizutragen, bestand darin, auf eher verborgene Maßnahmen zurückzugreifen, etwa einen einflussreichen Gefährten zu finden und ihm ins Ohr zu flüstern.

Abgesehen von gelegentlichen Königinnen war Eryn die einzige Frau, der diese Art von Macht jemals zuteil geworden war, und das war allein ihrer Magie zu verdanken.

“Du brauchst dich nicht über die Art und Weise zu grämen, wie er gestorben ist, Eryn”, fuhr Vyril fort. “Es gab mehrere Aspekte. Es ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Zum einen hätte er unter keinerlei Umständen deinem Gefährten gegenübertreten wollen, nachdem er deinen Tod zugelassen hat. Zum anderen hast du einen Sohn, der auf dich angewiesen ist. Und drittens hatte er es noch nicht aufgegeben, dass Enric in Anyueel bleibt und den Orden übernimmt. Er wusste, dass dies niemals geschehen würde, sobald der Krieg erst vorbei war und ihr beide Anyueel für immer verlassen habt.” Sie sah Enric an. “Seine einzige Chance war, dich zu zwingen, den Orden schon vorher zu übernehmen, damit du erkennst, wie gut du dieser Herausforderung gewachsen bist. Er rechnete damit, dass du nicht mehr zurücktreten würdest, wenn du erst einmal an der Macht wärst.” Sie lächelte. “Dieser Plan hat nicht funktioniert, oder? Das hatte ich auch nicht erwartet. Du bist immer noch entschlossen, Anyueel zu verlassen. Ich glaube, er war so geblendet von dem, was er sich wünschte, dass er nicht bedacht hat, dass du nie wirklich Ambitionen in dieser Richtung hattest. Doch in all den Jahren warst du so gut als seine rechte Hand, dass es ihm entfallen sein muss. Er hätte es als ultimatives Versagen seinerseits betrachtet, sein Amt abzugeben, ohne seine Pflicht getan zu haben, indem er für einen würdigen Nachfolger sorgt.”

Eryn schnitt bei diesem letzten Satz eine Grimasse und warf den Kopf in den Nacken, um die starke Spirituose auf eine entschieden weniger damenhafte Weise als Vyrils zierliche Schlucke hinunterzukippen.

“Es wird einen würdigen Nachfolger geben”, erklärte sie und kümmerte sich in diesem Moment wenig darum, dass sie diese Information eigentlich nicht nach eigenem Gutdünken verbreiten sollte.

“Orrin, natürlich”, nickte Vyril, indem sie Eryn vorgriff. “Stimmt. Ich habe das Gefühl, dass Tyront ihn immer unterschätzt hat. Ich habe gesehen, wie Orrin sich einen Ruf aufgebaut hat. Nicht als ein Gegner, mit dem man auf dem politischen Spielfeld rechnen muss, als jemand, der so weit vom Alltag entfernt ist, dass seine Persönlichkeit schwer zu fassen ist, sondern als ein Mann mit Prinzipien, hart wie Stahl, unbestechlich und selbstlos. Einem solchen Mann werden die Menschen folgen. Er ist ein so enormer Gegensatz zum König.” Sie hielt einen Moment inne und blickte auf und um sich. “Obwohl ich so etwas wahrscheinlich nicht sagen sollte, da es impliziert, dass ich Seine Majestät unterstelle, er sei für weit weniger bewundernswerte Eigenschaften bekannt. Wenn es um einen Mann geht, von dem ich weiß, dass er überall Informanten hat und der in diesem Moment sogar unter demselben Dach wie ich weilt, ist man gut beraten, sich etwas besonnener auszudrücken.”

Enric ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre beiden Hände in seine. “Sag mir, was ich für dich tun kann. Ich würde alles tun.”

Sie hob ihre Hand und ließ ihre Finger durch sein goldenes, von ein paar nur aus nächster Nähe erkennbaren silbernen Strähnen durchzogenes Haar gleiten.

“Das werde ich. Obwohl du natürlich weißt, dass ich gut versorgt bin. Dafür hat Tyront gesorgt. Und der Orden würde mich auch nicht in Lumpen sehen wollen. Das wäre nicht gut für seinen Ruf. Ich denke darüber nach, aus dem Palast auszuziehen und vielleicht von nun an im Waisenhaus zu wohnen. Wenn man von Kindern umgeben ist, bleibt nur wenig Zeit, um die Gedanken schweifen zu lassen. So muss ich mich meinem Kummer nur nachts stellen, bis er irgendwann erträglich wird.”

“Du musst uns regelmäßig besuchen kommen”, schlug Enric vor. “Ich würde deine Gesellschaft sehr schätzen.”

“Das würde ich gerne. Ich habe noch nicht viel von Takhan gesehen, aber es scheint ein anmutiger und exotischer Ort zu sein. Allerdings bin ich im Moment nicht in der richtigen Verfassung, um das angemessen zu würdigen.” Sie erhob sich. “Aber ich weiß, dass ich das vielleicht in einem Jahr sein werde.”

Enric nutzte die Gelegenheit, um sich ebenfalls aufzurichten. “Werden wir dich heute Abend beim Bankett sehen?”

Vyril schüttelte den Kopf. “Nein. Ich bin zwar eingeladen, aber ich habe beschlossen, nicht zu gehen. Die Zeiten, in denen ich an solchen Anlässen teilgenommen habe, in offizieller Funktion zu sehen war, gelächelt und als Lockvogel fungiert habe, um bestimmte Leute mit irgendwelchem belanglosen Geschwätz abzulenken, damit Tyront mit anderen Leuten sprechen konnte, sind vorbei. Zumindest diesen Teil werde ich nicht vermissen. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen, wen ich vor den Kopf stoßen könnte, denn jetzt gibt es keine Konsequenzen mehr, die das politische Gleichgewicht stören oder Tyronts Pläne gefährden könnten.”

Eryn staunte über die Einblicke, die Vyril in ihr Leben an Tyronts Seite gewährte, und war dankbar dafür, dass ihre eigene Rolle an Enrics Seite sich davon so stark unterschied.

“Dann musst du uns bald bei uns zu Hause besuchen”, beharrte Eryn. “Und du musst dich von mir in ein Teehaus ausführen lassen. Ich werde dir zumindest ein paar der netteren Dinge hier zeigen und alles tun, was ich kann, um dich zu überreden, bald wieder hierher zurückzukehren.”

Vyril nickte. “Natürlich.” Es war offensichtlich, dass ihre Kräfte zu schwinden begannen und es ihr von Minute zu Minute mehr Mühe bereitete, ihre tapfere Fassade aufrechtzuerhalten. “Danke, dass ihr mich besucht habt. Wir werden uns bald wiedersehen.”

Sie verließen Kilans Arbeitszimmer und schlossen leise die Tür hinter sich. Kilan trat an sie heran und wandte sich an Eryn. “Seine Majestät fragt, ob du ein paar Minuten für ihn hast.”

“Tut er das. Und wenn ich antworten würde, dass ich in Wirklichkeit keine Zeit habe? Dass ich einfach nur von hier weg will, weil ich gerade mit der Frau gesprochen habe, deren Gefährte sein Leben gegeben hat, um meines zu retten, und dass ich ein wenig mit meinen Gedanken allein sein möchte?”, fragte sie, wohl wissend, dass es zwecklos war, doch getrieben von dem Bedürfnis, ihrer Frustration Luft zu machen.

Kilan schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. “Dann muss ich dich daran erinnern, dass die Bitte eines Königs kaum jemals eine Bitte ist, egal wie höflich er sie formuliert.”

Enric drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Ich werde im Hauptraum auf dich warten. Kilan kann mir Gesellschaft leisten. Sei vorsichtig. Du weißt, wie gerne er verwundbare Gefühlszustände für seine Zwecke ausnutzt.”

*  *  *

Noch immer erschüttert von dem Gespräch mit Vyril, betrat Eryn das Hauptschlafzimmer, das sie von ihrem eigenen Aufenthalt hier vor einigen Jahren mit Botschafter Enric von Anyueel in Erinnerung hatte. Sie würde also den Monarchen in seinem Schlafgemach aufsuchen. Großartig. Es schien, als würden sie sich nicht länger mit solch nebensächlichen Überlegungen wie Angemessenheit aufhalten. Allerdings musste sie zugeben, dass die Auswahl an Zimmern etwas begrenzt war. Vyril hielt sich immer noch im Arbeitszimmer auf, und der König wollte offensichtlich etwas Privatsphäre haben, weshalb er sich nicht im Hauptraum unterhalten wollte. Außerdem besaß die Residenz keinen richtigen Garten, sondern nur einen Innenhof, so dass auch kein Spaziergang außerhalb des Gebäudes zur Auswahl stand.

Sie klopfte an und trat ein, ohne zu warten, bis sie hineingerufen wurde. Es war kleinkariert, das war ihr bewusst, doch solche kleinen Akte der Rebellion wirkten Wunder für ihren Seelenfrieden. Vorausgesetzt, sie ereigneten sich ohne Zeugen. Andernfalls konnte es sich der König nicht leisten, ihr diesbezüglich mit Nachsicht zu begegnen, sondern musste sie entsprechend maßregeln.

“Kommt doch herein,” kommentierte König Folrin trocken, als sie die Tür hinter sich schloss. “Ich erschaudere, wenn ich daran denke, was für ein Verhalten ich von Euch zu erwarten habe, wenn Ihr nicht länger meine Untertanin seid.”

Eryn lächelte strahlend. “Da ich davon ausgehe, dass Ihr mich dann nicht länger als solche behandelt, werde ich Euch mit der gleichen Höflichkeit behandeln, die Ihr mir entgegenbringt.”

In eine vergleichsweise einfache dunkelgrüne Tunika und hellbraune Hosen gekleidet, trat er auf sie zu und musterte sie. “Ihr seht etwas verärgert aus. Ich nehme an, Euer Gespräch mit Vyril kein einfaches.” Es war keine Frage. Lediglich eine seiner kleinen Beobachtungen, die kaum Antwort oder sonstige Bestätigung erforderten.

“Was kann ich für Euch tun, Eure Majestät?”, fragte sie höflich und wollte damit signalisieren, dass sie nicht länger als unbedingt nötig zu verweilen gedachte. Dieser Tag war bis jetzt alles andere als erfreulich verlaufen, und das bevorstehende Bankett am Abend würde auch nicht gerade zu ihrer Entspannung beitragen.

“Ihr könnt mir erzählen, wie es Euch im Moment ergeht.”

Eryn verschränkte die Arme. “Weil Ihr Euch vergewissern wollt, dass ich mich in einer Verfassung befinde, die mich für Eure geplanten Manipulationsversuche empfänglich macht?”

“Euer Misstrauen verwundet mich zutiefst”, seufzte er und platzierte eine Hand auf seinem Herzen.

“Ein bisschen mehr nach rechts.”

“Verzeihung?”

“Das Herz. Entgegen der landläufigen Meinung befindet es sich nicht ganz so weit links. Es liegt mehr in der Mitte der Brust. Ich finde, darauf sollte ich hinweisen.”

Er hob eine Augenbraue. “Dann nehme ich das zur Kenntnis und bedanke mich dafür, dass Ihr die Akkuratheit meiner dramatischen Gesten erhöht habt.”

“Stets zu Euren Diensten”, erwiderte sie mit einer kleinen Verbeugung.

“Lasst uns darauf zurückkommen, wie es Euch derzeit ergeht. Wie ich höre, hattet Ihr bisher einen durchaus schwierigen Tag. Eure Auseinandersetzung mit Junar während eines Essens, das, wie ich annehme, als geruhsame Mahlzeit gedacht war, dann das unerwartete Hervorbrechen der Magie Eures Sohnes und schließlich die Begegnung mit Vyril. Letztere war, wie ich annehme, so ruhig und zivilisiert, wie Vyril sie zu gestalten vermochte. Sie ist eine wahre Lady, selbst wenn sie in ihrem Kummer ertrinkt. Und ich bin mir gewiss, dass sie sich nicht so weit herablassen würde, den Spekulationen über das Ableben ihres Gefährten Glauben zu schenken, die derzeit im Orden so populär sind.”

Eryn atmete aus. Und beschloss dann, selbst eine Frage zu stellen. Dies kam ihr langsam wie eine seiner kleinen Lektionen in politischer Strategie vor, und bei solchen Gelegenheiten erwartete er sogar, dass sie sich aktiv beteiligte.

“Ihr habt dafür gesorgt, dass Tyront erfährt, dass Ihr ihn ersetzen wollt. Warum eigentlich? Wolltet Ihr, dass er einen glorreichen Tod in der Schlacht sucht, um Euch die Mühe zu ersparen, ihn seines Amtes zu entheben?”

Der König schien diese Frage vorausgesehen zu haben. Er trat an einen kleinen, runden Tisch mit zwei bequem aussehenden Stühlen direkt vor dem Fenster. Eryn vermutete, dass der König sie herbringen hatte lassen, da Kilan vermutlich nicht die Gewohnheit pflegte, Gäste in seinem Schlafzimmer zu empfangen. Zumindest nicht die Art von Gäste, die sich lieber an einen Tisch setzen, als es sich auf dem Bett bequem zu machen.

“Das war keineswegs mein Wunsch. Doch ich kannte Lord Tyront schon lange und ahnte, dass dies die Art von Ende sein könnte, die er selbst bevorzugen würde. Die Leitung des Ordens war viele Jahre lang sein wichtigster Lebensinhalt. All seine Energie war diesem Ziel gewidmet. Ihm diese Position zu entziehen, bedeutete für ihn viel mehr, als es für, sagen wir, Euren Gefährten der Fall wäre. Lord Enric hat dem Orden nie mit der gleichen ungeteilten Aufmerksamkeit gedient wie sein früherer Vorgesetzter. Er verfolgte persönliche Interessen, zerstreute sich in zahlreichen Unternehmungen, wagte sich immer wieder in neue Gefilde, wenn er ein weiteres zu seiner Zufriedenheit gemeistert hatte oder es ihn nicht entsprechend herausforderte. Und sein Leben wurde durch seinen Sohn und seine geschäftlichen Interessen hier in Takhan zusätzlich bereichert. Anders als Lord Tyront war er also keineswegs auf den Orden angewiesen, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Beraubt man einen Mann dessen, kann ihn das in eine schwere Krise stürzen.”

“Und dennoch habt Ihr Euch entschlossen, die Sache weiterzuverfolgen, obwohl Ihr wusstet, welche Auswirkungen das haben könnte.”

“Ich wünschte, ich könnte mir den Luxus leisten, meine Entscheidungen ausschließlich auf das emotionale Wohlbefinden jedes einzelnen meiner Untergebenen zu stützen. Ihr, meine liebe Eryn, werdet mit der Zeit lernen, dass dies nicht möglich ist, wenn Ihr erst einmal Haus Aren übernommen habt. Manchmal gilt es Opfer zu bringen, um das übergeordnete Wohl zu sichern.” Er hielt inne und wartete. “Wollt Ihr nicht Platz nehmen? Oder möchtet Ihr mir zu verstehen geben, wie dringend Ihr diesen Raum verlassen wollt? Mit mir allein in meinem Schlafzimmer zu sein, beunruhigt Euch nicht, hoffe ich? Ihr könnt versichert sein, dass meine… Neigungen Euch gegenüber von vor einigen Jahren sich zu etwas gewandelt haben, das Ihr als deutlich weniger bedrohlich ansehen würdet. Und selbst wenn das nicht der Fall wäre, würden mein Respekt und meine Zuneigung zu meiner Gefährtin es mir unmöglich machen, diesbezüglich irgendwelche Handlungen zu setzen. Nehmt also Platz, damit wir unser Gespräch in einer entspannteren Atmosphäre fortsetzen können.”

Eryn setzte sich. Irgendetwas an seinen Worten verärgerte sie, aber sie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Er hatte angedeutet, dass sie dachte, er fühle sich immer noch zu ihr hingezogen. Was nicht der Fall war. Seit jenem schicksalhaften Tag, an dem er sie geküsst hatte, hatte er ihr keinen Grund zu der Annahme gegeben, dass er in ihr mehr als eine vergnügliche Zerstreuung sah.

“So eingebildet bin ich nicht”, erwiderte sie schließlich ein wenig verärgert. “Der Grund dafür, dass ich mich kurz fassen möchte, ist nicht, dass ich glaube, dass Ihr mich auf dieses Bett werfen wollt, sondern weil ich weiß, dass ich mich derzeit in einem anfälligen Geisteszustand befinde für das Spiel, das Ihr vermutlich mit mir zu spielen gedenkt.”

Er lachte. “Gut gesagt, Eryn. Es freut mich zu sehen, dass Ihr aus der Vergangenheit gelernt habt. Doch ich kann Euch versichern, dass ich nicht hier bin, um Euch für einen meiner finsteren Pläne zu benutzen. Ihr habt mein Wort.”

Eryn schürzte ihre Lippen. Sein Wort. Sie wusste, dass er es nicht leichtfertig gab, aus dem simplen Grund, weil er es sich nicht leisten konnte, es zu brechen. Sie spürte, wie sie sich ein wenig entspannte.

“Ich will nicht, dass Ihr mich für grausam und gleichgültig gegenüber dem Schicksal haltet, das Lord Tyront für sich selbst gewählt hat. Ich trauere um ihn. Wir sind nun schon seit geraumer Zeit denselben Weg gegangen. Mal waren wir Verbündete, mal Gegner. Dennoch haben wir einander stets mit dem Respekt behandelt, der dem jeweils anderen gebührte. Jeder von uns war sich bewusst, dass wir beide darauf bedacht waren, das zu tun, was wir letztlich als das Beste für das Königreich ansahen, auch wenn wir uns nicht immer über die Mittel einig waren, die letztlich zu diesem Ziel führen würden. Es war dieser Respekt vor ihm, der mich dazu veranlasste, ihn über meine Pläne zu seiner Absetzung von seinem Amt zu informieren, damit er seine Wahl treffen konnte. Ich bin mit seiner Entscheidung nicht zufrieden, will aber zugeben, das ich so etwas erwartet hatte.”

“Er hätte sich zumindest für Umstände entscheiden können, die meinem Seelenfrieden weniger abträglich sind.” Die harschen Worte entwichen Eryns Mund, bevor sie sie zurückhalten konnte. Sie schloss die Augen. “Können wir vergessen, dass ich das gesagt habe?”, fragte sie mit wenig Hoffnung, dass er ihrer Bitte nachkommen würde. Bei ihrer Ankunft hatte er sich erkundigt, wie es ihr erging, und bis jetzt war sie ihm eine Antwort schuldig geblieben. Dies war die ehrlichste Antwort, die er sich erhoffen konnte.

“Ich nehme an, das hätte er ebenfalls vorgezogen”, antwortete der König und ignorierte ihren Wunsch, ihre Worte zu revidieren. “Wie ich Lord Tyront kenne, hat er nicht einfach die erste Gelegenheit ergriffen, sein Leben zu lassen, um das Risiko, den Krieg zu überleben, zu verringern. Ich nehme an, dass er ursprünglich die Absicht hatte, mehr zum Gesamtergebnis beizutragen. Wie habt Ihr persönlich sein Verhalten in der Schlacht wahrgenommen?”

Sie benötigte einige Sekunden, um über diese Frage nachzudenken. Als sie zurückblickte, sah sie vor ihrem inneren Auge, wie er seinen Männern voran auf den Feind zugerannt war, sein Schwert im Anschlag. Er hatte sich nicht dafür entschieden, zurückzubleiben und alles von der Stadtmauer aus zu dirigieren. “Wagemutig. Bereit, Risiken einzugehen.”

“Sind das Attribute, die Euch üblicherweise in den Sinn gekommen wären, wenn man Euch vor dem Krieg aufgefordert hätte, Lord Tyront zu beschreiben?”

Ohne zu zögern schüttelte sie den Kopf. Definitiv nicht. “Nein.”

“Ein Mann, der nicht nur glaubt, dass er nichts zu verlieren hat, sondern aktiv versucht, das Überleben zu vermeiden, ist in einem Kampf wesentlich unvorsichtiger, wenn es darum geht, sich zu schützen”, wies der König auf das Offensichtliche hin. “Er hat sich nicht entschieden, sein Leben zu opfern, um das Eure zu retten, möchte ich vermuten. Er hat lediglich in der neuen Rücksichtslosigkeit für seine eigene Sicherheit gehandelt, die er sich angeeignet hatte. Ich glaube nicht, dass er die Absicht hatte, Euch mit seinem Opfer Kummer zu bereiten, weder persönlich im Sinne von Schuldgefühlen noch für Euren Ruf aufgrund von Spekulationen über etwaige Ambitionen Eurerseits, sein Leben zu beenden.”

Eryn seufzte. “Natürlich nicht.” Sie kam sich dumm vor, weil sie so etwas laut ausgesprochen hatte, sodass er es mitanhören konnte. Doch wie es gelegentlich mit solchen ungeplanten Äußerungen der Fall war, hatte sie etwas erkannt, dessen sie sich nicht bewusst gewesen war – dass neben ihren Schuldgefühlen auch ein gewisser Groll gegen Tyront in ihr brodelte. Was nicht gesund war, wenn man sich vor Augen führte, dass das Ziel dieser Gefühle verstorben war und nicht als Gegenpart für die Lösung dieses Problems zur Verfügung stand.

Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht. “Ihr seid gut mit solchen Dingen. Ihr könntet Iklan Konkurrenz machen. Solltet Ihr jemals beschließen, dass Ihr keine Lust mehr habt, ein König zu sein, wendet Euch an ihn. Ich bin sicher, er hätte Verwendung für Euch.”

“Ein wirklich verlockender Vorschlag. Ich werde ihn in Betracht ziehen, sollte ich des Regierens jemals überdrüssig werden. Die Trauer und die Schuldgefühle sind etwas, mit dem Ihr selbst zurechtkommen müsst. Doch das Problem, die Loyalität des Ordens zu bewahren, ist eine dringendere Angelegenheit, die eine sehr reale Gefahr für unseren bevorstehenden Feldzug darstellt. Wir können es uns nicht leisten, dass die moralische Integrität der Ordensführer in Frage gestellt wird. Das mindert die Bereitschaft der Soldaten, ihren Befehlen zu folgen.”

Eryn ließ den Kopf zurücksinken und starrte auf die kunstvoll bemalte Decke. Verschiedene Muster, bestehend aus komplizierten blumenartigen Ornamenten, die sich immer wieder ineinander verschlangen, bis die Augen des Betrachters zu verschwimmen begannen bei dem Versuch zu bestimmen, wo ein Element endete und das nächste begann.

“Ihr könntet Enric und mich mit unmittelbarer Wirkung aus dem Orden entlassen und Orrin sofort die Leitung übernehmen lassen”, schlug sie vor.

“Auf keinen Fall”, erwiderte König Folrin. “Das wäre weder in meinem noch in Eurem Interesse. Der Orden würde von einem weiteren Wechsel an der Spitze in einer so kritischen Phase nicht profitieren. Und es käme einem Schuldeingeständnis gleich. Schlimmer noch – entließe ich Euch aus Euren Ämtern, würde ich offen kommunizieren, dass ich Euch dessen für schuldig erachte, was so viele glauben wollen. Und das würde nicht einfach verschwinden, nachdem Ihr den Orden verlassen habt und hierher gezogen seid, ganz gleich, was Eure früheren Verdienste sind oder die Tatsache, dass Ihr ein Abkömmling von Haus Aren seid. Alles, was Ihr in den letzten Jahren erreicht habt, all das Gute, das Ihr für diejenigen vollbracht habt, die es jetzt so eilig haben, Euch zu verurteilen, wird im Angesicht der Anschuldigungen verblassen.”

Eryns Kiefermuskeln verkrampften sich. Sie wollte vor Frustration schreien. Er hatte Recht. Der Orden war Veränderungen unterworfen gewesen, die seinen Mitgliedern im Laufe der Zeit und auch in Zukunft mehr Freiheit gewähren würden – Veränderungen, für die sie selbst gekämpft hatte. Und jetzt drehten sich die Nutznießer ihrer Bemühungen bei der ersten Gelegenheit um und zeigten mit dem Finger auf sie – ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihren Ruf zerstörten, obwohl sie nicht einmal den allergeringsten Beweis vorliegen hatten.

“Es ist schmerzhaft, nicht wahr?” Die Stimme des Königs war sanft. “Das war etwas, das ich in meinen ersten Jahren auf dem Thron nur sehr schwer begreifen konnte. Gerade die Menschen, nach deren Wohlergehen man strebt, sind diejenigen, die einen am liebsten fallen sehen würden – ohne erkennbaren Grund. Sie würden einen in den Staub treten, rücksichtsloser als selbst die eigenen Feinde. Die menschliche Natur ist eine seltsame Sache, nicht wahr? Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb Haus Vel’kim nie die Führung des Landes angestrebt hat – ihre Nähe zu den Menschen aufgrund ihrer Neigung zum Heilen bringt sie in so engen Kontakt mit der menschlichen Natur in ihrer unverfälschten Form, dass sie beschlossen, dass es die Mühe nicht wert ist.”

Eryn lächelte leise. Diese Erklärung würde Valrad mit Sicherheit zurückweisen. Er würde darauf bestehen, dass die wahre Motivation hinter dieser Zurückhaltung etwas Edelmütiges war, etwa der Drang, den Menschen auf eine unmittelbarere Weise zu dienen, den Bedürftigen näher zu sein, als es der Posten eines Triarchen ermöglichte.

“Was schlagt Ihr stattdessen vor, um uns zu rehabilitieren?”

“Daran arbeite ich. Ich möchte es zuerst mit der Königin besprechen und ihre Meinung dazu hören.”

“Es freut mich zu sehen, dass Ihr das Prinzip des gemeinsamen Regierens mit so wenig Aufwand anzunehmen scheint, nachdem Ihr all die Jahre die ultimative Macht allein in Euren Händen hattet.”

Er nickte. “Ich gebe zu, das ist wahr. Aber ich denke, dass es umso einfacher ist, die Macht zu teilen, wenn man die richtige Person an seiner Seite hat. Del’na’bened passt hervorragend zu meiner Persönlichkeit und meiner Position.”

Eryn hob die Brauen. “Das ist gefährlich nahe an einer Liebeserklärung. Es ist gut, dass Malriel so gut für Euch gewählt hat.”

“In der Tat. Ich werde für immer in ihrer Schuld stehen. Obwohl ich darauf hinweisen sollte, dass die Entsendung meiner Truppen zu ihrer Hilfe sicherlich dazu beigetragen hat, diese Schuld etwas zu reduzieren.”

“Sind wir jetzt fertig? Falls nicht, ist es mir ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass es in diesem Land aufgrund der Hitze üblich ist, einem Gast etwas zu trinken anzubieten. Selbst diejenigen, die man lieber mit einer Schaufel schlüge, als sie zu bewirten.”

“Verzeiht meine Nachlässigkeit”, entschuldigte sich König Folrin und stand auf, um den Raum zu verlassen und wenig später mit einem Tablett mit einer Karaffe Wasser und zwei Gläsern zurückzukehren.

Sie nahm die Gläser und füllte beide. Nun, das beantwortete zumindest ihre Frage, ob sie fertig waren oder nicht. Aber sie hatte das Gefühl, dass er vorerst nicht weiter über Tyront sprechen wollte.

“Apropos Gäste, die man am liebsten mit einer Schaufel erschlüge, wie Ihr es in Eurer von mir so geschätzten Offenheit so treffend formuliert habt…”

Nachdem sie das Glas zur Hälfte geleert hatte, stellte Eryn es auf den kleinen Tisch. “Ihr bezieht Euch ganz offensichtlich auf Junar. Ihr habt bereits erwähnt, dass Ihr wisst, was heute Morgen passiert ist. Wer hat Euch davon berichtet? Malriel?”

Er nickte zur Bestätigung. “Ja. Sie kam vor kurzem für einen schnellen Besuch vorbei.”

“Mir war nicht bewusst, dass meine persönlichen Probleme mit einer Frau, die ich einst als Freundin betrachtet habe, eine derart wichtige Angelegenheit sind. Eine, die sogar mein König als bedeutsam betrachtet.”

“Das ist nicht mehr nur eine rein persönliche Angelegenheit, Eryn.”

Dreimal, zählte sie im Stillen. So oft hatte er sie seit ihrer Ankunft ohne ihren Titel angesprochen.

“Wie das, teuerster Folrin?”

“Weil Ihr ein hochrangiges Mitglied des Ordens seid und Junar die Gefährtin der Nummer Fünf und des Oberhauptes der Krieger ist. Der Bruch zwischen Euch ist einigen Leuten bekannt, wenn auch nicht allen. Doch so wie die Dinge zwischen Euch beiden stehen, ist dies nur eine Frage der Zeit. Und gerade jetzt ist ein schlechter Zeitpunkt, um eine solche Tatsache publik zu machen.”

Eryn öffnete den Mund, um zu fragen, wovon er genau sprach, hielt sich aber zurück. Er hatte Recht – sie hatte nicht bedacht, dass sich die Dinge seit den Anfängen ihrer Freundschaft erheblich verändert hatten. Damals war Junar eine unbekannte Näherin gewesen, ein Mitglied der Arbeiterklasse ohne jegliche Verbindungen zu den höchsten Kreisen des Königreichs. Und Eryn eine Gefangene ohne Einfluss oder auch nur die Freiheit zum Durchschreiten der Stadttore. Damals waren die Dinge persönlich. Aber jetzt waren sie viel mehr als das. Junar war mit dem Mann verbunden, der in naher Zukunft zum zweitmächtigsten Mann des Königreichs avancieren würde. Und Eryn befand sich bereits in genau dieser Position – zusätzlich zu ihrem eigenen hohen Rang. Orrin war als enger Freund und Unterstützer Eryns bekannt – und wenn Junar öffentlich ihr Misstrauen bekundete, würden die Leute sofort annehmen, dass dies auch Orrins eigene Position widerspiegelte. Wenn die Menschen dachten, sie hätte Orrins Unterstützung verloren, wäre das ein schwerer Schlag in ihrer gegenwärtigen Situation.

Eryn spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog. Von einem Moment zum nächsten war Junar plötzlich gefährlich geworden. Das Problem war, dass sie keine Ahnung hatte, wie Orrin reagieren würde, wenn bekannt wurde, dass Junar an Eryns Unschuld bezüglich Tyronts Tod zweifelte. In der Vergangenheit hatte er sich zurückhaltend gezeigt, war seinem Wunsch gefolgt, Streitigkeiten zu vermeiden, die seiner Meinung nach mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Eryn nahm ihm das nicht übel. Geteilte Loyalitäten waren eine schwierige, zermürbende Sache. Allerdings barg dies die Gefahr, dass er sich weiterhin für diesen Weg entschied, solange seine Gefährtin betroffen war.

“Ich würde ja versuchen, das zu ändern, wirklich”, flüsterte sie. “Aber ich wüsste nicht, wie. Ich habe das Gefühl, dass Junar sich schon seit einiger Zeit von mir entfernt hat, dass es kaum mehr als einer vermeintlichen Beleidigung bedurfte, um auch das letzte Band zwischen uns zu zerschneiden. Das alles ist für mich nicht greifbar, und ich habe keine Ahnung, wie ich es reparieren kann. Nach allem, was zwischen Junar und mir passiert ist, weiß ich nicht einmal, ob ich das überhaupt noch möchte.”

König Folrin beobachtete sie eine Weile, dann bot er ihr an: “Ich könnte Euch vielleicht behilflich sein, wenn Ihr es hören wollt. Zumindest, was die Ursache für die Kluft zwischen euch beiden angeht.”

Sie blinzelte. Gab es irgendetwas, für das er sich nicht interessierte oder über das er keine Informationen sammelte? Aber andererseits war ihr gerade klar geworden, dass ihre Beziehung zu Junar schon lange nicht mehr so unerheblich für ihr Umfeld war, wie sie gedacht hatte. Natürlich hatte er das frühzeitig erkannt und seine Spione entsprechend instruiert – was bedeutete, dass er inzwischen wohl im Besitz einer ansehnlichen Sammlung an Details war.

“Nur zu. Ich bin ganz Ohr”, lud sie ihn ein, resigniert darüber, dass sie nun höchstwahrscheinlich einige Neuigkeiten über ihre frühere Freundschaft erfahren würde. Es war gut, dass sie den Punkt hinter sich gelassen hatte, an dem eine solche Absurdität, wie vom König eine weitere intime Erkenntnis über sich selbst vermittelt zu bekommen, sie beunruhigt hätte.

“Die Antwort ist eigentlich recht einfach. Ich gehe davon aus, dass Ihr selbst zu gegebener Zeit darauf kommen würdet, jetzt, da Ihr Euch und Junar nicht mehr als die einzigen Akteure oder vielmehr Interessenten an Eurer Freundschaft betrachtet. Ihr wisst, in welchen Kreisen sich die Ratsmitglieder und deren Gefährtinnen bewegen. Sie zeichnen sich durch Opportunismus und somit durch das Streben nach vorteilhaften Allianzen aus. Diese reichen von lukrativen Geschäftsbündnissen bis hin zu persönlichen Beziehungen unter den Gefährtinnen der Machthaber. Sogar bis hin zu Beziehungen unter den Dienern und Zulieferern der Reichen und Mächtigen, aber das ist für den vorliegenden Fall nicht relevant. Man stelle sich nun eine Frau vor, die aus bescheidenen Verhältnissen stammt und der es durch bestimmte Umstände gelungen ist, in diese Kreise vorzudringen. In Kreise, deren elitärer Charakter naturgemäß mit einem sehr begrenzten Zugang verbunden ist. Was wäre Eurer Meinung nach eine logische Reaktion solcher Kreise auf einen Neuankömmling, den sie kaum für würdig halten, den sie aber nur schwer oder gar nicht wieder loswerden können?”

“Ablehnung”, murmelte Eryn und erinnerte sich daran, dass dies damals durchaus ein Problem für Junar gewesen war. Deshalb hatte sie bestimmte Veranstaltungen gemieden oder nur dann besucht, wenn Eryn mit ihr gemeinsam dort aufgetaucht war. Aber Eryn war gezwungen gewesen, Anyueel jedes Jahr für sechs Monate zu verlassen, was bedeutete, dass Junar allein zurückgeblieben war, anfällig für alle hinterhältigen Angriffe und Intrigen, die sich diese Frauen ausgedacht hatten. War es das, was Junar letztlich so sehr verändert hatte? Die Bitterkeit, die aus dem Gefühl resultierte, immer wieder zurückgelassen zu werden, ohne den Schutz ihrer mächtigen Freundin?

“Genau. Ablehnung erzeugt den starken Wunsch, akzeptiert zu werden, vor allem, wenn man niemanden hat, an den man sich wenden kann. Ständige Kritik und Ablehnung können dem menschlichen Geist Schlimmes zufügen. Er beginnt, den Dingen, die andere behaupten, Wahrheit zuzuschreiben. Wenn wir etwas oft genug hören, beginnen wir es irgendwann zu glauben – trotz unserer ursprünglichen Überzeugung, dass es unwahr ist.”

Eryn war dieses Konzept bekannt. Es war ein Grund, warum positive Bestätigung und Aufmerksamkeit bei der Erziehung eines Kindes so essenziell waren. Ein Kind, das wusste, dass es geliebt und anerkannt wurde, würde mit der Zeit aufblühen. Während ein anderes, das damit aufwuchs, dass ihm gesagt wurde, es sei wertlos und unzulänglich, sich zu einem Erwachsenen entwickeln würde, dessen Selbstwertgefühl genau darauf basierte.

Der Gedanke, dass Junar eine solche Behandlung erfahren hatte, ließ sie erschaudern.

Der König fuhr fort: “Als diese Frauen schließlich merkten, dass Junar gekommen war, um zu bleiben, änderten sie ihre Strategie. Nachdem sie Junar lange genug mit Unfreundlichkeit traktiert hatten, damit sie glaubte, sie hätte es verdient, war es nicht schwer, sie zu ködern. Je stärker die Ablehnung, desto stärker der Wunsch, ihr zu entkommen und als würdig angesehen zu werden. Die Möglichkeit, sich plötzlich den eigenen Angreifern anschließen zu dürfen, ist nichts weniger als ein wahr gewordener Traum.”

Eryns Herz hatte begonnen, in ihrer Brust zu hämmern. Warum hatte sie nichts von alledem mitbekommen? Immerhin war sie die Hälfte der Zeit vor Ort gewesen!

“Ah, ich kann die Frage in Euren Augen so deutlich lesen, als hättet Ihr sie ausgesprochen. Ich versichere Euch, dass es keinen Grund gibt, Euch Vorwürfe zu machen. Ihr habt die unglückliche Neigung, die Verantwortung für alles und jeden in Eurer Umgebung übernehmen zu wollen. Lasst mich Euch sagen, dass dies keine gesunde Einstellung ist. Sie waren scharfsinnig genug, um ihre Bemühungen hauptsächlich in Eurer Abwesenheit fortzusetzen. Das war die Zeit, in der Junar am empfänglichsten dafür war. Die Trennung von euch beiden war ein wichtiges Ziel. Zunächst war es ein Mittel, um Junar verwundbarer zu machen, aber mit der Zeit wurde ihnen klar, dass Orrin in der Zukunft des Ordens eine wichtige Rolle spielen würde, was bedeutete, dass auch Junars Einfluss zunehmen musste. Zu diesem Zeitpunkt diente Eure Distanzierung von Junar einem anderen Zweck – einem von ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich als enge Freundin von ihr zu etablieren, um Euch zu ersetzen und von dieser Position zu profitieren. Nach mehreren Jahren dieses Spiels bedurfte es schließlich nur noch eines geringfügigen Meinungsunterschieds zwischen euch beiden, um Junar glauben zu machen, dass alles, was man ihr über Euch erzählt hatte, wahr sei.”

Eryn knirschte mit den Zähnen und spürte, wie die Benommenheit allmählich durch Zorn ersetzt wurde. “Was haben sie ihr über mich erzählt?”

“Kleinigkeiten hier und da, zuerst nur Andeutungen, aber mit der Zeit immer dreistere Kritik und schließlich offene Lügen. Dass Ihr Junar benutzt und bei Lord Orrin platziert habt, um sie zu einem wertvolleren Werkzeug für Euch zu machen. Dass Ihr dafür gesorgt habt, dass sie schwanger wurde, um ihre Beziehung zu Lord Orrin zu festigen. Dass Ihr ihr Eure moralischen Werte aufzwingt, weil Ihr sie für nicht viel mehr haltet als für die Gefährtin Eures Untergebenen, die dankbar sein sollte für jede Führung, die sie von einem höheren Wesen wie Euch erhalten kann. Dass sie für Euch ein bequemes Mittel ist, um eine Dienerin zu behalten, die Eure Befehle ausführt und weiterhin Eure Kleider herstellt. Soll ich fortfahren? Ihr wirkt ein wenig aufgewühlt. Atmen, Eryn. Ich möchte weder, dass Lord Enric hier hereinstürmt, weil er vermutet, dass ich wer weiß was mit Euch anstelle, noch würde ich es begrüßen, wenn dieses ansprechende Gebäude mich unter sich begrübe.”

Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihre Unterlippe zitterte. Diese niederträchtigen, heimtückischen, unmöglichen Aasgeier!

“Es gibt noch etwas, was sie ihr gesagt haben. Etwas, das für sie besonders schwer zu verkraften gewesen sein muss. Man ließ sie glauben, dass Lord Orrins persönliches Interesse an Euch anfangs deutlich weniger harmlos gewesen sei, dass er Euch begehrte. Besonders hinterhältig war es, ihr mitzuteilen, dass er am Abend Eurer Verlobung sogar im Begriff war, Euch für sich zu beanspruchen. Nur das Eingreifen von Lord Tyront hat ihn davon abgehalten. Der letzte Teil von Lord Orrins beabsichtigter Intervention ist die Wahrheit – doch wie Ihr und ich wissen, geschah dies aus ganz anderen Gründen, als mit dem Motiv, Euch für sich zu gewinnen. Er erkannte lediglich, dass Ihr unter Zwang standet und wollte die Zeremonie lange genug hinauszögern, um einen Ausweg zu finden. Eine weitere Tatsache ist, dass Lord Enric eine Zeit lang ziemlich eifersüchtig auf Lord Orrin war, wie Ihr zweifellos wisst. Obwohl wir Eurem Gefährten verzeihen mögen, dass er damals von der Angst angetrieben wurde, Euch zu verlieren. Dass seine Gedanken von Eifersucht getrübt wurden, ist das, was einige Jahre später mit Junar geschah. Jede spielerische und freundliche Interaktion zwischen Lord Orrin und Euch wurde plötzlich zu einer Bedrohung für ihre Beziehung. Vor allem, als Malriel Lord Orrin bat, nach Takhan zu kommen, um Euren Sohn zu beschützen. Ihr dürft den Sternen danken, dass Vedric seinem Vater stark genug ähnelt, als dass sich glaubwürdig behaupten ließe, er sei in Wahrheit Lord Orrins Sohn. Andernfalls würde ich es diesen reizenden Damen durchaus zutrauen, Junar diesen Gedanken in den Kopf zu setzen und zuzusehen, wie er sich entfaltet. Der menschliche Verstand ist eine wunderbare Sache. Er kann im Laufe der Zeit trainiert und gezwungen werden, sich eine bestimmte Art des Schlussfolgerns und Denkens anzueignen. Aus diesem Grund neigen verschiedene Berufsgruppen dazu, ein Problem auf eine bestimmte Art und Weise anzugehen, die der Denkweise entspricht, in der sie ausgebildet wurden. Deshalb machen Euch Eure Fähigkeiten in unterschiedlichen Disziplinen zu einer so begabten Frau, Eryn. Aber vergebt mir, ich schweife ab. Ich wollte darauf hinweisen, dass Junars Verstand mit der Zeit von ganz allein auf bestimmte Verdachtsmomente gestoßen sein muss. Vormals harmlose Dinge müssen sich plötzlich in Hinweise auf ein weiteres finsteres Motiv Eurerseits verwandelt haben – jedes Grinsen eine Beleidigung, jeder vorsichtige Blick eine Kritik, jeder Witz oder Scherz, den Ihr mit Lord Orrin geteilt habt, ein Beweis für sein glühendes Verlangen nach Euch. Und so neigte sich die Waage.”

“Und warum, wenn ich so kühn sein darf, so etwas zu fragen”, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, “habt Ihr es nie der Mühe wert gefunden, mich über solche Dinge zu informieren? Warum habt Ihr zugesehen, wie eine enge Freundin von mir gegen mich aufgewiegelt wurde, anstatt mich zu warnen? War es so unterhaltsam, dabei zuzusehen? Oder profitiert Ihr in irgendeiner Weise von dem Ende meiner Freundschaft mit Junar?”

Irgendwie wurde die Liste der Leute, denen sie an den Kragen wollte, von Minute zu Minute länger. Jetzt befand sich sogar ein König auf der Liste.

“Wie hättet Ihr auf eine solche Warnung von mir reagiert, frage ich Euch?”, meinte er ruhig. “Hättet Ihr ihr sofort Glauben geschenkt? Oder hättet Ihr mich eher verdammt, weil ich Eure Freundin ausspioniert habe? Und mich beschuldigt, ihre Intelligenz zu beleidigen, indem ich ihr unterstellte, sie würde wirklich auf ein solches Komplott hereinfallen, selbst wenn es so etwas Lächerliches gäbe? Hättet Ihr von mir verlangt, dass ich meine Observierung unverzüglich einstelle? Und mein Interesse an Eurer Freundin auf meinen Wunsch zurückgeführt, Informationen zu sammeln, mit dem einzigen Ziel, Euch zu benutzen?”

Eryn wollte aus ganzem Herzen widersprechen. Es tat fast weh, wie sehr sie ihm vorwerfen wollte, dass er sich gründlich irrte. Und es tat noch viel mehr weh, dass sie es nicht konnte, weil er so absolut und vollkommen Recht hatte. Sie wäre wütend geworden, aber auf ihn und nicht auf die fraglichen Frauen. Solange ihre Freundschaft mit Junar intakt war – oder zumindest so lange, wie sie den Eindruck hatte, dass sie es war – hätte alldem keinem Glauben geschenkt.

“Nun gut, nehmen wir an, Ihr hättet Recht und ich hätte in dieser Weise reagiert. Aber eine negative Reaktion meinerseits war für Euch noch nie ein Grund, mir unangenehme Informationen vorzuenthalten. Ganz im Gegenteil. Es macht Euch Freude, mich zu beobachten und zu analysieren, vor allem in meinen weniger kontrollierten Gemütszuständen. Es muss also mehr dahinterstecken.” Sie verengte ihre Augen und starrte in die seinen. “Ihr wolltet, dass ich diesen Verlust erleide, weil Ihr glaubt, dass ich auf diese Weise meine Lektion am effektivsten lerne. Damit ich begreife, dass meine Vorstellung von der Abscheulichkeit, zu der normale, scheinbar harmlose Menschen fähig sind, viel zu naiv ist.”

“Das ist alles zutreffend”, gab der König ungerührt zu. “Doch wenngleich ich dies ursprünglich als reine Bildungsmaßnahme gedacht hatte, erfordern der Tod Lord Tyronts und der Schaden, den Junar anrichten könnte, indem sie ihr Misstrauen gegen Euch öffentlich macht, ein sofortiges Handeln von Eurer Seite.”

Eryn stieß ein hohles Lachen aus. “Gewiss. Denn vor Eurer Enthüllung war ich bereit, sie gewähren zu lassen, zu akzeptieren, dass ich nichts dagegen unternehmen kann, mich zurückzuziehen und meine Wunden zu lecken. Aber jetzt nicht mehr. Das ist nicht das erste Mal, dass Ihr meine Empörung nutzt, um mich zu lenken und zum Handeln zu bringen.” Sie erhob sich von ihrem Stuhl. “Es wird Euch freuen zu hören, dass ich zu handeln gedenke. Ich bin genau in der richtigen Stimmung dafür. Ich weiß noch, wie Ihr mir offenbart habt, mit offenen Karten zu spielen und trotzdem zu gewinnen, sei die Meisterklasse. Glückwunsch! Ein weiterer Sieg für Euch.”

“Nicht so schnell!”, befahl der König barsch und hielt sie davon ab, sich abzuwenden und zur Tür zu stürmen. Er erhob sich von seinem eigenen Stuhl und trat auf sie zu. “Ihr müsst in der Tat handeln. Und Euer Zorn gibt Euch die Energie, die Ihr für diese Konfrontation braucht, auf die Ihr Euch sonst nur widerwillig eingelassen hättet. Doch ich erwarte von Euch, dass Ihr Euren Zorn für Eure Zwecke einsetzt, anstatt Euch von ihm auffressen zu lassen und etwas Unüberlegtes zu tun. Das ist ein Luxus, den Ihr nicht besitzt. Ihr seid noch immer die Nummer Zwei im Orden, und als solche befehle ich Euch, ihn und seinen Ruf zu schützen und ihn für die vor uns liegende Aufgabe funktionsfähig zu halten. Ihr werdet Lord Enric als Begleitung mitnehmen. Das ist ein Befehl. Ihr dürft Euch nun entfernen. Wie ich sehe, haben wir nach all den Jahren immer noch diese kleine Schwierigkeit mit Eurer Unfähigkeit zu warten, bis ich Euch entlasse.”

Ohne ein Wort oder eine Verbeugung wirbelte sie herum und riss die Tür so fest auf, dass die Scharniere beinahe zu Bruch gingen.

“Enric!”, rief sie. “Seine Majestät empfiehlt freundlicherweise, dass wir einen kleinen Gesellschaftsbesuch absolvieren.”

Ihr Begleiter erhob sich mit einer einzigen fließenden Bewegung von den Sitzkissen. Er hatte den Zorn schon seit einigen Minuten durch das Geistesband empfangen und war darauf gefasst, dass ihr Erscheinen mit einer außerordentlich üblen Laune einhergehen würde. Aber das war ganz eindeutig keine Gemütsverfassung, um sie auf jemanden loszulassen.

“Du sollst aber niemanden in seinem Namen ermorden, oder?”, fragte er nur halb im Scherz.

“Nein, aber vielleicht ändere ich meine Meinung darüber während des Besuchs”, knurrte sie, “Du bist aufgerufen mitzukommen und genau das zu verhindern.”

“In Ordnung, das kann ich tun. Wen werden wir mit unserem Besuch beglücken?”

“Junar.”

Er stieß langsam die Luft aus. Nun, das zumindest versprach interessant zu werden.

*  *  *

Es hatte Haus Tokmar nur wenige Tage abverlangt, seine Hauptresidenz nach den Schäden, die sie während der Kampfhandlungen erlitten hatte, wieder instand zu setzen. Das Oberhaupt des Hauses war mit seiner Familie zurückgekehrt und hatte großzügig angeboten, Orrin und seine Familie für die Dauer ihres Aufenthalts bei sich zu aufzunehmen.

Wäre er allein, so hätte das Oberhaupt der Krieger bei den Soldaten Unterkunft bezogen, doch in Anwesenheit seiner Gefährtin und seiner Tochter war dies unmöglich. Bei Eryn und Enric unterzukommen, kam ebenfalls nicht in Frage, und das aus mehr als einem Grund. Da Pe’tala und die Kinder zurück waren und auch Malhora, Malriel und Valrad dort wohnten, beherbergte die Residenz bereits eine ganze Reihe von Bewohnern. Und dann war da noch die Kleinigkeit, dass Eryn und Junar aus irgendeinem Grund nicht miteinander auskamen, den Orrin immer noch nicht richtig erfassen konnte. Einmal hatte er Junar darauf angesprochen, aber seine Gefährtin hatte ihm etwas entgegengeschleudert und war schließlich in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Weinend. Er hatte nicht noch einmal nachgefragt. Doch nach dem Mittagsmahl vor ein paar Stunden wusste er, dass er dem Sturm trotzen musste, den ein erneuter Ausforschungsversuch voraussichtlich auslösen würde. Die Situation wurde allmählich unerträglich, und er war mit seiner Geduld fast am Ende.

Es klopfte an der Tür des Gästezimmers, das dem er und Junar bewohnten. Er ließ den Bericht, den er gerade las, sinken.

“Orrin?”, erkundigte sich eine Stimme. Weiblich, jung. Die jüngste Tochter von Uvel, dem Oberhaupt von Haus Tokmar.

“Ja, Neád?”, rief er aus.

“Du hast Besuch”, informierte sie ihn durch die geschlossene Tür.

Er stand auf, öffnete die Tür und blickte auf die hübsche Sechzehnjährige herab. “Danke.”

Auf dem Weg zum Hauptraum runzelte er die Stirn beim Anblick der Gruppe von Leuten, die dort warteten. Sie verhießen keine guten Nachrichten. Zumindest Eryn nicht. Sie versprühte Ärger. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb ihr Begleiter sie so genau im Auge behielt. Außerdem waren Golir und Iklan anwesend. Der Triarch wirkte verwirrt, als wäre er hierher gerufen worden, ohne dass man ihm mitgeteilt hätte, was es damit auf sich hatte. Und der Heiler legte eine fröhliche Neugier an den Tag, als wüsste er auch nicht genau, was er zu erwarten hatte, freute sich aber darauf, es herauszufinden.

Eryns Blick blieb an Orrin hängen. “Wo ist Junar?”, fragte sie ohne Begrüßung, ihr barscher Tonfall schon beim ersten Wort deutlich.

“Draußen im Garten mit Téa”, antwortete Orrin, dessen Besorgnis mit jeder Sekunde wuchs. “Ist irgend etwas nicht in Ordnung?”

“Ja”, antwortete sie nur, ohne eine weitere Erklärung abzugeben, und wandte sich dann an Uvels Tochter. “Wie viele von deiner Familie sind derzeit zu Hause?”

“Nur ich und mein Bruder”, antwortete das Mädchen. “Meine Eltern sind in der Residenz der Landreds, um dort vor dem Bankett noch etwas zu trinken.”

“Gut.” Eryn zog zwei Goldstreifen aus einer Tasche. “Nimm deinen Bruder und Téa und geht in ein Teehaus eurer Wahl. Kauft, was immer ihr wollt. Bleibt mindestens zwei Stunden weg. Ist das möglich?”

Neád nickte, leicht verwirrt, aber keineswegs ablehnend gegenüber einer Einladung in ein Teehaus. Sie lief los, um an eine Tür zu klopfen, woraufhin ein junger Mann erschien, der knapp älter war als sie selbst. Er hörte ihr einen Moment lang zu, zuckte dann mit den Schultern und folgte ihr in den Garten.

Es dauerte nicht lange, bis Junar durch die Terrassentür in den Hauptraum stürmte. Der unerwartete Anblick der Neuankömmlinge ließ sie einen Moment innehalten, dann marschierte sie auf ihren Gefährten zu und verlangte zu wissen: “Sie sagen, sie wollen Téa in ein Teehaus ausführen – was hat das alles zu bedeuten?” Sie deutete mit dem Kinn auf Eryn. “Will sie das? Hat sie jetzt auch noch das Sagen in unserer Familie? Darf sie entscheiden, mit wem unsere Tochter ausgeht? Nachdem sie sie erst vor ein paar Stunden niedergestreckt hat?”

“Wäre es dir lieber, wenn sie bleibt?” fragte Eryn kühl. “Ich bin sicher, sie wird ihren Freunden eine tolle Geschichte erzählen können, wenn ihr wieder in Anyueel seid.”

Junar sah Golir an, dann Iklan. “Was soll das hier?”

Eryn ignorierte sie und gab Neád und ihrem Bruder, der Téas Hand in der seinen hielt, ein Zeichen, zur Treppe und nach draußen zu gehen. Erst als sich die Eingangstür mit einem hörbaren Geräusch geschlossen hatte, trat Eryn auf Junar zu.

“Ich hatte gerade ein höchst aufschlussreiches Gespräch mit König Folrin und kann es kaum erwarten, meine neuen Erkenntnisse mit dir zu teilen.”

“Ich habe überhaupt kein Interesse an deinen Erkenntnissen, also kannst du genauso gut gehen und mich in Ruhe lassen”, zischte Junar. “Ich habe genug von deinen Machtspielchen! Verschwinde!”

“Worum geht es hier, Eryn?” Orrin schloss sich seiner Gefährtin mit der Forderung nach einer Erklärung an.

Eryn wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. “Orrin, du musst mir vertrauen. Ich schwöre dir, dass ich ihr nichts antun werde. Aber wir haben hier eine Situation, die eingedämmt werden muss. Und ein Problem, das schon seit geraumer Zeit dringend angegangen hätte werden müssen. Sie wird protestieren und vielleicht sogar versuchen zu fliehen, aber du musst mich fortfahren lassen.”

Der Krieger sah ihr einen langen Moment in die Augen, presste dann die Lippen aufeinander und nickte kurz. “Lass mich das nicht bereuen.”

“Das werde ich nicht”, versprach sie.

“Orrin!” wimmerte Junar, “Du kannst ihr nicht trauen! Wenn du all die Dinge wüsstest, die ich…”

“Ja, Junar”, unterbrach Eryn sie, “tatsächlich bin ich deshalb hier – um über die Dinge zu sprechen, von denen du überzeugt bist, sie über mich zu wissen. Ich bin sehr daran interessiert, darüber etwas zu erfahren.”

Junars Augen weiteten sich vor Panik. “Orrin! Du musst mich beschützen!”

“Das wäre nicht sehr sinnvoll, fürchte ich”, zuckte Eryn mit den Schultern. “Du weißt doch, dass ich stärker bin als er. Aber ich kann dich beruhigen – derjenige, der dafür verantwortlich ist, dich vor allen bösen Anwandlungen zu beschützen, die mich spontan überkommen könnten, ist Enric. Und die Tatsache, dass wir auch einen Triarchen und einen angesehenen Heiler hier haben, sollte dir zeigen, dass ich kaum vorhabe, dir Schaden zuzufügen. Und wenn dir das nicht Beruhigung genug ist, kannst du dich darauf verlassen, dass man mich im Anschluss zumindest streng bestrafen würde.” Eryn deutete auf die Sitzkissen hinter Junar. “Warum setzt du dich nicht?”

Junar verschränkte die Arme und blieb mit starrem, feindseligem Blick stehen.

“Na gut, dann steh, wenn du das vorziehst. Aber du wirst mir erlauben, mich zu setzen.” Eryn wählte ein buntes Kissen und lehnte sich zurück. Mit einer trägen Bewegung ihrer Finger zog sie Barrieren vor jedem Fenster und jedem Ausgang hoch, um Junar an einem vorzeitigen, unerwünschten Abgang zu hindern.

“Im Moment machst du keinen besonders kooperativen Eindruck, und da ich nicht die Absicht habe, dich einem gewaltsamen Verhör zu unterziehen, schlage ich Folgendes vor: Ich werde reden, während du zuhörst. Und wenn ich fertig bin, tauschen wir.”

“Ich habe nicht die geringste Absicht, zu…”

“Junar – bitte. Ich habe Orrin versprochen, dir nichts zuleide zu tun. Dazu stehe ich. Aber ich muss dir sagen, dass ich die Beeinträchtigung deiner Stimmbänder für eine kurze Weile nicht als Leid für dich ansehen würde. Entweder hältst du den Mund oder ich bringe dich dazu.”

Die Schneiderin presste die Lippen zusammen und hielt sich mit einer Hand die Kehle zu, als ließen sich ihre Stimmbänder auf diese Weise irgendwie schützen.

“Wo war ich? Ah, ja – eine Geschichte. Ich muss dich warnen – es ist keine fröhliche Geschichte. Nun, vielleicht am Anfang. Aber sie wird schnell genug düster. Das Gute daran ist, dass das Ende noch nicht feststeht, es also noch Hoffnung gibt. Bist du bereit? Ich verstehe diesen tödlichen Blick als Aufforderung, anzufangen. Also, legen wir los. Vor einigen Jahren wurde in einem nicht allzu weit entfernten, aber dennoch nicht gerade um die Ecke liegenden Königreich eine Frau gefangen genommen. Nicht, weil sie etwas verbrochen hatte, sondern weil sich herausstellte, dass sie nicht aus der Gegend stammte. Als man dann auch noch herausfand, dass sie Magie beherrschte, eine Fähigkeit, die man bei Frauen für unmöglich hielt, wurde sie freundlich gebeten, ihren Aufenthalt in der Hauptstadt des Königs zu verlängern. Freundlich gebeten ist ein Euphemismus dafür, dass man sie in goldene Fesseln legte und sie im Schwertkampf ausbilden ließ, weil man dachte, es wäre eine feine Idee, sie in ihrem Verein für kleine Jungen zu haben. Da sie nicht wusste, ob sie jemals wieder freigelassen werden würde, ertrug sie die Hiebe mit den Schwertern und die Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. Nur zwei Dinge hielten sie davon ab, wahnsinnig zu werden – die Aussicht, eines Tages ihren Entführern zu entkommen, und die beiden Freunde, die sie gefunden hatte. Der erste Freund war ein Junge mit gutem Herzen und dem erstaunlichen Talent, die wunderbarsten Bilder zu malen, die man sich vorstellen kann. Und der zweite war eine Frau mit der Fähigkeit, aus einfachen Stoffballen die unglaublichsten Kleider zu zaubern. Ihr Leben war nicht immer glücklich verlaufen, doch sie hatte sich in ihrem Herzen immer noch genug Güte bewahrt, um aus einer Geste der Dankbarkeit für die Heilung ihrer Schwester eine Freundschaft mit einer Gefangenen entstehen zu lassen. Die Magierin war überglücklich, denn sie erlebte zum ersten Mal in ihrem Leben das Geschenk, nicht nur einen, sondern zwei Freunde zu haben, wo sie doch mehr als zwei Jahrzehnte lang gezwungen gewesen war, sich von allen Menschen fernzuhalten, um das Geheimnis ihrer Magie zu wahren. Die Freundschaft zwischen der Magierin und der Schneiderin wuchs stetig und verband sie mit einem Band, das beide sehr schätzten. Doch die Dinge begannen sich zu ändern. Die Magierin wurde in das Land geschickt, aus dem sie ursprünglich stammte, und traf dort auf eine Familie, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte und die sie so verzweifelt zurückhaben wollte, dass sie versuchte, sie zum Bleiben zu bewegen. Hin- und hergerissen zwischen den beiden Ländern, wurde sie schließlich gezwungen, zwischen ihnen hin- und herzureisen und ihre Zeit zu gleichen Teilen aufzuteilen. Die beiden Frauen wussten es noch nicht, aber dieses Arrangement sollte sich als das Hindernis erweisen, an dem ihre Freundschaft zerbrechen würde. Es geschah nicht mit einem Schlag, sondern allmählich im Laufe der Zeit. Denn jedes Mal, wenn die Magierin mit ihrer Familie das Königreich für mehrere Monate verlassen musste, musste die Schneiderin bei den anderen Frauen zurückbleiben, von denen sie ohne eigenes Verschulden abgelehnt wurde. Sie schikanierten und beleidigten sie, gaben ihr das Gefühl, nicht würdig zu sein, zu ihnen zu gehören, in den Kreis aufgenommen zu werden, den sie für so erlaucht hielten. Jedes Mal, wenn die Magierin in das Königreich zurückkehrte und die beiden Freundinnen wieder vereint waren, zogen sich die böswilligen Frauen wieder zurück und warteten geduldig, bis die Magierin wieder abreiste, um erneut ihr Gift zu verbreiten. Die Schneiderin war eine sanftmütige Seele, die unter dieser Behandlung litt, bis sie zu resignieren anfing und den Worten Glauben schenkte, die sie über sie sagten und sie glauben ließen, sie sei weniger würdig als die anderen. Sie sehnte sich nach einem Zeichen der Anerkennung, und in der Abwesenheit der Magierin fühlte sie sich so verloren und allein, dass sie sogar nach einem Gefühl der Zugehörigkeit unter den gemeinen Frauen suchte. Da der Gefährte der Schneider ein mächtiger und angesehener Mann war, begannen sie zu begreifen, dass es auf Dauer nicht zielführend war, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Es war viel erfolgversprechender, sie bei sich aufzunehmen und ihren Einfluss zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Also begannen sie, sie zu einer von ihnen zu machen. Doch dazu musste sie ihre Verbindung zu der Magierin kappen, die bisher nur hilflos zugesehen hatte, wie sich ihre Freundin immer weiter von ihr entfernte, ohne zu wissen, was die Kluft zwischen ihnen immer weiter vergrößerte. Die bösen Frauen waren listig in ihren Bemühungen. Sie erzählten der Schneiderin Lügen. Und in Lügen verpackte Wahrheiten. Alles, um sie dazu zu bringen, die Gültigkeit des Freundschaftsbandes zwischen den beiden Frauen in Frage zu stellen. Für nichts davon gab es Beweise, und doch gelang es ihnen, in der Schneiderin den Samen des Zweifels zu säen. Sie fütterten sie mit immer mehr Unwahrheiten, bis die Saat aufging und die Frau sogar in ihrem eigenen Kopf begann, diese Lügen und diesen Verrat zu vermuten, wo es in Wahrheit keine gab.”

Eryn hielt inne und sah Junar an, die mit aufgerissenen Augen und wer atmend dastand.

“Hör auf damit”, flüsterte sie, dann wandte sie sich an ihren Gefährten und flehte: “Orrin! Bitte!”

Doch die Augen des Kriegers hatten sich verengt, und sein eindringlicher Blick sprang von Eryn zu Junar und wieder zurück. “Welche Lügen?”, fragte er nur.

Eryn blickte zur Decke empor. “Dass die Magierin die Schneiderin nie wirklich als ihre Freundin betrachtet, sondern sie lediglich als Spielball für ihre eigenen Zwecke benutzt hat. Sie schaffte es, sie emporzuheben, indem sie dafür sorgte, dass sie mit einem hochrangigen Magier verbunden wurde. Dann plante sie insgeheim, ihre Bindung zu festigen, indem sie ihnen ein Kind aufzwang. Sie erzählten ihr, dass ihr Gefährte sich in Wahrheit nach der Berührung der Magierin sehnte, was in der Schneiderin die Angst weckte, ihren Geliebten zu verlieren, und sie mit Eifersucht erfüllte. Jede Interaktion zwischen ihrem Gefährten und der Magierin wurde in ihren Augen zum Beweis für deren heimliche Liebe.”

Orrins Gesichtsausdruck hatte sich verfinstert, als er sich langsam Junar zuwandte. Er bewahrte den Abstand zwischen ihnen, als könnte er sich selbst nicht trauen, dass er ihr nichts antun würde.

“Ist das wahr, Junar? Hat man dir solche Dinge über mich erzählt? Dinge, die du freiwillig glaubst?” Sein Ton war so leise, dass nur die völlige Stille im Raum das Verstehen der Worte ermöglichte.

Junars Mund öffnete und schloss sich einige Male, aber es kam kein Wort heraus.

“Ich verstehe”, kommentierte der Krieger und drehte sich um, um zur Treppe zu gehen. Ein starker Blitz aus einer Handfläche ließ Eryns Schild zusammenbrechen. Er war nicht besonders stark, denn sein Zweck bestand darin, eine Nichtmagierin am Fortgehen zu hindern.

“Orrin”, hauchte Junar und wollte ihm nachlaufen, aber Eryn errichtete eilig einen weiteren Schild direkt vor ihr, um sie zurückzuhalten. “Nein, du bleibst. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Enric, bitte geh Orrin hinterher.”

“Lass mich raus!” jammerte Junar. “Ich muss ihm folgen! Ich muss mit ihm reden, es ihm erklären!”

“Du hast es bereits so lange versäumt, mit ihm zu reden”, erwiderte Eryn unbarmherzig. “Ich bin sicher, das kann noch eine halbe Stunde warten. Außerdem habe ich den Eindruck, dass er gerade jetzt eine Auszeit von dir braucht. Lass uns zu unserer Geschichte zurückkehren, ja? Bist du sicher, dass du dich nicht setzen willst?”

“Ich will mich nicht setzen!”, schrie sie Eryn an. “Ich muss hinter Orrin her! Lass mich gehen!” Sie wirbelte zu Golir herum. “Golir! Du bist stark – bitte hilf mir! Hol mich hier raus! Bitte!”

Der Triarch sah besorgt aus und wusste offensichtlich nicht, wie er reagieren sollte. Junar befand sich ganz eindeutig in großer Aufregung und wurde festgehalten, doch Eryn hatte ihm mitgeteilt, dass sie ihn hier brauchte, um eine erhebliche Gefahr für die Loyalität des Ordens gegenüber seinen Anführern und damit für einen erfolgreichen Abschluss ihres Feldzugs gegen Pirinkar zu beseitigen. Bis jetzt verstand er nicht, wie genau die Vorgänge an diesem Ort darauf Einfluss haben sollten, aber er war Malriels Tochter den Vertrauensvorschuss schuldig.

“Ich denke, du solltest sie anhören, Junar”, antwortete der Triarch leise.

“Ich will nichts mehr von ihren Lügen hören”, schluchzte die Schneiderin.

Eryn auf den Sitzpolstern klatschte zweimal in die Hände. “Golir, das war dein Stichwort. Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich in meiner Botschaft an dich etwas kryptisch ausgedrückt habe. Der Grund, warum du hier bist, ist, einen Lügenfilter auf mich anzuwenden und Junar damit zu beweisen, dass meine Geschichte keinerlei Lügen enthält.” Als Junar sie anstarrte, fügte sie hinzu: “Ich bin davon ausgegangen, dass du diese Aufgabe weder Enric noch Ram’an anvertrauen würdest, die zwar beide stärker als ich sind, mir aber auch sehr nahe stehen. Bleibt noch Golir, der keinen Grund hat vorzugeben, ich würde die Wahrheit sprechen, wenn es nicht der Fall ist. Falls du Golir nicht für eine verlässliche Person hältst, um die Wahrheitssperre anzuwenden, rate ich dir, einen guten Grund zu finden, um seine Integrität in Frage zu stellen. Immerhin ist er ein verdammter Triarch.” Sie hob ihre Hand in Richtung Golir und wartete, bis er sie in die seine genommen hatte und seine Magie einsetzte, um den Wahrheitsblock zu errichten. “Nun, Junar, das ist deine Gelegenheit. Frag los. Ich kann dich nicht anlügen, sondern nur die Antwort verweigern. Was an sich schon aufschlussreich genug sein kann, wenn du die richtigen Fragen stellst. Ich bin jetzt in deinen Händen.”

“Woher weiß ich überhaupt, dass das funktioniert?” fragte Junar in misstrauischem Tonfall.

Iklan trat eifrig vor. “Ich glaube, ich kann dir hier helfen, wenn du es erlaubst.” Er lächelte Eryn an. “Du bist für deinen Sohn eine Vereinbarung für ein Kommitment mit der jüngsten Tochter von Haus Arbil eingegangen. Trägst du dich mit der ehrlichen Absicht, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um die Erfüllung dieser Vereinbarung zu unterstützen?”

Eryn starrte ihn verblüfft an. “Du bist hier, um zu helfen, verdammt!”

“Ich helfe doch!”, protestierte der Heiler.

“Nein, du bringst mich in Schwierigkeiten! Wir befinden uns in der Gegenwart eines Triarchen, falls dir das entgangen sein sollte!”

Iklan grinste. “Genau aus diesem Grund nehme ich an, dass du deine vermutlich kontroverse Antwort lieber für dich behalten möchtest. Gibt es einen besseren Weg, die Wirksamkeit des Lügenfilters zu demonstrieren, als eine Wahrheit zu erzwingen, die du sonst vor einem Triarchen nicht preisgeben würdest?”

Eryn schloss für einen Moment die Augen und seufzte. “Du bist ein brillanter Mann, Iklan, aber im Moment mag ich dich nicht besonders. So sei es denn. Nein, ich habe nicht die Absicht, meinen Sohn zu überreden, sich aus keinem anderen Grund als dem des finanziellen Wohlstands und der Erzeugung starker Nachkommenschaft mit einer Frau verbinden zu lassen.”

Golir schürzte die Lippen. “Das bedeutet, dass du bei der Triarchie eine Kommitmentvereinbarung eingereicht hast, die du mit voller Absicht brechen wirst. Ich denke, wenn das alles vorbei ist, werden du, Ram’an und ich uns hinsetzen und ein langes Gespräch führen.”

Eryn knirschte mit den Zähnen, dann sah sie zu Junar auf. “Zufrieden?”

Die Schneiderin nickte und kam näher. “War irgendetwas an deiner Geschichte falsch, absichtlich irreführend oder übertrieben?”

“Nein”, antwortete Eryn sofort.

Junar schluckte. “Woher hast du diese Informationen?”

“Das sagte ich bereits – ich hatte ein Gespräch mit dem König. Er hat mir von all dem erzählt. Jeder weiß, dass er ein dichtes Netz von Spionen hat, die jeden Happen an Informationen sammeln, den er für nützlich halten könnte.”

“Der König spioniert mir nach?”

“Ja.”

“Warum?”

“Weil du die Gefährtin eines wichtigen Ordensmagiers bist. Des nächsten Ordensführers, um genau zu sein.” Und drei weitere Personen, die beiläufig über diese kleine Tatsache informiert wurden…

Junar starrte sie an. “Was?”

“Orrin wird befördert werden, sobald der Krieg vorbei ist.”

“Aber… aber… was ist mit Enric?”

“Enric und ich sind dabei, nach Takhan umzuziehen. Ich trete erneut Haus Aren bei und werde dessen Oberhaupt.”

Es folgten ein paar Sekunden, während derer die Schneiderin diese Neuigkeit verdaute. “Du wirst Anyueel für immer verlassen? Und auch den Orden?”

“Ja. Nun, ich werde natürlich für gelegentliche Besuche zurückkehren. Aber Enric, Vedric und ich werden für immer nach Takhan umziehen.”

“Aber der Tod von Tyront…” Nun nahm Junar endlich Platz. “Warum ihn töten, wenn du nicht einmal im Orden bleibst?”

Eryn atmete langsam aus. “Junar, ich sage dir das mit dem höchsten Maß an Respekt, das mir derzeit möglich ist – nämlich gar keinem: Du bist offensichtlich von allen guten Geistern verlassen. Sonst würdest du begreifen, dass es absolut keinen Sinn macht, dass ich Tyronts Tod geplant haben soll, wenn weder ich noch mein Gefährte in der Lage sind, davon zu profitieren. Ganz zu schweigen davon, dass ich die Tatsache, dass du mir einen kaltblütigen Mord zutraust, nicht besonders schmeichelhaft finde.”

“Hast du jemals ein Verlangen nach Orrin verspürt?” fragte Junar nun scharf.

“Ja, öfter, als ich zählen kann.” Als Junar nach Luft schnappte, fügte Eryn hinzu: “Das Verlangen, ihn zu erdrosseln, zu treten, aus dem Fenster zu werfen… im Grunde die ganze Palette an Gewaltfantasien, die eine Gefangene hegt, wenn sie sich Tag für Tag zahlreiche blaue Flecken einhandelt.”

“Was ist mit Orrin?”

“Ich kann nicht für Orrin sprechen, aber ich kann dir sagen, dass ich nie auch nur einen einzigen Moment den Eindruck hatte, dass er ein unangemessenes Interesse an mir hat. Er behandelt mich so sehr wie eine Tochter, dass mein eigener Vater eifersüchtig war, als er uns zum ersten Mal zusammen sah.”

Junars Gesicht war eine Maske des Elends.

“Obwohl wir beide wissen, dass es nach Orrins Reaktion vorhin ziemlich überflüssig war, mir diese Fragen zu stellen”, fügte Eryn hinzu.

“Ich würde ihm nachgehen, aber jemand hält mich in diesem Raum gefangen!” zischte Junar.

“Ja. Weil du und ich mit dem hier noch nicht fertig sind.”

“Was soll ‘das hier’ denn sein? Willst du mich etwa zwingen, mich bei dir zu entschuldigen? Das werde ich nicht! Einiges von dem, was sie mir erzählt haben, mag falsch gewesen sein, aber anderes, was ich selbst bemerkt habe, ist es ganz sicher nicht! Du hast mich immer dafür verurteilt, wie ich meine Tochter erziehe! Nur weil ich nicht so streng und unbarmherzig mit meiner Tochter umgehe, wie du es mit deinem Sohn tust!”

“Deine Tochter hat keine Manieren und nimmt wenig Rücksicht auf die Wünsche anderer Menschen – das ist eine Tatsache. Aber das ist nicht mein Problem, sondern deins und mit der Zeit auch ihr eigenes. Wenn du glaubst, dass du den perfekten Weg gefunden hast, um ein Kind zu erziehen, dann mach nur weiter! Wer bin ich, dass ich dir sagen könnte, was du tun sollst? Ich erlaube mir jedoch, von ihr zu verlangen, dass sie sich in meinem Haus an bestimmte Regeln hält, so wie dies auch für jedes andere Kind, das mich besucht, gilt.”

“Deine Grausamkeit gegenüber deinem eigenen Sohn wird ihn eines Tages zu einem gewalttätigen Mann machen – einem äußerst gefährlichen Mann mit seinen immensen magischen Kräften!”

Eryn ließ ihren Kopf nach hinten kippen. “Bist du ganz allein auf diese wunderbare Theorie gekommen oder haben dich deine intriganten Freundinnen entsprechend beraten?” Sie runzelte die Stirn, als Junar nur die Lippen zusammenpresste, ohne zu antworten. Eryn starrte sie an. “Du machst wohl Witze! Sag mir nicht, dass du Ratschläge zur Kindererziehung von Frauen annimmst, die vielleicht eine halbe Stunde am Tag damit verbracht haben, ein wenig mit ihren Kindern zu spielen und dann die eigentliche Arbeit an Dienerinnen delegiert haben? Ist das wirklich die Quelle, aus der du deine Informationen beziehst? Es ist leicht, ein nachsichtiger Spielkamerad für seine Kinder zu sein, wenn die Dienerinnen diejenigen sind, die streng sein müssen, wenn sie ihnen beibringen, keine Steine gegen Fenster zu werfen, die Hände vom Feuer fernzuhalten oder sich vor dem Schlafengehen ordentlich zu schrubben. Das ist nicht die Art von Mutter, die ich bin – und du bist es auch nicht! Wenn wir die gesamte Arbeit alleine machen, müssen wir sie auch disziplinieren!” Sie warf die Hände in die Luft. “Das ist lächerlich! Ernsthaft, warum diskutiere ich das überhaupt mit dir? Mach mit deiner Tochter, was du willst! Es gibt etwas viel Wichtigeres, worüber ich sprechen sollte. Nämlich, dass die Tatsache, dass du dein Gehirn ausgeschaltet hast, um andere für dich denken zu lassen, dich in der gegenwärtigen Situation gefährlich macht. Wenn du nicht den Mund hältst über die Dinge, von denen man dir erzählt, dass ich sie getan habe, um die teuflischen Pläne voranzutreiben, die ich anscheinend umzusetzen gedenke, wird der Orden bald im Chaos versinken, weil die Magier Enric und mir nicht mehr vertrauen. Wenn du den Orden und die Menschen, die er schützen soll, nicht schätzt, dann denke wenigstens an deinen Gefährten. Bedenke, dass er wahrscheinlich nicht einen Trümmerhaufen übernehmen will.”

“Was? Ich…”

“Du bist derzeit eine Belastung, Junar! Für deinen Gefährten, für den Orden und für die Westlichen Territorien! Wenn du etwas Dummes sagst, dann wird man annehmen, dass Orrin diese Meinung teilt.” Auf Junars erschrockenen Blick hin fügte sie hinzu. “Ich kenne das Gefühl, glaub mir. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu lernen, dass ich mich nicht so leicht von Leuten manipulieren lassen darf, die mich gegen Enric benutzen wollen. Aber als Gefährtin des zukünftigen Ordensführers ist das etwas, was du lernen musst! Und zwar möglichst sofort. Als erstes musst du dich vom Einfluss dieser Frauen befreien! Sie sind genauso schlimm wie ihre Gefährten, bei denen man allerdings darauf vorbereitet ist, ihnen zu misstrauen.”

“Ich… ich… das ist alles zu viel!” Tränen liefen Junar über die Wangen. “Du sagst, sie haben mich die ganze Zeit angelogen… aber… was, wenn… ich meine…”

Eryn befreite sich aus Golirs Griff. “Danke, Golir, du warst eine große Hilfe.” Dann sah sie Iklan an. “Ich glaube, jetzt bist du an der Reihe. Kannst du ihr dabei helfen, ihr Gehirn wiederzufinden?” Sie klopfte mit den Fingerknöcheln gegen Junars Kopf. “Es müsste noch irgendwo da drin sein.”

“Das war extrem unsensibel”, jammerte Junar zwischen immer heftigeren Schluchzern.

Eryn nickte und erhob sich. “Ja, ich weiß. Es war ein langer Tag, und ich muss noch eine langweilige Abendveranstaltung hinter mich bringen. Dafür muss ich mir meine ganze Sensibilität aufsparen. Sprich mit Iklan. Wenn dir jemand helfen kann, zu dir selbst zu finden, dann ist er es. Ich schlage vor, dass du dich für das heutige Bankett entschuldigst. Ich muss nach Hause und mich in die Lady verwandeln, von der jeder weiß, dass ich es nicht bin. Auf Wiedersehen, Junar.”

Sie flüchtete geradezu aus dem Haus und spürte, dass sie erst wieder richtig atmen konnte, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Das war intensiv und anstrengend gewesen. Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob Junar am Ende zur Vernunft kommen würde oder ob sie es vorzog, wieder in diesen zerstörerischen, aber bequemen Zustand zu verfallen, sich von anderen leiten zu lassen.

Sie hoffte, dass Enric noch bei Orrin war. Der Krieger neigte dazu, sich zu betrinken, wenn er schwierige Nachrichten hörte. Da er im Gegensatz zu Junar nicht den Luxus hatte, sich von dem langweiligen Abendessen freizumachen, musste er sich entweder in Zurückhaltung üben oder auf nicht allzu sanfte Weise ausgenüchtert werden.

*  *  *

“Ist dir aufgefallen, dass es viel einfacher wird, sich zu betrinken, je älter man wird?” sinnierte Enric, während er auf ein kleines, buntes Glas mit winzigen künstlerischen Gravuren starrte. Es handelte sich um ein Etablissement der gehobenen Klasse, in dem die Gläser teuer waren, denn die Getränke waren kostspielig genug, um die Kosten für das gelegentlich durch eine unkoordinierte Bewegung zerbrochene Stück zu decken.

Er erinnerte sich dunkel daran, dass das winzige Glas vor einem Moment noch voll gewesen war.

“Ja”, erwiderte Orrin, “und wenn du das bemerkt hast, kannst du davon ausgehen, dass mir das schon vor langer Zeit aufgefallen ist. Ich bin einige Jahre älter als du.”

“Weißt du, ich glaube, der Altersunterschied wird weniger signifikant, je älter man wird”, trug Enric weise bei und konzentrierte sich darauf, seine Zunge dazu zu bringen, die Worte richtig zu formen. Er war stolz darauf, dass signifikant überhaupt nicht undeutlich geklungen hatte.

“Ist das so?”

“Sicher. Weißt du noch, als ich dein Schüler war? Zwanzig Jahre waren damals ein enormer Unterschied. Sie haben den Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem ausgemacht. Heutzutage sind wir beide erwachsen und haben eine Familie. Im Orden waren Alter und Erfahrung nie ein wichtiges Kriterium für die Vergabe hoher Ränge. Welche Rolle spielt es also in unserem Fall?”

“Sich zu betrinken ist heute viel preiswerter als früher”, stellte Orrin fest und schloss damit den Kreis zu Enrics früherer Bemerkung.

“Im Allgemeinen ist das doch gar nicht so schlecht, oder? Ich meine, das ist gespartes Geld und kommt somit der Familie zugute.”

“Ja, die Familie…” Orrin lehnte den Kopf zurück und leerte sein eigenes kleines Glas. “Genau die Leute, die die Macht haben, dich mit ein paar Worten zu vernichten.”

Durch den Dunst des Alkohols erkannte Enric, dass es ihm gelungen war, was er eigentlich erreichen wollte – nämlich Orrin dazu zu bringen, über dieses Thema zu sprechen. Bei Orrin erforderte das immer ein gewisses Maß an Zeit und Geduld. Und einen Grad der Berauschung, der ihn in einen Zustand versetzte, in dem er nicht mehr so wortkarg war wie sonst und in dem er sich wohl genug fühlte, um seinen Kummer zu teilen.

Er wog seine Möglichkeiten ab. Im Idealfall würde er sich eine Minute Zeit nehmen und in der Toilette verschwinden, um zumindest einen Teil des Alkohols loszuwerden und mit ein wenig Heilmagie einen klaren Kopf zu bekommen. Doch damit war die Gefahr verbunden, dass Orrin bei seiner Rückkehr nicht mehr gesprächig sein würde.

Also würde er bleiben und sein Bestes tun, um ein halbwegs sinnvolles Gespräch mit dem Krieger zu führen, in der Hoffnung, dass er sich hinterher an das meiste davon erinnern konnte.

Er hob die Hand, um den Blick einer der adretten Kellnerinnen zu erhaschen, die darauf bedacht waren, ihre wohlhabenden Gäste mit allem zu versorgen, was sie wünschten.

“Ja, Enric?”, fragte ihn eine Schönheit mit dunkelgrünen Augen mit einem verführerischen Lächeln. “Was kann ich für dich tun?”

Beeindruckend, dachte Enric. Sie machten sich sogar die Mühe, die Namen ihrer Gäste herauszufinden.

“Eine Karaffe Wasser, bitte. Und alles, was ihr auf Lager habt, um den Leuten beim Ausnüchtern zu helfen.”

“Kommt sofort.” Sie berührte leicht seinen Unterarm und hob eine anzügliche Augenbraue. “Wir könnten deinen leicht beschwipsten Zustand aber auch nutzen, wenn du das möchtest. Wir haben sehr gemütliche kleine Zimmer im hinteren Bereich.”

Enric starrte sie einen Moment lang an. “Ich wusste gar nicht, dass ihr diese Art von Dienstleistung hier anbietet!”

“In manchen Fällen können wir das”, säuselte sie. “Kann ich dich für meine Gesellschaft erwärmen, Enric? Ich war noch nie mit einem hellhaarigen Mann zusammen.”

“Du kennst meinen Namen. Weißt du zufällig auch, mit wem ich verbunden bin?”, fragte er beiläufig und fand diese Unterhaltung äußerst amüsant.

“Nein… ich gebe zu, ich weiß es nicht. Man nennt uns nur die Namen unserer Gönner”, antwortete sie.

“Du hast sicher schon von Maltheá von Haus Aren gehört, nehme ich an?”

Die junge Frau schluckte. “Aren? Malriels Tochter?”

“Genau die. Ihre Großmutter, Malhora, hat einen Weinkeller in die Luft gesprengt, als sie ihren betrügerischen Gefährten dort vorfand”, informierte er sie.

Das Lächeln der Kellnerin hatte einen etwas kränklichen Ausdruck angenommen. “Dann werde ich mich wohl besser damit begnügen, dir etwas zu trinken zu servieren.”

Enric nickte bedächtig. “Eine sehr umsichtige und lebenserhaltende Entscheidung.”

Orrin schnaubte, nachdem die junge Frau eilig abgezogen war, als befürchte sie, Enric könnte es sich anders überlegen und noch auf das doch recht riskante Angebot eingehen.

Da der Krieger schwieg, überlegte Enric, wie er auf das Thema Junar zurückkommen sollte und wie sehr ihr Misstrauen gegenüber ihrem Gefährten Orrin erschüttert hatte.

“Ich erinnere mich, wie ich Eryns Zellentür abschließen ließ und ihre Habseligkeiten in mein Quartier im Palast brachte. Das war ein paar Tage vor unserem Kommitment auf diesem Ball. Aber sie zog bei dir ein und nicht bei mir, und ich war so eifersüchtig, dass ich dich am liebsten erwürgt hätte.”

“Ein törichter Gedanke. Ich hatte niemals irgendwelche derartigen Absichten.”

“Das weiß ich jetzt. Aber damals habe ich beobachtet, wie sich ihr Hass auf dich in etwas ganz anderes verwandelt hat, wie sie zu dir gerannt ist, als sie eine Bleibe brauchte. Und mein Neid und meine Eifersucht taten ihr Übriges. Genau wie in Junars Fall, obwohl es so aussieht, als hätte sie viel Hilfe dabei gehabt, zu diesem Schluss zu kommen.”

Mit einem dankbaren Lächeln erhielt er von einem jungen Mann eine gebogene Glasflasche mit Wasser und ein passendes Glas sowie ein weiteres kleines Glas, das dem bereits vor ihm stehenden ähnelte. Der Inhalt allerdings roch und sah deutlich anders aus. Wie eine Art Kräutermischung. Er zuckte mit den Schultern und kippte es hinunter. Immerhin hatte er etwas bestellt, das ihm helfen sollte, nüchtern zu werden. Die zähflüssige Substanz schmeckte bitter und hinterließ auf dem Weg zu seinem Magen ein leichtes Prickeln, was darauf schließen ließ, dass bei ihrer Herstellung irgendeine Art von Magie zur Anwendung gekommen war.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er die Wirkung zu spüren begann. Zunächst verspürte er einen kurzen Anflug von Übelkeit, der aber schon einen Moment später wieder verschwunden war und ihn mit einem heftigen Verlangen nach Wasser zurückließ. Als sich sein Kopf nicht länger benebelt anfühlte, zwang er sich, Wasser in ein Glas zu schenken, anstatt die Flasche einfach an die Lippen zu heben und sie in einem Zug zu leeren. Das war ein mächtiges Gemisch, dachte er, und fragte sich, ob die Urheber vielleicht bereit wären, ihm das Rezept für eine großzügige Summe zu überlassen. Das war etwas, das er auf jeden Fall in Anyueel vermarkten konnte.

“Ich hatte keine Ahnung, dass sie so behandelt wird”, murmelte Orrin und starrte mit leerem Blick vor sich hin. “Sie hat nie etwas gesagt. Aber sie hätte zumindest nicht glauben dürfen, was sie über mich geredet haben. Ich habe ihr nie einen Grund gegeben, an meiner Zuneigung oder Treue zu zweifeln. Sie hätte mich damit konfrontieren müssen.”

Enric zuckte mit den Schultern und füllte sein Wasserglas nach. “Ich weiß nicht. Viele Menschen würden lieber davon absehen, die Person direkt anzusprechen, von der sie vermuten, dass sie sie betrogen hat.” Erfreut stellte er fest, dass er wieder in der Lage war, ausgefeiltere Formulierungen zu benutzen. Allerdings musste er aufpassen, dass er Orrin nicht verlor, der für einen Fremden zwar nicht betrunken wirkte, aber für Enrics geschultes Auge durchaus Anzeichen von Alkoholeinfluss erkennen ließ. Wie beispielsweise ausladendere Handgesten.

Der Krieger presste die Handballen beider Hände gegen seine geschlossenen Augen. “Ich habe mit dem Gedanken gespielt, sie zu verlassen.”

Enric nahm einen weiteren Schluck Wasser, um seinen Schock zu überspielen. Orrin war ihm immer als besonders solider Mann erschienen, als jemand, der es eher vorzog zu leiden, als das zu missachten, was er als seine Pflicht ansah.

“Ich habe keine Angst davor, Téa allein großzuziehen. Das habe ich schon einmal geschafft.” Er atmete aus und ließ seine Hände wieder sinken. “Es gab so viele Situationen, in denen ich keine andere Möglichkeit sah, als zu schweigen, nachdem Junar wieder einmal etwas Unverschämtes gesagt hatte. Ich weiß, dass ich den Eindruck erweckt haben muss, dass ich ihr zustimme. Schweigen hat den Nebeneffekt, dass es manchmal als Zustimmung fehlinterpretiert wird. Ich habe es gehasst. Es war sogar noch unangenehmer als die Diskussionen mit Junar zu Hause, die nach jedem solchen Vorfall folgten. Dennoch war ich hin- und hergerissen, ob ich meiner Gefährtin beistehen oder mich auf Eryns Seite stellen sollte, die gewöhnlich das Ziel ihrer hasserfüllten Bemerkungen war. Eryn hat mir mein Schweigen nie übel genommen, hat mich nicht dafür verurteilt, dass ich Junar nicht öffentlich ermahnt habe. Zumindest nicht offen. Ich möchte gar nicht daran denken, wie enttäuscht sie wahrscheinlich war. Auf jede einzelne dieser Begebenheiten ist ein Streit gefolgt, sobald Junar und ich allein waren.”

Enric hörte schweigend zu, betrübt darüber, dass Orrins Beziehung zu seiner Gefährtin in den letzten Jahren so sehr gelitten hatte, dass er sogar in Erwägung zog, sie zu verlassen. Und er bedauerte, dass ihm das entgangen war. Orrin war immer ein verschlossener Mensch gewesen, der sich nur unter besonders schwierigen Umständen öffnete. Eryn war diejenige, die den besseren Einblick zu haben schien, doch das änderte sich, nachdem Junar mit ihr gebrochen hatte.

“Und jetzt bin ich wieder einmal hin- und hergerissen.” Er hob sein Glas über seinen Kopf, ohne aufzublicken, in der Gewissheit, dass ihn sicher jemand bemerken würde. Kaum zehn Sekunden später wurde sein leeres Glas gegen ein volles ausgetauscht. “Ich bin erleichtert, endlich zu wissen, was hinter all dem steckt. Und ich bin wütend darüber, was sie Junar angetan haben, wie sie sie behandelt haben. Sie hat mir gegenüber nie etwas davon erwähnt. Das macht mich wütend auf Junar. Einmal, weil sie mir nicht genug vertraut hat, um mit mir über den Kummer zu sprechen, den sie ihr bereitet haben, und noch mehr, weil sie diese ungeheuerlichen Dinge über mich und Eryn geglaubt hat. Ich möchte glauben, dass ich Junar nie einen Grund gegeben habe, an meinen Gefühlen für sie zu zweifeln.”

“Es ist nicht ganz so einfach, fürchte ich”, seufzte Enric. “Du und ich, wir sind in einer Welt aufgewachsen, wo selbst denen zu vertrauen, die man für Freunde hält, ein Luxus ist, den man sich gut überlegen muss. Auf Eryn und Junar trifft das nicht zu. Eryn musste das rasch lernen, und das tat sie auch. Nicht ohne Rückschläge, wie du nur zu gut weißt. Das Problem ist, dass du davon ausgegangen bist, dass Junar von diesen Spielen verschont bleibt, weil sie nicht direkt in all das verwickelt ist. Ich gebe zu, ich selbst bin ebenfalls verblüfft, wozu die Gefährtinnen unserer edlen Kollegen fähig sind. Ich konnte Eryn wenigstens im Umgang mit den Ratsmitgliedern helfen, aber mit den Frauen dahinter wäre ich überfordert gewesen. Du solltest Junar nicht böse sein, dass sie ihren Intrigen zum Opfer gefallen ist, sondern überlegen, wie du ihr helfen kannst, sich aus diesem Sumpf zu befreien. Die Dinge werden nicht gerade einfacher für sie werden, wenn du den Orden erst übernommen hast.”

Orrin nickte mürrisch. “Ja, du hast Recht. Es ist nicht fair, ihr die Schuld zu geben. Doch was soll ich deiner Meinung nach tun? Sie in politischer Strategie unterweisen lassen?”

Enric schürzte die Lippen, als er über diese Idee nachdachte, obwohl Orrin sie eindeutig nicht ernst gemeint hatte. “Weißt du, das ist eigentlich gar kein so schlechter Gedanke. Wer weiß? Als Gefährtin des künftigen Ordensführers wird der König ihr vielleicht selbst die eine oder andere Lektion erteilen, so wie er es mit Eryn getan hat.”

“Ich sollte zu ihr zurückkehren. Es gibt vieles, worüber wir reden müssen.”

“Nicht heute Abend, fürchte ich. Wir haben kaum Zeit, uns für das Festmahl fertig zu machen.”

Der Krieger starrte ihn an. “Wir können heute Abend nicht zu dem Bankett gehen! Ich bezweifle ernsthaft, dass Junar dazu in der Lage ist, nachdem Eryn mit ihr fertig ist.”

“Deshalb hat sie auch Iklan mitgebracht. Er wird sich um Junar kümmern. Wir werden sie entschuldigen. Aber du mußt dabei sein. Du bist eine Schlüsselfigur bei all dem, und die Leute müssen sich daran gewöhnen, dich zu sehen. Wenn du meine Nachfolge antrittst, sollte das neue Oberhaupt des Ordens ein Gesicht sein, das den wichtigen Leuten hier bereits bekannt ist, und nicht nur den Soldaten, die du in die Schlacht geführt hast. Das Bankett ist eine ideale Gelegenheit dafür.”

Orrin schnitt eine Grimasse. “Ich bin nicht in der Verfassung, an einem solchen Abend teilzunehmen. Sieh mich an!”

Enric hob erneut einen Arm, um einen Angestellten dieses Etablissements herbeizurufen, und nur einen Moment später erschien vor ihm derselbe junge Mann wie zuvor. Von der jungen Dame, die ihm zuvor ihre Gesellschaft angeboten hatte, war nichts mehr zu sehen.

“Noch so ein ernüchterndes Gebräu für meinen Freund hier”, befahl er, und wenig später wurde Orrin ein weiteres kleines Glas gereicht. Bevor der Mann wieder gehen konnte, ergriff Enric seinen Unterarm. “Ich habe mich gefragt, ob der Besitzer dieses charmanten Lokals hier bereit wäre, über eine Kopie des Rezepts für dieses sehr hilfreiche Getränk zu verhandeln. Ich bin bereit, einen guten Preis zu zahlen.”

“Ich fürchte, sie wäre dazu nicht in der Lage, selbst wenn sie es wünschte”, antwortete der Kellner mit sichtlichem Bedauern. “Wir mischen es nicht selbst, sondern lassen es uns regelmäßig von unserem Lieferanten zustellen.”

“Und wer ist dieser Lieferant?”

“Das wäre Haus Vel’kim.”

Enric lachte amüsiert auf. Ja, natürlich. Heilende Kräuter und Magie. Das hätte er sich denken können.

Er gab ein großzügiges Trinkgeld und erhob sich von seinem Kissen. “Ich danke dir.”

“Sie haben das Rezept noch nie verkauft, soweit ich weiß”, warnte der junge Mann. “Und sicher nicht, weil es an Interessenten mangelt.”

Orrin kippte ein Glas Wasser hinunter, dann antwortete er: “Ich glaube, sie sind im Begriff, eine Ausnahme zu machen.”

Enric nickte. Entweder das, oder Vran’el würde einen höheren Preis für bestimmte Waren aus Anyueel zahlen müssen, mit denen sein Haus gerne handelte.

*  *  *

“Ihr seid spät dran”, kritisierte Eryn den Ordensleiter und das Oberhaupt der Krieger, ohne ihre Lippen zu bewegen, während sie ihr Lächeln aufrechterhielt. “Keine gute Sache in diesem Land.”

“Die Wahl war entweder das oder betrunken und verschwitzt aufzutauchen”, konterte Enric. “Aber da das Festessen noch nicht begonnen hat und Orrin und ich sehr wichtige Personen sind, wird man uns vermutlich verzeihen.”

“So funktioniert das hier nicht, und das weißt du auch. Je höher deine Position in der Gesellschaft ist, desto eher wird von dir erwartet, dass du ein Vorbild für die Einhaltung der lokalen Werte bist.”

Er seufzte. “Ich nehme alles zurück.” Er hob ihre Hand an seine Lippen. “Verzeih uns, oh Hüterin des angemessenen Verhaltens, zu der du plötzlich mutiert bist.”

“Enric, Orrin.” Malriels Stimme veranlasste sie, sich umzudrehen. Sie trug eines von Eryns Kleidern und begrüßte die Neuankömmlinge mit einem Lächeln, das nicht bis zu ihren Augen reichte. “Wie schön, dass ihr euch uns anschließt. Ich habe mich schon gefragt, welche dringenden Angelegenheiten euch aufgehalten haben mögen.” Der Stachel war besser versteckt als in dem deutlicheren Vorwurf ihrer Tochter, aber dennoch nicht zu überhören.

Einen Augenblick später ertönte der Gong, der das Ende des zwanglosen Beisammenseins der Gäste ankündigte und ihnen signalisierte, dass sie sich in den Nebenraum begeben sollten, in dem man das Abendessen auftragen würde.

Orrin hob seinen Arm, damit Eryn ihn ergreifen konnte, während Malriel den von Enric akzeptierte.

“Wie geht es dir?” fragte Eryn den Krieger leise, während sie zu den Doppeltüren schlenderten, die von zwei Dienern offen gehalten wurden.

“Ich erfreue mich bester Gesundheit”, antwortete er mit übertriebener Förmlichkeit. “Und selbst?”

Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. “Zwing mich nicht, dir wehzutun. Wie ging es Junar, nachdem du von der Sauftour zurückgekehrt bist, auf der dich mein Gefährte begleitet hat?”

“Sie hat sich noch mit Iklan unterhalten, als ich zurückkam. Das ist ein gutes Zeichen, nehme ich an.”

“Auf jeden Fall. Iklan hat eine Art, die Dinge hervorzuholen, die man lieber für sich behalten oder nicht wahrhaben will.”

Sie näherten sich den Sitzgelegenheiten. Anders als bei ihrem allerersten Bankett hier vor mehr als sieben Jahren waren die Kissen und Tische nicht in Form eines Halbmondes angeordnet, sondern in Form des Buchstabens U.

“Gibt es jemanden, den du meiden oder neben dem du sitzen möchtest?” fragte Orrin.

“Bring mich da rüber, zu dem Mann in der schwarzen Tunika.”

“Welcher? Es gibt zwei.”

“Der mit den silbernen Stickereien an den Ärmeln und um seinen Hals.”

Der Krieger runzelte die Stirn. “Moment… Ist das nicht das Oberhaupt von Haus Roal?”

“Ja, genau der.”

“Ich glaube nicht, dass du dich zu ihm setzen solltest. Du erinnerst dich doch daran, dass sein Haus und dasjenige, das du übernehmen sollst, nicht gerade freundschaftlich miteinander verkehren? Willst du Malriel wieder provozieren? Ich dachte, ihr beide würdet euch jetzt gut verstehen.”

Eryn seufzte. “Warum fragst du mich überhaupt, wo ich sitzen möchte, wenn du nicht bereit bist zu tun, was ich sage?”

“Vielleicht hatte ich für heute genug Aufregung und würde einen ruhigen Abend ohne Feindseligkeiten vorziehen.”

“Ich verspreche, dass ich nicht die Absicht habe, Malriel Kummer zu bereiten. Dies ist lediglich eine günstige Gelegenheit, um Amgil von Haus Roal beiläufig darauf hinzuweisen, dass es vielleicht einen Weg gibt, die Spannungen zwischen unseren Häusern zu unserem beiderseitigen Vorteil beizulegen.”

“Also gut. Lass Malriel aber unbedingt wissen, dass es nicht meine Idee war, mich neben ihn zu setzen, sondern dass ich hier nur deine Anweisungen befolgt habe.”

“Sag mir nicht, dass du Angst vor der zierlichen, eleganten Malriel hast, mächtiger Krieger?”, kicherte sie.

“Vor etwa einer Stunde hat sich ein hübsches kleines Ding Enric angeboten. Er ließ den Namen Aren fallen, und das arme Ding floh und kehrte nicht mehr zurück. Ich werde sicher nicht den Fehler machen, mich mit denen anzulegen.”

Eryn wollte gerade fragen, in welchem Lokal sie getrunken hatten, in dem solche Optionen auf der Getränkekarte standen, schluckte aber ihre Frage herunter, da sie nun nahe genug waren, um von anderen Gästen gehört zu werden.

Ihr Blick fiel auf das Oberhaupt von Haus Roal, das ihre Annäherung mit einer Mischung aus Neugierde und Besorgnis beobachtet hatte.

Sie lächelte ihn an. “Amgil, erlaubst du mir, mich zu dir zu setzen?”

Er legte den Kopf schief. “Es wäre mir ein Vergnügen, Eryn. Oder wünschst du nun wieder mit Maltheá angesprochen zu werden?”

“Eryn wird für den Moment ausreichen.”

Eryn ignorierte die überraschten Blicke um sie herum. Sie hatte sich tatsächlich entschlossen, sich zu den eingeschworenen Feinden von Haus Aren zu setzen, obwohl es noch genügend andere Plätze gab. Auch wenn sie offiziell kein Mitglied des Hauses war, so sollte sie als ehemaliges Mitglied doch genug Respekt davor zeigen, um sich nicht mit jenen einzulassen, zu denen das Haus Abstand bewahrte.

“Darf ich fragen, welchen glücklichen Umständen ich das Privileg verdanke, heute Abend deine Gesellschaft genießen zu dürfen?”

Sie lächelte Amgil an und dachte, dass es ihr zum Vorteil gereichen könnte, so viele Zeugen zu haben. Vorausgesetzt, er war mehr an einem lukrativen Arrangement interessiert, als diese Gelegenheit zu nutzen, um allen zu zeigen, dass er keine Angst davor hatte, die Tochter der mächtigen Malriel zu verärgern. Was in Anbetracht der Umstände nicht allzu schlau wäre. Malriel war noch nie in ihrem Leben so mächtig gewesen wie zu diesem Zeitpunkt, und die anderen Anführer der Häuser verkehrten nur ungern mit Verbündeten, die nicht zumindest ein Mindestmaß an Besonnenheit an den Tag legten.

“Ich habe an meine Zusammenarbeit mit deinem Bauunternehmen vor einigen Jahren gedacht.”

Er nickte. “Das Waisenhaus. Ich erinnere mich selbstverständlich.”

“Ich war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und jeder, mit dem ich spreche, bestätigt, dass dein Haus die beste Qualität bietet, wenn es um Bauarbeiten geht.”

Amgil lächelte milde. “Ich verstehe. Und da sowohl die Aren Residenz als auch Malhoras Anwesen wieder aufgebaut werden müssen, möchtest du die Dienste des besten Anbieters, den du finden kannst, in Anspruch nehmen. Und vielleicht die Gelegenheit nutzen, um allen – auch oder gerade deinen Vorgängerinnen – zu zeigen, dass du keine Angst hast, von ihren Prinzipien abzuweichen und neue Wege einzuschlagen?”

Eryn seufzte innerlich. Alle ahnten also schon, was noch nicht offiziell war: dass sie im Begriff war, Haus Aren zu übernehmen. Und wenn man bedachte, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, machte es wenig Sinn, etwas anderes zu behaupten. “Es mag dich enttäuschen, aber meine Motivation ist etwas weniger kompliziert. Ich möchte lediglich Zugang zur besten Qualität haben, die es gibt, anstatt mich mit der zweitbesten zu begnügen. Warum sollte ich Nachteile in Kauf nehmen, die sich aus Konflikten ergeben, an denen weder du noch ich selbst je persönlich beteiligt waren? Du bist dir aber ebenso wie ich bewusst, dass mir ein kleines Hindernis im Weg steht. Oder besser gesagt, in unserem Weg, denn auch dein Haus würde davon profitieren.”

“Du spielst nicht zufällig auf die Rolle an, die mein Haus in Bezug auf gewisse Anschuldigungen bezüglich des Todes deines Großvaters gespielt hat, oder etwa doch?” Er warf einen kurzen Blick in Richtung der Stelle, an der Malriel saß, als wolle er herausfinden, ob sie wusste, was ihre Tochter im Schilde führte.

Eryn spürte, wie die Stimmung leicht kippte. Sein Verhalten hatte sich auf subtile Weise verändert. Es war mehr ein Gefühl als etwas, das sie genauer hätte benennen können.

“Stimmt”, bestätigte sie ruhig und wartete auf das, was als Nächstes kommen musste.

“Soweit ich weiß, war das Verhalten meines Hauses in dieser Angelegenheit nicht zu beanstanden. Es wurde ein Verbrechen begangen, und wir haben darauf bestanden, dass es untersucht wird – unabhängig davon, ob ein Oberhaupt eines Hauses das Vergehen begangen hat. Ich weiß, dass Haus Aren dazu eine andere Auffassung hatte – und sehr wahrscheinlich immer noch hat. Ich erinnere mich, dass die Akten des Falles anscheinend… irgendwann verloren gegangen sind.”

Ihre Augen verengten sich. Sie war sich ihrer Zuhörerschaft bewusst. Alle hier wussten mit Sicherheit oder vermuteten zumindest stark, dass sie im Begriff war, die Leitung von Haus Aren zu übernehmen, so dass es eigentlich keine Rolle spielte, dass sie derzeit noch nicht in dieser Funktion agierte. Was immer sie jetzt tat oder sagte, würde Konsequenzen für ihr Haus haben, so dass es kaum einen Unterschied machte, ob sie bereits eingesetzt worden war oder nicht. Sie war gerade herausgefordert worden, und ihre Reaktion darauf würde darüber entscheiden, ob einige der anwesenden Oberhäupter von Häusern, die diesem kleinen Wortwechsel jetzt gespannt zuhörten, auch in Zukunft bereit sein würden, ihre Beziehungen zu Haus Aren aufrechtzuerhalten oder nicht.

“Wie wäre es mit einer kleinen Wette, Amgil?”, antwortete sie ruhig und mit einem leisen Lächeln.

“Eine Wette, kleine Maltheá?” Jetzt provozierte er sie, indem er sie zuerst fragte, welchen Namen er benutzen sollte, nur um dann zu dem anderen zu wechseln.

“Du bist vielleicht zehn Jahre älter als ich? Nicht, dass ich irgendeinen Altersunterschied für bedeutend genug hielte, um mich von jemandem herablassend behandeln zu lassen.” Sie warf einen trägen Blick in Malriels Richtung, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Sie hatte oft genug bewiesen, dass sie nicht einmal bereit war, sich von der mächtigen Malriel von Haus Aren mit Herablassung behandeln zu lassen.

“Ich entschuldige mich”, erwiderte Amgil mit einem Lächeln und zeigte sich wieder charmant. “Dann erzähl mir von der Wette, die du im Sinn hast.”

“Wenn ich dir beweise, dass das Verhalten meiner Großmutter in Bezug auf das Ableben ihres Gefährten über jeden Zweifel erhaben war und dass dein damaliges Oberhaupt des Hauses nur aufgrund der unbegründeten und unwahren Behauptungen einer jungen Frau gehandelt hat, wirst du dich öffentlich entschuldigen und Wiedergutmachung in Form eines großzügigen Rabatts auf den Bau von drei Aren-Anwesen leisten.”

Seine Augen verengten sich. “Wenn du solche Beweise in der Hand hast, warum hat Malhora sie nicht schon vor fünfunddreißig Jahren vorgelegt?”

“Wer sagt, dass sie es nicht getan hat? Nimm meine Wette an, Amgil, und ich werde dir alles sagen, was du wissen willst, um deinen Fehler zu erkennen.” Sie beugte sich zu ihm, nah genug, um den schwachen Duft seiner Seife zu riechen. “Du hast jetzt keine andere Wahl. Du kannst meiner Herausforderung nicht aus dem Weg gehen, ohne wie ein Feigling dazustehen. Außerdem biete ich dir nichts Geringeres als die Wahrheit an. Und solltest du dich weigern, sie zu prüfen, weil du fürchtest, dass das fragwürdige Verhalten deines Vorgängers aufgedeckt wird, wird das deinem Ruf weit mehr schaden, als wenn du mutig das Risiko eingehst, dass er sich geirrt haben könnte und tust, was angemessen ist – nämlich Haus Aren zu entschädigen. Du weißt, dass mein Angebot mehr als großzügig ist.” Sie lehnte sich wieder zurück. Laut genug, damit die interessierten Zuhörer sie hören konnten, fragte sie: “Was sagst du, Amgil? Haben wir eine Wette? Oder hast du Grund, die Wahrheit zu fürchten?”

“Gewiss nicht, Maltheá. Ich freue mich darauf, die von dir versprochenen Beweise vorgelegt zu bekommen.”

Eryn hob ihre Hand und lud ihn ein, sie zu ergreifen. “Es wird mir ein Vergnügen sein. Sollen wir die Vereinbarung besiegeln?”

Einen Moment später lag Amgils leicht kühle Hand auf der ihren, dann floss Magie, um ein Kommitment erster Ebene zu errichten, mit dem sie einander versicherten, dass beide Parteien die ehrliche Absicht hatten, die Wette zu ehren.

Nachdem dies geschehen war, lehnte sich Eryn mit allen Anzeichen von Zufriedenheit zurück und erlaubte Amgil, ihr eine Portion des Essens zu reichen, das die Diener zu bringen begonnen hatten.

Er hielt die Schüssel noch einen Moment länger fest, als sie danach griff, um sie entgegenzunehmen. “Warum willst du drei Gebäude errichten lassen, Maltheá, wenn nur zwei zerstört wurden?”

“Auf unserem kleinen Hügel hier in Takhan wird es zwei Wohnsitze geben statt eines einzigen”, erklärte sie.

Er lachte aufrichtig und amüsiert. “Ich würde dir schon allein deshalb einen beträchtlichen Preisnachlass gewähren, um beobachten zu können, wie das Zusammenleben von dir und Malriel in so unmittelbarer Nähe verläuft.”

Eryn zog die Schale an sich, als er sie endlich losließ, und widerstand dem Drang, ihm den Inhalt über den Kopf zu kippen.

*  *  *

“Malriel sieht ein wenig angespannt aus, wie ich nicht umhin komme zu bemerken”, kommentierte Vran’el mit einem Anflug von unangebrachter Heiterkeit. “Aber ich muss sagen, dass sich Eryn gut genug geschlagen hat. Ich gehe davon aus, dass sie wirklich im Besitz der Beweise ist, die sie angeblich vorlegen kann? Alles andere wäre immens töricht gewesen. Wir schätzen das Selbstvertrauen unserer Hausoberhäupter, aber nicht, wenn es auf Treibsand aufbaut.”

Enric nickte. “Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Inzwischen solltest du wissen, dass deine Schwester keine leeren Versprechungen macht. Oder Drohungen, was das betrifft.”

Es gab mehr als eine Möglichkeit, Amgil gegenüber Malhoras Unschuld zu beweisen. Die erste war, Malhora einem Wahrheitsfilter zu unterziehen. Das würde ihr zwar keineswegs zusagen, aber sie würde dem wahrscheinlich zustimmen, da eine Verweigerung der Kooperation zur Bestätigung eines Abkommens, das die zukünftige Anführerin ihres Hauses eingegangen war, den Namen Aren beflecken würde. Die Chancen standen jedoch gut, dass dies nicht notwendig sein würde. Es war zwar zutreffend, dass man die Akten vor dreieinhalb Jahrzehnten hatte verschwinden lassen, aber er bezweifelte sehr, dass sie vernichtet worden waren. Es war viel wahrscheinlicher, dass sie weggeschlossen waren – beispielsweise in dem Kellergewölbe unterhalb der Aren Residenz, das glücklicherweise von der oberirdischen Zerstörung verschont geblieben war.

“Es gibt etwas, das ich dich fragen wollte”, wandte er sich an den Bruder seiner Gefährtin. “Orrin und ich haben ein Lokal gleich hinter der alten Künstlerakademie besucht. Dort wurde uns ein sehr interessantes Gebräu serviert. Eines, das unsere Köpfe in kürzester Zeit wieder klar hat werden lassen. Es war, als würden wir innerhalb weniger Minuten sämtliche Phasen der Ausnüchterung durchlaufen – und das bei nur sehr leichten Symptomen. Mir wurde gesagt, dass Haus Vel’kim der Lieferant ist. Warum habe ich davon nichts gewusst? Und warum habe ich dich mehr als einmal unter den Folgen von übermäßigem Alkoholgenuss leiden sehen, wenn du im Besitz eines solchen Rezeptes bist?”

Vran’el lachte leise. “Ja, es ist fantastisch, nicht wahr? Ich bin erst vor kurzem über diesen kleinen Schatz gestolpert. Ich habe vor etwa zwei Jahren begonnen, die alten Unterlagen aus der Zeit meines Vaters als Oberhaupt des Hauses durchzusehen. Detaillierte Aufzeichnungen über Verträge, Berichte von jedem unserer Unternehmen, angenommene und abgelehnte Projekte… Unter letzteren fand ich einen Brief, der das Rezept enthielt. Eine meiner vielen Cousinen hatte es sich ausgedacht und es Vater als Geschäftsmöglichkeit präsentiert. Er hat es abgelehnt. Du weißt ja, wie er darüber denkt, die unangenehmen Folgen von übermäßigem Trinken wegzuheilen und die Leute lieber darunter leiden zu lassen, damit sie ihre Lektion lernen. Wenn man alt genug ist, um zu trinken, ist man auch alt genug, um die Konsequenzen zu tragen”, ahmte er seinen Vater nach.

Valrad, der nicht weit von ihm entfernt saß, drehte den Kopf und warf seinem Sohn einen skeptischen Blick zu, da er offensichtlich seine eigenen Worte wiedererkannte und nicht besonders erfreut darüber war, sie mit diesem genervten Unterton zitiert zu hören.

“Du solltest vielleicht etwas leiser sprechen”, murmelte Enric.

Vran’el zuckte mit den Schultern. “Zum Glück bin ich zu alt für Ausgangsverbote. Also, wo war ich?”

“Valrad hat den Vorschlag deiner Cousine abgelehnt.”

“Ah, ja. Wie du dir sicher vorstellen kannst, war ich begeistert. Ich habe mich mit ihr in Verbindung gesetzt und sie gebeten, den drei Häusern, die entsprechende Etablissements betreiben, ein paar Flaschen als Kostprobe zur Verfügung zu stellen.” Er schmunzelte. “Alle drei wollten das Rezept sofort kaufen, und dann kamen noch weitere Angebote dazu. Ich habe natürlich abgelehnt und stattdessen begonnen, Kaufverträge auszuhandeln. Der große Vorteil ist, dass jeder es anwenden kann, ohne einen Magier zur Hand zu haben – oder darauf angewiesen zu sein, dass dieser bereit ist, zu helfen, anstatt einem mit einem Anflug von Überlegenheit beim Leiden zuzusehen.” Er blickte mit missmutiger Miene in die Richtung seines Vaters.

“Ich stimme zu, das ist ein sehr nützliches Mittel. Deshalb wollte ich mit dir über den Kauf des Rezepts sprechen. Natürlich nicht für den ausschließlichen Gebrauch. Oder besser gesagt, nur für den exklusiven Gebrauch in Anyueel. Ich wäre bereit, einen guten Preis zu zahlen und biete dir darüber hinaus eine Gewinnbeteiligung an.”

Vran’el grinste. “Und warum sollte ich ein solches Angebot annehmen, wenn ich mein wundersames Heilmittel genauso gut an die Händler von Anyueel verkaufen und sowohl mein Rezept als auch den gesamten Gewinn behalten könnte, anstatt nur einen Anteil daran zu erhalten?”

Enric lächelte. “Weil ich auch nach meinem Weggang aus Anyueel einige meiner Geschäfte dort weiterführen und ein gutes Verhältnis zu König Folrin pflegen werde. Ich kann dir versichern, dass du auf unüberwindliche Hindernisse stoßen wirst, wenn du versuchst, in diesen Markt einzutreten. Zum Beispiel das Problem, jemanden zu finden, der deine Produkte transportiert, da ich derzeit noch im Besitz des einzigen Reedereibetriebs in Anyueel bin und einen Anteil an allen Unternehmen in Takhan besitze, die nach Anyueel verschiffen. Und selbst wenn es dir gelänge, jemanden zu finden, der deine Ware nach Anyueel bringt, würdest du feststellen, dass der Hafen sich weigert, deine Fracht zu übernehmen. Ich habe den Wiederaufbau des Hafens finanziert, nachdem wir den Handel mit eurem Land aufgenommen haben, also habe ich auch dort einen gewissen Einfluss.”

“Verdammt noch mal, Enric! Gibt es irgendetwas, wo du nicht mit drinhängst?”

Enric schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. “Derzeit? In dem Verkauf deines Zaubertranks, aber ich hoffe, dass ich das ändern kann. Was soll es denn nun sein, Vel’kim? Eine profitable Zusammenarbeit mit mir oder ein frustrierender Alleingang? Falls du dich für Letzteres entscheidest, mach dich darauf gefasst, dass einige deiner anderen Produkte aus Anyueel erst mit einer gewissen Verzögerung eintreffen werden. Und auf unvorhergesehene Preissteigerungen.”

“Ich kann nicht glauben, dass du mich auf diese Weise erpresst! Deine eigene Familie!”

“Du hast die Wahl, Vran. Du kannst erhobenen Hauptes beschließen, nicht so tief zu sinken, dass du dich erpressen lässt. Du musst nur bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. In Gold.”

Vran’el seufzte und schüttelte den Kopf. “Na gut, hier ist mein Angebot: Ich behalte das alleinige Eigentum an der Rezeptur und werde die Produktion ausweiten. In Anyueel ist das ohnehin nicht möglich, denn ihr braucht frische Kräuter, die nur in warmen Gefilden wachsen. Sie wären mehr oder weniger unbrauchbar, wenn man sie mehrere Tage lang transportierte. Du wirst als Vermittler fungieren und für deine Mühe einen großzügigen Anteil am Gewinn erhalten.”

Enric lehnte sich zurück. “Das klingt doch schon wesentlich vielversprechender, mein Freund. Du wirst sehen – wir werden bald in jedem Haushalt eine Flasche davon haben.”

Das Oberhaupt von Haus Vel’kim schnaubte. “Das wäre ein wahrgewordener Albtraum für meinen Vater. Also legen wir los!”

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„Gekreuzte Klingen“ – Der Orden: Buch 8

Kapitel 1

Wieder Zuhause

Sobald das Schiff am Pier der königlichen Stadt Anyueel vertäut und der Landungssteg positioniert war, ging König Folrin ohne viel Aufhebens von Bord. Sein Ärger jedoch, der seinen Schritten eine gewisse Energie und seiner Miene mehr als nur einen Hauch von Grimmigkeit verlieh, war unverkennbar.

Königin Del’na’bened, nunmehr in festlicheren Gewändern als in ihrer Reisekleidung, die sie noch vor einer Stunde getragen hatte, folgte ihm eilig.

Vern, Junar, Téa und Temina verfolgten überrascht, wie das königliche Paar auf die wartende Kutsche zuschritt, ohne ihre Umgebung auch nur eines Blickes zu würdigen.

“Folrin, das war doch nicht ihre Absicht”, schnappten sie die Worte der Königin auf, die ihren Gefährten zu beruhigen versuchte.

Jede erkennbare Wirkung auf ihn blieb aus. Seine Lippen zu einer dünnen Linie gepresst, trat er lediglich zur Seite, um seine Gefährtin als Erste in das Gefährt einsteigen zu lassen. Dann warf er Eryn, die gerade den Pier betrat, einen letzten vernichtenden Blick zu, bevor er – ohne dafür auf den Kutscher zu warten – die Tür nachdrücklich hinter sich schloss, um sich von ihr fort und zu seinem Palast bringen zu lassen.

Eryn atmete aus und umklammerte Vedrics Hand um sicherzugehen, dass er nicht auf die wartende Gruppe zulaufen konnte. Es war ihm nicht erlaubt zu laufen, wenn die Gefahr bestand auszurutschen oder zu stolpern und im Fluss zu landen. Doch das pflegte er jedes Mal zu vergessen, wenn er jemanden erblickte, den zu begrüßen er ganz erpicht war.

Enric und Orrin folgten ihr. Orrins gesamte Haltung veränderte sich mit jedem Schritt, mit dem er die Distanz zwischen sich und seiner Familie, die er seit Monaten nicht gesehen hatte, verringerte. Und doch versäumte er nicht, als Vorbild aufzutreten, so wie es von ihm erwartet wurde. Daher nahm er davon Abstand, auf sie zuzulaufen wie er es vorgezogen hätte. Nein, er bewegte sich lediglich raschen Schrittes auf sie zu und demonstrierte so den beiden Kindern, dass auf einem Pier nicht gerannt werden durfte, während sein Blick fest auf Junar und das Mädchen an ihrer Seite gerichtet blieb.

Eryn spürte, dass sie nun, wo der König fort war und sie für den Moment von seiner Theatralik verschont blieb, unbeschwerter atmen konnte. Den gesamten vergangenen Tag über war er absolut unausstehlich gewesen. Wie konnte ein Mann, der ein ganzes Land zu regieren hatte, dermaßen zimperlich sein?

Sie beobachtete, wie Orrin endlich die wartende Gruppe erreichte und Junar in einer stürmischen Umarmung an sich zog. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, als sie ihn an sich drückte und ihr Gesicht in seinem Hals vergrub. Ihnen blieben nur wenige Sekunden, um ihre Wiedervereinigung ungestört zu genießen, bevor das Mädchen neben ihnen am Hemd ihres Vaters zupfte, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. Orrin hob sie mit einer schwungvollen Armbewegung hoch, dann setzten sie die Umarmung zu dritt fort.

Vern beobachtete die Szene lächelnd. Dann wandte er sich um und blickte Eryn, Enric und Vedric entgegen.

“Willkommen zurück”, grüßte er sie, dann nickte er mit dezent resignierter Miene in Richtung des Schiffsrumpfs. “Würdest du mir wohl erklären, warum im Rumpf dieses Schiffs ein Loch klafft? Das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, warum der König dermaßen pikiert ist?”

Eryn drehte sich in die Richtung, in die er deutete, und betrachtete die mächtige Lücke, die vom blassblauen Schimmern eines magischen Schildes überzogen war. Sie ermöglichte einen ungehinderten Blick in den Schiffsbauch. Kein alltäglicher Anblick. Was auch der Grund war, weshalb mehr und mehr Passanten anhielten um zu gaffen.

Temina grinste und nickte ihrer Tante zu. “Das warst du, nicht wahr? Die Königin hat so etwas erwähnt, glaube ich.”

Vedrics Gesicht wandelte sich zu einer Maske vorgetäuschten Entsetzens, doch das Glänzen in seinen Augen verriet ihn. “Es war entsetzlich! Ich habe geschlafen, und dann war da dieser wirklich, wirklich laute Knall! Und dann war überall Wasser! Alles war nass und kalt und alle haben geschrien und sind herumgelaufen!”

Eryn verzog das Gesicht. “Es gab da ein winziges Missgeschick.” So hatte sie sich ihre Rückkehr hierher wahrlich nicht vorgestellt – dass sie ihren jüngsten Akt der Zerstörung rechtfertigen musste.

Vern schnaubte und besah sich den Schaden erneut. “Winzig? Das Loch ist unschwer so groß wie ich! Ich bin nicht sicher, ob ich froh sein soll, dass ich nicht auf dem Schiff war und um mein Leben fürchten musste, oder ob ich es bedauern soll, dass mir dieses zweifellos beispiellose Spektakel entgangen ist.” Schließlich trat er auf sie zu. “Aber zuerst lass mich dich ordentlich begrüßen.” Er umarmte sie und fuhr fort: “Ganz egal, was du wieder angestellt hast, ich bin froh, dass du zurück bist.”

Temina begrüßte inzwischen ihren Onkel. Ihre Augen nahmen sein Gesicht in sich auf, und sie runzelte verwirrt die Stirn. “Enric, du siehst… verändert aus”, beendete sie den Satz etwas hilflos, da sie es nicht vermochte, die Veränderung auf den Punkt zu bringen.

Vern löste sich von Eryn und musterte Enric kurz. “Du hast ein wenig an Gewicht verloren. Und die Linien um deine Augen und auf deiner Stirn sind etwas tiefer als ich sie in Erinnerung habe”, analysierte er mit der Zügigkeit eines ausgebildeten Heilers. “Was ist dir widerfahren?” Er nickte zum Schiff hin. “Ich nehme an, dahinter steckt etwas mehr als das, was sie als ihr winziges Missgeschick bezeichnet?”

Eryn seufzte. Also hatte sich Enrics Entführung in Pirinkar noch nicht weit genug verbreitet, um in Anyueel allgemein bekannt zu sein. Aber das war nur eine Frage der Zeit – in Takhan wussten zu viele Leute darüber Bescheid, und es gab zahlreiche formelle und informelle Kontakte zwischen den Bürgern beider Länder. Das bedeutete, es würde nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben.

“Reden wir doch später darüber, ja?”, schlug sie vor, als Orrin sich gerade von seiner Gefährtin und seiner Tochter löste. Sein Gesichtsausdruck war weicher, so als hätte die Wiedervereinigung mit seiner Familie ihn um eine schwere Bürde erleichtert.

Eryn lächelte Junar an und wollte für eine Umarmung auf sie zugehen, doch die Worte der anderen Frau ließen sie mitten im Schritt innehalten.

“Du kehrst also wieder zurück – das Schiff in Trümmern, der König zornig und drei Länder im Krieg miteinander”, schleuderte ihr die Schneiderin ohne jede Vorwarnung entgegen, während ihre Stimme bebte. “Ich schätze, ich sollte dankbar sein, dass zumindest mein Gefährte unversehrt zurück ist.”

“Junar, das ist nicht fair”, erwiderte Enric ruhig. Er widerstand dem Impuls, Eryn seinen Arm um die Schultern zu legen. Damit würde er den Eindruck erwecken, sie wäre zu ihrer Verteidigung auf ihn angewiesen. Nun, zumindest noch mehr als seine Worte es ohnehin bereits nahelegten. “Aber das ist kaum ein geeigneter Zeitpunkt, um über das zu sprechen, was dir so viel Kummer bereitet. Wir sind gerade erst angekommen und würden gerne nach Hause zurückkehren, auspacken und uns dann etwas ausruhen.”

“Es ist nicht fair, dass du so etwas zu meiner Mutter sagst!”, pflichtete Vedric bei, verstummte aber auf den warnenden Blick seines Vaters hin. Es schien als wäre dies eine weitere dieser Situationen, wo es nur in Ordnung war, wenn ein Erwachsener etwas aussprach, nicht aber, wenn er das tat.

Orrin wirkte ebenfalls, als wollte er etwas loswerden, doch er besann sich eines Besseren. Er brachte es nicht über sich, seine Gefährtin für ihre harschen und wenig gerechtfertigten Worte zu schelten, nachdem er gerade erst zu ihr zurückgekehrt war.

“Ich denke, wir werden ebenfalls heimkehren”, verkündete der Krieger und nahm Junar und Téa jeweils an einer Hand.

Die kleine Familie ging auf die wartende Kutsche zu und war kurz darauf fort.

“Was hat sie denn für ein Problem?”, fragte Temina ungläubig und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter dorthin, wo sich Junar noch vor ein paar Augenblicken befunden hatte. “Ich meine, du bist gerade erst vom Schiff gekommen! Und es ist nicht deine Schuld, dass Orrin in Takhan festgesessen ist! Ich dachte, sie sei deine Freundin!”

Vern fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und antwortete: “Die Zeit ohne Vater war schwierig für sie. Sie hat ihn sehr vermisst. Und sie hat um sein Leben gefürchtet, besonders nachdem sie von dem Angriff auf Malriels Haus gehört hat. Und dass Téa immer schwieriger zu kontrollieren war, hat auch nicht gerade geholfen. Ihr Verhalten hat sich beträchtlich verbessert, nachdem Vater mit ihr zu trainieren begonnen hatte. Als er dann nicht mehr hier war, um ihr Grenzen zu setzen und Zeit mit ihr zu verbringen, ist sie wieder zu einigen ihrer vorherigen, weniger angenehmen Verhaltensweisen zurückgekehrt.”

Eryn seufzte, als sie zu verstehen begann. “Und für all das gibt sie mir die Schuld. Weil es meine Mutter war, die nach Orrin verlangt hat, um meinen Sohn zu beschützen.”

Vern wirkte gepeinigt, hin und her gerissen, die Gefährtin seines Vaters zu verteidigen und zuzugeben, wie irrational ihre Attacke auf Eryn gewesen war.

“Möglicherweise. Bis zu einem gewissen Grad. Obwohl sie weiß, dass du nicht wirklich daran Schuld bist – du hast nie darum gebeten, dass man euch nach Pirinkar schickt. Und wenn wir uns ansehen, wie sich die Dinge entwickelt haben, war es gut, dass Vater dort war, um Vedric zu beschützen. Sie hat nicht wirklich über ihre Worte nachgedacht. Sie musste nur irgendwie ihre Frustration loswerden.” Er räusperte sich und deutete auf das übel zugerichtete Schiff, bestrebt, das Thema zu wechseln. “Ich würde wirklich gerne wissen, wie das passiert ist. Warum hast du ein Loch in das Schiff gesprengt?”

“Tatsächlich war Enric derjenige, der das getan hat”, erwiderte sie müde. “Aber ich war sozusagen der Auslöser. Warum kommt ihr beiden nicht mit zu uns auf ein Getränk?”

 

*  *  *

 

Enric atmete aus und genoss den Akt des Schließens der Tür zu seinem Heim, mit dem er die Außenwelt aussperrte und nur jenen Zutritt zu seinem privaten Reich gewährte, deren Anwesenheit er dort auch wirklich schätzte. Für den Augenblick gab es keine Anordnungen, denen er sich zu beugen hatte – keine Befehle des Königs, keine Vorladung von Tyront. Sie waren einfach nur eine normale Familie, die von einer eher erschöpfenden Reise zurückkehrte. Mit dem König und der Königin. Auf einem Schiff, das beinahe in Stücke gesprengt worden war. All das dehnte den Begriff der normalen Familie womöglich etwas zu sehr.

Vern und Temina traten direkt hinter ihnen ein und stießen einen zufriedenen Seufzer aus, als wären sie ebenfalls gerade nach mehreren Monaten Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt.

Enric tauschte einen amüsierten Blick mit seiner Gefährtin.

Vedric kämpfte mit seinen Schuhbändern, schleuderte die Schuhe von seinen Füßen, ließ seinen Umhang zu Boden fallen und sauste dann zu den Stufen und in sein Zimmer hinauf.

Seine Mutter schüttelte den Kopf, während sein Vater die Unordnung beseitigte, die der Junge hinterlassen hatte.

Ungebeten, doch in dem Vertrauen, dass dies hier so etwas wie sein drittes Zuhause war – zusätzlich zu seinem Quartier und dem seines Vaters – ließ Vern sich auf ein Sofa fallen und klopfte auf den Platz neben sich als Signal für Temina.

Mit Interesse bemerkte Eryn, wie das Mädchen zu ihm ging und der Einladung ohne das geringste Zögern folgte. Diese beiden jungen Menschen fühlten sich wohl miteinander wesentlich wohler als noch vor ein paar Monaten, und sie fragte sich, welcher Natur ihre Beziehung wohl war. Freunde? Bettgenossen? Irgendetwas dazwischen? Das war der Nachteil dabei, wenn man für so lange Zeit fort musste – es entging einem so viel von dem, was vor sich ging, aber nicht spektakulär genug war, um es in einer Nachricht zu erwähnen. Es war ein wenig als müsste sie die Leute in ihrem Leben neu kennenlernen.

Was auf jeden Fall mehr als zutreffend war, wenn sie an ihre kurze, aber erschütternde Begegnung mit Junar dachte.

“Was möchtet ihr trinken?”, fragte Enric, während er an den Barschrank trat und nahtlos in die Rolle des aufmerksamen Gastgebers schlüpfte.

Vern bat um ein Glas Wein, und ebenso Temina, wenn auch mit einer etwas übertriebenen Lässigkeit, die nahelegte, dass sie darauf wartete, ob man ihrem Wunsch nachkommen würde.

Enric spitzte die Lippen. “Weiß deine Großmutter, dass du Alkohol trinkst?”

Seine Nichte seufzte, und ihre Schultern sanken ein wenig ein. “Nein.”

Eryn spürte seine Belustigung durch das Geistesband, wenngleich auf seinem Gesicht keine Spur davon erkennbar war.

“Ich verstehe.” Er nickte. “Und würde sie das gutheißen?”

“Dass du überhaupt fragen musst zeigt sehr deutlich, dass sie nicht diejenige war, die dich großgezogen hat, als du alt genug warst, um dich für Alkohol zu interessieren”, knurrte Temina.

Enric gab vor, einen Moment lang nachzudenken. “Ich schätze, aufgrund deiner Ehrlichkeit kann ich dir ein wenig Nachsicht zeigen.”

“Wo ist übrigens Plia?”, fragte Eryn, während Enric vier Gläser Rotwein einschenkte. “Normalerweise begrüßt sie uns am Pier.”

“Sie arbeitet”, antwortete Vern. “Wo sollte sie wohl sonst sein? Ich glaube, sie unterrichtet heute die neuen Apotheker.”

“Also eifrig wie eh und je. Wie sieht es mit dir aus? Jetzt, wo du wieder zum Heilen zurückgekehrt bist, hoffe ich nicht, dass du entdeckt hast, dass dir das Reinigen der Pferdeställe und Böden mehr Spaß macht als dein alter Beruf.”

Der junge Mann schnaubte und nahm das Glas entgegen, das Enric ihm reichte. “Ganz gewiss nicht! Obwohl Lord Poron es mir nach meiner Rückkehr nicht gerade leicht gemacht hat. Ich habe mehr als meinen Anteil an weniger beliebten Schichten abbekommen. Aber ich beklage mich nicht”, fügte er hastig hinzu.

Sie hoben ihre Gläser.

“Auf die Familie”, sprach Enric und hob das seine.

Die anderen drei lächelten und wiederholten seine Worte.

“Also”, begann Vern nach seinem ersten Schluck, “du hast versprochen, das Geheimnis hinter dem zerstörten Schiff zu lüften.”

“Zerstört”, wiederholte Eryn verächtlich und winkte ab. “Das ist doch bloß ein Kratzer.”

“Ich konnte hineinsehen!”, rief Temina aus. “Das Schiff ist ruiniert! Was ist passiert? Ihr wurdet doch nicht angegriffen, oder?”

Eryn rieb sich über die Stirn und nahm auf einem der Stühle Platz. “Nein, nicht wirklich. Es war ein Unfall.” Sie atmete aus und fragte sich, wo sie mit ihrer Erzählung beginnen sollte. “Ihr wisst, dass wir nach Pirinkar geschickt wurden.”

Beide nickten.

“Enric und ich waren… eine Zeitlang getrennt. Das hat zu der Entdeckung geführt, dass wir anscheinend dazu in der Lage sind, Magie durch unser Geistesband zu schicken”, fuhr sie fort und verschwieg sorgsam alles, worüber sie derzeit nicht wirklich sprechen wollte. “Allerdings kann keiner von uns sagen, wie das genau funktioniert. Als wir also auf dem Schiff waren und drei Tage lang nichts Besseres zu tun hatten als die Wellen anzustarren…”

Vern zog die Augenbrauen hoch. “Da dachtest du, du könntest die Zeit ebenso gut für ein paar Experimente nutzen? Obwohl der König und die Königin an Bord waren?”

“Nun, ja. Ich hatte nicht wirklich mit einem dermaßen dramatischen Resultat gerechnet”, verteidigte sie ihre unglückselige Entscheidung.

Der junge Mann sah zu Enric. “Und du hattest dazu überhaupt nichts zu sagen?”

“Ich wurde nicht konsultiert”, erwiderte er mit einem Seitenblick auf seine Gefährtin.

“Was bedeutet das Loch im Schiff nun?”, erkundigte sich seine Nichte. “Hat es funktioniert oder nicht?”

“Sagen wir einfach, wir haben etwas Neues gelernt, wenn auch nicht ganz so viel wie erhofft”, versuchte Eryn es auf neutrale Weise zu formulieren.

“Jetzt sag schon, wie ist es passiert? Das ist ja wie Zähne ziehen!”, beklagte sich Vern und zeigte erste Anzeichen von Ungeduld.

“Es war spät in der Nacht”, begann Eryn, “und außer der Mannschaft war ich die Einzige, die noch wach war. Ich habe einige Zeit damit verbracht, aufs Meer hinauszuschauen und nachzudenken. Es muss um Mitternacht herum gewesen sein, als ich zu überlegen begann, ob ich das, was oben in Pirinkar passiert ist, wohl wiederholen könnte. In kleinerem Maßstab. Also habe ich die Augen geschlossen und mich konzentriert. Ich dachte, ich müsste es bemerken, falls es funktioniert, weil Enric davon aufwachen würde. Nach einigen misslungenen Versuchen begannen meine Gedanken abzudriften zu… Dingen, die in Kar passiert sind. Erschütternde Dinge. Meine Vermutung ist, dass ich ein wenig eingeschlafen bin und meine dabei Gedanken irgendwie auf dem gleichen Pfad geblieben sind. So haben sich wohl aus meinen vorhergehenden Überlegungen recht unangenehme Träume ergeben. Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, als jemand über meine Beine gestolpert ist, und dieser unerwartete Zwischenfall in Kombination mit dem, was während des Schlafens in meinem Gehirn vorging, muss vollbracht haben, was ich in wachem Zustand nicht geschafft habe.”

“Was bedeutet, du hast irgendwie deine Magie an Enric geschickt?”, fragte Vern mit ungläubiger Miene. “Ich wusste nicht einmal, dass euer Geistesband so etwas kann! Es hat also funktioniert?”

“Sagen wir lieber, es gab einen unübersehbaren Effekt”, warf Enric ein. “Zu behaupten es hätte funktioniert wäre ein wenig zu hoch gegriffen, da es keine bewusste Bemühung war, die sich beliebig wiederholen ließe. Und vergessen wir nicht das gigantische Loch in der Schiffshülle. Das ist nicht gerade meine Vorstellung von Erfolg.”

“Enric hat meine Magie empfangen”, fuhr Eryn fort, “allerdings hat er zu dem Zeitpunkt geschlafen und war somit nicht wirklich in der Lage, sie zu kontrollieren. Also… kam sie einfach aus ihm heraus.” Sie untermalte ihren letzten Satz mit einer Handbewegung, die eine Explosion darstellen sollte.

“In Form eines Blitzes, der das Schiff getroffen hat”, fügte er der Vollständigkeit halber hinzu.

Vern erschauderte, als er sich das vorstellte. “Das muss ein böses Erwachen gewesen sein. Zum Glück hast du lediglich die Schiffshülle getroffen und keine Person.”

“Vedric hat auf der Pritsche gegenüber von mir geschlafen. Aber der Blitz hätte ihn nicht verletzt. Zumindest nicht stark. Er war mächtig genug, um Holz zu durchschlagen, hätte ihn aber nur umgeworfen. Der menschliche Körper kann magische Attacken recht gut wegstecken.”

“Ich weiß”, seufzte Vern. “Ein Großteil davon zerstreut sich entlang der Haut. Du erinnerst dich, dass ich sowohl ein Magier als auch ein Heiler bin?”

Eryn grinste, zufrieden, dass zur Abwechslung einmal jemand anderer als sie selbst die Aufmerksamkeit auf seine Tendenz zum übermäßigen Erklären lenkte.

Temina lehnte sich fasziniert vor. “Da muss dann aber eine Menge Wasser ins Schiff gelaufen sein, wenn ich an die Position des Lochs denke”, schlussfolgerte sie.

“Das stimmt”, bestätigte Enric. Noch einmal durchlebte er die fürchterlichen Sekunden, deren Beginn ein heftiger Schwall Wasser ins Gesicht gewesen war nur eine Sekunde nachdem die Magie, die aus ihm herausgebrochen war, ihn aus seinen Träumen gerissen hatte. “Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was vor sich ging, und in der Zwischenzeit war das Wasser in der Kabine knietief, und die Hülle hatte begonnen, Planke für Planke wegzubrechen. Der Mannschaft war aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Einerseits war da der Knall meines Blitzes gewesen, und dann begann das Schiff zu kippen.” Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. “Alle begannen herumzulaufen und zu schreien. Es war das reinste Chaos.”

“Ihr seht also – ein Missgeschick”, betonte Eryn einmal mehr. “Es ist nicht einmal passiert, während ich bewusst damit experimentiert habe, sondern erst hinterher. Ich sehe also nicht, weshalb der König mir die Schuld dafür gibt.”

“Ach nein?”, fragte Vern. “Normalerweise fließt keine Magie zwischen euch beiden, wenn ihr schlaft, also musst du irgendwas getan haben.”

“Ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich habe den letzten Tag an Bord damit verbracht, darüber nachzudenken.” Ihre Miene verfinsterte sich. “Dafür hatte ich eine Menge Zeit – weder der König noch die Mannschaft waren nach dem Vorfall besonders erpicht darauf, mit mir zu reden. Die Königin hat versucht, ihn zu besänftigen, aber ich habe gesehen, dass sie ebenfalls erschüttert war.”

“Unglaublich”, staunte Vern, “wie du es immer wieder schaffst, Dinge auf die spektakulärste Art und Weise zu zerstören. Zuerst die Senatshalle, und jetzt das Schiff mit dem König und der Königin an Bord…”

“Und eine Gebirgsfestung, die in massives Gestein gehauen war, wo sie gerade dabei war…”, murmelte Enric und nahm einen großen Schluck von seinem Glas.

Temina und Vern blickten ihn beide an als versuchten sie herauszufinden, ob er zu scherzen beliebte.

“Das ist Unsinn”, entschied der junge Mann schließlich, “niemand kann so etwas zerstören.”

Enric lächelte matt. “Willst du wetten?”

 

*  *  *

 

“Du hast eine Bergfestung zerstört”, murmelte Vern. Einen Tag später dachte er noch immer fassungslos an das, was Enric ihm mit Hilfe dieses raffinierten kleinen Tricks aus Pirinkar gezeigt hatte. “Du hast sie vollkommen vernichtet? Wie? Ich meine… wie?”

Eryn, die die letzten paar Schritte zur Klinik neben ihm zurücklegte, zuckte mit den Schultern. “Es war eine Art Eingebung. Ich bin einfach… mit dem Gestein unter mir in Kontakt getreten und mit meiner Magie darin eingetaucht, dann hat es mir gewissermaßen gezeigt, was zu tun ist.”

Vern bedachte sie mit einem skeptischen Blick, als hätte sie sich nun vollständig von ihrem Verstand verabschiedet. “Du hast dich mit den Steinen unterhalten? Und sie haben geantwortet?”

Vor der Eingangstür hielt sie inne. “Es klingt verrückt, wenn du es so ausdrückst. Ich bin nicht irre. Es war als hätte ich gespürt, was unter mir liegt, die unterschiedlichen Schichten übereinander, die Art und Weise, wie sie sich um mich herum ausgedehnt und gekrümmt haben… Was so eindrucksvoll aussieht, wenn Enric seine Erinnerungen projiziert, ist kein Kraftakt oder der Einsatz von brachialer Stärke. Es ist ein kleiner Anstoß mit einer unglaublich mächtigen Auswirkung. Ich habe lediglich Magie an einer der Schichten entlang geschickt und sie dort an die Oberfläche treten lassen, wo ich sie gebraucht habe – und damit die Struktur des Gesteins minimal verändert, damit es sich ausdehnt. Der Fels wurde formbar und war damit kein stabiler Untergrund mehr. Und plötzlich war diese Monstrosität von einer Festung in einer Wolke aus grauem Staub verschwunden.”

Verwundert schüttelte der junge Mann den Kopf. “Wie entdeckst du sowas bloß immer wieder? Niemand außer dir käme auf den Gedanken, Gesteinsschichten zu untersuchen, um etwas dem Erdboden gleichzumachen. Jeder andere würde einfach nur eine Menge Magie in Form von Blitzen loslassen.”

“Das würden Krieger tun. Und es wäre dämlich gewesen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich dafür ohnehin zu weit entfernt gewesen wäre, hätte es selbst bei einem starken Magier eine Ewigkeit gedauert, eine Struktur aus massivem Fels zu zerschlagen. Man hätte Stück für Stück von außen abtragen und mit jedem Blitz ein paar Brocken ablösen müssen. Selbst wenn Enric und Lord Tyront gemeinsam an die Sache herangegangen wären, wären sie nach kaum mehr als einer Stunde vollkommen erschöpft gewesen.”

“Und dann diese Sache mit dem Geistesband… Du hast gesagt, ihr wurdet in Pirinkar getrennt – warum? Hat das irgendetwas mit Enrics Veränderung zu tun?”

Eryn zwang sich, ihr Unbehagen mit einem Lächeln zu kaschieren. Da gab es so Vieles, das sie ihm nicht erzählen konnte, Dinge, von denen sie wusste, dass sie zuerst bei Tyront nachfragen musste, ob jemand davon erfahren durfte. So wie Enrics Entführung, die Tatsache, dass sie sich im Krieg befanden, oder sogar das Geheimnis der Kampftechnik der Bendan Ederbren, über das sie gestolpert war.

Sie war mehr als nur ein wenig überrascht, dass Enric Vern nicht nur seine neue Fähigkeit zum Projizieren von Bildern auf einen magischen Schild demonstriert, sondern ihm auch die Herangehensweise erklärt hatte – ohne vorher den Orden zu Rate zu ziehen.

Das war ungewöhnlich für einen Mann, der den Großteil seines Lebens hinweg gewisse Fertigkeiten für sich behalten hatte, um sich so in diesem Sumpf aus Magiern, Politikern und Spionen einen Vorteil zu sichern. Es schien, als hätte ihre eigene Herangehensweise im Umgang mit Wissen – als etwas, das mit dem Teilen wuchs – begonnen, auf ihn abzufärben.

“Ich fürchte, darüber kann ich dir noch nichts erzählen”, meinte sie, ihr Ton bedauernd, als sie zu der Unterhaltung zurückkehrte.

Eryn wollte gerade die Tür zur Klinik aufstoßen, da hielt er ihre Hand fest und sah sich prüfend um, ob sich jemand in der Nähe befand, bevor er flüsterte: “Es gibt Gerüchte, dass wir uns im Krieg befänden. Ich nehme an, darüber kannst du mir auch nichts sagen?”

“Ich fürchte, das kann ich nicht”, bestätigte sie, nickte ihm aber kaum merklich zu.

Er verstand und schluckte mit leicht geweiteten Augen. Die Bestätigung seines Verdachts beunruhigte ihn sichtlich.

Sie betraten das Gebäude, und es dauerte kaum länger als zwei Minuten, bis sich die Kunde von Eryns Rückkehr in der gesamten Klinik verbreitet hatte. Sie wurde willkommen geheißen, umarmt, nach dem Treiben im Westen befragt und schaffte es erst nach einer halben Stunde, sich zu befreien.

Die Arbeit kam vor dem Vergnügen, also würde sie Lord Poron aufsuchen, bevor sie an Plias Tür klopfte. Inmitten all der Kollegen hatten sie kaum mehr als ein paar Sekunden gehabt, um miteinander zu sprechen.

Sie hob ihre Faust, um an die Tür des Arbeitszimmers zu klopfen, wartete dann aber noch ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Das war der Tag, an dem sie ihren Ausstieg aus dem Heilen offiziell machen würde. Ganz egal, wie groß die Versuchung war, diese unangenehme Angelegenheit noch einen Tag oder zwei hinauszuschieben. Sie wusste, dass dies die Sache nicht vereinfachen würde. Sie musste es hinter sich bringen, und Lord Poron musste davon erfahren, bevor irgendwelche Pläne ausgearbeitet wurden, um sie in den Schichtplan miteinzubeziehen.

Streng genommen hatte sie bereits das Oberhaupt der Klinik in Takhan darüber informiert. Doch da dieser zufällig auch ihr Vater und der Anlass privater Natur war, zählte es nicht wirklich. Das hier musste offiziell ablaufen.

Der Raum hinter der Tür war derjenige, den sie selbst vor wenigen Jahren als Arbeitsplatz genutzt hatte, bevor der Orden beschloss, dass jemand anderer als sie selbst ihre Klinik führen würde. Mit Lord Poron hatte man durchaus eine gute Wahl getroffen – sie selbst war die Erste, die das zugeben würde. Doch es verblieb dennoch ein winziger Rest an Groll, der daran festhielt, dass es nicht deren Entscheidung hätte sein sollen, sondern allein die ihre. Doch mit individuellen Entscheidungen kam der Orden nicht gut zurecht. Oder zumindest nur, sofern die Person, die die Entscheidungen traf, auch der gesamten Institution vorstand.

Als sie schließlich anklopfte, wurde die Tür sofort geöffnet, und vor ihr stand Lord Poron, der dank verjüngender Heilermagie wesentlich weniger greisenhaft wirkte als er sollte.

“Eryn!”, grüßte er sie herzlich und zog sie in eine Umarmung, bevor er sie einzutreten bat. “Komm doch herein. Ich hatte gehofft, dass du dich heute Morgen ansehen lassen würdest. Obwohl mir natürlich bewusst ist, dass du zuerst Tyront aufsuchen solltest.” Er lächelte. “Aber diesen Besuch versuchst du nach deiner Rückkehr aus Takhan immer aufzuschieben.” Sobald er die Tür hinter ihr geschlossen hatte und beide saßen, wurde sein Gesichtsausdruck ernst. “Ich bin froh, dass du und Enric wohlbehalten aus dem Norden zurückgekehrt seid. Wie geht es ihm? Ich habe gehört, dass er entführt und sogar gefoltert wurde.”

Es überraschte Eryn nicht, dass er Bescheid wusste. In Abwesenheit von Eryn und Enric war Lord Poron nach Tyront der höchstrangige Ordensmagier.

“Soweit geht es ihm gut. Nach unserer Rückkehr nach Takhan hat er Iklan konsultiert. Mir ist daraufhin eine beträchtliche Verbesserung seiner Verfassung aufgefallen. Trotzdem schätze ich, dass es immer noch eine Weile dauern wird, bis er diese Erfahrung vollständig aufgearbeitet hat.”

Lord Poron lächelte schwach. “Ich bin froh zu hören, dass er sich an Iklan gewandt hat. Seit ich mich dem Heilen verschrieben habe, beginne ich zu verstehen, dass der Orden jungen Magiern keine allzu gesunde Haltung vermittelt, wenn es darum geht, sich den eigenen Schwächen zu stellen. Wir bringen ihnen bei, sich ihnen entgegenzustellen und sie zu bewältigen – oder wenn sie das nicht vermögen, sie verschwinden zu lassen, indem man ihnen keine Beachtung schenkt. Die Option Hilfe anzunehmen – oder noch schlimmer, sogar darum zu bitten – wurde nie gefördert, da es bedeuten würde, sich selbst jemand anderem gegenüber angreifbar zu machen. Und das widerspräche politischer Strategie.”

Eryn seufzte tief in ihrem Inneren, erwiderte aber nichts darauf. Politische Strategie. Das Thema, die Disziplin oder wie auch immer man es kategorisieren wollte, das ihr am meisten verhasst war. War es nicht großartig, wieder zurück zu sein…

“Es ist wichtig, dass Enric im Vollbesitz seiner Kräfte ist, jetzt, wo wir in einen Krieg eingetreten sind”, fuhr das Oberhaupt der Heiler fort. “Ihr beiden bekleidet nicht nur hohe Ränge im Orden, sondern verfügt auch über wesentliches Wissen über den Feind.”

“Ganz so weit würde ich nicht gehen”, widersprach Eryn und verzog das Gesicht. “Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es wesentlich mehr gibt, das wir nicht über sie wissen.”

Der Feind. Es fiel ihm leicht, diesen Begriff für die Menschen nördlich der Westlichen Territorien zu verwenden. Für ihn waren sie nichts als eine anonyme Masse ohne Gesichter. Für Eryn hatten sie nicht nur Gesichter, sondern auch eine Kultur, ihre eigene Sprache, Tempel, erstaunliche Technologien und waren – und das war das Allerwichtigste – Individuen mit Namen, Berufen, Bedürfnissen und Wünschen. Der Feind war kein Volk; soweit es sie betraf, war es ein einzelner Mann.

“Die Bendan Ederbren sind zweifellos geneigt, ihre Erkenntnisse mit uns zu teilen”, erwiderte Lord Poron, stets der Optimist.

“Ich bezweifle nicht, dass sie willens sind, doch ich frage mich, wie viel sie uns mitteilen können, wenn wir bedenken, dass sie gezwungen waren, ihr gesamtes Leben hinter Tempelmauern zu verbringen”, konterte Eryn.

“Das ist wohl wahr”, nickte der alte Mann, “doch da gibt es noch eine andere Gruppe, die nun seit mehreren Tagen befragt wird, soweit ich das verstehe: jene, die das Lager der Bendan Ederbren attackiert haben. Zumindest die wenigen, die der Wüstenstamm festzusetzen vermocht hat.”

“Die Loman Ergen?”, fragte Eryn und erinnerte sich erst jetzt wieder an die Gefangenen.

“Während ihr auf dem Weg hierher wart, haben wir eine Nachricht aus Takhan erhalten. Es handelte es sich um eine Gruppe von etwa fünfzehn Leuten, doch nur zwei von ihnen sind wahrhaftig Loman Ergen. Beim Rest handelt es sich lediglich um Soldaten, die entsprechend gekleidet waren, um diesen Eindruck zu erwecken.” Er runzelte die Stirn. “Was mich etwas überrascht. Hätte die gesamte Gruppe aus Magiern bestanden, die im Kundschaften ausgebildet sind, hätten sie ohne Zweifel beträchtlich größeren Schaden anrichten oder sogar alle Bendan Ederbren töten können. Warum schickt Etor Gart nur zwei von ihnen?”

Eryn knirschte mit den Zähnen. “Ich habe bisher nur eine kleine Gruppe der Loman Ergen getroffen, doch ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass sie besonders erpicht darauf waren, zum Töten anderer Magier eingesetzt zu werden – sofern das überhaupt auf irgendjemanden zutrifft. Vielleicht konnte er nicht genug von ihnen auftreiben, die bereit waren, auf diese grausige Mission zu gehen.”

Lord Poron nickte langsam. “Ich gehe davon aus, dass Etor Gart Zugeständnisse machen muss, wo er nun einen ganzen Tempel voller Krieger verloren hat. Da es Magiern im Allgemeinen nicht erlaubt war, sich Kampffertigkeiten anzueignen, wird es ihm schwerfallen, sie zu ersetzen. Aber lassen wir dieses Thema. Ich bin sicher, es wird mehr als genug Gelegenheiten geben, den Krieg in den Ratsversammlungen zu besprechen.” Er schenkte Eryn ein mitfühlendes Lächeln, als sich ihre Miene bei der Erwähnung dieser Leute verdüsterte.

“Der Gedanke erfreut mich doch gleich ganz besonders…”, knurrte sie.

“Dein Vater hat mir geschrieben”, schwenkte er auf ein anderes Thema um. “Er hat erwähnt, dass du zu beweisen versuchst, dass magisches Heilen langfristig schädliche Auswirkungen auf Patienten hat.”

Eryn presste sich Zeigefinger und Daumen auf die Nasenwurzel. “Es ist keineswegs mein Ziel, das zu beweisen – ich will lediglich herausfinden, ob diese Behauptung zutrifft oder nicht. Mir ist jedes Ergebnis recht; ich will nur sicher sein, dass Heiler nicht versehentlich ihre Patienten falsch behandeln. Er ist nicht allzu glücklich über meine Entschlossenheit, in diese Richtung zu forschen. Ich habe ihn sozusagen dazu gezwungen, es zu tolerieren, indem ich an die Triarchie herangetreten bin.”

Der Heiler schüttelte den Kopf. “Ich schätze, niemand könnte dir jemals vorwerfen, dass du deine Familie ungebührlich bevorzugst. Du versäumst es, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu betrachten, Eryn. Er sorgt sich darum, dass der Ruf seiner Heiler Schaden nehmen und die Arbeit, die sie leisten, abgewertet werden könnte.”

“Das weiß ich. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, die Wahrheit herauszufinden.”

“Das bedeutet es keinesfalls”, stimmte er zu. “Doch es mag sich eine etwas weniger… unerbittliche Herangehensweise empfehlen. Ich gehe davon aus, dass du in einem ersten Schritt in den Patientenakten nach wiederkehrenden Krankheiten suchen willst?”

Sie nickte.

“Wenn du denkst, dass die wenigen Jahre, die unsere Aufzeichnungen zurückreichen, dir in deinem Unterfangen helfen könnten, dann kannst du unsere Akten selbstverständlich nutzen. Sie gehen nicht so viele Jahre zurück wie jene in Takhan, wie du weißt, doch vielleicht ist es ein Anfang.”

Eryn lächelte ihn an, während das Gefühl von Zuneigung für ihn in ihrer Brust aufblühte. Er hatte sie noch niemals im Stich gelassen, und sie war zutiefst dankbar und erleichtert, dass er es auch jetzt nicht tat.

“Vielen Dank. Ich glaube, das ist ein ausgezeichneter Ausgangspunkt.”

“Es ist gut, dich zurück zu haben”, merkte er an. “Und auch Vern, obwohl ich noch immer versuche, ihm klar zu machen, dass wir ihm seinen Fehltritt verziehen, ihn aber keineswegs vergessen haben.”

Sie schluckte. Das war es, wovor sie zurückscheute – ihm zu sagen, dass er sie nicht wirklich zurück hatte. Zumindest nicht auf die Weise, wie er es erwartete.

“Ich glaube, Vern hat das durchaus begriffen. Zumindest war das mein Eindruck, als er mir von der Schichteinteilung erzählt hat. Da gibt es noch etwas, das ich bekanntgeben muss.”

Lord Poron zog seine Augenbrauen hoch, als sie zögerte. “Du weißt, dass du mir alles sagen kannst.”

Sie atmete aus und zwang sich dazu, die Worte auszusprechen. “Ich werde nicht länger als Heilerin arbeiten.”

Die Augenbrauen ihres Gesprächspartners zogen sich zusammen. “Verzeihung?”

“Ich habe entschieden, dass ich nicht länger in diesem Metier tätig sein kann. Es hängt mit einem Vorfall in Pirinkar zusammen. Ich… ich habe etwas getan, von dem ich geschworen hatte, es niemals wieder zu tun.”

Der Magier betrachtete sie eine Weile, dann nickte er langsam. “Natürlich werde ich deine Entscheidung respektieren, ganz egal, wie sehr ich sie bedaure. Wirst du mir sagen, was dich dazu bewogen hat, das Heilen aufzugeben? Ich möchte versuchen, es zu verstehen.”

Einen Moment lang rang Eryn mit sich, dann nickte sie schließlich. Ihm diese spezielle Tatsache mitzuteilen war aus irgendeinem Grund wesentlich einfacher als bei ihrer Familie. Es war nicht so, dass sie kein Vertrauen in den Rückhalt ihres Vaters hatte; er würde trotz ihrer verwerflichen Tat – dem Bruch ihres Eides – zu ihr stehen. Das Problem war eher, was es ihn kosten mochte. Was sie getan hatte, stand allem entgegen, wofür er stand; es entehrte alles, was er seit Jahrzehnten hochhielt.

Lord Poron war dem Heilen ähnlich stark verbunden, wenngleich er noch nicht ganz so lange darin tätig war. Doch er war auch vom Orden ausgebildet und seit früher Kindheit auf Krieg vorbereitet worden. Er wusste, dass es manchmal keine andere Möglichkeit gab als auf gewisse unliebsame und zuweilen unethische Maßnahmen zurückzugreifen.

Valrad wusste das ebenfalls, doch lediglich in einem Zusammenhang ohne Gewalt, sondern in Verbindung mit politischen Angelegenheiten oder schwierigen Entscheidungen, die das Oberhaupt eines Hauses zu treffen hatte.

Sie holte tief Luft. “Als man Enric entführt hatte, benutzte ich meine Magie und mein Heilerwissen dazu, einen Mann zu foltern, von dem ich vermutete, dass er etwas über seinen Verbleib wusste. Es war…” Sie schloss die Augen. “…einfacher als es hätte sein sollen.”

“Ich verstehe”, erwiderte Lord Poron sanft, in seiner Stimme nicht die geringste Spur von Verurteilung. “Nun, ich bin sicher, dass ein anderer Weg vor dir liegt, meine liebe Eryn. Und wenn wir deine Position im Orden betrachten und deine regelmäßigen Reisen nach Takhan, dann war es ohnehin ein großer Luxus, dich lediglich als bescheidene Heilerin bei uns zu haben. Dennoch werden wir dich enorm vermissen. Du bist nicht nur die erste Heilerin, die wir hier jemals hatten, sondern auch die Gründerin dieser Klinik.”

Sie war unendlich dankbar, dass er keinerlei Versuche startete, sie umzustimmen, sondern ihre Entscheidung und das, was sie diesem Priester angetan hatte, als etwas Unangenehmes aber womöglich Unvermeidliches – oder zumindest Verzeihliches – akzeptierte.

“Malriel hat mich gebeten, Haus Aren zu übernehmen.” Die Worte purzelten ungebeten aus ihr heraus. Es war, als wollte sie ihm versichern, dass eine andere Aufgabe auf sie wartete, wenn sie es wünschte, dass er sich nicht sorgen musste, dass sie verlassen und ohne einen Zweck in ihrem Leben dastehen würde.

Nun wirkte er besorgt. “Und du hast zugesagt? Du beabsichtigst, uns für immer zu verlassen?”

“Ich habe mich noch nicht entschieden. Es ist eine weitreichende Entscheidung, und ich will sie nicht überstürzen.”

Lord Poron stieß den Atem aus und schloss kurz die Augen. “Ich schätze, damit hätte ich rechnen sollen. Doch es war so viel einfacher, auf deine angespannte Beziehung zu Malriel zu vertrauen; und davon auszugehen, dass euch das davon abhalten würde, einen Schritt aufeinander zuzugehen – zumindest nicht in einem Ausmaß, wo sie dir ihr Haus anvertraut und du es tatsächlich in Betracht ziehst. Weiß Tyront schon davon?”

Sie zuckte mit den Schultern. “Bei Tyront lässt sich schwer sagen, wovon er weiß. Falls er noch nicht davon erfahren hat, vermutet er es womöglich. Ebenso der König, denke ich. Zumindest, seit er erfahren hat, dass ich Vedrics Adoption in Haus Aren vorläufig nicht annulliert habe.”

“Dein Sohn ist Mitglied von Haus Aren?” Dann tippte er sich mit einem Zeigefinger gegen seine Schläfe. “Ah. Eine Vorsichtsmaßnahme vor deinem Aufbruch nach Pirinkar, um ihm den Schutz von Haus Aren zu sichern. Ein gewitzter Zug. Und dass du ihn nicht rückgängig gemacht hast, ist ein recht vielsagendes Signal. Ich würde zustimmen, dass Tyront die Relevanz dahinter erraten wird. Ich empfehle, dass du ihn offiziell von dem Angebot unterrichtest. Und zwar bald. Das ist ein Zeichen von Respekt und gutem Willen. Und es wird ohnehin keine Neuigkeit für ihn sein, sondern lediglich die Bestätigung eines Verdachts, den er bereits hegt.”

Eryn nickte zögernd. Sie war nicht besonders versessen darauf, Tyront davon zu erzählen. Seinen Standpunkt in dieser ganzen Sache konnte sie sich lebhaft vorstellen. Und wie er darauf reagieren würde, wie sie in Worte kleidete, was er ohnehin bereits vermutete. Wenn sie Glück hatte, würde es lediglich auf gezwungene Höflichkeit hinauslaufen.

Doch Lord Poron hatte Recht – über all dies mit Tyront zu reden würde zumindest die Illusion von Offenheit schaffen.

Ein harsches Klopfen erklang an der Tür, die Lord Porons Arbeitszimmer mit dem seines administrativen Leiters verband, und einen Moment darauf wurde sie ohne Aufforderung geöffnet.

Da war ein kaum hörbares Schnauben, als Lofts Blick auf Eryn landete.

“Ah ja, der Tumult war ein Hinweis darauf, dass Ihr zurückgekehrt sein müsst”, brummte er. “Die Störung aller Ordnung und Disziplin ist in der Regel ein sicheres Anzeichen für Eure Ankunft.”

Eryn bedachte ihn mit einem kühlen Blick. “Und dass die Atmosphäre in wenigen Augenblicken bar jeder Freude ist, ist ein Anzeichen für deine”, schoss sie zurück.

“Ich gehe davon aus, dass ich den Dienstplan für den nächsten Monat umschreiben werde müssen, nachdem Ihr uns wieder mit Eurer Anwesenheit beglückt”, grummelte Loft. “Irgendwelche neuen Anforderungen dieses Mal? Ich genieße es ungemein, Euren eigenwilligen Prioritäten entgegenkommen zu müssen.”

“Zu freundlich”, erwiderte sie ausdruckslos. “Doch das wird nicht nötig sein. Ich werde deinen sorgsam erstellten Dienstplan nicht durcheinanderbringen. Niemals wieder.”

Er blinzelte. Zweimal. “Bedeutet das, Ihr werdet hier nicht länger als Heilerin arbeiten?”

“Meisterhaft erkannt. Jetzt geh und beschäftige dich mit deinen Papieren, damit die Erwachsenen reden können, ja?”

Loft war verdutzt genug, um dieser alles andere als höflichen Aufforderung Folge zu leisten, auf seinem Gesicht ein wundersames Lächeln, als er die Tür schloss.

“Ist das nicht nett?”, meinte sie müde. “Zumindest einer ist glücklich darüber.”

 

*  *  *

 

“Warum genau befindet sich ein klaffendes Loch in dem Schiff, dass euch aus Takhan hergebracht hat?”, war die erste Angelegenheit, über die Tyront informiert werden wollte, sobald Enric in seinem Arbeitszimmer Platz genommen hatte.

“Ich schätze, sie werden einfach nicht mehr so stabil gebaut wie früher”, äußerte Enrics Mund, bevor sein Gehirn einlenken konnte. Er räusperte sich, als sich Tyronts Blick verdüsterte. “Was sagen deine Informanten, was sich zugetragen hat? Ich weigere mich zu glauben, dass in dieser Monstrosität eines Schreibtischs nicht irgendwo mindestens ein Bericht darüber herumschwirrt.”

Zu spät erkannte er, dass diese Antwort bei seinem bereits leicht gereizten Vorgesetzten auch nicht viel besser ankam. Verdammt – Eryns Unverfrorenheit färbte langsam auf ihn ab. Er überlegte, ob er noch einen weiteren Versuch starten sollte, entschied sich aber dagegen. Selbstbewusste Respektlosigkeit war immer noch besser als tollpatschige Versuche, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Zumindest im Orden. Eine Bestrafung hoch erhobenen Hauptes entgegenzunehmen wurde als eine Art Tugend erachtet, doch jedem Versuch zu deren Vermeidung wurde in der Regel mit ungerührter Verachtung begegnet. Der Orden plädierte dafür, Leute für ihre Fehler zu bestrafen, und befürwortete weniger, dass diese rechtzeitig erkannt wurden. Aus Fehlern zu lernen war wichtig, also wurde die Vermeidung von Bestrafung im letzten Moment gleichgesetzt mit dem Unwillen, sich weiterzuentwickeln.

Tyront stützte sich mit den Ellbogen auf seinen massiven Schreibtisch und legte seine Fingerspitzen auf die für ihn so typische Weise aneinander. Und starrte Enric weiterhin an.

“Sollen wir es noch einmal versuchen, Enric?” Unter dem Deckmantel wohlwollender Nachsicht schwang nun auch eine gewisse… Kälte in Tyronts Stimme mit.

“Es war ein…” Missgeschick war das erste Wort, dass ihm in den Sinn kam. Doch Eryns bevorzugter verharmlosender Begriff für etwas, das mühelos das gesamte Schiff einschließlich dem Herrscherpaar hätte versenken können, würde Tyront nicht im Mindesten amüsieren. “…ein Unfall”, beendete er den Satz.

“Ein paar zusätzliche Details wären willkommen”, entgegnete Tyront ausdruckslos, als Enric nichts weiter preisgab.

Sein Vorgesetzter war ungeduldig, wie Enric bemerkte. Das musste bedeuten, dass die Berichte, die er bislang erhalten hatte, nicht zufriedenstellend gewesen waren.

“Ich bin selbst nicht sicher, wie es passiert ist. Eryn sagt, sie hat mit dem Geistesband herumexperimentiert.” Wusste Tyront überhaupt über die Einzelheiten Bescheid, wie Enric aller Wahrscheinlichkeit nach seiner Gefangenschaft entkommen war? Dass Eryn es irgendwie geschafft haben musste, ihm durch das Geistesband die Magie zu schicken, über die sie die Kontrolle verloren hatte – und so das goldene Band um seinen Hals in ein schwarzes, halb-geschmolzenes Metallstück verwandeln konnte? Enric selbst hatte in seinen Nachrichten keine Einzelheiten erwähnt, womöglich aber die Triarchie oder der König.

“Wie kann das dazu führen, dass ein Loch in der Größe eines Pferdewagens in das Schiff geschlagen wurde?”

Nun, diese Frage zeigte, dass ihm die Details noch nicht bekannt waren. Was bedeutete, dass zuerst einige Erklärungen fällig waren. Erklärungen, die erforderten, dass er über das sprach, was ihm während seiner Gefangenschaft widerfahren war. Möglichst in einer Weise, die Tyront nicht zeigte, wie schwer ihm das noch immer fiel. Er musste beiläufig klingen, jedoch nicht in einem Ausmaß, das Tyront glauben ließ, er strebe danach, etwas zu verheimlichen. Er würde versuchen, sich kurz zu fassen, nur das Minimum erwähnen, das erforderlich war, um den Vorfall auf dem Schiff zu erklären.

Enric nahm einen Schluck von der Tasse vor sich und wappnete sich innerlich. “Ich habe in meinem Bericht geschrieben, dass ich etwa zwei Wochen lang in einer Art Zelle im Inneren einer Gebirgsfestung eingeschlossen war. Mit einem goldenen Band um meinen Hals, sodass ich meiner Magie beraubt war. Das funktioniert auf die gleiche Weise wie unsere goldenen Handschellen oder die Gürtel in den Westlichen Territorien.”

Tyront seufzte. “Danke; bei dieser recht offensichtlichen Schlussfolgerung bin ich ebenfalls angelangt.”

Einen kurzen Moment lang fragte sich Enric, ob seine Gefährtin Recht hatte – tendierte er tatsächlich dazu, Dinge unnötig zu verdeutlichen?

Er schob den Gedanken beiseite und setzte fort: “Eines Tages habe ich es geschafft zu entkommen, weil das Halsband abfiel, als ich mich nach dem Aufwachen aufsetzte. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, es wäre eine weitere der Illusionen, mit denen ich gefoltert wurde. Somit war mir nicht klar, dass ich tatsächlich dabei war, mein Gefängnis zu verlassen.”

“Dieser Teil hat mich schon beschäftigt”, meinte Tyront stirnrunzelnd. “Warum sollte die Fessel einfach so von dir abfallen? Hast du jemals eine Erklärung dafür gefunden?”

“Da gibt es eine Theorie, der Eryn und ich den Vorzug geben. Eryn erlitt in der Stadt einen Zusammenbruch, im Tempel der Bendan Ederbren. Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt, von ihrer Angst und ihrem Kummer, und schaffte es nicht, sie für sich zu behalten.”

“Sie hat die Kontrolle verloren?” Der Anführer des Ordens wirkte beunruhigt. “Inmitten eines dicht besiedelten Gebiets?”

“Ja. Sie wurde ohnmächtig. Als sie jedoch wieder zu sich kam, erkannte sie, dass um sie herum keinerlei Zerstörung zu sehen war. Später fanden wir heraus, dass dieser Zusammenbruch zur gleichen Zeit passiert sein muss, als mein Halsband abfiel. Also vermuten wir, dass…”

“Ihr vermutet, dass die Kraft, die durch ihren Kontrollverlust freigeworden ist, irgendwie durch das Geistesband an dich übergegangen ist und dich von der goldenen Halsfessel befreit hat”, vollendete Tyront den Satz, dann lehnte er sich zurück und blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Decke.

“Genau.”

“Und dann hat sie mit dieser Kraft auf dem Schiff herumzuspielen begonnen und versehentlich ein Loch in das Schiff gesprengt”, schlussfolgerte er.

“Mehr oder weniger, aber im Detail verlief es ein wenig anders. Ich war derjenige, der den Blitz im Schlaf losgelassen hat”, korrigierte ihn Enric. “Obgleich sie zu diesem Zeitpunkt ihre Versuche bereits aufgegeben hatte. Sie war an Deck eingeschlafen, und als ein Mitglied der Mannschaft über ihre ausgestreckten Beine stolperte, schreckte sie aus dem Schlaf hoch und löste damit offensichtlich eine unbewusste Übertragung von Magie an mich aus – die ich nicht zurückhalten konnte, da ich geschlafen habe.” Er hob die Schultern. “Obwohl ich ehrlich gesagt zugeben muss, dass ich keine Ahnung habe, ob mir das in wachem Zustand gelungen wäre.”

“Eine weitere eurer kleinen Entdeckungen”, grummelte Tyront, “und zwar eine gefährliche. Eine, die ihr zu kontrollieren lernen müsst, damit ihr nicht zur Gefahr für alle um euch herum werdet. Die Frage ist, ob ihr Zusammenbruch diese Fähigkeit zum Teilen von Magie ausgelöst hat oder ob das schon immer möglich gewesen wäre. Sollte die erste Option zutreffen, dann hat sie womöglich…” Er nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um nach dem richtigen Wort zu suchen. “Dann hat sie womöglich etwas in euch aktiviert, das unbewusst ausgelöst werden kann. Oder sie hat schon die ganze Zeit über Magie an dich geschickt, und erst als sie erschrocken ist, passierte es versehentlich mit einer höheren Intensität als zuvor.”

Enric unterdrückte ein Lächeln ob der Veränderung in seinem alten Freund. Innerhalb von Minuten hatte er sich vom strengen Vorgesetzten zum neugierigen Forscher gewandelt.

Tyront wurde wieder ernst. “Wie dir klar sein muss, ist das eine recht gefährliche Sache. Es bedeutet, dass keiner von euch beiden zurückgehalten werden kann, solange nicht auch der andere in Gold gebunden ist. Und es bedeutet, dass ihr in der Lage sein könntet, euch aus dem Zugriff eines stärkeren Magiers zu befreien, wenn ihr es schafft, diese Verbindung bewusst zu eurem Vorteil einzusetzen.”

“Ja, das kam mir bereits in den Sinn”, erwiderte er gelassen und schluckte die Bemerkung, wer von ihnen beiden nun derjenige war, der sich in überflüssigen Erklärungen des Offensichtlichen erging.

“In deinem Bericht hast du noch eine weitere Fertigkeit erwähnt. Sogar drei. Noch dazu recht eindrucksvolle, wenn ich deinen Worten Glauben schenken darf. Das eine war das Umgehen der Erinnerungsblockade, wofür man wohl eine dritte Person benötigt, wie ich annehme. Doch für den Augenblick bin ich an der Sache mit den Erinnerungen interessiert. Golir schrieb, dass du es dem Senat demonstriert hast mit deiner Erinnerung, wie Eryn die Festung zerstört hat.”

Enric nickte und beschwor einmal mehr die Bilder herauf, an die er sich erinnerte. Tyront sah zu, unfähig, seine Faszination sowohl betreffend die Fertigkeit als auch die Bilder selbst zu verbergen.

Ein paar Minuten später schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme. “Unglaublich. Wie aufwändig ist es, sich diese Fähigkeit anzueignen?”

“Tatsächlich ist es recht einfach. Eryn hat es in nur ein paar Minuten erlernt, und ich selbst ebenfalls.”

“Dann wird es dir ein Vergnügen sein, es mir beizubringen, sobald unser Gespräch beendet ist.”

Enric nickte. “Selbstverständlich. Ich könnte es dir jetzt gleich zeigen, wenn du möchtest.”

“Zuerst gibt es da noch etwas anderes, von dem ich hören will. Diese andere Fertigkeit, von der du mir geschrieben hast. Diejenige, die in nicht-magischem Kampf eingesetzt wird. Obwohl wir diesen Begriff wohl neu definieren müssen, da zwar Magie mit im Spiel ist, aber nicht in Form von herumfliegenden Blitzen. Soweit ich verstanden habe, hast du das von den Bendan Ederbren erlernt.”

Enric lächelte voller Stolz, als er den Kopf schüttelte. “Das war nicht nötig. Eryn hat es ganz allein herausgefunden. Versehentlich, so wie auch sonst, wenn es um Kampffertigkeiten geht.”

Tyront schüttelte den Kopf. “Diese Frau treibt mich in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, was mich mehr stört – dass sie ständig über solche Dinge stolpert, ohne auch nur einen Funken an Interesse für die Disziplin zu zeigen, oder dass sie sich nicht die Mühe macht, dieses Talent sinnvoll zu nutzen.”

Darauf erwiderte Enric nichts. Er wusste, dass seine Gefährtin eine vollkommen andere Vorstellung davon hatte, was die sinnvolle Nutzung ihrer Talente betraf. Ganz bestimmt nicht das, was Tyront darunter verstand.

“Das könnte ich dir in der Arena zeigen, wenn du willst”, bot er zwanglos an.

“Nein, danke”, knurrte Tyront. “Ich erinnere mich an den Tag, als ich meine Kontrolle über den von ihr erdachten Doppelschild testen wollte – und dann auf recht schmerzvolle Weise von einer weiteren zufälligen Entdeckung ihrerseits erfahren habe. Nämlich, wie man ihn überwindet. Ich werde mich hüten, mich auf eine weitere öffentliche Demonstration einzulassen. Nein, du wirst es mir hier zeigen.”

Enric sah sich in dem Arbeitszimmer um. Es war zwar geräumig, doch keineswegs ausladend genug, um keinen Schaden zu erleiden, wenn zwei starke Magier ihre Kampffertigkeiten aneinander testeten.

“Bist du sicher?”, fragte er zweifelnd. “Da werden hier hinterher wohl ein paar Reparaturen nötig sein.”

Tyront stand von seinem Stuhl auf. “Dann gehen wir in den Salon. Falls wir versehentlich diese monströse rote Vase in der Ecke neben dem Eingang zertrümmern, die Vyril kürzlich erstanden hat, würde mich das keineswegs stören. Ich würde sogar so weit gehen, dir einen Gefallen zuzugestehen, wenn du die gesamte Schuld dafür auf dich nimmst.”

“Ich fühle mich benutzt”, murmelte Enric in vorgetäuschter Entrüstung, froh, dass sich die Stimmung seit seinem Eintreffen soweit gelockert hatte, dass sie miteinander scherzen konnten.

“Das geht schon in Ordnung – ich kann gut damit leben, und du wirst darüber hinwegkommen. Irgendwann.”

 

*  *  *

 

Plia ließ beinahe ihre – glücklicherweise nicht zerbrechlichen – Instrumente fallen, als Eryn ihr Labor betrat. Kurz darauf umarmten sich die beiden Frauen.

“Ich bekomme ein Kind!”, strahlte die jüngere Frau, sobald sie sich wieder voneinander gelöst hatten.

Eryn lächelte. Das waren nicht gerade unerwartete Neuigkeiten, da Plia kurz vor ihrem Kommitment ihren Schutz entfernen hatte lassen; doch Neuigkeiten waren es dennoch.

“Ich freue mich so für dich. Wie weit bist du denn schon?”

“Es ist mein vierter Monat, und mir ist es noch nie so gut gegangen!”

Eryn erinnerte sich an ihre eigene Schwangerschaft. Es war… in Ordnung gewesen. Leichte Magenbeschwerden am Anfang und Heißhunger auf süße Backwaren, aber nichts allzu Unbequemes. Junar hatte nicht ganz so viel Glück gehabt. Doch Plia strotzte geradezu vor Energie und Leben. Das mochte auch auf ihr Alter zurückzuführen sein. Mit einundzwanzig Jahren war sie ein ganzes Stück jünger als Junar und Eryn es gewesen waren.

Sie schob den Gedanken an Junar und die unangenehme Begrüßung beiseite, um davon nicht ihre Wiedervereinigung mit Plia überschatten zu lassen.

“Also keine Morgenübelkeit oder dergleichen?”

“Überhaupt nichts – nur eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen, aber das ist in meinem Beruf sogar hilfreich”, lachte die junge Frau.

“Wie kommt Rhys zurecht mit der Aussicht, bald Vater zu werden?”

“Er pendelt hin und her zwischen Phasen fieberhafter Aktivität, um alles fertigzubekommen, und anderen, wo er sich sorgt, ob er der Herausforderung gewachsen ist. Momentan baut er eine Wiege, da seine eigene nun seinem älteren Bruder für dessen Kinder gehört. Ich glaube, er hat mittlerweile schon dreimal von vorne begonnen, weil mit dem Ergebnis unzufrieden ist. Er redet davon, sie eines Tages an seine Enkel weiterzugeben.” Voller Staunen schüttelte sie den Kopf. “Wir haben unser Kind noch nicht einmal gesehen, und er redet schon von Enkeln!”

Eryn erinnerte sich, wie sie selbst immer wieder mit Magie nach ihrem ungeborenen Sohn gesehen und in ihrem Bauch nachgeschaut hatte um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Wie schade, dass Nicht-Magiern diese Möglichkeit verwehrt war.

Dann kam ihr ein Gedanke.

“Darf ich einen Blick hineinwerfen?”, fragte sie und nickte zu Plias Bauch hin.

“Sicher, nur zu.”

Eryn legte eine Hand auf den bereits leicht geschwollenen Unterleib unter der weiten Kleidung und schloss die Augen, bevor sie einen schwachen Impuls erkundender Magie losschickte. Sie fand den Fötus sofort und staunte einmal mehr darüber, wie weit ein menschliches Wesen bereits nach nur wenigen Wochen entwickelt war. Der Körper und die Gliedmaßen waren bereits geformt, nur die Proportionen würden sich noch verändern. Sogar die Gesichtszüge waren bereits erkennbar. Und natürlich das Geschlecht.

“Weißt du bereits, was es ist?”, fragte sie, ihre Augen noch immer geschlossen.

“Ja. Sie sagen, es ist ein Junge.”

Eryn nickte und öffnete die Augen, ihre Hand noch immer auf Plias Bauch. “Würdest du ihn gerne sehen?”

“Was? Wie denn? Ja!”

“In Ordnung. Ich kann dir aber nichts versprechen. Wenn ich in dich hineinschaue, dann passiert das Sehen durch meine Magie in Kombination mit meinem Gehirn, nicht durch meine Augen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich mich erinnern und es dann in einer Weise wiedergeben kann, dass deine Augen etwas erkennen können. Sei nicht enttäuscht, falls es nicht funktioniert. Das ist ein Experiment.”

Die Magierin errichtete vor ihnen eine Barriere in der Luft und konzentrierte sich darauf, die Informationen, die ihrem Gehirn ohne Umweg über die Augen vermittelt wurden, zu visualisieren. Zuerst wurden schwache schwarze und rote Flecken sichtbar, die dann Form anzunehmen begannen.

Plia schnappte nach Luft, als Details sichtbar wurden und vor ihren Augen ein mehr oder weniger exaktes Abbild ihres Kindes bildeten. Eine Hand bedeckte ihren Mund, während die andere empor reichte mit dem Drang zu berühren. Ihre Finger in der Luft vor dem winzigen Gesicht verursachten eine leichte Entladung an der schwachen magischen Barriere.

“Das ist unglaublich! Er sieht bereits wie eine richtige Person aus, mit Händen und Beinen und allem! Er hat meine Nase”, hauchte sie, ihre Augen weit aufgerissen und ihre Stimme voller Ehrfurcht. Ohne ihre Augen von dem Bildnis zu nehmen, fügte sie hinzu: “Ich hatte keine Ahnung, dass du so etwas kannst!”

Eryn zuckte mit den Schultern. “Ich wusste es auch nicht. Wie ich schon sagte – es war ein Experiment. Das Projizieren eines Bildes habe ich in Pirinkar gelernt, aber ich wusste nicht, dass es möglich ist, damit wirklich zu zeigen, was im Inneren des Körpers vor sich geht…” Sie verstummte allmählich, als sie daran dachte, wie sich das in der Ausbildung neuer Heiler einsetzen ließ – besonders bei Nicht-Magiern, die anders als ihre Magierkollegen keinerlei Möglichkeit hatten, einfach in einen Körper hinein zu blicken.

“Könntest du das den anderen Heilern beibringen?”, fragte Plia. “Stell dir vor, wie großartig es für Eltern wäre, einen Blick auf ihr ungeborenes Kind zu werfen!”

“Das sollte kein Problem sein, vorausgesetzt Lord Poron stimmt zu. Allerdings sehe ich nicht, was ihn davon abhalten sollte.”

Tränen glänzten in den Augen der jüngeren Frau, als sie weiterhin das Bild, das vor ihr in der Luft schwebte, bestaunte. “Er ist wunderhübsch. Ich kann kaum glauben, dass er in mir wächst. Danke – vielen, vielen Dank! Das ist das Erstaunlichste, was ich jemals gesehen habe!”

Eryn, stets etwas verlegen im Angesicht von Dankbarkeit – besonders, wenn sie so intensiv war und so wenig Mühe erfordert hatte – nahm die Worte nur mit einem Nicken zur Kenntnis und ließ das Bild noch schweben, damit sich Plia ein wenig länger daran ergötzen konnte.

Eine plötzliche Traurigkeit ergriff Besitz von Eryn, als sie an den bevorstehenden Krieg dachte, und dass dieser kleine Junge und all die anderen Kinder, die auf jeder Seite der Konfliktparteien geboren wurden, auf irgendeine Weise davon betroffen sein würden. Sie mochten ein Familienmitglied verlieren oder in einem Land aufwachsen, das von jenen verwüstet worden war, die man gemeinhin als den Feind bezeichnen würde. Menschen würden den Tod finden, und jene, die das Glück hatten zu überleben, würden wahrscheinlich von den Geschehnissen traumatisiert sein oder darunter leiden, dass sie in einer Nachkriegsumgebung leben mussten, wo Essen knapp war und Bitterkeit regierte.

Sie würde ihr Bestes tun, um diesen Ausgang irgendwie zu verhindern. Obgleich ihr bewusst war, dass die Menschen in Anyueel und den Westlichen Territorien stärker darauf konzentriert sein würden, allein die eigene Seite zu beschützen, war Eryn entschlossen, für sie alle einzustehen – einschließlich jener, die manipuliert, benutzt und geopfert wurden, um den Machtanspruch eines einzelnen Mannes zu zementieren, der nicht einmal davor zurückschreckte, seinen eigenen Bruder in den Kerker zu sperren.

Sie atmete etwas freier, nachdem sie sich dieser düsteren Gedanken entledigt hatte, nicht willens, sich davon diesen privaten Moment, den sorglosen Umgang mit Plia verderben lassen. Sie mutete so zauberhaft an, wie sie dastand, eine Hand auf ihrem Bauch, die andere noch immer zum Abbild ihres Sohnes erhoben. Sie war fest entschlossen, sich das Bild einzuprägen und es dann Vern zu zeigen, damit er es eines Tages zeichnen konnte, vielleicht als Geschenk für ihren Sohn, wenn er älter war. Auf diese Weise konnte er mit eigenen Augen sehen, welche Freude er seiner Mutter bereitet hatte, die Liebe, die er in ihr erweckte noch bevor er überhaupt geboren war.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und Eryn nahm ihre Hand vom Bauch ihrer Freundin, um zu sehen, wer gekommen war.

Onil stand vor der Tür, seine Augen weit aufgerissen, sein Gesicht fahl. Eryn schluckte. Wenn schlechte Neuigkeiten ein Gesicht hatten, dann hatte sie es jetzt gerade vor sich. Sie schlüpfte zur Tür hinaus und bedeutete Onil, ihr in einen leeren Unterrichtsraum zu folgen.

“Was ist passiert?”, verlangte sie zu wissen, ihre Stimme harscher als sie es beabsichtigt hatte.

“Etwas Schreckliches. Ein Unfall. Ein Gebäude ist eingestürzt und hat ihn unter einer Lawine von Ziegeln begraben… wir konnten nichts weiter tun, als seinen Körper freizulegen… Es tut mir so leid. Er war ein guter Mann.” Der letzte Satz war kaum mehr als ein Flüstern.

Eryns Magen verwandelte sich von einem Augenblick zum nächsten in einen soliden Eisblock. Enric. Nein…

Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich auf einem der vielen Tische abstützen. Ihre Bewegungen waren schwerfällig, so als hätte sich die Luft plötzlich zu Wasser verdickt und damit alles verlangsamt. Das konnte unmöglich stimmen – sie hatten nicht all das durchgestanden, nur damit er jetzt auf solche Weise sein Ende fand. Ihre Atmung wurde schwerer, und ihr Gesichtsfeld begann zu verschwimmen.

“Ich… ich kann es ihr nicht sagen.” Onils Worte waren beinahe ein Schluchzen. “Bitte, ich weiß, es ist nicht fair, dass ich dich darum bitte, nachdem du gerade erst angekommen bist, aber… könntest du es übernehmen? Bitte?”

In Eryns Kopf drehte sich alles. “Was?”

Teile ihres ertrinkenden Verstandes beharrten darauf, dass dies keinen Sinn ergab.

“Wem sagen?”, schaffte sie es irgendwie zu fragen, allerdings mehr aus einer lebenslangen Gewohnheit zum Aufklären unverständlicher Dinge heraus als aus tatsächlichem Interesse. Die Welt und alles darin hatte seine Bedeutung verloren.

Verzweifelt starrte Onil sie an, als wäre diese ganze Situation nicht bereits grässlich genug, ohne dass ihr Unverständnis alles noch aufreibender machte.

“Plia! Du musst ihr sagen, dass Rhys tot ist!”, verkündete er übermäßig deutlich, als befürchte er, sie hätte den Verstand verloren. “Verstehst du überhaupt, was ich dir sage? Plias Gefährte ist verstorben!”

Eryn begann zu zittern unter der mächtigen Welle der Erleichterung, die über sie hereinbrach, als sie begriff, dass nicht Enric derjenige war, der einfach von einem Moment zum nächsten zu existieren aufgehört hatte, sondern jemand anderer.

Dann kam ihr Verstand in der Gegenwart an, und sie schloss die Augen, als Tränen ihre Wangen hinabzulaufen begannen. Tränen des tiefempfundenen Kummers für ihre junge Freundin und ihren ungeborenen Sohn, die gerade einen Gefährten und einen Vater verloren hatten. Und Tränen der Erleichterung über die Tatsache, dass Enric am Leben war. Schmerzliche Tränen, die sich verräterisch und selbstsüchtig anfühlten, doch sie wollten nicht aufhören zu fließen.

Kapitel 2

Erste Vorbereitungen

Während Eryn am Tisch saß – die harte Lehne des Stuhl, bei dessen Herstellung Bequemlichkeit ganz klar keine Priorität gewesen war, in ihrem Rücken – brach die Erinnerung daran, wie Plia nach der Kunde vom Schicksal ihres Geliebten ohnmächtig zu Boden gestürzt war, über sie herein.

Eryn hatte sich versichert, dass die junge Frau beim Fall keinerlei Verletzungen davongetragen hatte und auch mit dem ungeborenen Kind alles in Ordnung war. Dann hatte sie sie hochgehoben und in Lord Porons Arbeitszimmer getragen, wo sie ihr ein provisorisches Bett eingerichtet hatten, auf dem sie ruhen konnte.

Daraufhin hatte Onil sie in den Raum geführt, in dem die Überreste von Rhys’ übel zugerichtetem Körper aufgebahrt lagen. In ihren vielen Jahren als Heilerin hatte Eryn ihren Anteil an grausigen Verletzungen und auch leeren menschlichen Hüllen zu Gesicht bekommen, doch das hier hatte ihrem Magen ordentlich zugesetzt.

Der Grund, weshalb der Anblick dermaßen verstörend für sie gewesen war, lag keineswegs an heraushängenden Organen, die sich im Inneren befinden sollten oder an einem erstarrten Gesichtsausdruck, der zeigte, wie sehr er im Augenblick seines Todes gelitten haben musste. Es war der Kontrast, ihn als lebendigen, gesunden jungen Mann gekannt zu haben, der so verliebt gewesen war und erst vor kurzer Zeit einen Kurs in seinem Leben eingeschlagen hatte, der ihm über Jahrzehnte hinweg Glück und Zufriedenheit bringen hätte sollen. Und jetzt lag er da, verstümmelt zu diesem… Klumpen an leblosem Fleisch, allem beraubt, was ihm zu dem gemacht hatte, der er gewesen war.

Sie war froh, dass seine Augen geschlossen waren, ganz egal, ob er so gestorben war oder ob jemand die Geistesgegenwart gezeigt und seine Lider nach seiner Freilegung nach unten gedrückt hatte. Auch noch die toten, zur Decke starrenden Augen sehen zu müssen wäre an diesem Tag zu viel gewesen.

“Wäre es zu kühn, Euch um Eure ungeteilte Aufmerksamkeit zu bitten, wenn man bedenkt, dass wir gerade etwas so Schwerwiegendes wie einen anstehenden Krieg besprechen, Lady Eryn?”, wurde sie von einer leicht verärgerten Stimme dorthin zurückgeholt, wo ihr Körper, wenn auch nicht ihre Gedanken, festsaßen. Lord Woldarn.

Eryn straffte ihre Schultern ein wenig und fragte sich, ob es ihr leerer Blick war, der sie verraten hatte, oder ob sie es versäumt hatte, auf eine Frage zu reagieren.

“Erst gestern hat eine enge Freundin von Lady Eryn ihren Gefährten verloren, also schlage ich vor, wir begegnen dieser kleinen vorübergehenden Unaufmerksamkeit mit Nachsicht”, kam unerwartete Unterstützung von Lord Seagon. War es nicht reizend, wie sich die Leute über die Vorgänge in ihrem Leben auf dem Laufenden hielten…

Sie war froh, dass nicht Enric derjenige war, der sie verteidigt hatte. Es hätte gewirkt, als wäre sie auf den Schutz ihres Gefährten angewiesen. Dass es von Lord Seagon kam, der dafür bekannt war, gewissermaßen jeden ihrer Schritte zu kritisieren, machte es weniger persönlich und sachlicher. Auf diese Weise wurde es zu einem Standpunkt, den der Anstand diktierte statt des Wunsches, eine geliebte Person zu beschützen. Somit wirkte sie selbst weniger wie eine zerbrechliche Blume, die es zu schützen galt, und mehr wie eine Person, die ein Anrecht darauf hatte, dass ihre Bedürfnisse in diesem Moment respektiert wurden.

“Da Ihr offenbar nicht in der Lage seid, auch nur eine Minute lang ohne meine Zuwendung auszukommen, Lord Woldarn, bin ich sehr daran interessiert zu hören, wozu Eurer Ansicht nach nur ich allein etwas beitragen kann”, wandte sie sich ruhig mit nur einem Hauch von erkennbarer Ungeduld an ihn.

Wie war es nur möglich, dass dieser Mann Onils Vater war? Einer ihrer besten Heiler stammte wahrhaftig aus der gleichen Familie wie dieser Mensch. Nun, vielleicht war es zuweilen wirklich ein Segen, dass die meisten reichen Leute die Erziehung ihrer Abkömmlinge an Diener delegierten. So zumindest hatten die Kinder die Gelegenheit, von angemesseneren Vorbildern etwas über gesunden Menschenverstand zu lernen.

Lord Woldarn wand sich einen Moment lang. Was bedeutete, dass es keine Frage gab, auf die sie versäumt hatte zu antworten. Er wollte sie lediglich bloßstellen. Gut zu wissen. Sollte sich eine Gelegenheit ergeben, würde sie ihm mit dem gleichen Mangel an Gefälligkeit begegnen.

Er räusperte sich, offenbar inspiriert von irgendeinem Vorwand. “Ich habe keinerlei Zweifel, dass wir alle sehr interessiert wären an einer Demonstration der neuen Fertigkeiten, deren kürzlich erfolgte Aneignung Ihr erwähnt habt.”

Vollkommene Stille folgte. Als wäre niemand an dem runden Tisch besonders erpicht darauf, zu diesem Zeitpunkt in wir alle miteinbezogen zu werden.

Eryn ging sicher, dass ihr überdrüssiges Seufzen gut hörbar war. “Mein Lord”, begann sie, in ihrer Stimme so viel Gönnerhaftigkeit, wie sie hineinzupacken vermochte, “erstens denke ich, dass die strategischen Überlegungen in Verbindung mit der Situation in den Westlichen Territorien und Pirinkar, über die Ihr gerade informiert worden seid, eine höhere Priorität einnehmen als Eure persönliche Neugier. Und zweitens ist ein ranghöherer Ordensmagier anwesend, der über die gleichen Fertigkeiten und Informationen verfügt wie ich selbst. Somit wäre es respektlos von mir, einfach während einer Ratsversammlung mein Können vorzuführen, ohne von meinen Vorgesetzten dazu aufgefordert worden zu sein. Ich bin etwas überrascht, um nicht zu sagen bestürzt, dass Ihr Euch so überhaupt nicht an die Prinzipien des Ordens haltet, Lord Woldarn.”

Des Mannes Blick hatte sich von selbstgefällig zu feindselig gewandelt, doch er war weise genug, für den Moment Stille zu bewahren.

Durch das Geistesband spürte Eryn eine Spur von Enrics Amüsement, wenngleich sein Gesicht davon nicht einmal eine Andeutung erkennen ließ.

“Wenn Ihr beiden damit fertig seid, Freundlichkeiten auszutauschen”, meldete sich Tyront zu Wort, “dann würde ich vorschlagen, wir setzen fort mit den jüngsten Entwicklungen, die mir erst heute Morgen direkt aus Takhan berichtet wurden.” Er konsultierte seine Notizen. “Mittlerweile wurden sämtliche bekannten Gebirgspässe von unseren Magiern unpassierbar gemacht – abgesehen natürlich von der Hauptroute. Die bleibt der einzige offene Durchgang nach Pirinkar und wird jetzt in diesem Moment befestigt. Gleichzeitig werden die Berge, die Zugang zu den Westlichen Territorien ermöglichen, nach bislang unentdeckten Passagen abgesucht. Malriel von Haus Aren pflegt gute Kontakte zu den Gebirgsstämmen oben im Norden und hat sie gebeten, ihr bei diesem Unterfangen behilflich zu sein, da sie über unschätzbares Wissen über dieses Gebiet verfügen. Eine bemerkenswerte Leistung, wie man mir zu verstehen gab, da die Gebirgsstämme noch weniger als die Wüstennomaden geneigt sind, sich mit Takhan abzugeben.” Er räusperte sich. “Da ist noch etwas. Eine Gefangene von den Loman Ergen, eine Frau, die Teil der Angriffstruppe auf die Bendan Ederbren war, hat wahrhaft besorgniserregende Neuigkeiten geographischer Natur enthüllt. Neuigkeiten, auf die unsere Seite reagieren muss, und zwar rasch. Pirinkar hat seine Landkarten stets vor Außenstehenden verborgen, und nachdem wir mit den Bendan Ederbren gesprochen haben, wissen wir, dass auch die Priester nicht informiert waren, wo die Grenzen ihres Landes verlaufen. Die Loman Ergen jedoch ziehen schon seit vielen Generationen durch das Land und haben deshalb detailliertes Wissen darüber angesammelt.”

Eryn unterdrückte ein Seufzen. Sie wünschte, er würde endlich zum Punkt kommen und sich nicht so sehr darauf versteifen, woher die Information kam.

“Es hat sich herausgestellt, dass die Dimensionen von Pirinkar jene des Königreichs und damit auch die der Westlichen Territorien übersteigen. Das Land erstreckt sich weit genug, um die gesamte Breite der Westlichen Territorien, sowie des Meeres, das sie von uns trennt, zu umfassen – und setzt sich hinter den Bergen fort, die die nördliche Grenze unseres eigenen Landes bilden. Das bedeutet, wir teilen uns eine Grenze mit einem Land, mit dem wir uns nun im Krieg befinden.”

Er ließ die Neuigkeit wirken und wartete auf die Reaktion der Ratsmitglieder.

Orrin war der Erste, der seine Gedanken in Worte fasste. “Wissen die das auch?”

“Vorsichtshalber würde ich empfehlen, dass wir davon ausgehen”, erwiderte Tyront.

Der Krieger presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel, sichtlich alles andere als erfreut über die Enthüllung. “Das bedeutet, wir müssen noch einmal prüfen, ob die nördlichen Berge tatsächlich so unüberwindbar sind, wie wir immer dachten. Womöglich versucht Etor Gart genau in diesem Moment das Gleiche herauszufinden. Ihm muss klar sein, dass wir das Hindernis sind, das zwischen ihm und einem wahrscheinlichen Sieg steht.”

“Es mag sein, dass der Grund, weshalb die Berge nicht überquert werden können, der ist, dass sich die Barriere durch das Meer dort fortsetzt”, überlegte Eryn, tief in ihrem Inneren dankbar, dass das vorliegende Problem ernst genug war, um ihre Gedanken für den Moment von Rhys abzulenken. “Was bedeutet, dass sie wohl an gewissen Stellen ebenso durchlässig ist wie im Meer. So könnten einzelne Personen hindurch schlüpfen um sie zu überwinden, selbst ohne das Wissen, wie sie ihre Magie einsetzen können.”

“Was schlagt Ihr also vor, wie wir das testen sollen?”, wandte sich Lord Remdel an Orrin. “Indem wir Magie gegen den massiven Fels schleudern und ihn sprengen, bis wir sehen können, was dahinter liegt? Wenn es dermaßen einfach wäre, hätten es unsere Vorfahren schon lange getan. Selbst wenn wir Erfolg hätten, würden wir damit riskieren, einen Zugang für den Feind zu öffnen – nämlich einen zu schaffen, wo zuvor keiner war”, gab er zu bedenken. “Und selbst wenn wir uns dafür entscheiden sollten – habt Ihr eine Vorstellung davon, wie viele Magier und wie viel Zeit es erfordern würde, sich durch einen ganzen Berg zu sprengen?”

Enric spitzte die Lippen, als ihm ein Gedanke kam. Vielleicht würde er Lord Woldarns Wunsch nach einer Demonstration der neuerworbenen Fähigkeiten rascher als geplant erfüllen.

Er räusperte sich zum Anzeichen, dass er das Wort zu ergreifen gedachte, und bemerkte zufrieden, wie alle verstummten und ihn ansahen. “Tatsächlich mag es sich dabei um ein weniger gewichtiges Problem handeln als Ihr denkt. Lady Eryn hat ein gewisses Händchen für Gestein.”

“Was soll das nun wieder heißen – sie hat ein Händchen für Gestein? Bewegt es sich aus dem Weg, sobald sie sich ihm annähert, bedacht darauf, von der Unverfrorenheit, für die sie weithin bekannt ist, verschont zu bleiben?”, warf Lord Woldarn mit einem spöttischen Lächeln ein.

Eryn kniff die Augen zusammen, und als es erneut still wurde und einige der Ratsmitglieder – Tyront und Enric eingeschlossen – erwartungsvoll zu ihr hinsahen, wusste sie, dass sie handeln und ihm Grenzen setzen musste.

Als sie langsam ihren Stuhl zurückschob und aufstand, stellte sie sicher, dass die Beine ein deutlich hörbares Kratzen auf dem glatten Boden verursachten. Sie war nicht einmal sicher, was sie tun sollte. Ihn am Kragen zu packen, ein wenig schütteln und ihm damit Angst vor ihrer überlegenen magischen Kraft einjagen? Ihn am Hals schnappen, Kontrolle über seine Muskeln übernehmen und ihn zwingen, wie eine Marionette an einer Schnur zu tanzen, um ihn seiner Würde zu berauben? Ihm geradewegs einen Fausthieb ins Gesicht verpassen, um ihn daran zu erinnern, dass dies noch immer eine Institution war, wo Stärke der Schlüssel zu Macht war und sie über wesentlich mehr davon verfügte als er?

Doch sie erkannte, dass keine dieser Optionen für sie in Frage kam. All das war wenig mehr als eine Möglichkeit, ihrer Frustration auf körperliche Weise Ausdruck zu verleihen, indem sie ihn mit ihrer Kraft überwältigte. Ihr war klar, dass sie ihn stattdessen mit ihrer Position, ihrem Rang bändigen musste.

“Lord Woldarn”, sprach sie vollkommen gelassen, während sie ihre beiden Handflächen vor sich auf der glatten Oberfläche des ausladenden Tisches abstützte, “Eure Beleidigungen sind so weit vorangeschritten, dass sie über das Maß an respektvoller, objektiver Kritik an Vorgesetzten, wie wir sie in diesen Hallen schätzen, hinausschießen. Ich bin am Ende meiner Geduld angelangt. Für die nächsten drei Tagen werdet Ihr Euch jeden Morgen vor Sonnenaufgang bei den Pferdeställen des Ordens zum Dienst melden und jeweils drei Stunden lang aushelfen.”

“Das könnt Ihr nicht tun!”, schäumte Lord Woldarn und sprang von seinem Stuhl auf. Er sah Tyront an. “Das kann sie nicht tun!”

Der Anführer des Ordens lehnte sich zurück. “Ich denke, das kann sie durchaus. Ihr seid Lady Eryn unterstellt, und wenn sie Euer Verhalten ihr gegenüber als Beleidigung betrachtet, ist sie berechtigt – nein, sogar verpflichtet – entsprechend zu handeln, um die Disziplin in unseren Rängen aufrechtzuerhalten. Besonders, da wir kurz vor dem Eintritt in einen Krieg stehen und uns darauf verlassen müssen, dass sich jeder einzelne Ordensmagier an die bestehende Befehlskette hält. Ihr seid jedoch berechtigt, eine offizielle Beschwerde einzureichen und so die disziplinarische Maßnahme, die man Euch auferlegt, auf Angemessenheit überprüfen zu lassen.”

“Dann tue ich das hiermit!”

Tyront schüttelte den Kopf. “Um gültig zu sein, muss die Beschwerde schriftlich eingereicht werden, Lord Woldarn. Es gibt noch immer gewisse Vorgehensweisen, an die es sich zu halten gilt. Diese spezielle hier soll sicherstellen, dass alles ordentlich dokumentiert wird.”

“Dann werdet Ihr meine schriftliche Beschwerde kurz nach Beendigung dieser Versammlung erhalten!”, versprach Lord Woldarn erregt.

“Gut. Ich werde innerhalb einer Woche auf Euch zukommen.”

“Aber… bis dahin wird die Strafe bereits erfüllt sein und kann nicht mehr beeinsprucht werden! Ich werde keinesfalls drei Tage lang Pferdemist schaufeln!”

“Lord Woldarn”, seufzte Tyront, seine Stimme der Inbegriff wohlwollender Geduld, “Euch ist klar, dass wir inmitten einer Kriegsbesprechung stecken? Wenngleich das zu diesem Zeitpunkt nicht allzu bequem für Euch sein mag, so genießt es doch Vorrang gegenüber den disziplinarischen Maßnahmen, die über Euch verhängt wurden.” Er bedeutete dem entrüsteten Lord und Eryn, sich wieder zu setzen, dann sah er Enric an. “Du wolltest gerade einen Vorschlag unterbreiten, wie wir das nördliche Gebirge untersuchen können, wenn ich mich nicht irre. Bitte fahr fort.”

Enric nickte. “Es gibt da etwas, das ich Euch gerne zeigen möchte. Lady Eryn hat einen Weg gefunden, wie sich Fels von innen heraus beeinflussen lässt, sodass ein minimaler Magieschub mehr bewirkt als mehrere Stunden äußerliche Attacken es vermögen. Ich gehe davon aus, dass uns diese Technik gute Dienste leisten wird, wenn wir wahrhaftig die bislang unbezwingbaren Berge erkunden wollen. Gestattet mir, Euch etwas zu zeigen.”

Eryn schloss die Augen. Nicht schon wieder die bröckelnde Festung. Es schien, als machte er sich jede Gelegenheit zunutze, für sie einen Ruf als Zerstörerin der Berge aufzubauen. Wer hätte gedacht, dass sie jemals an einem Punkt ankommen würde, wo die Leute das eingestürzte Dach der Senatshalle in Takhan mit einem Schulterzucken als bloße Kleinigkeit abtaten im Vergleich zu ihren anderen Akten der Zerstörung? Nun, vielleicht ließ sich Lord Woldarn von ihrer Macht einschüchtern und fühlte sich von nun an veranlasst, sie in Frieden zu lassen. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln, und sie lehnte sich zurück, um sich anzusehen, wie die Ratsmitglieder auf Enrics kleine Vorführung reagieren würden.

*  *  *

Enric klopfte an die Eingangstür seiner Mutter, während sich Eryn hinter ihm in einem unbewussten Versuch, sich zu trösten, über die Arme rieb. Er wünschte, er könnte etwas für sie tun, ihren Schmerz irgendwie mildern, doch die Möglichkeiten waren beschränkt – wenn er davon absah, ihre Gefühle mit Magie zu betäuben. Zu unterdrücken anstatt zu bewältigen war keine gesunde Herangehensweise.

Enric war bewusst, dass er mit Schmerz nicht allzu gut zurecht kam. Nicht mit seinem eigenen und ebenso wenig mit dem anderer Menschen. Mit Frustration, Angst, Ärger und anderen mächtigen Emotionen konnte er gut umgehen. Bis zu einem gewissen Grad konnte man ihnen mit Vernunft begegnen, sie von einer anderen Perspektive aus betrachten und sie somit eines Teils ihrer Macht berauben. Schmerz jedoch war eine ganz andere Herausforderung. Man konnte nicht einfach entscheiden, bis zehn zu zählen und tief zu atmen. Schmerz bedeutete, dass etwas im Inneren beschädigt war, etwas, das allein die Zeit heilen würde. Es gab Dinge, die man tun konnte, um einer trauernden Person beizustehen, wie eine sichere Umgebung und emotionale Unterstützung zu bieten, doch schlussendlich musste die Heilung von der leidenden Person selbst bewerkstelligt werden.

Durch ihr Band spürte er Eryns Pein. Sie war Rhys nicht besonders nahe gestanden. Soweit Enric wusste, hatte sie das Fachwissen des jungen Mannes geschätzt, wenn es um Holzarbeiten ging, und sogar noch mehr, wie glücklich er Plia gemacht hatte. Es war hauptsächlich wegen Plia, dass sie trauerte.

Eryn hatte ihm davon erzählt, wie sie von Rhys’ Ableben erfahren und einige qualvolle Augenblicke lang gedacht hatte, Enric wäre derjenige, der verstorben war. Er erinnerte sich, was er zu diesem Zeitpunkt durch das Geistesband verspürt hatte. Es war herzzerreißend gewesen, umso mehr, da er keine Ahnung von der Ursache gehabt hatte.

Die Eingangstür vor ihm wurde geöffnet, und seine Nichte trat beiseite, um sie eintreten zu lassen.

“Großmutter ist oben bei Plia”, informierte sie die beiden.

“Wie geht es Plia?”, fragte Enric, nicht ganz sicher, welche Antwort er eigentlich erwartete. Sie musste am Boden zerstört sein. Doch welche andere Frage sollte man in einer Situation wie dieser stellen?

“So gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann”, seufzte Temina. “Sie hat das Zimmer, das Großmutter für sie vorbereitet hat, nicht verlassen. Und jedes Mal, wenn ich ihr eine Mahlzeit bringe, von der ich weiß, dass sie sie ohnehin nicht anfassen wird, sehe ich sie entweder weinen oder mit diesem seltsam leeren Blick an die Decke starren. Beim ersten Mal dachte ich, sie wäre ebenfalls dahingeschieden und habe sie geschüttelt…” Sie verzog das Gesicht, augenscheinlich nicht allzu stolz darauf, wie sie mit dieser Situation umgegangen war.

Die Blicke wanderten abwärts, als eine großgewachsene, geschmeidige dunkelbraune Bergkatze aus dem Salon auf sie zutrottete, ihr Schweif als Zeichen des Hochgefühls senkrecht in die Luft gestreckt.

Enric ging in die Knie und begrüßte Urban, indem er ihre Wangen kraulte und, als sie sich vor ihm umfallen ließ, ihren Bauch.

“Sie muss meine Stimme gehört haben”, schlussfolgerte er, froh über die angenehme Unterbrechung dieser bedrückenden Unterhaltung.

Eryn fasste Temina an einer Schulter. “Du sagst, sie isst nicht? Überhaupt nichts?”

“Im Grunde nicht. Sie zwingt ein paar Bissen hinunter, damit Großmutter sie in Frieden lässt, aber das ist alles. Vern war hier. Er hat ihr gedroht, er würde sie zum Essen und Trinken zwingen, wenn sie sich nicht ordentlich um ihr Baby kümmert.” Sie rümpfte die Nase. “Das war das erste Mal, dass ich miterlebt habe, wie die niedliche, anständige kleine Plia so richtig durchgedreht ist. Sie begann ihm Dinge nachzuschmeißen und schrie, dass er genau das doch die ganze Zeit über gewollt hätte. Rhys’ Tod, meine ich. Aber er stand einfach nur mit erhobenem Schild da und ließ daran die Dinge abprallen, die sie ihm entgegenwarf. Er war einfach großartig. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, erklärte er ihr, dass er ganz einfach die Kontrolle über ihre Muskeln übernehmen und sie zum Essen und Trinken zwingen könnte, wenn das nötig wäre, um sie und das Kind zu versorgen. Dass er es aber vorziehen würde, wenn er das nicht tun müsste. Danach schrie sie noch ein wenig mehr, aber dann hat sie gegessen – zumindest solange er zugesehen hat. Er hat versprochen, jeden Tag vorbeizukommen und sicherzugehen, dass sie isst.”

Eryn nickte, froh darüber, dass Vern Plia noch immer soweit verbunden war, um sich um sie zu kümmern, wenn man bedachte, was zwischen ihnen vorgefallen war. Viele Menschen hätten wohl frohlockt, wäre einer Person, von der sie eine Zurückweisung erfahren hatten, solch ein Schicksalsschlag widerfahren. Besonders, wenn diese Zurückweisung gemeinsam mit einer halbjährigen Suspendierung von ihrem Beruf als Konsequenz für den Eroberungsversuch einhergegangen wäre.

Nicht aber Vern. Niemals würde er seinem eigenen verletzten Stolz und seinem gebrochenen Herzen – oder was auch immer tatsächlich in die Brüche gegangen war, da er ohnehin keine Bereitschaft gezeigt hatte, sich an Plia zu binden – erlauben, ihn zu unangemessenem Verhalten zu verleiten. Und in diesem Moment war es angemessen, sich um Plia zu kümmern, ganz egal, ob sie das schätzte oder nicht.

Ohne ihre frühere Mitbewohnerin zu konsultieren, hatte Gerit dafür gesorgt, dass Plias Habseligkeiten aus ihrem Quartier zurück zum Haus geschafft worden waren. Eryns Eindruck war, dass Plias Kontakt mit der Außenwelt kaum ausgereicht hatte, um zu verstehen, was um sie herum vorging. Somit hatte es von ihrer Seite auch keinen Einspruch gegeben; sie hatte lediglich mit sich machen lassen, was andere für richtig hielten, solange sie einen ruhigen Platz zum Weinen fand.

Nach dem Streicheln der Bergkatze richtete sich Enric wieder auf und nickte zum Treppenaufgang. “Können wir nach oben gehen, oder ist es gerade ein schlechter Zeitpunkt?”

Temina zuckte mit den Schultern. “Ich würde sagen, dieser Zeitpunkt ist so schlecht wie jeder andere. Aber sie ist nicht gerade dabei, ein Bad zu nehmen, wenn das deine Bedenken waren.”

“Vielleicht sollte ich ohne dich hineingehen”, schlug Eryn vor. “Es mag sie noch mehr schmerzen, wenn sie uns beide zusammen sieht.”

Dieser Anregung wäre Enric nur zu gerne gefolgt, da es ihm so erspart geblieben wäre, sich einer weinenden Frau zu stellen, ohne zu wissen, wie er die Bürde ihres Schmerzes lindern konnte. Normalerweise war er gut darin, sich Problemen zu stellen, doch nicht, wenn er von Anfang an wusste, dass es keine Lösung dafür gab; dass sich die Angelegenheit irgendwann von selbst lösen würde, aber nicht, weil er etwas tun konnte, sondern einfach aufgrund der verfließenden Zeit. Er hasste es, hilflos zu sein, und einer anderen Person beim Leiden zuzusehen war die schlimmste Ausprägung davon, die er kannte.

“Nein, ich denke, das macht wenig Sinn”, zwang er sich auszusprechen, was die Vernunft diktierte. “Wir können sie nicht vor der Tatsache beschützen, dass es noch immer Paare gibt. Zumindest nicht, ohne sie zu isolieren und sie im Haus einzusperren. Und wir sollten nicht der Versuchung nachgeben, sie wie ein Opfer zu behandeln, wenn wir wollen, dass sie ihre Stärke zurückerlangt.”

Als Eryn ihm zulächelte und einen Kuss in seine Handfläche presste, wusste er, dass sie ihm damit einen einfachen Ausweg anbieten hatte wollen, der ihn sein Gesicht hätte wahren lassen. Und dass sie stolz darauf war, dass er sich dagegen entschieden hatte, obwohl sie es akzeptiert hätte.

Sie stiegen die leise knarrenden Stufen hinauf zu dem Zimmer, das Plia bereits vor ihrem Kommitment bewohnt hatte.

*  *  *

Eryn tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug, bevor sie an Plias Tür klopfte. Einerseits war sie begierig darauf, Plia zu sehen und sicherzugehen, dass es ihr so gut ging wie die Umstände es erlaubten, und andererseits scheute sie vor dem zurück, was mit Gewissheit herzzerreißend anzusehen sein würde.

Als nach einigen Sekunden noch immer keine Antwort oder Einladung aus dem Inneren gekommen war, drückte sie den Türgriff nach unten und trat ein, Enric einen Schritt hinter ihr.

Es dauerte ein paar Momente, bis sich ihre Augen an die schummrigen Lichtverhältnisse im Zimmer gewöhnt hatten. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass die winzige Menge an Sonnenlicht, die es schaffte, sich durch den robusten Stoff zu kämpfen, den komfortabel möblierten Raum in ein leicht violettes Glühen tauchte.

Das Zimmer wirkte nicht wirklich bewohnt. Plia war erst vor kurzem zurückgekehrt, hatte aber offensichtlich noch nicht die Energie oder den Willen aufgebracht, es sich wieder zu eigen zu machen. Eine leere Truhe mit offenem Deckel, die an einer Wand stand, legte nahe, dass Gerit sich um die Kleider der jungen Frau gekümmert und sie in den Schrank gleich daneben geräumt hatte.

Eryns Augen wanderten zu der bewegungslosen Gestalt auf dem Bett, das an einer Wand stand. Plias Kopf ruhte auf einem Kissen, während ihre Arme ein weiteres umschlangen, als versuchte sie an der Illusion festzuhalten, sie hätte noch immer jemanden in ihrem Leben, an den sie sich klammern konnte, wenn sie Trost brauchte.

Es gab keinerlei Geräusch; dafür war ihr Atem zu leise. Nachdem sich Eryns Augen angepasst hatten, beobachtete sie ihre Freundin für kurze Zeit. Ihr Brustkorb hob und senkte sich nicht gleichmäßig und tief genug, als dass sie schlief. Also hatte Plia entweder nicht bemerkt, dass jemand eingetreten war, oder es kümmerte sie schlicht und ergreifend nicht.

“Plia?”, versuchte sie es sanft und trat näher, um sich auf die Bettkante zu setzen. Sachte legte sie ihre Hand auf den Arm, der das Kissen umklammerte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Enric sich leise auf einem nahen Stuhl niederließ.

Sie spürte, wie sich der Körper unter ihrer Hand bei der Berührung leicht versteifte, und bemerkte, wie die junge Frau ihr Gesicht in das Kissen drückte. Ihre Augen waren fest zusammengekniffen in dem Versuch, die harsche Welt und ihre grausamen Schicksalsschläge von sich fernzuhalten.

Im Angesicht solcher Verzweiflung fehlten Eryn die Worte, und sie suchte fieberhaft nach etwas Passendem, Bedeutungsvollem oder Tröstlichem, das sie sagen konnte. Was würde sie an Plias Stelle hören wollen? Würde sie überhaupt wollen, dass irgendjemand mit ihr redete? Sollte man Plias Wünschen im Moment überhaupt den Vorzug geben? War das, was sie brauchte nicht wesentlich wichtiger? Wem allerdings stand die Entscheidung zu, was die junge Frau im Moment brauchte? Wenn Plia Abgeschiedenheit wollte, war es dann zulässig, dass man ihr unliebsame Gesellschaft aufdrängte?

Erinnerungen an ihre eigene Schwangerschaft kehrten zu ihr zurück. Zu diesem Zeitpunkt war sie zutiefst bestürzt gewesen, weil sie erfahren hatte, dass Valrad ihr leiblicher Vater war. Enric hatte entschieden, dass sie sich ihrem Ärger, ihrer Sorge und Verzweiflung stellen musste, anstatt sich zurückzuziehen und sich von allem fernzuhalten, und sie hatte es gehasst. Ganz egal, ob ihr Gefährte zu diesem Zeitpunkt im Recht gewesen war oder nicht, hatte sie es dennoch als unerträglich empfunden, dass er diese Entscheidung für sie getroffen hatte. Er hatte versucht, ihr aufzuzwingen, was er als notwendig erachtete, anstatt zu respektieren, dass sie erst mit den neuen Umständen zurechtkommen musste.

Rückblickend waren ihre eigenen Probleme damals nicht einmal annähernd so schwerwiegend gewesen wie Plias gegenwärtige, ganz egal, wie furchtbar sie Eryn damals erschienen waren. Während sie alles in ihrem Leben in Frage gestellt hatte, sogar ihre eigene Identität, musste es Plia vorkommen, als hätte ihre eigene Existenz plötzlich alles verloren, was ihr Bedeutung verliehen hatte. Die eine Person, der sie die Welt bedeutet hatte, die der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war, einfach fort – ohne Warnung, von einem Moment zum nächsten.

Sie warf Enric, der von seinem Stuhl aus zusah, einen hilflosen Blick zu. Er stand von seinem Platz auf und kam näher. Unbeholfen nahm er am unteren Ende des Bettes Platz, unsicher, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Schließlich legte er eine davon auf den Umriss von Plias Fuß ab, der sich unter der Decke abzeichnete, und drückte ihn leicht.

“Wie geht es dem Baby?”, fragte er. Er sah aus, als erwarte er nicht wirklich eine Antwort darauf.

Ein paar stille Sekunden verstrichen, dann drehte Plia ihren Kopf weit genug, um den großgewachsenen Mann anzusehen, der ihren Fuß berührte. Ihr Blick war leer, und so auch ihre Stimme, als sie erwiderte: “Dem Baby geht es gut. Wirst du mich jetzt fragen, wie es mir geht?” Den letzten Worten wohnte eine gewisse Bitterkeit inne.

Enric schüttelte den Kopf. “Das brauche ich nicht. Ich kann sehen, dass es dir scheußlich geht. Ich glaube nicht, dass es dir helfen würde, dies in Worte zu fassen.” Einen Moment lang wirkte er unsicher. “Oder vielleicht doch?”

Zu Eryns beträchtlicher Überraschung setzte sich Plia auf und krabbelte dann auf Enric zu. Tränen begannen ihre Wangen hinabzulaufen, als sie ihre Arme um Enrics Mitte schlang und ihre Wange gegen seine Brust presste, während ihre Schultern still bebten.

Enric war ebenso verblüfft, erholte sich aber rasch und begann ihren Rücken zu streicheln. Die Feuchtigkeit, die sich inzwischen auf seinem dunklen Hemd auszubreiten begann, ließ er unbeachtet.

Eryn saß da und fühlte sich verloren und überflüssig. Sie versuchte sich nicht daran zu stören, dass ihre Freundin jetzt gerade den Kontakt zu Enric vorzog. Sie hatte gerade einen Mann verloren und suchte – bewusst oder unbewusst – die Wärme und den Trost männlicher Arme.

Enric hatte keinerlei Problem damit, die Jungfer in Nöten zu trösten, wie Eryn nicht umhin kam zu bemerken. Sie fragte sich, ob das eine Rolle war, die er im Geheimen gerne öfter eingenommen hätte, aber des Vergnügens beraubt wurde, weil seine Gefährtin nicht wirklich irgendeine Neigung zeigte, weinend Zuspruch in jemandes Armen zu suchen. Sie schob den Gedanken beiseite und zwang sich dazu, sich auf die Person zu konzentrieren, deren Kummer der Grund für ihren Besuch war.

Sie war froh, dass Plia sich im Arm halten ließ, wenngleich der Mann, an den sie sich klammerte, für derlei Dinge ein recht unkonventioneller Kandidat war. Zumindest in diesem Land. Lord Enric, starke Schulter für Frauen, die im Kummer zu versinken drohten…

Eryn lehnte sich zurück gegen das Kopfteil des Bettes und sah zu, wie Plias Schluchzer zuerst immer heftiger wurden, bevor sie nach einer Weile abzuebben begannen. Einige Minuten später beruhigte sie sich. Ihre Schultern erbebten nicht mehr alle zwei Sekunden, sondern nur mehr gelegentlich. Irgendwann quollen ihre Tränen nur mehr still zwischen geschlossenen Augenlidern hervor, und Enric spürte, wie ihr Körper immer schwerer wurde und an Anspannung verlor, als sie in den Schlaf hinüberglitt.

Sie studierte Enrics Gesicht. Der Ausdruck darauf passte zu dem Gefühl der Betrübnis, das sie durch das Geistesband empfing. Gedankenverloren streichelte er den Rücken der jungen Frau. Als er den Blick seiner Gefährtin auf sich spürte, sah er sie an als wollte er fragen: Und was nun?

Eryn zog die Schultern hoch. Sie wusste es auch nicht. Plia schien sich in einem Zustand geborgten Friedens zu befinden, während sie die Wohltat von Enrics körperlicher Nähe genoss. Nach dem ständigen Schmerz, der sie seit Erhalt der Nachricht vom Tod ihres Gefährten umklammert hielt, konnten sie und das Baby zweifellos eine Pause gebrauchen.

Sie stand auf und trat näher, damit sie sich zu seinem Ohr hinabbeugen und flüstern konnte. “Würde es dir etwas ausmachen, noch ein wenig bei ihr zu bleiben?”

Er seufzte. “Nein. Mach nur den Vorhang ein wenig auf und bring mir etwas zu lesen, in Ordnung?”

Eine Welle der Zuneigung für ihn stieg in ihr auf. Sie küsste seinen Scheitel, drehte sich um und schritt von dannen um seiner Bitte nachzukommen. Sie würde ihm ein Buch bringen und sich dann ein wenig zu Temina gesellen.

*  *  *

Sobald Eryn einen Stuhl gewählt hatte, nahm auch Enric in Tyronts Arbeitszimmer Platz. Eine Nachricht des Ordensführers hatte ihn und Eryn zuhause erwartet, nachdem sie von ihrem Besuch bei Plia im Haus seiner Mutter zurückgekehrt waren.

Er hätte es vorgezogen, den Abend mit seiner Familie zu verbringen anstatt der Vorladung seines Vorgesetzten Folge leisten zu müssen, doch er hatte keine Wahl. Sie hatten nach Temina geschickt und sie gebeten, eine Stunde oder zwei auf Vedric aufzupassen, solange seine Eltern im Palast waren. Seine Nichte erfüllte die Bitte mehr als bereitwillig und hatte auch die Bergkatze mitgebracht. Sie hatten noch nicht besprochen, wie es im Hinblick auf Urban weitergehen sollte, ob sie bei Temina bleiben oder zu ihnen zurückkehren sollte. Darüber würden sie reden müssen, sobald sich die Dinge ein wenig beruhigt hatten. Zudem galt es die Option zu bedenken, dass Eryn sich für einen permanenten Umzug nach Takhan als Oberhaupt von Haus Aren entscheiden mochte, was bedeutete, die Katze würde entweder mitkommen und unter der ständigen Hitze leiden, oder in Teminas Obhut zurückbleiben.

Eryns Gesicht zeigte ebenfalls mehr als deutlich, wie wenig sie den Abendtermin bei Tyront schätzte. Enric war überzeugt, dass der Krieg eine erhöhte Frequenz an Zusammenkünften mit dem König, dem Rat der Magier und Tyront mit sich bringen würde, doch das hatte er bislang nicht erwähnt. Sie würde es bald genug merken.

Tyront nahm hinter seinem monströsen Schreibtisch Platz – ein untrügliches Anzeichen dafür, dass es um Ordensangelegenheiten ging.

Eryn unterdrückte ein Gähnen und wartete geduldig auf das, was wichtig genug sein musste, um sie in den Abendstunden herbei zu zitieren.

Ihr Vorgesetzter räusperte sich und sah Eryn an. “Ich habe über Enrics Demonstration mit dem Projizieren von Erinnerungen mit Hilfe eines Schildes nachgedacht. Eine recht interessante Fertigkeit. Doch noch interessanter als diese Technik zum Teilen seiner Gedanken war der Vorfall, den er für seine Demonstration auserkoren hat.”

Enric begann zu verstehen. Aber natürlich. Sie alle hatten mitangesehen, wie Eryn eine mächtige Felsenfestung zerlegt hatte, ohne dafür auch nur einen Blitz abzugeben oder einen Finger zu rühren. Wenn man bedachte, dass sie drauf und dran waren, ihren Verbündeten in einem Krieg beizustehen, war das eine Fähigkeit, die die Ordensmagier – vor allem die Krieger – beherrschen sollten.

Eryn war offensichtlich bei der gleichen Schlussfolgerung angelangt. Sie lächelte schwach. “Das soll dann wohl heißen, ich soll euch zeigen, wie man große, böse Feindesfestungen zu Staub zerfallen lässt?”

“Ganz so hätte ich es wohl nicht formuliert, doch im Wesentlichen kann ich zustimmen, dass dies die Fertigkeit ist, in der ich dich bitte, deine Ordenskollegen zu unterweisen.” Tyront beobachtete sie, während er auf ihre Antwort wartete.

Ihr Schulterzucken zeigte, dass sie nicht allzu überrascht war von seiner Bitte, Forderung oder was auch immer es war. Wohl eine Forderung verpackt als höfliche Anfrage. “Natürlich. Doch dir ist klar, dass wir dafür die Stadt verlassen und eine gewisse Distanz zu ihr gewinnen müssen. Berge brauche ich dafür nicht unbedingt – jedes Gelände, das weit genug von Siedlungen entfernt ist, reicht aus. Ich kann das zugrundeliegende Prinzip in kleinerem Ausmaß unterrichten. Das dauert nicht länger als ein paar Minuten. Die Reise wird mehr Zeit in Anspruch nehmen. Ich empfehle zumindest einen dreistündigen Ritt. Auf diese Weise sollten Missgeschicke nicht dazu führen, dass hier in der Stadt Gebäude in sich zusammenfallen.”

“Ja, dafür wären wir unendlich dankbar”, erwiderte Tyront in dezent trockenem Tonfall. Doch seine Miene bezeugte, wie zufrieden er mit Eryns unverzüglicher Bereitschaft war, ihre jüngste Entdeckung weiterzugeben. Sein Blick wanderte zu Enric.

“Hast du bereits gelernt, wie das funktioniert, oder wirst du dich der Gruppe anschließen?”

“Bisher nicht, nein. Auf unserer Rückreise aus Pirinkar waren wir bestrebt, unauffällig zu bleiben. Das schloss auch mit ein, unterwegs keine Landschaften einstürzen zu lassen.”

Tyront nickte. “Gut. Dann wird deine und meine Anwesenheit auf diesem Ausflug den anderen demonstrieren, wie wichtig wir das Erlernen dieser Technik nehmen. Ich werde die Außenposten informieren, damit sie ebenfalls ein paar Leute mitschicken. Mit einem dreistündigen Ritt in jede Richtung und kaum mehr als einer Stunde für Anweisungen sollte ein Tag mehr als ausreichend sein.”

“Wird der Rat der Magier auch dabei sein?”, fragte Eryn und versuchte, beiläufig zu klingen. Doch sie schaffte es nicht, ihre Scheu davor zu verbergen, den Rat einen ganzen Tag lang am Hals zu haben.

“Nicht alle. Auf jeden Fall Orrin, Enric und ich, und dann würde ich noch ein oder zwei weitere vorschlagen, damit zumindest die Hälfte des Rates darin bewandert ist. Orrin kann es sodann übernehmen, die anderen zu unterrichten.”

Enric sah, wie erleichtert seine Gefährtin bei Gedanken daran war, nicht mehr als zwei mühsame Ratsmitglieder ertragen zu müssen – sofern man Tyront nicht dazuzählen wollte. Er konzentrierte sich wieder auf seinen Vorgesetzten, als dieser ihn ansprach.

“Wie sieht es mit dieser ganzen unerquicklichen Sache in Pirinkar aus, Enric? Konntest du das soweit verarbeiten, dass du deine Pflichten im Orden wiederaufnehmen kannst?”

“Selbstverständlich”, antwortete Enric ohne Zögern.

Tyront kniff die Augen leicht zusammen. “Unter anderen Umständen wäre ich weniger hartnäckig, wenn es darum geht zu betonen, dass wir uns keinen verstörten Stellvertreter des Ordens leisten können. Aber da die Dinge nun einmal sind, wie sie sind, muss ich sichergehen, dass ich darauf vertrauen kann, dass du in einem Krieg einen kühlen Kopf bewahren kannst.”

“Das kann ich”, versicherte ihm Enric einmal mehr.

Tyronts Blick wanderte zu Eryn, als versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, ob ihr Gefährte die Wahrheit sprach. Doch sie erwiderte seinen Blick lediglich mit höflichem Interesse.

Nach ein paar Sekunden nickte er. “Ich bin froh, das zu hören.”

Doch Enric konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sein Vorgesetzter noch immer von gewissen Zweifeln geplagt wurde.

*  *  *

Zufrieden beobachtete Enric, wie ein paar seiner Kollegen ihre Gedanken auf schimmernde Schilde projizierten, während sie auf dem Rücken ihrer Pferde saßen. Er hatte die untätige Zeit auf dem Weg zu ihrem Trainingsgebiet, wo Eryn ihnen zeigen wollte, wie man Gesteinsschichten manipulierte, zur Unterweisung der lernwilligen Gruppenmitglieder genutzt, wie man Schilde nutzte, um Erinnerungen, Ideen oder was auch immer sonst ihr Gehirn produzierte, zu teilen.

Sie hatten den gesamten Tag in den Hügeln südlich der Hauptstadt verbracht, oder eigentlich eher die Hälfte davon, und den Rest auf den Pferden auf der Reise hin und zurück.

Eryn war überrascht, wie viel Zeit die Magier gebraucht hatten um sich anzueignen, was sie selbst in Pirinkar mit Hilfe ihrer Instinkte innerhalb weniger Sekunden herausgefunden hatte. Vier Stunden hatte es gedauert, bevor jeder einzelne der siebenunddreißig Magier, die mit ihr und Enric hergekommen waren, endlich in der Lage war, den Untergrund in einem Ausmaß zu verändern, mit dem sie auf Wunsch beträchtlichen Schaden anzurichten vermochten. Allerdings kein besonders zielgerichteter Schaden – zumindest nicht von allen. Ein paar wenige Auserwählte hatten das Prinzip des Aufspürens von Adern innerhalb der Steinschichten unter ihnen und den Einsatz geringer Dosen an Magie zu deren sorgsamer Manipulation begriffen. Überraschenderweise zählte Lord Seagon dazu. Ebenso wie Enric. Was weniger überraschend war.

Nach einem frühen Abendmahl in einer Taverne, deren Besitzer beim Anblick einer so großen Gruppe, für die es zusätzlich zu seinen regulären Gästen einen Platz zu finden galt, leicht panisch gewirkt hatte, setzten sie ihren Weg seit etwa einer halben Stunde fort. Die Nacht war bereits am Anrücken, am Horizont schwanden die letzten Reste an Tageslicht mit jeder verstreichenden Minute. Die nächste Stunde würde sie in Sichtweite der Stadt bringen.

Die Laune unter den Reisenden war weitgehend entspannt und umgänglich. Enric wusste, dass viele von ihnen seit Jahren keine Gelegenheit mehr gehabt hatten, die Stadt zu verlassen – oder einfach keinen Sinn darin gesehen hatten. Er hätte darauf gewettet, dass sich ein paar von ihnen das letzte Mal außerhalb der Stadtgrenzen aufgehalten hatten, als sie noch in Ausbildung waren und angewiesen wurden, die Wälder nach essbaren Pflanzen zu durchsuchen. Somit war dies für einige seiner Kollegen ein Abenteuer.

“Ich bin nicht sicher, ob ich es gut finde, dass Ihr solch weitreichende zerstörerische Kräfte zu Eurer Verfügung habt”, murmelte Lord Woldarn, der neben Eryn ritt. Enric fragte sich, ob der Mann sein Pferd absichtlich neben ihres gelenkt hatte, um einen Streit anzufangen. “Ihr wart schon anfällig dafür, Häuser einstürzen zu lassen, noch bevor Ihr dank dieser Technik hier sogar noch mehr Schaden mit beträchtlich weniger Aufwand anrichten konntet. Diese Art von Macht erfordert ein Ausmaß an Kontrolle, das weit über dem liegt, das Ihr in den letzten Jahren an den Tag gelegt habt.”

Eryn drehte ihren Kopf und warf ihm einen kühlen Blick zu. “Ein einziges Gebäude. Und nicht einmal ein ganzes, sondern nur ein Dach. Welches ich hinterher reparieren habe lassen. Und Ihr dürft die Tatsache, dass bislang noch kein Gebäude über Euch eingestürzt ist, als Beweis meiner fortwährenden und beträchtlichen Selbstkontrolle erachten, mein Lord.”

“Droht Ihr mir etwa, Lady Eryn?”, schnaubte er entrüstet mit lauter werdender Stimme, als er ein Publikum anzulocken versuchte.

Enric seufzte und entschied, im Augenblick nicht einzugreifen. Wenn er seinen Untergebenen für sein respektloses Verhalten zurechtwies, würde der Mann lediglich eine weitere Gelegenheit suchen, um Eryn zu provozieren, wenn Enric nicht dabei war. Sie musste ihm Grenzen setzen, genau wie sie es zuvor in der Ratshalle getan hatte. Und sie musste es allein tun, ohne dass ihr beherzter Gefährte zu ihrem Schutz an ihre Seite eilte.

“Aber keinesfalls, Lord Woldarn!”, rief Eryn in gespielter Betroffenheit ob solch einer ungeheuerlichen Unterstellung aus. “Würde ich Euch drohen, dann müsstet Ihr nicht nachfragen. Ich werde jedoch mehr Rücksicht an den Tag legen angesichts Eurer zerbrechlichen Verfassung, wo ich nun weiß, wie rasch Ihr aus dem Gleichgewicht geratet.”

Enric sah, wie manche der Magier um sie herum auf den erneuten verbalen Schlagabtausch mit einem Augenrollen reagierten, während andere ihre Freude daran hatten und leise kicherten. Die erste Gruppe setzte sich vorwiegend aus Ratsmitgliedern zusammen, die bereits während der Versammlungen regelmäßig in diesen Genuss kamen, letztere waren Magier, die entweder Respekt vor Eryn oder eine Abneigung gegen Lord Woldarn empfanden.

“Eure Dreistigkeit gegenüber hochrangigen Ratsmitgliedern, die Euch an Jahren dermaßen weit voraus sind, ist unfassbar! Ich habe dem Rat bereits gedient, noch bevor Ihr überhaupt geboren wart! Beinahe vierzig Jahre Erfahrung, nur um mich behandeln zu lassen wie einen…”

Eryn unterbrach ihn scharf. “Vierzig Jahre an Ratserfahrung? Kaum! Ihr habt seither lediglich an den gleichen überholten Vorstellungen festgehalten, die Ihr als das Ehren von Traditionen tarnt. In Wahrheit ist das aber nichts als Angst vor Veränderung und ein Mangel an Weitblick. Ihr habt keinesfalls vierzig Jahre Erfahrung, sondern lediglich das erste Jahr immer und immer wiederholt, ohne dabei Euren Horizont oder Intellekt zu erweitern.” Um sie herum war es vollkommen still geworden, als die Magier angespannt zuhörten. Ihre Lippen formten ein kleines, herablassendes Lächeln, als sie fortfuhr: “Und wenn ich Euch Grenzen setze, Lord Woldarn, fällt dies wohl kaum unter den Begriff Dreistigkeit. Da ich Eure Vorgesetzte bin und Ihr verpflichtet seid, meinen Anweisungen zu folgen, solltet Ihr es als wohlwollende Unterweisung verstehen. Wir wollen doch nicht, dass Ihr wie Aldon endet, nicht wahr?”, schloss sie liebenswürdig.

Die Erwähnung des in Ungnade gefallenen früheren Lords und Ratsmitglieds brachte Lord Woldarn zum Schweigen. Der Mann hatte versucht, an seinen Vorstellungen von Tradition festzuhalten und auch jeden sonst dazu zu zwingen, indem er junge Magier, die für Veränderung einstanden, als Kriminelle darstellen wollte. Lord Woldarns Sohn war einer von ihnen gewesen.

Eryn war froh, dass er sich vorerst zum Schweigen entschieden hatte. Sie hatte keine Freude an öffentlichen Auseinandersetzungen – zumindest nicht in ihrer Rolle als Anführerin – und hasste es, wenn sie gezwungen war, sich an einer zu beteiligen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihm gegenüber eine Niederlage einzustecken, da die Glaubwürdigkeit ihres Ranges daran hing. Wenn also alles andere versagte, musste sie auf weniger freundliche Methoden zurückgreifen, um die Oberhand zu behalten. Zumindest bei der Art von Attacke, die Lord Woldarn so gerne startete. Die zielten nicht darauf ab, ihr eine bestimmte Problemstellung oder einen Standpunkt näherzubringen. Sie waren nichts als ein Machtspiel, weil dieser Mann es nach all den Jahren noch immer nicht schaffte zu akzeptieren, dass er einer Person wesentlich jünger als er selbst unterstand – und dann noch ausgerechnet einer Frau.

Sie wusste, dass es ihm Schwierigkeiten bereitete, mit dieser Situation fertig zu werden, besonders, wenn man all das betrachtete, was der Orden seinen Mitgliedern in den vergangenen Jahrhunderten so energisch vermittelt hatte. Jedoch andere Ratsmitglieder, die ebenso alt wie Lord Woldarn – oder sogar älter – waren, hatten es geschafft, mit den jüngeren Entwicklungen zurechtzukommen. Lord Poron hatte seinen Rang als Nummer drei verloren – an eine Frau, die jung genug war, um seine Enkeltochter zu sein. Im Gegensatz zu Lord Woldarn hatte er darauf allerdings nicht mit Verbitterung reagiert und sich bei jedem Schritt quergelegt. Er hatte mit offenen Armen willkommen geheißen, was sich für das Königreich als rasanter Fortschritt erwiesen hatte und sich zudem die neue Disziplin des Heilens nicht nur zu eigen gemacht, sondern sogar als Oberhaupt die Verantwortung dafür übernommen.

Im Vergleich dazu hatte Lord Woldarn sich als vollkommen resistent erwiesen gegen alles, was dem entgegenstand, was er als richtig und angemessen vermittelt bekommen hatte, ganz egal, dass viele dieser Dinge veraltet waren und dringender Verbesserung bedurften. Sogar Lord Seagon, selbst ein Traditionalist und nicht eben großer Bewunderer Eryns, hatte es bis zu einem gewissen Grad geschafft, sich anzupassen.

Eryn wusste, dass Lord Woldarn zu Stallarbeiten zu verdammen die Dinge nicht einfacher gemacht hatte. Sein Versuch, sie einmal mehr öffentlich zu dominieren, bewies mehr als ausreichend, dass er unwillig oder unfähig war, sie als seine Vorgesetzte anzunehmen. Er war kein Mann, der Grenzen ohne Widerstand akzeptierte. Was nicht bedeutete, dass sie es sich leisten konnte, ihm keine zu setzen, nur weil er es womöglich ohnehin niemals lernen würde. Das wäre lediglich seinen Zwecken dienlich, weil es ihrem Ruf schaden würde.

Wenn sie das Angebot ihrer Mutter annahm, würde sie sich mit diesem starrköpfigen, alten Kauz nicht länger herumplagen müssen. Sie ließ den Atem entweichen und zwang ihre Gedanken fort von dem, was sich nach einem so einfachen Ausweg anfühlte. Haus Aren führen, eine Senatorin in Takhan werden und in einem Land leben, das von ihrer Mutter regiert wurde, barg seine eigenen Gefahren und Nachteile. Davon war sie überzeugt.

Enric lenkte sein Pferd nahe genug an das ihre, damit er murmeln konnte: “Takhan mit Haus Aren und dem Senat muss dir im Moment als das kleinere Übel erscheinen. Abgesehen von der Tatsache, dass sie bald das Ziel eines Angriffs sein werden”, lenkte er ein.

Die Tatsache, dass ihr Gefährte ihre Gedanken so zutreffend erraten hatte, entlockte ihr ein Lächeln. “Ja, abgesehen von dieser kleinen Unannehmlichkeit.”

Der Krieg, dachte sie. Einen, bei dem man erwarten würde, dass sie teilnahm, ihr Schwert und ihre Magie schwang mit der Absicht zu töten. Das war etwas, mit dem sie sich entweder arrangieren oder sich weigern musste, wenn die Zeit gekommen war. Und als wäre das nicht schwierig genug, ließ Lord Woldarn nicht davon ab, Streit mit ihr zu suchen. Wenn er nicht sehr vorsichtig war, fiel seine Würde dem Krieg noch als Erstes zum Opfer.

Kapitel 3

Ein Exempel

Plias Hand zitterte leicht, als sie auf dem Küchentisch der Klinik das Kräuterpulver in die Tasse mit heißem Wasser einrührte.

Eryn war im Zwiespalt, unsicher, was sie von der Entscheidung der jungen Frau halten sollte, nur drei Wochen nach dem unerwarteten Ableben ihres Geliebten wieder zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Einerseits war Arbeit zweifellos eine willkommene Ablenkung von ihrem Kummer, etwas, in das sie sich stürzen konnte, eine Gelegenheit, nicht länger zu leiden ohne sich irgendwie beschäftigen zu können. Doch andererseits bestand ihre Aufgabe darin, Kräuter zu mischen und so Medizin herzustellen. Manche der Substanzen, mit denen sie hantierte, waren potent genug, um Patienten bereits beim kleinsten Messfehler den Tod zu bringen oder zumindest die Krankheit oder auch den Schmerz erheblich zu verschlimmern.

So sehr Eryn ihrer jungen Freundin die Möglichkeit vergönnt hätte, ihrer Trauer zumindest für kurze Zeit zu entkommen, so wusste sie auch, dass das Wohl und die Sicherheit der Patienten Vorrang haben mussten. Das hatte sich nicht plötzlich verändert, nur weil sie den Heilerberuf nicht länger aktiv ausübte.

Gerade als sie Plias Aufmerksamkeit mit einem Hüsteln auf sich lenken wollte, betrat Onil die Küche und grinste, als er Eryn erblickte.

“Hallo du! Bedeutet deine Anwesenheit hier, dass du deine Meinung geändert hast und uns nicht verstoßen wirst?” Sein Ton war scherzhaft, die Frage selbst allerdings nicht.

Sie zuckte innerlich zusammen. Uns verstoßen, dachte sie und zwang ihre Lippen zu einem angespannten Lächeln. Hätte Lord Poron nicht noch ein wenig länger damit warten können, die Nachricht zu verbreiten? “Nein, ich fürchte, ich bleibe bei meiner Entscheidung. Ich habe nur Plia herbegleitet. Sie will ihre Arbeit wieder aufnehmen.”

Erst dann bemerkte der Heiler die Herbalistin, die hinter Eryn stand. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er ihre blasse, beinahe durchsichtige Haut, die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihren allgemein recht schwachen und zerbrechlichen Allgemeinzustand in Augenschein nahm. “Ich weiß, dass mich das eigentlich nichts angeht, solange Lord Poron keine Einwände dagegen hat, aber ist das klug? Manche der Pulver, die wir den Patienten geben, lassen wenig bis gar keinen Spielraum für Fehlkalkulationen zu. Wir würden doch nicht versehentlich jemanden töten wollen, nicht wahr?”

Seine Worte waren schonungslos, doch sein Ton war sanft und voller Bedauern. Er selbst hätte sie ebenfalls gerne willkommen geheißen, wo sie unter Freunden war, die zumindest einige Stunden jeden Tag für sie da sein konnten.

Eryn stieß einen stillen Seufzer der Erleichterung aus. Onil hatte ihr gerade eine recht unangenehme Pflicht abgenommen. Und dass er ihre Bedenken teilte, war für sie auch eine Bestätigung – es war tatsächlich eine reale Gefahr und nicht bloß ihre eigene übertriebene Vorsicht.

Plia war mit dem Umrühren ihres Getränks fertig und nahm einen vorsichtigen Schluck von der noch immer dampfenden Tasse, bevor sie ihm ein müdes Lächeln schenkte. “Ich weiß. Ich werde heute nichts allzu Anspruchsvolles in Angriff nehmen. Ich will mich darauf beschränken, mich um die Pflanzen im Gewächshaus zu kümmern und ein paar Blätter und Blüten zum Trocknen zu ernten. Daran ist nichts gefährlich.”

Das war so nicht ganz korrekt, wie Eryn wusste. Ein paar der Kräuter sollten keinesfalls ohne Schutz oder Werkzeuge berührt werden. Die Tatsache, dass kein Patient in unmittelbarer Gefahr war, vergiftet zu werden, bedeutete nicht, dass nichts Schlimmes passieren konnte.

“Du wirst aber deine Handschuhe tragen, hoffe ich?”, fragte sie vorsichtig. “Manche der Pflanzen sind alles andere als harmlos, wie du weißt.”

Plia warf ihr einen wenig freundlichen Blick zu. “Ja, ich weiß das tatsächlich – immerhin bin ich eine medizinische Herbalistin. Und nein, ich denke nicht daran, in meinem Kummer irgendetwas Dummes mit den Pflanzen anzustellen”, erriet sie zutreffend, in welche Richtung Eryns Gedanken geschweift waren. “Ich habe ein Baby, um das ich mich kümmern muss und dem ich niemals Schaden zufügen würde – weder absichtlich noch durch Nachlässigkeit.”

Eryn nickte verlegen, teils froh über die Zusicherung, doch auch ein klein wenig beschämt.

Die junge Frau nickte beiden zu und verließ sodann die Küche mit ihrer Tasse in der Hand, um sich in ihr Labor zu begeben.

Sobald sie außer Hörweite war, seufzte Onil und lehnte sich gegen den Tisch. “Ich hasse es, sie so zu sehen. Was für ein grausames Unglück für eine so junge Person. Und noch dazu in ihrem Zustand. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie sie sich jetzt gerade fühlen muss.”

Eryn nickte zustimmend. Ihr ging es ähnlich. Sie erinnerte sich an jenen kurzen Moment, als sie gedacht hatte, Enric sei derjenige, der verstorben war. Vollkommene Verzweiflung hatte sie ergriffen, gefolgt von einem seltsamen Gefühl von Taubheit, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggerissen worden und als schwebte sie in absoluter Leere. Die Vorstellung, dieses Gefühl tagelang mit sich herumtragen zu müssen, bevor ihr Verstand schließlich begann, sich an diese veränderte Realität zu gewöhnen…

Sie erschauderte leicht und rieb sich mit den Handflächen über die Unterarme.

Der Heiler drehte seinen Kopf und sah ihr ins Gesicht. “Du bist dir absolut sicher? Ich kann dich nicht überzeugen, deine Meinung zu ändern und zur Klinik zurückzukehren? Der Gedanke an all das hier ohne dich, auch wenn du immer nur ein paar Monate durchgehend anwesend warst, ist seltsam. Verstörend. Deprimierend. Was hat dich überhaupt dazu veranlasst, dem Heilen den Rücken zu kehren? Lord Poron hat uns nur informiert, dass es persönliche Gründe sind, ohne uns Details zu liefern. Kannst du mir etwas mehr darüber sagen?”

Eryn lächelte betrübt und schüttelte den Kopf. “Nein. Zu beidem. Ich werde nicht zum Heilen zurückkehren, und ich denke, es ist klüger, wenn ich meine Gründe dafür derzeit nicht bekannt gebe. Vielleicht auch niemals. Ich will dir aber versichern, dass ich die Entscheidung nicht leichtfertig getroffen habe.”

Onil nickte langsam, eindeutig wenig zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. “Du denkst aber nicht daran, dich dauerhaft in Takhan niederzulassen, sobald diese scheußliche Sache mit dem Krieg vorbei ist, hoffe ich?”, fragte er misstrauisch.

Fieberhaft suchte sie nach einem Gesprächsstoff, um ihn von diesem Thema abzulenken. Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie in der Tat darüber nachdachte, doch anlügen wollte sie ihn ebenfalls nicht.

Ihr Blick wanderte fort von seinem Gesicht zum Fenster hinaus. “Nun, selbst wenn das der Fall wäre, lässt sich nicht sagen, wann der Krieg vorbei ist. Wenn es so richtig übel läuft, könnte er sich über Jahre hinziehen.”

Erleichtert sah sie, wie Onil nickte, während er über dieses unangenehme Szenario nachdachte – und das Thema fallen ließ, das sie vermeiden wollte.

“Das wäre misslich. Aber eine rasche Niederlage wäre nicht viel besser, wenn wir bedenken, welche Art von Gesellschaft Pirinkar in den Westlichen Territorien etablieren würde, wenn wir von dem ausgehen, was du uns über sie erzählt hast.”

Er wirkte besorgt und gequält, und Eryn fühlte sich schuldig, weil sie ihm diese Stimmung beschert hatte, nur damit er damit aufhörte, ihre dunklen Geheimnisse aufzudecken.

“Nun”, erwiderte sie mit erzwungener Heiterkeit, “aus diesem Grund hat der König zugestimmt, den Orden zu entsenden – damit wir jede dieser düsteren Optionen verhindern können.”

Beide blickten zur Tür, als sich ein Bote räusperte. Eryn schluckte. Palastlivree. Entweder der König oder Tyront. Boten, die nach ihr suchten, anstatt einfach ihre Nachricht zuhause bei den Dienern zu lassen, waren ein untrügliches Zeichen für eine kurzfristige Vorladung. Was sehr wahrscheinlich bedeutete, sie musste ihm ohne Umschweife zum Palast folgen. Zumindest schien seine Eile den allgemeinen Eifer zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht zu übersteigen; somit handelte es sich allem Anschein nach nicht um einen Notfall.

“Seine Majestät oder Lord Tyront?”, fragte sie ausdruckslos, ohne auch nur eine Sekunde lang in Betracht zu ziehen, dass der Bote theoretisch ebenso gut auf der Suche nach Onil sein mochte.

“Seine Majestät, König Folrin bittet um das Vergnügen, Euch bei der ehestmöglichen Gelegenheit zu sehen”, antwortete der Mann mit einer Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, warf er ihr einen zaghaften Blick zu. “Seine Majestät instruierte mich auch, dezidiert zu betonen, dass es sich hierbei lediglich um eine Redewendung handelt und Ihr Euch nicht zum dem Irrglauben verleiten lassen mögt, er wäre geneigt, irgendeine Verzögerung zu dulden.”

Eryn schnaubte. “Warum hält er sich dann mit dieser hochtrabenden Formulierung auf? Warum sagt er nicht einfach, ich soll mich auf den Weg machen und ihn auf der Stelle aufsuchen?”

Der Bote wirkte entsetzt. “Ich kann nur vermuten, meine Lady, dass Seine Majestät solch profane Worte als seiner Position unwürdig erachten mag.”

Onil unterdrückte ein Lachen und zwinkerte ihr zu. Nachdem sich der Bote umgewandt hatte um vorauszugehen, formten seine Lippen in Eryns Richtung: “Versuch, nicht zu profan zu sein, hörst du?”

Sie grinste und folgte dem Mann, auf den die Pracht des Palastlebens unverkennbar abgefärbt hatte, und fragte sich, was der König wohl in solcher Eile besprechen wollte. Das würde ihr erstes Zusammentreffen sein, nachdem er in solch übler Laune von Bord des Schiffes gegangen war. Sie hoffte nur, dass er mittlerweile über diesen Vorfall hinweg war. Doch kurzfristige Ladungen waren im Allgemeinen auf jeden Fall unangenehm, ganz egal, ob er irgendeinen Groll hegte oder nicht.

Schicksalsergeben setzte sie ihren Weg fort.

*  *  *

Enric drehte seinen Kopf, während er dem Boten, der nach ihm geschickt worden war, den Königsweg entlang folgte. Rasche Schritte näherten sich, als versuchte ihn jemand einzuholen. Eryn. Er blieb stehen, um auf sie zu warten. Genau wie er selbst war auch sie in Gesellschaft eines unschwer als Palastbote erkennbaren Mannes.

Ein wenig außer Atem ging sie neben ihm her. “Dich will er also auch sehen”, stellte sie das Offensichtliche fest. “Irgendeine Ahnung, worum es gehen könnte?”

“Nein, nicht die leiseste”, erwiderte er.

Die beiden Männer in identischen Livreen bedachten einander mit einem knappen Nicken, dann gingen sie voraus, ganz so, als hätten Lord Enric und Lady Eryn diesen Weg nicht schon öfter, als jeder von ihnen zählen konnte, zurückgelegt. Doch ein Auftrag war ein Auftrag. Es war unwichtig, dass sie nicht die geringste Chance hätten, die Magier zum Mitkommen zu bewegen, sollten diese entscheiden, dass sie nicht geneigt waren, ihren König zu diesem Zeitpunkt aufzusuchen.

Da ihre Führer mit ihrem steifen Gehabe jedes Wort vernehmen würden, setzten sie ihren Weg schweigend fort.

Erst als sie einige Minuten später die hohe Doppeltür zum Thronsaal erreichten, verbeugten sie sich, dann verschwanden sie dorthin, woher sie gekommen waren und reichten ihre Lieferung wie Pakete an die Türwächter weiter, als wären sie nun deren Problem.

Die Wachen öffneten die Türen ohne sich mit einer Ankündigung aufzuhalten. Zweifelsohne waren sie angewiesen, niemand anderen als die beiden Personen vorzulassen, die der König zu sehen wünschte.

Enrics Blick fiel sofort auf das Podest mit dem Thron. Zu seiner Überraschung war es leer. Üblicherweise zog der König es vor, sie vor seinem offiziellen Sitz stehend zu empfangen, wenn er sie in den Thronsaal zitierte. Sein Blick wanderte zum entgegengesetzten Ende des Saals, zu den Fenstern, die beinahe bis ganz nach oben zur hohen Decke reichten.

Dort fand er den Monarchen. Gemeinsam mit seiner Gefährtin. Sie standen vor dem langen Steintisch, den König Folrin zuweilen herbeischaffen ließ, wenn er etwas Wichtiges zu besprechen hatte und dafür mehr Platz benötigte als sein vergleichsweise kleines Arbeitszimmer bot. Aus irgendeinem Grund war es erheblich weniger geräumig als Enrics eigenes. Er stellte sich vor, wie die Diener den König oder wen auch immer er empfangen würde, verfluchen mochten, während sie dieses Ungetüm von einem Tisch hier hereinschleppten, nur um ihn wahrscheinlich wenig später wieder zu entfernen. Er hoffte, dass sie irgendeinen Karren zur Verfügung hatten, damit sie ihn lediglich hinauf und herunter heben mussten anstatt ihn den gesamten Weg dorthin zu schleppen, wo auch immer er sonst gelagert wurde.

Durch das Geistesband spürte er einen Hauch von Eryns Nervosität. Seit ihrer Ankunft am Hafen vor mehr als drei Wochen hatte es zwischen ihr und dem König keinerlei Interaktion, Nachricht oder sonstigen Kontakt gegeben. Ihr Kinn war leicht erhoben, als wollte sie demonstrieren, dass es aus ihrer Sicht nichts gab, wofür es sich zu entschuldigen galt. Aber nicht zu hoch, um nicht anzudeuten, dass sie sich moralisch überlegen fühlte. Sehr sorgsam bemühte sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Einen, der von höflichem Interesse und Zurückhaltung zeugte, so wie es angemessen war, wenn eine Untertanin auf Geheiß ihres Königs vor ihn trat. Dabei spielte es keine Rolle, dass er wegen des Lochs in der Schiffshülle erzürnt davongestürmt war, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Ein wenig abseits ihres Gefährten stand Königin Del’na’bened, gewandet in eine Robe, die mit ihrer simplen Eleganz und fehlenden aufwändigen Verzierung beinahe bescheiden wirkte. Beinahe. Sie war trotz allem kostspielig, wie das geschulte Auge sofort erkannte. Aus irgendeinem Grund wirkte sie nicht besonders zufrieden. Über ihrer Nase ließ sich bei genauerem Hinsehen die Andeutung eines Stirnrunzelns erkennen.

Das Gesicht des Königs hingegen gab keinerlei Emotion preis. Nach Enrics Erfahrung ein Anzeichen dafür, dass etwas im Gange war. Etwas Unangenehmes. Etwas, das der Königin nicht zusagte oder vor dem sie sogar zurückscheute. Sie war nicht einmal annähernd so geschickt wie ihr Gefährte, wenn es darum ging, ihre Miene in eine ausdruckslose Maske zu verwandeln. Zumindest noch nicht. Das war wohl eine Fertigkeit, die sie sich zu ihrem eigenen Besten so rasch wie möglich aneignen sollte.

Ein paar Schritte vor dem königlichen Paar kamen sie zum Stehen und verneigten sich.

“Lord Enric”, begann König Folrin und nickte ihm zu, dann wiederholte er die Geste, indem er sprach: “Lady Eryn.” Er hob seine linke Hand zu den Stühlen, die um diese Monstrosität eines Tisches herum aufgestellt waren. “Nehmt Platz. Das hier ist eine recht delikate Angelegenheit, bei der ich aus mehr als einem Grund gezwungen bin, sie zu einem höchst unpassenden Zeitpunkt anzusprechen. Doch ich fürchte, es lässt sich nicht vermeiden.”

Enrics Blick fand eine umfangreiche Lederakte, die auf dem Tisch lag. Sie war bis an die Grenze ihres Fassungsvermögens mit Papieren gefüllt und wurde nur durch ein rundum gewickeltes Lederband zusammengehalten. Keine Beschriftung war sichtbar, auf dass ein zufälliger Beobachter den Inhalt erraten mochte. Wohl kaum ein Zufall.

Neben der Akte lag ein in Leder gebundenes Buch, das allem Anschein nach in häufiger Verwendung war. Darin steckte eine Markierung. Verordnungen zum Grundbesitz las Enric kopfüber die geprägten Buchstaben, die einst golden gewesen waren.

Der König nahm am Kopfende des Tisches Platz, die Königin direkt neben ihm auf seiner rechten Seite. Damit blieb seine linke Seite Eryn und Enric vorbehalten. Sie zogen ebenfalls die schweren Stühle aus dunklem Holz, in deren harte und unbequeme Rückenlehnen verschiedene gekräuselte Muster geschnitzt waren, zurück.

Der König gewährte ihnen einen Moment um anzukommen, dann deutete er mit einem Nicken auf das Buch auf dem Tisch. Enric streckte die Hand danach aus und zog es zu sich, um die markierte Seite aufzuschlagen. Sein Blick überflog die Paragraphen auf der linken Seite, dann setzte er auf der rechten Seite fort. Sobald seine Augen einen speziellen Paragraphen gefunden hatten, hielt er inne. Den hatte er stets im Hinterkopf behalten und nur darauf gewartet, ob der König ihn wohl irgendwann zum Thema machen würde. Für ihn war es zu einer Art Spiel geworden zu sehen, wie weit er diese spezielle Grenze überschreiten konnte, bevor man ihm jemanden schicken würde, der ihn darauf ansprach; wie lange der König ihm diesen kleinen Akt der Ungehorsamkeit im Austausch für seine fortwährende Nützlichkeit durchgehen lassen würde.

Dieser Zeitpunkt war nun offenbar gekommen.

“Ich verstehe”, murmelte er leise. Dann sah er zu der prall gefüllten Lederakte vor dem König hin. “Ich nehme an, das ist eine Sammlung all meiner Beteiligungen, Ländereien und Unternehmungen?”

“So ist es”, bestätigte der Monarch ruhig.

“Wäre jemand so gütig, mir zu erklären, was genau hier vor sich geht?”, verlangte Eryns angespannte Stimme. “Gibt es ein Problem mit Enrics Eigentum?”

König Folrin lehnte sich zurück. “Es gibt eine Verordnung, der zufolge ein einzelner Mann oder eine Unternehmung nicht mehr als fünf Prozent des Hoheitsgebiets im Königreich als Landbesitz halten kann. Die Begründung ist, dass ein Grundeigentümer bis zu einem gewissen Grad das Recht hat, seine eigenen Regeln zu etablieren, solange diese nicht dem geltenden königlichen Gesetz widersprechen. Landbesitz im Ausmaß von fünf Prozent und mehr wird als Gefahr für die Exekution des königlichen Willens und Gesetzes erachtet. Solch ausladende Besitztümer, besonders wenn das Land miteinander verbunden ist, stellen das Risiko eines sogenannten Staates innerhalb des Königreichs dar.”

Eryn starrte ihn an und schluckte. Dann fiel ihr Blick auf die Akte. “Ich nehme an, Enric hat die fünf Prozent erreicht oder steht kurz davor?”

Mit einem spröden Lächeln erwiderte König Folrin: “Sieben Prozent sogar. Und die hat er bereits erreicht. Vor siebzehn Monaten, um präzise zu sein.”

Stille folgte auf diese Enthüllung.

Bevor Enric das Wort ergreifen konnte, tat es Eryn. Ihre Stimme war angespannt mit kaum unterdrücktem Ärger.

“Vor siebzehn Monaten. Und Ihr habt ausgerechnet diesen Zeitpunkt gewählt – nachdem Enric und ich gerade von einer grauenhaften Mission in Pirinkar zurückgekehrt sind, und bevor wir für Euch in den Krieg ziehen sollen – um eine bloße…” Einen Moment lang suchte sie nach einem angemessen herabwürdigenden Begriff. “…eine bloße Verwaltungsübertretung anzusprechen? Nach allem, was wir getan haben, die unangenehmen Befehle, denen wir uns in den letzten Jahren zu beugen hatten, ganz egal, zu welchem Preis?” Sie wollte aufspringen, doch Enric griff rasch nach ihrer Hand und drückte sie zum Signal, dass sie ihre Fassung behalten musste.

Mit Interesse bemerkte er, dass Königin Del’na’beneds Kopf ein kaum wahrnehmbares und wohl unbewusstes Nicken vollzog. Das bedeutete sehr wahrscheinlich, dass sie Eryns Haltung teilte. Er wollte das als vielversprechend im Hinterkopf behalten, doch da er keine Vorstellung davon hatte, wie umfangreich der Einfluss der Königin auf ihren Gefährten war, mochte jeder Optimismus in dieser Hinsicht verfrüht sein.

“Die Integrität des Staates zu bewahren, indem sichergestellt wird, dass keine Einzelperson mit Größenwahn versucht, seine eigene Regierung zu etablieren, ist zweifelsohne mehr als ein bloßer Verwaltungsakt”, entgegnete König Folrin mit einem kühlen Blick zu Eryn.

Enric räusperte sich. Ganz egal, wie der König es rechtfertigte, dass er die Angelegenheit zur Sprache brachte, so war der Zeitpunkt doch ein interessanter und rechtfertigte einen genaueren Blick. Seine Besitztümer gingen bereits seit mehreren Jahren über das gesetzliche Maximum hinaus, und er war bereit, all sein Eigentum darauf zu verwetten, dass der König bereits ebenso lange davon wusste und ihn schon im Auge behalten hatte, bevor sein Besitz auch nur in die Nähe dieser Grenze gekommen war. Warum brachte er es jetzt zur Sprache? Eryn hatte Recht – es war der unpassendste Zeitpunkt, den man sich vorstellen konnte, und der König selbst hatte bei der Begrüßung etwas in diese Richtung geäußert. Ein Gedanke rang um seine Aufmerksamkeit und ließ einen Verdacht aufkeimen. Das hier war eine Stadt, die über ein dichtes Netz von Agenten und Anbietern anderer im Untergrund stattfindender Dienste verfügte – einfach deswegen, weil die Nachfrage hoch war. Es wäre absurd anzunehmen, dass der König die einzige Person war, die Informationen über Lord Enrics Ländereien und geschäftliche Aktivitäten sammelte. Wenngleich das Informationsarchiv des Königs wohl erheblich umfangreicher war als jedes andere.

“Ihr habt erwähnt, Ihr wärt gezwungen, das vorzubringen, obwohl der Zeitpunkt nicht ideal ist”, erwähnte Enric beiläufig.

Eryn neben ihm stieß einen tiefen Seufzer aus und presste zwischen zusammengebissen Zähnen hervor: “Das haben wir Lord Woldarn, diesem Mistkerl, zu verdanken – habe ich Recht?” Sie wartete nicht auf Bestätigung, sondern fuhr fort: “Er ist also zu Euch gekommen und hat sich beschwert? Oder hat er Euch eine Nachricht geschickt und vorgegeben, er wäre nichts als ein besorgter Bürger, der nur der Krone dienen will, indem er auf diese mögliche Gefahr hinweist?”

“Ihr werdet verstehen, dass ich den Autor der Nachricht, deren Existenz Ihr zutreffend erraten habt, kaum preisgeben kann”, antwortete der König in gelassener Manier. Allerdings war da ein winziges Lächeln, das darauf hindeutete, dass er damit zufrieden war, wie erfolgreich Eryn ihre Kombinationsgabe zum Einsatz gebracht hatte. Stets der Lehrer in politischer Strategie…

“Ihr habt Enric also beobachtet und im Auge behalten, wie viel Land er gekauft hat – und entschieden, dass Ihr nicht eingreifen werdet, solange er sich weiterhin als außerordentlich nützlich für Euch erweist”, folgerte Eryn weiter. “Und nun zwingt Euch so etwas Banales wie eine unbequeme Nachricht von einem Mann, der Enric Schaden zufügen will, um sich an mir zu rächen, zum Handeln.” Sie schnaubte abfällig. “Wenn es nicht so lächerlich wäre, wäre es beinahe witzig.”

Einen kurzen Moment lang verspannte sich ein Muskel in König Folrins Kiefer. Einen Wimpernschlag später war die Regung verschwunden. “Ja. Es passiert nicht allzu oft, doch zuweilen werden selbst meine Pläne durch gewisse unvorhergesehene Vorfälle vereitelt. Ich kann Euch kaum bis in alle Ewigkeit vor den Konsequenzen Eurer Tendenz zur Provokation gewisser Ratsmitglieder beschützen, weil Ihr nicht nach einer Möglichkeit zur friedlichen Koexistenz suchen wollt.”

Eryn lehnte sich zurück und presste die Lippen aufeinander. Enric wartete, ob sie die Arme verschränken würde. Damit hätte sie den Inbegriff des Schmollens perfekt personifiziert.

“Lasst mich Euch versichern, Lady Eryn, dass ich von dieser Situation ebenso wenig angetan bin wie Ihr selbst”, fuhr der König fort, als sie nichts erwiderte. “Derzeit erwägt Ihr und Lord Enric, ob Ihr für immer nach Takhan gehen wollt, sobald der Krieg vorüber ist. Vorausgesetzt, wir gehen siegreich daraus hervor. Mit der vorliegenden Angelegenheit an Euch heranzutreten wird dazu dienen, dass Euch die Option, Anyueel den Rücken zu kehren, noch verlockender erscheint.”

Eryn hielt ihre Miene neutral und war im Geheimen entzückt, dass der König sie ansah, um in ihrem Gesicht nach einer Bestätigung seiner Worte zu suchen. Als wäre er, der Gedankenleser, der Architekt aller anstehenden Ereignisse, nicht ganz sicher, ob seine Annahme zutraf. Oder er mochte auf eine Zusicherung warten, dass sie so etwas keineswegs ernsthaft in Betracht zog.

Enric entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um sich wieder in das Gespräch einzuschalten. Zwischen seiner Gefährtin und dem König wuchs die Anspannung, und das mochte zu wenig erfreulichen Konsequenzen führen, wenn es seinen ungestörten Verlauf nahm.

“Wie wünscht Ihr nun weiter vorzugehen, Eure Majestät? Werdet Ihr in den Fußstapfen Eurer Vorfahren wandeln und mich entweder enteignen oder für irgendein konstruiertes Vergehen hinrichten lassen?”, fragte er. Sein Ton war nicht unfreundlich, gab jedoch zu erkennen, dass er von der Situation alles andere als begeistert war.

“Mein lieber Lord Enric”, begann der König. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Herablassung mit. “Ihr werdet gewiss immens erleichtert sein zu hören, dass ich bislang keine Pläne hege, Euer Leben mit einer Anklage des Hochverrats oder Ähnlichem zu beenden. Ebenso wenig bin ich dafür, Euch gewaltsam dessen zu berauben, was Ihr über die Jahre hinweg mit solch beachtlichem Können erwirtschaftet habt.” Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. “Wie Eure Gefährtin so leidenschaftlich betont hat, erwarte ich noch immer, dass Ihr für mich in den Krieg zieht. Mir wäre sehr daran gelegen, ein Szenario zu vermeiden, wo Ihr zu einem kritischen Zeitpunkt die Seiten wechselt.”

Enric warf ihm einen kalten Blick zu ob der Unterstellung, er könnte seine beiden Länder betrügen, nur weil der König sich zu einer Dummheit hinreißen ließ. Und er wartete.

Der König seufzte, als er sah, dass sein kleiner Scherz statt Belustigung eine gewisse Verstimmung auslöste. “Seht her”, sprach er weiter, “Ihr wisst ebenso gut wie ich selbst, dass ich nicht ignorieren kann, was über offizielle Kanäle an mich herangetragen wird. Dass das Land in Eurem Besitz das erlaubte Ausmaß beinahe um die Hälfte übersteigt, ist eine Tatsache, die jeder, der willens und in der Lage ist, Agenten zu bezahlen, ganz leicht beweisen kann. Wir sprechen hier nicht über falsche Anschuldigungen. Das zu ignorieren wäre eine Demonstration von unverhohlener Bevorzugung Euch gegenüber, und damit würde mir selbst auf lange Sicht schaden. Ich sehe als einzige Option für eine entgegenkommende Lösung, dass wir über Bedingungen verhandeln, unter denen Ihr den Grundbesitz des Landes aufgebt, dass Ihr nicht besitzen solltet, ohne damit Eure Loyalität der Krone gegenüber zu kompromittieren.”

Eryn spitzte die Lippen und deutete auf das Buch, das noch immer aufgeschlagen vor Enric lag. “Darf ich?”, fragte sie und zog es auf das Nicken des Königs hin an sich.

Sie suchte nach dem Paragraphen, der das Vergehen behandelte, dessen sich Enric nun schon seit ein paar Jahren schuldig machte, und studierte ihn eingehend. “Wie alt ist dieses Buch? Oder eher das Gesetz selbst?”

“Etwa zweihundert und dreißig Jahre, würde ich sagen”, antwortete der König nach kurzem Nachdenken und wartete darauf, dass sie aussprach, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.

“Eine Zeit, in der Frauen der Besitz von Land noch gesetzlich verboten war?”, riet sie und lächelte. “Dieser Paragraph besagt eindeutig, dass kein Mann ein Anrecht auf mehr als einen großzügigen, gerechten und vernünftigen Anteil des Königreichs hat, auf dass er ihn weise und in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Königs regiere. Diese Einschränkung bezieht Frauen nicht mit ein.”

Enric grinste. Es war ein beherzter Versuch, der jedenfalls seine Stimmung hob, doch es bestand wenig bis keine Hoffnung darauf, dass der König es ihnen dermaßen leicht machen würde.

Königin Del’na’bened lächelte ebenfalls und ergriff zum ersten Mal seit ihrer Ankunft das Wort. “Das wäre ein fabelhaftes Schlupfloch, meine Liebe, doch ich fürchte, bis Enric all seinen Besitz auf deinen Namen umgeschrieben hat, wird Folrin eine Anpassung dieses Gesetzes vorgenommen und verkündet haben, sodass es auch Frauen mit einschließt. Damit wären eure Bestrebungen eine Zeitverschwendung.”

Eryn nickte. Sie hatte ohnehin nicht wirklich erwartet, dass dies eine gangbare Lösung darstellte. “Wie wäre es damit, das Land zwischen Enric und mir aufzuteilen? Auf diese Weise würde jeder von uns weniger als fünf Prozent besitzen.”

Dieses Mal war es der König, der ihren Vorschlag verwarf. “Ich fürchte, das würde wenig Unterschied machen. Da Ihr durch ein Kommitment verbunden seid, würden all Eure individuellen Besitztümer als gemeinsames Vermögen behandelt werden. Und selbst wenn ich in einer Position wäre, das zu genehmigen, würde das gleiche Problem erneut auftreten, sobald Euer einziger Nachkomme die Erbschaft antritt.”

Einmal mehr las Eryn den Gesetzestext durch. “Das bezieht sich nur auf Land, nicht auf Gold oder Geschäfte, richtig?”

“Das trifft zu, ja”, bestätigte der König. Er lehnte sich zurück in einer Pose, die in seinem Fall als entspannt galt, während er auf ihren nächsten Vorstoß wartete.

“Das bedeutet, Enric könnte Euch, oder eher der Krone, das Land verkaufen. Der Anstieg seines Geldvermögens wäre kein Problem.”

“In der Theorie ist das möglich”, erwiderte der Monarch zögernd. Er wirkte beinahe, als würde er es bedauern, dass er eine weitere ihrer Ideen abschmettern musste. “Doch ich kann Lord Enric keinesfalls mit großen Summen an Gold für seinen Gesetzesbruch belohnen und diese Angelegenheit als nichts anderes als eine geschäftliche Transaktion behandeln.”

Eryn weigerte sich aufzugeben. “Er könnte auch an jemand anderen verkaufen. Das würde das Problem lösen.”

Enric ergriff ihre Hand und drückte sie. “Der Gedanke ist nicht nur, mir mein überschüssiges Land abzunehmen, sondern auch, mich öffentlich zu bestrafen, Eryn. Selbst wenn ich mir über das Ausmaß meiner Ländereien nicht im Klaren gewesen wäre, schützt Unwissenheit vor dem Gesetz nicht vor Strafe.”

Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. “Dann sind wir also hier, um die Bedingungen unserer Strafe zu diskutieren – oder eher zu verhandeln?” Das klang etwas seltsam. Andererseits war es keine Bestrafung, die der König verhängen wollte, sondern eine, zu der er gezwungen wurde. Somit war er bestrebt, sie so moderat wie möglich zu gestalten, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren.

Enric lehnte sich vor. “Wärt Ihr offen, Steuererleichterungen im Austausch für eine… großzügige Spende von Land an die Krone zu erörtern?”

“Ich höre”, lächelte der König.

“Nein!” Das Wort explodierte gleichzeitig aus den Mündern beider Frauen. Erstaunte Stille folgte und es wurden verdutzte Blicke gewechselt.

Eryn war überrascht, in Del’na’bened eine Verbündete gefunden zu haben. Im Gegenzug war die Königin überrascht, Eryn auf ihrer Seite zu finden. Und König Folrin und Enric bedachten ihre jeweiligen Gefährtinnen mit einem Stirnrunzeln, als fragten sie sich, auf wessen Seite sie eigentlich standen.

Del’na’bened hob den Kopf und brach das Schweigen. “Wohlhabende Mitglieder der Gesellschaft sollten in allen Aspekten des öffentlichen Lebens als Vorbilder dienen. Das Zahlen von Steuern ist solch ein Aspekt.”

“Ich stimme absolut zu”, schloss Eryn sich an. “Wenn diejenigen von uns, die sich das Entrichten der Steuern problemlos leisten können, versuchen, sich herauszuwinden, von wem können wir dann erwarten, dass er bezahlt? Auch wenn er die Hälfte seines Landes aufgibt, ist Enric immer noch stinkreich.” Sie nickte zu der Akte mit Enrics Eigentum. “Wie Ihr zweifellos wisst, wird Enrics Reichtum vorwiegend durch seine Geschäftstätigkeit generiert. Seine auf Land basierten Unterfangen machen nur einen kleinen Teil seines Einkommens aus.”

Enric hob seine Hand und presste einen Moment lang seine Finger gegen seine Nasenwurzel. Warum genau hatte der König entschieden, sie beide vorzuladen…? Ein rascher Blick in des Königs Richtung zeigte ihm, dass der sich diese Frage sehr wahrscheinlich ebenfalls gerade stellte.

König Folrin legte seine Fingerspitzen aneinander. Sein Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. “Dann würde ich vorschlagen, Ihr beide nehmt Euch etwas Zeit und erstellt eine Liste mit Vorschlägen, um sie dann zu besprechen. Die Königin und ich werden dies ebenfalls tun. Zu gegebener Zeit wollen wir uns erneut treffen. Ihr seid entlassen.”

Enric erhob sich, verbeugte sich vor dem königlichen Paar und schritt auf die Tür des Thronsaals zu. Eryn folgte dichtauf.

Sobald sie sich im Korridor befanden und die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, murmelte Eryn: “Weißt du was? Ich mag Tleta.”

Enric seufzte. “Was du nicht sagst.”

*  *  *

Eryn schreckte aus dem Schlaf hoch und fasste sich an den Hals, wo etwas ihren Atem zuzuschnüren schien. Ein Teil der Feuchtigkeit auf ihrer kalten Stirn vereinigte sich zu einer Schweißperle, die dann ihre Schläfe und Wange hinablief.

Mit jedem tiefen Atemzug klang das Gefühl der Einengung ein Stück weit ab, und sie begann ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen. Es war beinahe vollkommen dunkel im Schlafzimmer. Unter sich spürte sie die feste Matratze, und als ihre Finger über das dünn gewebte Leinentuch glitten, verursachte die Berührung ein kaum vernehmbares Rascheln. Ein leichtes Gefühl der Kälte auf ihren Beinen deutete darauf hin, dass sie ihre Decke abgestrampelt haben musste. Blind tastete sie danach. Erst als sie den Boden in unmittelbarer Nähe des Bettes absuchte, fand sie die Decke zusammengeknüllt nahe dem Fußende.

Sie versuchte sich zu entsinnen, worum es in dem Alptraum gegangen war, konnte sich aber an keinerlei Bilder erinnern. Alles, was verblieb, war die Erinnerung an Emotionen… Was ein Hinweis darauf sein mochte, dass nicht sie selbt diejenige war, die den Traum erlebt hatte, sondern womöglich Enric.

Sobald sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte, lauschte sie der von Enric. Ein leises, unregelmäßiges Keuchen. Sie schluckte. Seine Alpträume traten mittlerweile weniger häufig auf als am Anfang, und jedes Mal, wenn er von einem weiteren geplagt wurde, hoffte sie inständig, es möge der letzte sein. Bislang waren ihre Hoffnungen vergeblich gewesen.

Sie musste ihn wecken. Allerdings war das kein gefahrloses Unterfangen. Es war bereits riskant genug, eine Person mit überlegener Körperkraft aus dem Schlaf zu reißen. Im Fall eines Magiers mochten damit beträchtliche Schäden oder Verletzungen einhergehen. Weiter leiden konnte sie ihn jedoch auch keinesfalls lassen. Es geschah nicht oft, dass sie vor ihm erwachte, wenn die Zeit seiner Gefangenschaft ihn nachts einholte, im Schlaf, wenn er machtlos dagegen war.

Sie atmete tief ein und suchte im Dunklen nach seiner Hand, um einen Strom warmer Magie hineinzuschicken, der seine Muskeln träger und schwerer machen würde. Dann flüsterte sie seinen Namen, um ihn zu wecken.

Trotz ihrer Bemühungen zur Beeinträchtigung seiner Muskelkraft packte seine Hand die ihre abrupt, während er sein Bewusstsein erlangte.

“Eryn?”, fragte er leise, seine Stimme frei von dem Aufruhr, den sie durch das Geistesband wahrnahm.

“Ja”, erwiderte sie sanft. “Ich bin hier.” Sie sagte ihm nicht, dass er einen Alptraum gehabt hatte, dass alles in Ordnung und er sicher war. Das wusste er. Sie hielt lediglich seine Hand und wartete, bis sich seine Atmung normalisierte.

“Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe”, entschuldigte er sich nach einer Minute.

“Das hast du nicht. Ich war bereits wach”, behauptete sie, wissend, dass er ihr nicht glauben würde.

Sie konnte das müde Lächeln in seiner Stimme hören, als er erwiderte: “Das ist eine Lüge.”

“Ich weiß.”

“Eine recht durchschaubare.”

“Entschuldige. Nächstes Mal bemühe ich mich mehr. Aber so kurz nach dem Aufwachen bin ich froh, dass ich überhaupt einen zusammenhängenden Satz fertigbringe. Zeig also etwas Nachsicht”, neckte sie ihn.

In der darauffolgenden Stille spürte sie, dass er sich darauf vorbereitete, etwas Ernstes anzusprechen. Sie wartete.

“Wenn wir gerade von Nachsicht sprechen…”, begann er. “Da gibt es etwas, über das wir reden müssen. Etwas Wichtiges.”

Eryn seufzte. Sie hatte darauf gehofft, sich an ihren Gefährten schmiegen und noch ein paar Stunden Schlaf genießen zu können, doch wenn ihm ein Gespräch über was auch immer dabei half, sich zu erholen und den Traum aus seinen Gedanken zu verbannen, dann würde sie ihm diesen Gefallen tun.

“Du musst etwas gegen Lord Woldarn unternehmen, vorausgesetzt, er war tatsächlich derjenige, der an den König geschrieben hat.”

Sie verzog das Gesicht. Was er im Dunklen nicht sehen konnte. “Ich? Warum ich? Du stehst rangmäßig über mir, und es ist dein Besitz, auf den er es abgesehen hat, nicht meiner.”

“Mich hat er nur benutzt, um dir Kummer zu bereiten. Und rechtlich gesprochen ist es ebenso dein Eigentum wie meines. Wie viele Jahre wird es noch dauern, bis das endlich in deinem Gehirn ankommt?” Er fragte sich ernsthaft, warum er es überhaupt noch versuchte.

Seine Gefährtin ließ ihren Kopf zurücksinken und fiel in das Kissen in ihrem Rücken. “Was soll ich denn noch tun, um ihm Grenzen zu setzen? Gegen all meine Versuche zeigt er sich resistent – sei es nun Stallpflicht oder das Bloßstellen vor dem Rat. Er ist ein wirklich törichter Mann, und ich weigere mich, meine Zeit oder Geduld an ihn zu verschwenden.”

“Eryn”, beschwor er sie, “hier geht es nicht darum, der Welt zu zeigen, dass du mehr geistige Größe hast und er nichts weiter als ein Insekt ist, das du dich entschieden hast zu ignorieren. Törichte Menschen können gefährlich sein, besonders, wenn sie einen Groll hegen. Wenn du ihn ignorierst, wird ihn das nur noch bestärken in seinen Bemühungen, da es ihm zeigt, dass er kaum etwas zu befürchten hat, weil es niemals ernste Konsequenzen für ihn gibt.”

“Was also soll ich deiner Ansicht nach mit ihm tun?”, seufzte sie. “Ihm einen Monat lang Hausarrest verpassen? Oder ein Jahr lang?” Sie schnaubte. “Ich kann mir vorstellen, was Tyront dazu zu sagen hätte. Und wie würde ich das außerdem rechtfertigen? Weil er die Frechheit besessen hat, den König darauf hinzuweisen, dass wir streng genommen das königliche Gesetz brechen – ganz gleich, dass der König darüber ohnehin informiert war, aber sich entschieden hat, nicht zu handeln?”

“Der König hatte sehr gute Gründe dafür, die Regeln zu meinen Gunsten zu dehnen. Politische Gründe”, erklärte Enric geduldig. “Du erinnerst dich an die Zeiten, als unsere Beziehung zu ihm angespannt war, um es gelinde auszudrücken. Dass er uns hier und dort eine Gefälligkeit erweist, ist ein Beweis für die Wertschätzung, die er uns entgegenbringt. Gelegentlich mag dies auch als inoffizielle Entschuldigung gedient haben, wenn eine offizielle keine Option war. Er hat versucht, etwas zurückzugeben, auszugleichen, was wir auf seinen Befehl hin zu erdulden und zuweilen aufzugeben hatten. Die Auflösung des Kommitments meiner Eltern war so etwas. Lord Woldarns Vorgehensweise ist für mich lästig, wird mich aber nicht in den Bankrott treiben. Du hattest Recht, als du gemeint hast, dass ich kaum von meinem Grundbesitz abhängig bin, um ein Einkommen zu generieren. Dennoch, mein Gewinn würde erheblich reduziert werden. Viele meiner Geschäfte sind auf Grundbesitz angewiesen. Da wären die Erzminen. Und die Wälder, die ich für das Holzgeschäft brauche. Seit wir begonnen haben, in die Westlichen Territorien zu exportieren, ist das beträchtlich gewachsen. Außerdem brauche ich Holz für die Schiffswerften. Die Stoffe, die ich herstelle, benötigen ebenfalls Land, auf denen die Rohstoffe angebaut werden. Dann sind da noch die Weinberge und Pferdefarmen, die zwar vergleichsweise wenig Geld abwerfen, aber doch ein wenig Gewinn einbringen. Für den König ist das ein großes Thema, da er nun dazu gezwungen ist, mich irgendwie in einem Ausmaß zu enteignen, damit die Aufzeichnungen zeigen, dass meine Besitztümer das gesetzliche Maximum nicht übersteigen – und darüber hinaus muss er mich bestrafen. Das will er keinesfalls. Besonders, da ich immer besonders darauf geachtet habe, meine Steuern in voller Höhe zu entrichten, um ihn nicht zu provozieren. Und noch wichtiger ist, dass er sehr genau weiß, dass wir irgendwann in der Zukunft nach Takhan gehen und dort bleiben könnten. Somit würde uns eine Enteignung – und damit der Entzug eines beträchtlichen Teils unseres Einkommens – noch geneigter machen, fortzugehen.”

“Dann soll sich doch einfach der König an Lord Woldarn rächen.”

“Nein. Es war ein Angriff auf dich, nicht auf den König. Der König war lediglich ein Werkzeug. So wie auch ich. Du warst das Ziel, und du musst daher entsprechend reagieren. Hier geht es nicht länger um verschleierte oder offene Beleidigungen oder wenig schmeichelhaftes Gerede hinter deinem Rücken. Er hat seinen Einsatz erhöht und wird das auch weiterhin tun, wenn du dem nicht irgendwie ein Ende bereitest. Wir können nicht darauf warten, bis ihm irgendetwas in den Sinn kommt, mit dem er uns so richtig schaden kann.” Er legte eine Kunstpause ein, wissend, dass ihn sein letzter Punkt den Sieg bringen würde. “Oder Vedric.”

Eryn schloss die Augen. “Er würde es nicht wagen. Er ist dämlich. Aber nicht so dämlich.”

“Wie sicher kannst du dir dessen sein? Wenn du seine Intelligenz beurteilen willst, dann bedenke, dass Lord Woldarn wohl kaum der Einzige ist, der weiß, dass das Land in unserem Besitz die erlaubte Höchstgrenze überschreitet. Und doch hat es niemand sonst je vorgebracht, geschweige denn ist damit an den König herangetreten. Jeder sonst weiß, dass der König sehr wahrscheinlich über das am weitesten reichende Netzwerk an Agenten in Anyueel verfügt. Wenn jemand also davon weiß, besteht so gut wie keine Chance, dass der König keine Ahnung davon hat. Ihn zum Handeln zu zwingen in einer Angelegenheit, in der er nun schon seit einiger Zeit entschieden hat, dass er das nicht möchte, ist enorm töricht. Der König wird ihn dafür bestrafen, das kann ich dir versprechen. Aber nur, wenn du versäumst, es selbst zu tun. Er wird dir ein wenig Zeit geben, damit du dich darum kümmerst, bevor er selbst zur Tat schreitet. Er weiß so gut wie ich, dass du diejenige bist, die es tun sollte.”

Sie überdachte seine Argumente. Schließlich nickte sie – und erinnerte sich, dass er sie nicht sehen konnte. “Also schön. Dann werde ich ihn maßregeln. Einmal mehr. Strenger als jemals zuvor. Ohne es als die Bestrafung erscheinen zu lassen, die es tatsächlich ist. Denn dass er dem König gesagt hat, dass wir zu viel Land besitzen ist vor dem Rat kaum eine angemessene Rechtfertigung.”

Enric fühlte sich erleichtert, dass sie zur Einsicht gekommen war. “Ich glaube, da kann ich dir helfen. Ich habe eine Idee für eine Bestrafung, bei der er wenig bis keine Chance hat, sich dagegen zu wehren, ohne selbst schlecht dazustehen. Zuerst jedoch gilt es sich um zwei Dinge zu kümmern. Du musst über jeden Zweifel hinweg herausfinden, dass Lord Woldarn wirklich derjenige war, der die Nachricht geschickt hat. Und falls ja, musst du Tyront vorab über die Bestrafung informieren, die du für angemessen hältst und seine Zustimmung einholen. Über die Angelegenheit mit dem Grundbesitz und unser Treffen mit dem König brauchst du ihn nicht informieren. Darüber wird er ohnehin bereits Bescheid wissen.”

*  *  *

Eryn streckte sich auf dem Sofa in Verns Salon aus. Sie hatte gerade knapp eine Stunde damit verbracht, mit Vern über das zu sprechen, was in Pirinkar vorgefallen war und was sie veranlasst hatte, den Heilerberuf für immer hinter sich zu lassen. Er hatte natürlich von ihrer Entscheidung gewusst, da Lord Poron den Heilern schon vor einigen Tagen davon berichtet hatte. Doch da er so viel mehr als nur ein Kollege war, hatte er eisern darauf beharrt, er hätte ein Recht, von ihren Gründen zu erfahren, wenngleich sie kaum jemandem sonst davon erzählt hatte. Und er hatte Recht. Seit einigen Jahren schon war er einer von sehr wenigen engen Freunden. Gerade er hatte es verdient, dass sie sich ihm anvertraute. Also hatte sie ihm detailgetreu erklärt, was vorgefallen war, kurz bevor sie Enric in den Wäldern gefunden hatte.

Der junge Mann hatte mit konzentrierter Miene zugehört und ihr immer wieder bedeutet fortzufahren, wenn sie eine Pause einlegte, um ihm Raum für Bemerkungen oder Fragen zu lassen. Er wollte alles hören, bevor er seine Fragen stellte. Und Fragen hatte er. Eine Frage jedoch stellte er nicht – ob sie wirklich sicher war, dass sie nach all ihren Bemühungen zum Aneignen der Profession und dem Errichten der Klinik in Anyueel das Heilen für immer aufgeben wollte. Dafür war sie dankbar. Nicht eine Sekunde lang gab er ihr das Gefühl, er hielte sie für unfähig, den Ernst ihrer Entscheidung zu bedenken, bevor sie sie traf. Enric war es interessanterweise schwerer gefallen, ihren Entschluss zu akzeptieren.

Vern zeigte sich in der Regel nicht allzu zurückhaltend, wenn es darum ging, sie zu kritisieren – besonders, wenn es keine Zeugen gab, die diesen scheinbaren Mangel an Respekt einer vorgesetzten Magierin gegenüber miterleben konnten. Das bedeutete, dass er ihre Entscheidung wahrhaftig verstand, auch wenn die Aussicht, dass er in diesem Metier nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten würde können, ihn sichtlich betrübte.

“Wir können die Heilerakademie aber dennoch gemeinsam aufbauen, oder?”, fragte er hoffnungsvoll.

Sie nickte. “Ja, das können wir. Obwohl ich schätze, dass man uns anweisen wird, unsere Ressourcen lieber auf den anstehenden Krieg zu konzentrieren anstatt auf ein Projekt, das sich eher für friedliche Zeiten eignet.”

Er schenkte ihr ein gequältes Lächeln. “Wenn all das vorüber ist, bist du womöglich gar nicht mehr hier. Ich befürchte, du könntest Malriels Angebot annehmen und Haus Aren führen.”

Eryn wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie könnte ihm sagen, dass sie es nicht ernsthaft in Erwägung zog, doch das entspräche nicht ganz der Wahrheit. Oder sie könnte ihn daran erinnern, dass sie ihm versprochen hatte, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit er nach Takhan umziehen konnte, falls das in eineinhalb Jahren noch immer sein Wunsch wäre. Doch er schien sich verhältnismäßig gut wieder an sein Zuhause angepasst zu haben, also mochte es für ihn keine allzu interessante Option mehr sein, dorthin zurückzukehren.

Was natürlich eine gute Sache war. Gut für die Klinik. Und damit auch für die anderen Heiler und die Menschen in Anyueel. Er war der einzige ansässige Heiler, der in beiden Ländern ausgebildet worden und willens und fähig war, das Gelernte weiterzugeben.

Gleichzeitig jedoch hätte sie ihn aus egoistischen Gründen liebend gerne mit nach Takhan genommen – vorausgesetzt, sie entschied sich tatsächlich dafür, dort zu bleiben. Aber um sie ging es hier nicht. Wenn Vern sich entschloss, in Anyueel zu bleiben, weil ihn das glücklich machte und gleichzeitig jeder außer ihr selbst davon profitierte, musste sie das nicht nur akzeptieren, sondern ihn sogar dazu ermutigen.

Sie warf ihren Kopf zurück und schluckte den Rest des Tees, den er ihr aufgebrüht hatte. Es war nun ohnehin Zeit aufzubrechen.

“Vielen Dank, dass du dir ein wenig Zeit für mich genommen hast”, meinte sie und stand auf. “Jetzt muss ich los. Da gibt es noch etwas im Palast, das ich erledigen muss.”

Das Klopfen an der Tür ließ beide aufblicken.

“Erwartest du jemanden?”, fragte sie. Vern empfing kaum jemals Gäste in seinem Quartier. Er zog es vor, selbst Besuche abzustatten.

Vern schüttelte den Kopf. “Nein, nicht wirklich.” Er stand ebenfalls auf, um die Tür zu öffnen.

Alles in Eryn verspannte sich, als sie Junar und Téa im Türrahmen stehen sah. Téa, die ihrer Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit widmete, sah nur Vern und begann aufgeregt auf ihn einzureden. Ihre Mutter jedoch bemerkte Eryn sofort. Und das Lächeln, das sich gerade auf ihrem Gesicht beim Anblick des Sohns ihres Gefährten ausbreiten wollte, erstarrte noch bevor es zu voller Blüte gelangt war. Ihre Miene steckte nun in einem seltsamen Ausdruck zwischen Freude und Betroffenheit fest, unklar, welcher Richtung sie den Vorzug geben sollte.

Eryn verspürte Ärger in sich aufsteigen. Das war das erste Mal, dass sie einander seit diesem unangenehmen Tag bei den Docks begegneten, und alles, was sie fertigbrachten, war einander anzusehen als wären sie in irgendeinen Alptraum gestolpert. Das war lächerlich! Sie waren erwachsene Frauen – und Freundinnen! Nun, zumindest theoretisch. Jetzt gerade verhielten sie sich beide eher, als wären sie Kinder – und Feindinnen.

Die Schneiderin riss sich am Riemen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem höflichen Lächeln. “Eryn. Was für eine… angenehme Überraschung.” Dann konzentrierte sie sich auf Vern, der noch immer das Ziel des aufgeregten Geplappers ihrer Tochter war. “Ich war auf dem Heimweg, nachdem ich Téa von der Schule abgeholt habe, und wollte dich nur einladen, morgen mit uns zu Abend zu essen. Dein Vater hat erwähnt, dass er dich schon seit einer Weile nicht mehr gesehen hat.” Ihr Blick sprang für einen Sekundenbruchteil zu Eryn, als wollte sie sagen, dass er anscheinend keine Zeit für seinen Vater hatte, offensichtlich wohl aber für Eryn.

Eryn mahlte mit den Zähnen.

“Möchtet ihr hereinkommen? Der Tee ist schon fertig”, bot er an. Zwar war er sich der Spannung gewahr, wollte aber keinesfalls seine Manieren darunter leiden lassen.

“Nein, nein, tatsächlich sind wir in Eile”, murmelte Junar. Gerade, als sie nach der Hand ihrer Tochter greifen wollte, zog Téa sie schmollend fort.

Mit dieser so ungelegen kommenden Ehrlichkeit, die sie zuweilen an den Tag legte, zog sie eine Schnute. “Aber du hast gesagt, ich kann Vern all die neuen Dinge in meinem Übungsbuch zeigen!” Sie ignorierte den Wunsch ihrer Mutter aufzubrechen, wandte sich wieder ihrem älteren Bruder zu und strahlte ihn an. “Ich kann jetzt schon sehr lange und schwierige Wörter aufschreiben! Und…”

“Das kannst du ihm morgen Abend zeigen, wenn er uns besucht”, beharrte Junar, ihr Ton alles andere als sanft. Zu spät wurde ihr klar, dass Vern die Einladung noch nicht angenommen hatte. “Natürlich immer vorausgesetzt, du kommst.”

“Sicher, ich werde da sein.”

Eryn entschied sich, diesem Schwachsinn ein Ende zu bereiten. “Sei nicht lächerlich, Junar. Komm herein und setz dich, so wie du es Téa offensichtlich versprochen hast. Ich wollte ohnehin gerade gehen. Also musst du keine einzige Minute im gleichen Raum mit mir verbringen, wo das scheinbar für dich solch eine Zumutung bedeutet.” Ihr Ton war eisig, herausfordernd.

Junar wirkte leicht verlegen ob der Tatsache, dass sie beim Lügen erwischt worden war, und als lächerlich bezeichnet zu werden sagte ihr ebenfalls nicht zu. Sie versuchte ihr Unbehagen zu verbergen, vermochte es aber nicht wirklich.

“Das hat nichts mit dir zu tun”, hielt sie verzweifelt an ihrer Flunkerei fest. “Ich muss heute Abend noch ein Kleid fertigstellen und kann keine Zeit vertrödeln.”

Eryn lächelte kühl. “Dann macht meine Anwesenheit also keinerlei Unterschied für dich? Ich bin ungemein erleichtert, das zu hören.” Junars Verhalten entfachte weiteren Ärger in ihr. Diese Frau hatte kein Recht vorzugeben, dass die unbeholfene Situation in diesem Moment nicht ihre Schuld war! Sie sollte sich für die gehässigen Dinge, die sie auf dem Pier von sich gegeben hatte, entschuldigen! So behandelte man eine gute Freundin nicht!

Eine weitere Stimme in ihrem Kopf wies sie darauf hin, dass befreundet zu sein auch bedeutete, dass keine Entschuldigungen nötig sein sollten. Außerdem war eine Entschuldigung nichts, dass sich verlangen oder einfordern ließ, weil sie in diesem Fall kaum aufrichtig war. Vielleicht bedauerte Junar es auch gar nicht. Oder womöglich schämte sie sich so sehr für ihr eigenes Betragen und fürchtete sich vor einer Zurückweisung, wenn sie versuchte, sich Eryn zu nähern?

Aber was hieß das für sie und Junar? Nun, die Antwort darauf war recht offensichtlich. Eine von ihnen musste den ersten Schritt tun, und da Junar entweder unwillig oder unfähig dazu war, würde es Eryn zufallen, ihren Stolz zu überwinden und die Hand auszustrecken.

Sie hüstelte. “Junar, warum treffen wir uns nicht einmal an einem Abend, an dem du nicht beschäftigt bist, auf ein Getränk? Wie wäre es mit übermorgen? Oder dem Tag danach?”

Einen Moment lang schien die andere Frau zu erstarren, auf ihrem Gesicht ein Ausdruck von Überraschung und Beklommenheit. Eryn bemerkte, wie Vern kurz den Atem anhielt in Erwartung dessen, was nun kommen mochte, während seiner kleinen Schwester nicht einmal aufgefallen war, dass hier etwas nicht stimmte. Sie schnatterte einfach weiter, vollkommen blind gegenüber der angespannten Situation.

Dann hob Junar ihr Kinn und erwiderte förmlich: “Was für ein reizender Vorschlag. Bedauerlicherweise bin ich an den kommenden Abenden schon verabredet, aber warum melde ich mich nicht einfach bei dir?”

Selbst wenn Eryn Zweifel gehabt hätte, ob es sich hierbei um eine Zurückweisung handelte oder nicht, so hätte Verns Gesichtsausdruck ihr alles gesagt, was sie wissen musste. Junar erteilte ihr eine Abfuhr. Sie hatte keinerlei Interesse daran, irgendetwas mit Eryn zu bereden.

Eryn lächelte schwach. “Sicher. Warum nicht. Vern, danke für den zauberhaften Nachmittag.” Mit einem Nicken zu Junar hin strich sie Téa kurz über den Kopf und zwängte sich an den Besuchern, die noch immer im Türrahmen standen, vorbei.

Begierig darauf, von hier fortzukommen, eilte sie die Treppe hinab. Sie schob die bedrückenden Gedanken, ob das nun wirklich das Ende ihrer Freundschaft mit Junar war, beiseite. Es gab etwas Wichtigeres, um das sie sich kümmern musste, etwas, bei dem sie sich keine Ablenkung leisten konnte.

*  *  *

Auf ihrem Weg zu Palast verbannte Eryn alle Gedanken an Junar sowie die Mischung aus Bedauern und Groll, die sie auslösten, und lenkte sie stattdessen bewusst auf die Unterhaltung mit Enric in der vergangenen Nacht. Über ihr Einkommen. Enric hatte lediglich die Geschäfte aufgezählt, die recht umfassenden Grundbesitz benötigten, um gute Erträge zu erwirtschaften. Er hatte ihr erklärt, dass der Verlust eines größeren Teils davon ihr Einkommen schmälern würde. Das bezweifelte sie allerdings. Da war noch immer die Reederei, die Enric gegründet hatte, sobald der Handel mit den Westlichen Territorien etabliert war. Und der Handel mit Gütern, die er selbst herstellte und solchen, die er anderswo zukaufte. Zusätzlich erhielten sie beide noch ihre Bezahlung vom Orden. Und das waren lediglich ihre Einkunftsquellen auf dieser Seite des Meeres. Sie hatte zwar nicht wirklich einen Überblick, wo in Takhan Enric überall investiert hatte, doch sie wusste, dass er an einigen gemeinsamen Unternehmungen mit Haus Aren, Arbil und Vel’kim beteiligt war.

Alles in allem waren sie noch immer weit davon entfernt, irgendwelche Entbehrungen hinnehmen zu müssen. Selbst wenn ihr gesamtes Einkommen von einem Tag zum nächsten wegfiele, hatte Enric wahrscheinlich genug Gold auf Vorrat, um damit den Rest ihres Lebens komfortabel bestreiten zu können.

Warum also war sie dermaßen verstimmt über den Versuch, Enric etwas wegzunehmen, wovon er ohnehin nicht abhängig war? Besonders, da er sich die Schuld für den Verlust eines Teils davon grundsätzlich selbst zuzuschreiben hatte, weil er wie ein Jugendlicher seine kleinen Spiele mit dem König trieb um zu sehen, wie weit er gehen konnte?

Die Antwort kam prompt. Weil sie nicht ausgerechnet gegen Lord Woldarn eine Niederlage einstecken wollte. Wenn Enric etwas aufgeben musste, dann würde sie dafür sorgen, dass Lord Woldarn noch wesentlich mehr verlor. Enric hatte ihr von seiner Idee erzählt, wie man mit dem Mann verfahren konnte – immer vorausgesetzt, er war tatsächlich derjenige, der versuchte, Enric enteignen zu lassen. Es war brillant in seiner Grausamkeit. Enric hatte eine gewisse Begabung für derlei Dinge. Jeder würde wissen, dass es eine Bestrafung war, doch nur wenige – Lord Woldarns Vertraute – würden wissen, wofür. Allerdings würde es nach nichts anderem als einer simplen Entsendung aussehen. Vorausgesetzt, Tyront legte sich nicht quer.

Sie nickte den Torwachen vor dem Palast zu und betrat die riesige Halle mit den vielen Säulen, die die hohe Decke stützten. Dank Enrics Spionen wusste sie, dass sich der König und die Königin derzeit in einer Besprechung mit den Schatzmeistern des Königreichs befanden und somit für eine Weile beschäftigt waren. Sich der Informationen zu bedienen, die in einer Weise gesammelt wurden, für die sie nur Abscheu übrig hatte, war nichts, dem sie normalerweise zustimmte. Doch in diesem Fall ließen sie sich auf keinem anderen Weg beschaffen. Marrin, der für den Terminplan des königlichen Paares verantwortlich war, war zu erfahren und achtsam und würde sich nicht hereinlegen lassen, Dinge zu enthüllen, die unter Verschluss bleiben sollten.

Was der Grund war, weshalb sie ihn unvorbereitet erwischen musste. Dafür war es erforderlich, dass der König nicht in der Nähe war und somit nicht ersucht werden konnte, Eryns Behauptungen zu bestätigen.

Vor der Tür zum Arbeitszimmer des Königs blieb sie stehen. Oder eher Marrins Tür, da das Zimmer des Königs nur betreten werden konnte, indem man zuerst das seines Beraters durchquerte. Sie musste ruhig und entspannt wirken, nicht als führe sie etwas im Schilde und als wäre sie nervös, ob es funktionieren würde.

Sie klopfte und wartete auf die Erlaubnis zum Eintreten. Die kam prompt.

Im letzten Moment tauschte Eryn ihr Lächeln gegen eine Miene, die den üblichen Anflug an Missmut zeigte, wenn sie auf dem Weg zum König war. Eine ungewöhnlich fröhliche Stimmung mochte ihn misstrauisch machen.

“Guten Tag, Marrin. Ist er hier?”

Wie immer bei ihrem Anblick lächelte der ältere Mann. “Lady Eryn, welch unerwartetes Vergnügen. Nein, ich fürchte, derzeit ist er nicht verfügbar – und auch nicht in den nächsten paar Stunden.”

Sie stieß ein enttäuschtes Seufzen aus. “Das ist bedauerlich. Er hat mir versprochen, dass er mir die Nachricht zeigt, in der er angehalten wird, etwas gegen Enrics Grundbesitz zu unternehmen. Ich hätte wohl zuerst einen Termin vereinbaren sollen um sicherzugehen, dass er hier ist und Zeit für mich hat. Nun, ich schätze, das lässt sich nicht ändern.” Sie ließ sich in einen Sessel neben Marrins Schreibtisch fallen. “Wie ergeht es dir so, Marrin?”

Er lehnte sich zurück und signalisierte damit, dass er bereit war, ein wenig zu plaudern. “Beschäftigt, wie Ihr Euch wohl vorstellen könnt. Vorbereitungen für den bevorstehenden Krieg. Die großen Entscheidungen werden natürlich von Seiner Majestät und dem Orden getroffen, aber jemand muss auch sicherstellen, dass sie tatsächlich umgesetzt werden. Das erfordert Planung und das Autorisieren von Auszahlungen.”

Eryn lachte. “Ah ja, die Magie, die im Hintergrund passiert – all das, was niemand sieht und was somit nicht als wichtig geschätzt wird.”

Marrin zuckte mit den Schultern. “Seine Majestät sieht es.”

“Und ich bin zuversichtlich, dass er dich so schätzt, wie er es sollte. Er ist recht schlau.”

Der ältere Mann zog eine Augenbraue hoch. “Manche würden ihn sogar ein Genie nennen.”

Sie winkte ab. “Ich nicht. Du weißt, wie sehr ich es hasse, ihm Komplimente zu machen.”

“Das weiß ich in der Tat. Doch die Tatsache, dass Ihr gewisse Dinge nicht aussprechen wollt, macht sie nicht weniger wahr.”

“Das mag der Fall sein, doch andere Dinge sind Konstrukte unserer Vorstellungskraft und werden erst dadurch Wirklichkeit, dass wir sie aussprechen.”

Mit einem Lachen und einem Kopfschütteln verschränkte Marrin die Finger über seinem Bauch. “Wie ich sehe, wagen wir uns in höchst philosophisches Terrain vor.”

Eryn seufzte und stand wieder auf. “Ich würde diese Diskussion mit dir liebend gerne fortsetzen, doch leider muss ich Vedric nun von der Schule abholen. Ich nehme an, es besteht keinerlei Chance, dass du mich einen Blick auf den Brief werfen lassen könntest, ohne bei Seiner Majestät die Bestätigung einzuholen?”, fragte sie. Ihre Stimme klang resigniert, als hätte sie keinerlei Hoffnung, dass er ihr diesen winzigen, bescheidenen Gefallen erweisen möge.

Einen Augenblick lang wirkte der Berater des Königs unentschlossen. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens sah er sie wieder an. “Seine Majestät hat Euch ausdrücklich versprochen, Euch die Nachricht zu zeigen?”

Bedacht darauf, nicht allzu nachdrücklich zuzustimmen oder sich durch zu viele Details zu verraten, nickte sie nur.

“Worum ging es darin noch einmal?”, fragte er und tat, als wüsste er nicht ganz genau, welche Nachricht es war. Offensichtlich wollte er testen, ob sie tatsächlich von dem Brief wusste oder nur im Trüben fischte.

“Die Nachricht setzt König Folrin davon in Kenntnis, dass Enrics Grundbesitz das gesetzlich erlaubte Höchstmaß überschreitet. Der Absender ist…” Sie hielt kurz inne. Im Moment hatte sie nichts als einen starken Verdacht, wer der Autor war. Das bedeutete, sie konnte sich irren. Sie musste einen Hinweis geben, ohne sich auf eine einzelne Person zu konzentrieren. Da der Brief das Ergebnis von Informationen war, die von Spionen gesammelt wurden, musste es jemand Wohlhabender sein. Und da Enric und sie das Ziel waren, deutete das ziemlich sicher auf ein Ratsmitglied hin. “…ein gewisser Lord, dessen Namen ich nicht nennen will, da die Wände hier Ohren haben”, schloss sie vage.

Marrin nickte langsam. “Ja, von der Nachricht weiß ich.” Er spitzte die Lippen. “Und seine Majestät wollte, dass Ihr sie zu Gesicht bekommt?”

Sie hob die Schultern. “Nun, nicht aus eigenem Antrieb. Ich wollte sie sehen. Er gewährte mir lediglich die Erlaubnis, einen raschen Blick darauf zu werfen.”

Der Mann seufzte ausgiebig und bückte sich, um aus einem niedrigen Regal hinter ihm eine Akte hervorzuziehen. Er platzierte sie auf seinem Tisch, dann öffnete er den Deckel.

Eryns Augen fanden sofort das ordentliche Stück teuren, cremefarbenen Papiers ganz oben.

“Ich werde mich hier drüben um meine eigenen Angelegenheiten kümmern und bis zehn zählen”, verkündete Marrin und gab vor, sich zu beschäftigen, indem er irgendwelche Bücher verstaute.

Begierig trat sie näher an den Tisch und beugte sich über das Blatt, ohne es zu berühren. Das Erste, was sie las, war der Name ganz unten. Lord Woldarn. Es war nicht schwer zu erraten gewesen, da er ihr wahrscheinlichster Verdächtiger war. Doch Maßnahmen wie die, die Enric vorgeschlagen hatte, erforderten absolute Gewissheit über die Identität des Mannes. Und diese Gewissheit hatte sie nun. Ihre Augen zuckten über die wenigen Zeilen. In wortreichen Sätzen brachte das Ratsmitglied seine Sorge über Lord Enrics vollkommene und unverhohlene Missachtung der Gesetze des Königreichs und damit des Königs zum Ausdruck. Er schrieb, dass er es als seine Pflicht als Bürger erachtete, auf etwas hinzuweisen, dass ebenso gut nichts weiter als ein Versehen eines Kollegen sein mochte, der so viel Zeit in einem anderen Land verbrachte, dass er die Übersicht verlor, wie viel er besaß. Dennoch wollte er aber auch auf die Risiken aufmerksam machen, falls es mehr als nur ein bloßes Versehen war und sich um einen dreisten Versuch handelte, den König herauszufordern.

Eryns Zähne knirschten. Lord Woldarns Fähigkeit zur Manipulation war in etwa so subtil wie ein Vorschlaghammer.

Gerade als Marrin mit seiner vorgetäuschten Geschäftigkeit fertig war, trat sie zurück. Er schloss den Deckel der Akte wieder und verstaute sie, wo er sie herausgezogen hatte.

Mit einem erleichterten Nicken lächelte sie den Mann an, dankbar für seine Hilfe – und gleichzeitig fühlte sie sich schlecht, weil sie ihn ausgetrickst hatte. Der König würde ihm deswegen keinen Vorwurf machen, oder?

Mit einem Winken zum Abschied trat sie zur Tür, zögerte dann aber. Sie fühlte sich wirklich schuldig. Langsam drehte sie sich um und entschied, ihn zumindest zu warnen indem sie ihn wissen ließ, dass er sich gerade übertölpeln hatte lassen.

“Weißt du”, meinte sie langsam, “es war schon einmal schwieriger, dich in die Irre zu führen.”

Zu ihrer Überraschung durchlebte Marrin keinerlei Moment der Erkenntnis gefolgt von einem schweren Schock, sondern grinste lediglich. “Oh, das ist es im Allgemeinen auch. Heute jedoch wurde ich explizit angewiesen, besonders leichtgläubig zu sein. So sehr, dass sogar eine dermaßen unbeholfene Lügnerin wie Ihr selbst eine Chance hat.”

Eryn blinzelte und starrte ihn einen Moment lang an. Dann ließ sie den Atem entweichen. “Er wusste, dass ich kommen würde. Verdammt soll er sein! Ist er überhaupt wirklich fort?”, fragte sie und nickte zu seiner Tür.

Marrin zuckte mit den Schultern, amüsiert über ihren Unmut, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie nicht so gewitzt war wie sie gedacht hatte. “Möglicherweise. Nun fort mit Euch, Lady Eryn, und holt Euren Sohn ab. Was allerdings interessant ist, denn laut meinen Informationen ist der Unterricht für die erste Klasse heute bereits seit zwei Stunden vorüber.”

Eryn knirschte mit den Zähnen und schlüpfte in den Korridor hinaus. Nun streute er auch noch Salz in die Wunde.

*  *  *

Enric versuchte, das Gefühl von Widerwillen, das er von Eryn durch das Geistesband empfing, zu ignorieren. Die Ratsversammlung war nun schon seit zwei Stunden im Gange, und sie waren mit Tyront übereingekommen, dass Eryns Bekanntgabe von Lord Woldarns unmittelbarer Zukunft den Abschluss bilden würde.

Es bedurfte keiner aufwändigen Überzeugungsarbeit, damit Tyront dem von Enric angeregten Vorgehen zustimmte. Er sah die Notwendigkeit für eine entschiedene Maßnahme so klar wie auch sein Stellvertreter. Bis zu einem gewissen Grad wusste auch Eryn, dass es nötig war, allerdings nur auf intellektueller Ebene, keinesfalls auf emotionaler. Noch immer betrachtete sie die Bestrafung als wesentlich härter als es die Taten des Mannes rechtfertigten.

Alles in allem war es bislang eine fruchtbare Versammlung gewesen, sinnierte Enric. Sie hatten Entscheidungen getroffen, wie mit mehreren essentiellen Maßnahmen hinsichtlich der Vorbereitung auf den Krieg fortzufahren war. Eine Gruppe Magier sollte schon am nächsten Tag losgeschickt werden, nach oben in den Norden zu den Bergen, die die natürliche Grenze zwischen Anyueel und Pirinkar bildete. Mit der neu erlangten Fähigkeit zum Verformen von Gesteinsadern sollten sie in der Lage sein herauszufinden, wie gut sich das Gebirge tatsächlich durchqueren ließ – besonders im Hinblick darauf, dass sich die magische Barriere aus dem Meer irgendwie durch den Fels fortsetzen mochte.

“Wir müssen auf jeden Fall Wachposten platzieren”, beharrte Orrin. “Sollte eine magische Barriere tatsächlich der Grund sein, weshalb sich die Berge bislang jedem Versuch sie zu überwinden widersetzt haben, würde das ein vollkommen neues Problem darstellen. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie versiert die Loman Ergen im Umgang mit magischen Barrieren sind. Bislang mögen sie noch keinen Grund dafür gesehen haben, die Barriere zu bearbeiten, wenn wir einmal davon ausgehen, dass sie dazu in der Lage wären. Doch Etor Gart würde diese Fähigkeit ohne Zweifel für sich zu nutzen wissen.”

“Wenn wir allerdings keine Spur einer magischen Barriere finden, wären Außenposten vollkommen unnötig”, warf Lord Seagon ein. “Die Berge wären dann für sie ein natürliches Hindernis – ebenso wie für uns. Ich bin überzeugt, dass wir andernfalls bereits vor langer Zeit Besucher aus Pirinkar hier auf unserer Seite der Berge gehabt hätten.”

“Suchtrupps aus den Westlichen Territorien haben unser Land mehrere Jahre lang auf der Suche nach Lady Eryn durchstreift, ohne dass man sie jemals bemerkt hat”, widersprach Enric. “Was bedeutet, wir könnten ebenso unfähig gewesen sein, irgendwelche gut verkleideten Besucher von der anderen Seite der Berge zu entdecken.”

Orrin nickte und fügte hinzu: “Außerdem wissen wir nicht, ob unter den Loman Ergen jemand die Fertigkeit besitzt, in der Lady Eryn uns erst kürzlich unterwiesen hat. Womöglich sind sie ebenfalls in der Lage, Gesteinsschichten zu verformen und können somit massive Felsformationen aus dem Weg räumen so wie wir das nun vermögen.”

Eryn räusperte sich. “Ich würde sogar nahelegen, dass wir von dieser Annahme ausgehen. Zu hoffen, dass niemand von ihnen eine Fertigkeit besitzt, die ich ohne großen Aufwand entdeckt habe, wäre grob fahrlässig. Ich stimme Lord Orrin zu – wir sollten genügend Beobachtungsposten einrichten, um die Berge im Auge behalten zu können.”

Lord Seagon runzelte die Stirn. “Das würde eine Menge Männer erfordern, da wir uns nicht einfach darauf beschränkten könnten, ein paar Pässe zu beobachten, sondern die gesamte Länge des Gebirgszugs im Auge behalten müssten. Sie könnten praktisch überall einen Durchgang erschaffen. Wir haben gerade eine respektable Anzahl unserer Magier in die Westlichen Territorien entsandt, also sind unsere Leute bereits recht dünn gesät.”

“Das ist richtig”, stimmte Enric zu. “Aus diesem Grund würde ich vorwiegend Soldaten ohne Magie in den Norden auf Beobachtungsposten schicken. Zusätzlich schlage ich vor, dass Seine Majestät so viele Jäger wie möglich in die Armee einberuft und sie gemeinsam mit den Soldaten losschickt. Sie sind in der Kunst der Tarnung bewandert, haben Ahnung vom Fährtenlesen und kennen sich in den Wäldern aus.”

“Ich werde Seiner Majestät gegenüber eine entsprechende Empfehlung aussprechen, sobald wir hier fertig sind”, versprach Tyront und vermerkte es auf dem Blatt Papier vor sich. Er sah Eryn direkt an und forderte sie so wortlos dazu auf, das Wort zu ergreifen.

Sie schluckte und hüstelte. “Eine Sache wäre da noch. Wir haben eine Gruppe von Ordensmagiern und ein paar Soldaten aus Takhan oben beim Gebirgspass zwischen den Westlichen Territorien und Pirinkar stationiert. Soweit ich im Bilde bin, befinden sich darunter keine erfahrenen höherrangigen Magier, die moralische Unterstützung leisten und als Beispiel an Stärke und Ruhe dienen sollten, falls es dort wahrhaftig zu einem Angriff käme.”

Abgesehen von ein paar wenigen Auserwählten, die wussten, was nun kam, reagierten die anwesenden Ratsmitglieder darauf entweder mit gerunzelten Stirnen oder hochgezogenen Brauen. Darunter auch Orrin. Er war nicht darüber informiert worden, was gleich verfügt werden würde.

“Ihr schlagt doch wohl nicht vor, dass jemand von uns dort hingehen und an der Grenze Wache stehen soll, oder etwa doch?”, kam eine skeptische Stimme. “Jeder Einzelne von uns ist sicherlich hier, wo wir in der Position sind, strategische Entscheidungen zu treffen, nützlicher als dort oben mitten im Nirgendwo.”

“Dem widerspreche ich”, entgegnete Eryn, genau wie sie es vorbereitet hatte. “Diese Leute mitten im Nirgendwo, wie Ihr es nennt, sind direkt an der Front und werden es sehr wahrscheinlich als Erste erfahren, wenn der Feind sich zu einem Angriff entscheidet. Sie müssen in einer geistigen Verfassung sein, das zu tun, was von ihnen erwartet wird – nämlich die Vögel nach Takhan freizulassen. Sollten sie in Panik verfallen und das nicht schaffen oder überrannt werden, bevor sie die Käfige erreichen, könnte das die Gefahr erhöhen, dass Takhan fällt.”

“Ich verstehe”, erwiderte Lord Woldarn, “Somit meldet Ihr Euch also freiwillig dafür, dorthin zu gehen? Ihr denkt, Ihr wärt in der Lage, etwas zu bewirken, um das Desaster abzuwenden, den Soldaten als Inspiration zu dienen und dann als Heldin zurückzukehren? Ich will zugeben, dass Eure Magie ungewöhnlich stark ausgeprägt sein mag, doch das ist kaum eine Garantie dafür, dass Ihr einen kühlen Kopf bewahren oder als taugliches Vorbild dienen könnt. Ihr seid keinesfalls die Anführerin, für die Ihr Euch haltet.”

Eryn seufzte. Er machte es ihr viel zu leicht. “Oh, ich würde solche Vorzüge niemals ungebührlich für mich selbst beanspruchen. Und ich bin sehr froh darüber, dass Ihr und ich darin übereinstimmen, dass eine Person mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen als meinen eigenen und natürlich mit wesentlich mehr Erfahrung eine ideale Wahl für diese noble Aufgabe wäre.” Sie pausierte kurz, nahm einen tiefen Atemzug und verkündete: “Ich beantrage die Entsendung von Lord Woldarn, der sich der Herausforderung offensichtlich bewusst ist und jedenfalls über sämtliche erforderlichen Qualifikationen verfügt.”

Stille trat ein.

Enric wartete einige Herzschläge lang und ließ die Aussage einsinken. Dann nickte er. “Ich stimme zu. Ein ranghohes Ratsmitglied zu senden, das sicherstellt, dass sich dieser wichtige Außenposten in fähigen Händen befindet, wird ein mächtiges Zeichen unseres Einsatzes sein. Es wird das Vertrauen unserer Verbündeten in uns stärken. Und für diesen Einsatz kann ich mir niemand passenderen als Lord Woldarn vorstellen. Außer es gibt sonst noch jemanden, der sich freiwillig dafür melden möchte?” Genau wie er es erwartet hatte, wurde keine einzige Hand gehoben. Niemand wollte in die Wüste entsandt werden, einen Gebirgspass bewachen und sehr wahrscheinlich das erste Ziel sein, das angegriffen werden würde.

Er ignorierte Orrins stechenden Blick. Der Krieger hegte unverkennbar den Verdacht, dass hier mehr vor sich ging als es den Anschein hatte.

Lord Woldarns Gesicht hatte alle Farbe verloren. Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals, doch bevor er es schaffte, ein einziges Wort hervorzubringen, sprach Tyront.

“Dann ist diese Angelegenheit entschieden. Lord Woldarn, Ihr werdet Euch darauf vorbereiten, in drei Tagen die Reise zum nördlichsten Außenposten der Westlichen Territorien anzutreten. Der Rat wird selbstverständlich zu Eurer Verfügung stehen, solltet Ihr Unterstützung benötigen, um Eure Angelegenheiten zu ordnen. Ich weiß, das ist kurzfristig, doch wie Ihr zustimmen werdet, haben wir keine Zeit zu verlieren. Botschafter Ram’kel wird Euch sicher gerne beraten hinsichtlich passender Kleidung, die Ihr in diesem ungewohnten Klima unter Eurer Robe tragen könnt.” Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die anderen im Saal. Die meisten von ihnen waren schockiert, doch einige von ihnen blickten von Eryn zu Lord Woldarn und vermuteten eindeutig, dass er für etwas bestraft wurde – und zwar mit aller Strenge. Niemand erhob Einspruch, keiner wollte zwischen die drei höchsten Ordensmagier und das Ziel ihres vereinten Zorns geraten.

“Damit ist die heutige Versammlung beendet”, verkündete der Anführer des Ordens schließlich. Lord Woldarns einzige Reaktion bestand darin, Lord Tyront in ultimativem Unglauben anzustarren.

Die anderen Magier beeilten sich, die Ratshalle zu verlassen. Orrin wirkte als wäre er viel lieber noch geblieben und hätte ein paar Antworten eingefordert, doch ein Blick in Enrics Gesicht legte ihm nahe, sich noch eine Weile in Geduld zu üben und zu gehen.

Enric, Eryn und Tyront blieben zurück bei Lord Woldarn, der nun in kurzen, keuchenden Zügen atmete. Sie warteten.

Nach einigen Minuten hob Lord Woldarn seine zitternde Hand und richtete seinen Zeigefinger auf Eryn. Zuerst war seine Stimme schwach, gewann aber an Stärke mit jedem Wort, das er von sich gab. “Ihr! Das wart Ihr! Ihr wollt, dass ich in der Wüste abgeschlachtet werde! Ihr habt Angst vor mir! Genau das denken die anderen Ratsmitglieder jedes Mal, wenn ich aufzeige, dass Ihr falsch liegt! Ihr wisst, dass sie Euch nicht respektieren, und anstatt Euch ihren Respekt zu verdienen, versucht Ihr die eine Person loszuwerden, die mutig genug ist, Euch ständig in Erinnerung zu rufen, dass Ihr keinen Platz unter uns verdient, dass Ihr nichts weiter als ein Emporkömmling…”

“Genug”, unterbrach Enric streng. Dieser arme, verblendete Narr. Er dachte wahrhaftig, dass seine abfälligen Bemerkungen und hinterhältigen Versuche ihr zu schaden irgendetwas mit Mut zu tun hatten? Und wie war es möglich, dass er nicht bemerkt hatte, dass sogar Lord Seagon, der Eryn gegenüber mehr als skeptisch gewesen war, ihr nun mit dem Respekt begegnete, den ihr Rang und vor allem ihre Fähigkeiten verdienten? Natürlich, Lord Seagon stellte ihre Argumente in Frage, jedoch auf fachgemäße Weise ohne den Versuch, ihren Ruf oder ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören.

Eryn war einfach nur dagestanden und hatte sich die Anschuldigungen schweigend angehört. Sie sah den Mann, der noch vor einigen Sekunden kreidebleich gewesen war, nur an. Mittlerweile war sein Gesicht stark gerötet.

Lord Woldarn wandte sich Enric zu. “Natürlich steht Ihr bei Fuß und bellt jeden an, der es wagt, seine Stimme gegen sie zu erheben, so wie der armselige Hund, der Ihr seid!”

Langsam erhob sich Tyront von seinem Platz, seine Handflächen auf dem ovalen Tisch vor sich abgestützt. Seine Miene strahlte eine tödliche Ruhe aus.

“Und ich, mein Lord? Was ist es, das Ihr mir zu sagen habt, weil ich die Idee Eurer Entsendung unterstützt habe?”

Lord Woldarn öffnete seinen Mund, doch die leise Drohung in der Haltung seines Vorgesetzten und dessen frostiger Blick schienen ihn überdenken zu lassen, ob es weise war, sein Gift in diese spezielle Richtung zu versprühen.

Als keine Antwort kam, fuhr Tyront fort: “Ihr wisst, weshalb Ihr derjenige seid, der dorthin entsandt wird, Lord Woldarn. Ihr habt nun schon seit langer Zeit mit dem Feuer gespielt. Ihr habt Eure Vorgesetzten beleidigt und hinter ihrem Rücken Ränke geschmiedet… Was dachtet Ihr, wozu das schlussendlich führen würde? Dass man Lady Eryn aus dem Rat entfernt, da Ihr behauptet, niemand darin würde sie respektieren? Ihr habt ihre Autorität offen untergraben, und diese Entsendung ist der Preis, den Ihr dafür bezahlen werdet. Der Gedanke dahinter ist nicht, Euch in den Tod zu schicken, Lord Woldarn. Der Orden schickt niemanden absichtlich in den sicheren Tod. Noch nicht einmal jene, die Insubordination in einem so umfangreichen Ausmaß betrieben haben wir Ihr selbst. Das hier ist als bedeutende Unbequemlichkeit für Euch gedacht – aber gleichzeitig auch als Chance, Euch wieder etwas Respekt zu verdienen. Entgegen dem, was Ihr zu glauben scheint, Lord Woldarn, war es nicht Lady Eryn, die den Respekt Eurer Kollegen verloren hat, sondern Ihr. Ganz im Gegenteil – ihre Zurückhaltung wurde entweder bewundert oder als übertrieben erachtet.” Er richtete sich auf zum Signal, dass seine nächsten Worte die Angelegenheit hier abschließen würden. “Ihr könnt selbstverständlich eine Beschwerde einreichen. Doch ich kann Euch versprechen, dass diese lediglich zur Kenntnis genommen, aber nicht zu einem Zurückziehen des Befehls, den Ihr erhalten habt, führen wird. Einen guten Tag auch, Lord Woldarn. Ich vertraue darauf, dass Ihr Euren Eid an den König ehren und bei der Verteidigung seines Königreichs Eure Pflicht tun werdet.”

Tyront wandte sich vom Tisch ab, an dem Lord Woldarn saß, als hätte ihn der Blitz getroffen. Er gab seiner Nummer zwei und drei ein Zeichen, damit sie ihm aus der Ratshalle hinaus folgten. Zumindest konnten sie ihrem Kollegen ein wenig Privatsphäre gönnen, während er mit seiner Verzweiflung rang.

»Ende der Leseprobe«

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„Schwierige Nachbarn“ – Der Orden: Buch 7

Kapitel 1

Unterwegs

Enric bemerkte die Verwirrung und den Unmut auf dem Gesicht seiner Gefährtin, als der grüne Fleck, der schon vor einer Weile in Sichtweite gekommen war, nicht in dem Ausmaß wuchs, wie sie es erwartet hatte. Er erinnerte sich noch gut an seinen eigenen ersten Eindruck von vor ein paar Jahren, als er und Vran’el sich dieser speziellen Oase genähert hatten. Nach zwei Tagen des Reitens durch die Wüste hatte es ihn nach irgendeinem Stückchen Grün gedürstet, nach Bäumen, nach Schutz vor der erbarmungslosen Sonne – in der Stadt kaum mehr als ein Ärgernis, sofern man zur heißesten Tageszeit nach draußen musste, hier draußen jedoch eine echte Gefahr.

“Das ist es?”, stöhnte sie. “Warum hast du behauptet, das sei der Höhepunkt auf unserem Weg durch die Wüste? Ich sehe hier keine große Verbesserung zu den Lagern, in denen wir die letzten beiden Nächte verbracht haben! Das ist einfach nur grausam! Nie wieder werde ich dir irgendetwas glauben!”

Er erwiderte nichts auf ihr Gejammer. In ungefähr einer Stunde würden sie das Lager von Malriels Cousin erreichen, und dann würde sie sehen, dass er ihr keineswegs einen grausamen Streich gespielt hatte. Und er war in diesem Moment zu erschöpft, um mit ihr zu debattieren. Genau wie ihm selbst, so würde es auch ihr schwerfallen, aufgrund bloßer Worte zu glauben, dass dies eine ausgedehnte Oase war, ein kleines Paradies inmitten ausgedehnter Flächen nicht enden wollenden Sandes, Felsen und Luft, die vor Hitze flimmerte, wo auch immer man hinsah.

Zwei Tage des Reitens durch die Wüste mit ihr war alles andere als ein pures Vergnügen gewesen. Obgleich das nicht allein ihre Schuld war. Wenn es kaum etwas gab, mit dem sich das Auge ablenken ließ, dann hatten die Gedanken Zeit zu wandern. Was sich als wenig angenehm erwies, wenn man gerade seinen Sohn zurückgelassen und viel Zeit hatte, ihn zu vermissen und sich zu fragen, was er gerade tat, zu überlegen, ob er wohl in genau diesem Moment betrübt war.

Sie hatten damit begonnen, Erbáls Code für die Nachrichten nach und aus Kar auswendig zu lernen. Zum einen, um diese unbedingt erforderliche Aufgabe zu erledigen, und andererseits auch, um zumindest ein wenig der Zeit sinnvoll zu nutzen.

“Wie buchstabieren wir Worte, für die wir kein Codewort haben?” kehrte er zu diesem Thema zurück. Diese letzte Stunde konnten sie ebenso gut dafür heranziehen.

“Ich weiß es nicht.”

“Du hast nicht einmal überlegt. Komm schon. Das ist einfach.”

Sie seufzte und dachte einen Moment lang nach, dann gab sie ihm Recht indem sie antwortete: “Wenn der Satz mit dem Wort Ich beginnt, dann zeigt das, dass er etwas buchstabieren wird, indem er in den folgenden Worten des Satzes Buchstaben versteckt.”

“Welches Schema zieht er dafür heran?”

Sie schloss die Augen und versuchte, sich selbst in ihrem Arbeitszimmer in Anyueel zu sehen, wo alles in Holz eingebrannt war. “Letzter Buchstabe des ersten Wortes, erster Buchstabe des zweiten, vierter Buchstabe des dritten, dritter Buchstabe des fünften, und dann beginnt es wieder von vorne. Da steckt keinerlei Logik dahinter! Wie soll man sich das alles merken?”

“Das ist der Sinn dahinter, Liebste. Alles, was einer bestimmten Logik folgt, kann durch rationales Denken und genug Informationen über eine Person entschlüsselt werden. Er vermeidet es nach Möglichkeit, regelmäßige Muster einzusetzen. Ganz ohne sie kommt er nicht aus, doch er reduziert sie so stark, dass es keinesfalls reichen würde, nur die regelmäßigen Muster zu kennen, um irgendwelche nützlichen Informationen aus einer Nachricht zu ziehen. Sie zeigen lediglich an, dass noch mehr Informationen nachfolgen. Die tatsächliche Information zu erkennen ist die eigentliche Herausforderung. Also, welche Bedeutung hat das Wort Haus, wenn es nur ein einziges Mal in der Nachricht vorkommt?”

“Gefahr,” antwortete sie ohne Zögern. Daran erinnerte sie sich ohne Schwierigkeiten. Es war Teil seiner jüngsten Nachricht an sie gewesen, wo er sie über den anstehenden Anschlag auf Königin Del’na’bened informiert hatte.

“Und wenn es zweimal benutzt wird?”

“Geheimnis. Eine weitere Kombination für diese Bedeutung wäre auch Nachricht und lesen im gleichen Satz.”

“Sehr gut. Warum hat er mehrere Kombinationen für das gleiche Wort?”

“Weil es nicht offensichtlich werden soll, dass Informationen versteckt sind, indem die gleichen Worte zu häufig benutzt werden,” wiederholte sie gehorsam, was er ihr am ersten Tag ihrer Reise erklärt hatte.

“Welche Worte sind ein dringender Hilferuf?”

“Unglaublich müde oder vernachlässigbar.”

“Wie bezieht er sich auf die Regierung in Kar?”, fragte er weiter.

“Ich weiß es nicht mehr.”

“Familie. Wie nennt er die dortigen Magier?”

“Ich kann mich nicht erinnern! Die Sonne brät mein Gehirn, also lass mich zufrieden, sofern du es zumindest einen Augenblick lang aushalten kannst, untätig zu sein”, schnauzte sie ihn mit einer Mischung aus Frustration und Verdruss an.

Enric beugte sich ihrem Wunsch. Er hatte sie ein wenig ablenken wollen, doch das war offenkundig nicht zielführend.

Ein paar Minuten lang ritten sie schweigend weiter, bevor sie auf den Mann zu sprechen kam, der ihnen in ihrer letzten Nacht in der Wüste Unterschlupf gewähren würde. “Du hast gesagt, Ganel sei Malriels Cousin. Und dass er eine Menge Gefährtinnen und Kinder hat.”

“Das letzte Mal, als ich ihn sah, hatte er sechs Gefährtinnen und mehr als dreißig Kinder. Jetzt könnten es mehr sein.”

Voller Unverständnis schüttelte Eryn den Kopf. “Wie kann irgendeine Frau zustimmen, lediglich eine von mehreren Gefährtinnen zu sein? Wurden sie alle dazu gezwungen?”

“Das mag in manchen Stämmen noch der Fall sein, doch zum Glück ist das mittlerweile eher unüblich. In Ganels Fall habe ich mir sagen lassen, dass er niemals eine Frau an sich bindet, die nicht willens ist, mit ihm in der Oase zu leben und ihn mit einigen anderen Gefährtinnen zu teilen. Er ist kein grausamer Mann, der Frauen und Kinder wie Trophäen sammelt. Auch wenn man das nicht glaubt, wenn man zum ersten Mal hört, dass er von beiden so viele hat. Malriel sagte mir, dass drei von ihnen zuvor an andere Männer gebunden waren und schreckliche Misshandlungen erdulden mussten. Mit Ganel können sie sich vorwiegend mit anderen Frauen umgeben und müssen nicht öfter mit ihm schlafen, als ihnen lieb ist, da es genug andere Frauen gibt, die dieses Bedürfnis erfüllen. Ein seltsames Arrangement, wie ich zugebe. Sicher keines, das ich mir für mich selbst vorstellen könnte. Doch solange alle Beteiligten damit zufrieden sind, werde ich nicht urteilen.”

Eryn erwiderte nichts darauf, sondern versuchte sich vorzustellen, wie deren Leben aussehen mochte. Besonders in diesem kleinen grünen Fleck vor ihnen. Wie passten sie dort überhaupt alle hinein?

Enric hing seinen eigenen Gedanken nach und stellte sich vor, dass sein Sohn in diesem Moment wahrscheinlich sein Mittagsessen einnahm. Wohl mit Pe’tala und seiner Cousine Zahyn. Malriel würde zu dieser Tageszeit beschäftigt sein, wie auch Valrad und Rolan in der Klinik. Er dachte an Orrin. Ob er wohl verärgert darüber war, dass man ihn ohne seine Familie nach Takhan geschickt hatte und er sein eigenes Kind zurücklassen musste, um den Sohn seines Vorgesetzten zu beschützen?

“Was ist das? Noch eine?”, hörte er Eryn fragen und blickte auf.

Ah ja, sie hatten den Punkt erreicht, wo auch das andere Ende der Oase sichtbar wurde, nicht jedoch der Mittelteil, der sich von ihnen weg krümmte und somit noch nicht erkennbar war. Noch sah all das nach zwei nicht verbundenen Flecken mit kärglichem Bewuchs aus.

“Nein, das ist das andere Ende der Oase. Sie ist wie ein Halbmond geformt. Bald erreichen wir das eine Ende und können dann den Bäumen und Büschen bis zu ihrer Mitte folgen. So haben wir zumindest ein wenig Schatten.”

Wenig später erreichten sie die ersten paar mickrigen Palmen. Dazwischen bedeckten allem Anschein nach vertrocknete Büsche den Untergrund. Je weiter sie vordrangen, desto dichter und üppiger wurden die Palmen.

Eryn spielte damit, im Stillen die Sekunden von einem schattigen Punkt zum nächsten zu zählen. Sie bemerkte, wie ihr Pferd jedes Mal zu verweilen versuchte, wenn sie einen weiteren hohen Baum erreichten, der Schutz vor der Sonne bot.

Nach einer Weile offenbarte sich das gesamte Ausmaß der Oase. Sie näherten sich nun der breiten Mitte und konnten erkennen, wie sich die Baumlinie vom dem einen Ende, das sie als erstes gesehen hatten, zu dem anderen weit entfernten erstreckte.

“Sieh dir das an! Sie ist riesig!”, staunte Eryn und spürte, wie ihre gute Laune zurückkehrte. “Vielleicht war ich etwas voreilig damit, dass ich dir niemals wieder irgendetwas glaube”, fügte sie entschuldigend hinzu.

“Ich bin froh das zu hören”, erwiderte Enric großmütig und deutete nach vorne zu ein paar Bauten, die noch nicht im Detail erkennbar, aber jedenfalls von Menschenhand geschaffen waren. “Siehst du das? Wir sind schon fast da.” Er dachte an den Teich mit dem Wasserfall, in den er und Vran’el kurz nach ihrer Ankunft hier auf ihrem Rückweg eingetaucht waren. Eryn gegenüber hatte er nichts davon erwähnt. Er wollte ihr Gesicht sehen, wenn er sie dorthin brachte.

Die Umrisse der Zelte und wenigen Steinbauten, von denen Enric wusste, dass sie als Lagerplatz dienten, wurden immer deutlicher, je näher sie kamen.

Eryn pfiff durch die Zähne. “Das sieht fast wie ein Dorf aus!”

“Ja, ich denke, damit könnte man es vergleichen. Sie haben extra Zelte zum Kochen, Essen, für den Unterricht der Kinder, einige Schlafzelte für die Kinder, und das riesige dort drüben gehört Ganel. Dort empfängt er seine Gäste.”

“Die Gefährtinnen teilen sich auch ein großes Zelt, in dem sie alle schlafen? Oder wohnen sie in seinem?”, fragte sie und überlegte, wie angenehm es wohl sein konnte, den Geräuschen zuhören zu müssen, die während des Geschlechtsverkehrs mit der Frau entstanden, mit der er sich entschieden hatte die Nacht zu verbringen.

“Nein, keineswegs. Ganz im Gegenteil. Jede davon hat ihr eigenes Zelt. Ich kann dir nicht sagen, wie sie von innen aussehen. Vermutlich hätte es zu Missverständnissen geführt, wenn ich darum gebeten hätte, mir eines davon ansehen zu dürfen.”

“Ich bin froh zu hören, dass du dermaßen große Zurückhaltung an den Tag gelegt hast, wenn es darum ging, die Schlafquartiere anderer Frauen zu inspizieren”, erwiderte sie in einem Tonfall, der zu lieblich klang um echt zu sein.

Schließlich erreichten sie die Siedlung und wurden von zwei Frauen in fließenden Wüstengewändern begrüßt, von denen eine ein etwa dreijähriges Kind auf ihrer Hüfte trug. Eine von ihnen schien etwa Mitte zwanzig zu sein, die andere mit dem Kind sah etwa zwanzig Jahre älter aus. Ihre Kleidung wirkte schlicht, aber von guter Qualität und sauber, ebenso wie die des Kindes.

“Seid willkommen”, meinte die Ältere von beiden und lächelte zu ihnen empor. “Steigt ab und erlaubt mir, mich um eure Tiere zu kümmern. Nach diesem langen Ritt durch die Wüste müssen sie erschöpft sein. Ebenso wie auch ihr. Mein Name ist Mial, ich bin Ganels Gefährtin.” Sie berührte die andere Frau am Arm und stellte sie vor. “Das ist Rior, Ganels Gefährtin.” Dann verengten sich ihre Augen leicht, als sie Enric betrachtete, als würde sie überlegen, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte.

“Einen guten Tag, meine Damen. Wir danken euch für eure Gastfreundschaft. Das ist meine Gefährtin Maltheá, und ich bin Enric.”

“Eryn”, murmelte Eryn in seine Richtung.

“Nein, hier nicht”, antwortete er ebenso leise, bevor er abstieg.

Überrascht sah Eryn die Frau an, die sie begrüßt hatte, als diese in Gelächter ausbrach. “Aber natürlich! Enric! Das letzte Mal warst du mit Valrads Sohn hier! Ihr wart so unklug, mit Ganel zu trinken und saht am nächsten Morgen aus, als würdet ihr jeden Augenblick umfallen. Und du bist nackt durch das Lager gerannt! Niemand von uns hat jemals zuvor einen gelbhaarigen Mann gesehen, und dann gleich so viel von ihm auf einmal!”

Eryn starrte die Frau an, dann Enric, und sah zu ihrer unendlichen Überraschung, dass er tatsächlich – errötete! Es gab ein paar seltene Gelegenheiten, bei denen ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen war, nie jedoch hatte sie bislang gesehen, dass ihm das Blut vor Verlegenheit in die Wangen stieg! Sie fand es großartig und begann ebenfalls zu lachen.

Nach einigen Sekunden, während derer sie sich an ihren Sattel klammerte, um nicht vor Belustigung zu Boden zu stürzen, schaffte sie es schließlich unbeschadet nach unten.

“Herrlich, davon hat er mir nie erzählt! Wir sollten uns zusammensetzen und reden, Mial.”

Mial lächelte und übergab Eryn den Jungen als wäre es das Natürlichste auf der Welt, vollkommen Fremden den Nachwuchs anzuvertrauen. Auch das Kind wirkte keineswegs beunruhigt darüber, dass es sich auf dem Arm einer Frau wiederfand, die es noch niemals zuvor gesehen hatte, sondern schenkte ihr ein Lächeln, das zwei Zahnlücken entblößte. Eryns Herz schmolz dahin.

“Es wird mir ein Vergnügen sein. Wenn du kurz auf unseren Kleinen achtest, kümmere ich mich um eure Pferde.” Ohne auf eine Antwort zu warten ergriff sie die Zügel aller drei Tiere und führte sie davon.

“Kommt”, lud Rior sie nun ein, “ich bringe euch zu Ganel. Ich weiß, dass er sich schon auf euch freut, seit Malriel ihm einen Vogel mit der Ankündigung eurer Ankunft geschickt hat.” Ihr Blick verweilte auf Eryn. “Du siehst ihr wirklich sehr ähnlich. Aber ich bin sicher, dass sagt man dir ständig.”

Eryn lächelte höflich. Das stimmte. Und sie hasste es.

Sie ließen sich zu dem großen Zelt führen, das sie bereits aus der Ferne erspäht hatten. Rior trat als Erste ein und schob die schweren Vorhänge beiseite.

“Ganel? Unsere Gäste sind hier.”

Eryn und Enric folgten ihr ins Innere, wo sie erst ein paar Augenblicke benötigten, um ihre Augen vom gleißenden Sonnenlicht auf das vergleichsweise dämmrige Licht im Zelt umzustellen.

Rior trat an einen Mann, der auf einem Haufen schon beinahe lächerlich prächtig bestickter Kissen leise schnarchend vor sich hindöste, und stieß ihn mit ihrem Fuß an. Nicht grob, doch auf eine Weise, die ihr zweifellos seine Aufmerksamkeit sichern würde.

“Ganel, steh auf und begrüße deine Gäste! Du wusstest, dass sie um Mittag herum eintreffen sollten, wie kannst du also einfach einschlafen?”

Eryn blinzelte bei dem Anblick eines Mannes, der wohl in seinen Sechzigern oder Siebzigern sein musste, und von seiner Gefährtin gescholten wurde, die jung genug war, um seine Tochter zu sein. Oder sogar seine Enkelin.

“Du hast absolut Recht, meine kleine Wüstenblume”, gab er etwas taumelig von sich und rappelte sich tollpatschig auf, bis er stand. Seine Miene erhellte sich. “Enric! Und die kleine Maltheá! Da seid ihr ja!” Er trat auf Eryn zu, nahm ihr den Jungen vom Arm und reichte ihn an Rior weiter, bevor er sie ohne Vorwarnung in eine herzliche Umarmung zog. “Ich habe so viel von dir gehört!” Er hielt sie auf Armeslänge und nahm ihren gesamten Anblick in sich auf, soweit dies in ihrer Kleidung möglich war. “Und sie haben Recht! Unter tausend Frauen könnte ich dich herauspicken, sogar unter zehntausend!” Er umfasste ihr Kinn und drehte es hin und her. “Erstaunlich! Malriels Gesicht, allerdings… Die Nase ist nicht ganz identisch. Darin steckt ein wenig Vel’kim.”

Sanft aber entschieden schloss Eryn ihre Finger um sein Handgelenk und senkte seine Hand. “Ganel, es ist mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen. Ich schätze deine Gastfreundschaft wirklich sehr, besonders, da ich erst kürzlich erkannt habe, dass ich nicht für die Wüste gemacht bin. Aber wenn du nicht aufhörst, mich wie eine Stute auf dem Pferdemarkt zu behandeln und deine Hand nicht von meinem Gesicht fernhältst, werde ich sie dir brechen. Nicht lange, wohlgemerkt. Ich würde sie wieder heilen. Aber wehtun würde es dennoch. Dir, versteht sich – ich würde gar nichts spüren.”

Ganel starrte sie an, dann stieß er ein bellendes Lachen aus. “Ah, es ist, als käme ich nach Hause! Ich fürchte den Tag, an dem ich einer zahmen Aren begegne! Das wird mein Tod sein! Furchteinflößender Haufen, aber so belebend!”

“Du bist doch ebenfalls Aren, oder nicht?”, fragte Eryn verwirrt. Bisher hatte sie nur Mitglieder anderer Häuser und ein paar unerschrockene Menschen ohne den Schutz eines Hauses, das ihr vorzeitiges gewaltsames Dahinscheiden zu rächen vermochte, auf diese Weise von Aren-Frauen sprechen gehört.

“Selbstverständlich. Deshalb kenne ich sie auch so gut.” Einen Augenblick lang wurde sein Gesichtsausdruck verträumt. “Du hast meine Tante, Malhora, kennengelernt, nicht wahr? Sie ist eine Legende. Ich höre, dass die Leute immer noch nervös werden, wenn sie die Stadt besucht. Aber du machst dich auch nicht übel, wenn man den Geschichten glauben darf. Zerstörung des Senatsgebäudes, was?”

“Nicht das gesamte Gebäude, bloß das Dach”, korrigierte sie ihn mit einem leicht mulmigen Gefühl. Dieser Vorfall war eine Warnung, eine Erinnerung daran, was passierte, wenn eine mächtige Magierin die Kontrolle über sich verlor. Sie betrachtete dies keineswegs als einen ihrer glorreicheren Momente. Somit hieß sie es auch nicht gut, wenn es als bewundernswerte Tat dargestellt wurde anstatt als die gefährliche Niederlage, die es tatsächlich war.

Er winkte ab. “Das tut nichts zur Sache. Du hast uns allen etwas gegeben, woran wir uns erinnern können, und Arens werden gerne mit mächtigen Taten in Verbindung gebracht.” Er wandte sich Enric zu und umarmte ihn ebenfalls. “Mein hellhaariger Freund! Ich bin entzückt, dich wieder einmal in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen!”

Enric grinste und antwortete in einer Weise, bei der er wusste, dass sie Ganel erfreuen würde. “An deinem Heim ist nichts bescheiden, mein Freund. Es ist eine schamlose Demonstration, wie unglaublich erfolgreich du bist, und erweckt den Neid eines jeden, der das Glück hat, hier willkommen zu sein.”

Der ältere Mann lachte. “Ich gebe zu, dass ich nicht von Armut geplagt bin, doch nachdem du zwei Tage lang nichts als Sand gesehen hast, würdest du sogar ein Stück Stoff, das zwischen zwei Bäume gespannt wurde, als Luxus betrachten. Lass uns später mehr reden. Ich kann sehen, dass ihr eine Erfrischung nötig habt. Wir haben ein Zelt für euch vorbereitet und werden euch Essen bringen, und auch frisches Wasser, das nicht stundenlang in einem Ledersack war. Hinterher könnt ihr ein Bad nehmen, und dann werden wir uns zusammensetzen und einen angenehmen Abend verbringen.”

Eryn blinzelte, als ihr Gehirn sich zu glauben weigerte worauf ihre Ohren bestanden, sie hätten es gehört. “Ein Bad? Mit… Wasser?”

Ganel warf ihr einen zweifelnden Blick zu. “Ja, Maltheá, so halten wir es in der Regel mit dem Baden in dieser Gegend. Was hast du denn erwartet? Eine Wanne voller Sand?” Er lachte laut über seinen eigenen Scherz, dann sah er Rior an. “Würdest du unsere Gäste bitte zu ihrem Zelt bringen und sichergehen, dass sie versorgt sind? Dafür wäre ich dir sehr verbunden.”

*  *  *

Eryn folgte Mial in Ganels großflächiges Zelt, das den Vergleich mit dem Hauptraum einer takhaner Residenz nicht zu scheuen brauchte, soweit es Komfort und Stil betraf. Jedenfalls war es ebenso geräumig – und sogar luxuriöser. Das ergab sich womöglich aus dem Bedürfnis, einen möglichst starken Kontrast zur trostlosen Wüste zu schaffen.

Bis auf die beiden Frauen war das Zelt leer. Ganel hatte Enric mit sich genommen um ihm zu zeigen, wo seine Gefährtinnen kunstfertige Stickereien anfertigten, die in der Regel einen guten Preis erzielten. Alwidinar, Stammeshäuptling und Vater der neuen Königin von Anyueel, hatte für das Kommitment-Kleid seiner Tochter ein kleines Vermögen ausgegeben und es mit komplexen Stickereien aus Goldfäden versehen lassen.

Mial bedeutete Eryn, sie solle auf den großen, üppigen Kissen Platz nehmen. Eryn tat wie ihr geheißen und seufzte zufrieden. Sie fühlte sich wie neu geboren. All der Sand, Staub und Schweiß, der an den unangenehmsten Stellen an ihr gehaftet hatte, war nun fort, und ihr Körper war soweit abgekühlt, dass sie sich zur Abwechslung einmal wohlfühlte.

Der Teich, in dem Enric und sie ihr Bad genommen hatten erschien wie aus einer anderen Welt. Das Wasser war so klar gewesen, dass sie bis zum Boden sehen konnten, die Farbe türkis an manchen Stellen, blau an anderen. Der Wasserfall an einem Ende, der das Becken mit kristallklarem, kaltem Wasser füllte, stammte aus dem nahegelegenen Gebirgszug, der die Grenze zu Pirinkar bildete. Das Wasser folgte den Ausläufern der Berge und floss teilweise unterirdisch und rasch genug, um nicht von der Sonne aufgeheizt zu werden.

Sie hatten darin geschwommen und wie ausgelassene Kinder herumgeplanscht. Sie hatte sich erzählen lassen, wie Vran’el Enrics Kleider gestohlen hatte, sodass ihr Gefährte gezwungen gewesen war, vollkommen nackt an all diesen Frauen und Kindern vorbeizulaufen.

Das Bedauern, dass sie diesen wundersamen Ort nicht mit Vedric teilen konnten, hatte einen Moment der Melancholie gebracht. Enric hatte ihr versprochen, mit ihrem Sohn dorthin zurückzukehren und ihm zu zeigen, was es wahrhaftig bedeutete, in der Wüste zu reisen. Und welch wunderschöne Belohnung den Reisenden erwartete, der willens war, den feindseligen, sandigen Weiten zu trotzen.

Ohne zu fragen reichte Mial ihr ein kühles, süßes Getränk. “Ich bin sicher, Ganel und Enric werden bald zurückkehren.”

“Danke. Kannst du dich ein wenig zu mir setzen oder musst du dich dringend um etwas kümmern?”

“Nichts, das nicht warten kann.” Die Frau holte sich selbst ebenfalls etwas zu trinken und nahm dann neben Eryn Platz, bevor sie ein paar Kissen herumschob, um es sich bequem zu machen.

“Kann ich dich etwas fragen? Du musst natürlich nicht antworten. Sag es einfach, falls ich unangemessen neugierig bin,” begann Eryn.

Mial nickte ermutigend.

“Wie gefällt dir das Leben in eurer kleinen Insel mitten in der Wüste? Ich schätze, es gibt nicht viel Gelegenheit für dich, unterwegs zu sein?”

Die ältere Frau lächelte nachsichtig. “Maltheá, wollte ich das Land bereisen, so hätte ich nicht zugestimmt, mich an einen Mann zu binden, der davon beseelt war, in der Mitte von Nirgendwo sein eigenes Reich zu errichten. Das mag nicht jedem zusagen, aber für mich ist es genau das Richtige.”

Eryn betrachtete die andere Frau und fragte sich, ob sie eine der drei Frauen war, die vor ihrem Kommitment mit Ganel misshandelt worden waren. Falls ja, so waren Umstände wie diese, ein stilles Paradies, sehr wahrscheinlich dem, was sie zuvor erdulden hatte müssen, unendlich vorzuziehen.

“Es ist wunderschön hier, das gebe ich zu. Ich wurde von manchen der Häuser auf ihre Plantagen unweit der Berge im Osten und Westen eingeladen, doch nichts, was ich dort gesehen habe, kommt dem nahe, was ihr hier habt. Als ich euren Wasserfall sah, wollte ich meinen Augen nicht trauen.”

“Dann musst du hierher zurückkehren. Mit deinem kleinen Sohn. Malriel besucht uns hin und wieder und erzählt uns immer, wie klug und hübsch er ist.”

Eryn blinzelte. “Das tut sie? Euch besuchen, meine ich.” Sie versuchte sich Malriel in ausgebeulter Wüstenkleidung vorzustellen, anstatt in dem teuren, fließenden Stil, den sie bevorzugte, wie sie freiwillig tagelang zu Pferde unterwegs war, nur um ihren Cousin und dessen zahlreiche Gefährtinnen so weit von der Stadt entfernt zu besuchen.

“Oh, ja. Seit ihrer Reise nach Pirinkar, als sie eine Nacht hier verbrachte, und eine weitere einige Monate später bei ihrer Rückkehr mit Enric und Vran’el, nimmt sie sich ein paar Tage Zeit von ihrem vollen Terminplan, um hierher zurückzukehren. Sie sagt, es sei ein Ort, wo sie sich nicht zu sorgen braucht, wo sie entspannen kann und für kurze Zeit kein Oberhaupt eines Hauses oder eine Triarchin sein muss. Normalerweise tut sie das, wenn ihr auf der anderen Seite des Meeres seid, da sie keine Zeit mit ihrer Familie opfern möchte.”

Eryn nahm einen weiteren Schluck. Malriel war kein Thema, an dem sie festhalten wollte. “Und es macht dir nichts aus, dass Ganel so viele andere Gefährtinnen hat? Ich habe immer nur mit Enric gelebt und fände den Gedanken, ihn teilen zu müssen, ungemein verstörend.”

Mial lächelte. “Es stört mich überhaupt nicht. Wir sind immerhin nicht die Einzigen, die teilen müssen. Er muss uns ebenfalls miteinander teilen.”

Eryn runzelte kurz die Stirn, bevor sie verstand. “Ihr tut also…? Miteinander?”

“Selbstverständlich. Ganel hat im Moment acht Gefährtinnen, also können wir kaum von dem armen Mann erwarten, dass er unser aller Bedürfnisse regelmäßig erfüllt. Er wird auch nicht jünger, und nach einer Weile könnte es ihn umbringen. Nicht alle von uns schlafen mit anderen Frauen, doch die meisten von uns tun es.”

Ach du liebe Güte. Dieses Gespräch ging nicht gerade in eine Richtung, mit der sie sich besonders wohl fühlte. Sie hätte die Frage nicht stellen sollen, wenn sie nicht willens war, sich darin zu vertiefen.

“Aber keine der Frauen hat einen zweiten Gefährten? Dieses Privileg ist Ganel vorbehalten?”

Mial lachte. “Nein, keine. Du denkst, du müsstest uns alle von etwas befreien, das du für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit hältst – ein Mann mit acht Frauen, die für ihn arbeiten müssen, seine Kinder großziehen, alles tun, was er sagt, und uns in seinem Bett abwechseln.”

“Nun, ich…”

“Lass mich dir versichern, dass wir alle dieses Leben freiwillig gewählt haben. Er hat keine Einzige von uns getäuscht hinsichtlich dem, was er von uns erwartet. Für jede Einzelne von uns ist das hier ein viel besseres Leben als das, was uns erwartet hätte, wären wir bei unseren Stämmen geblieben oder das, vor dem wir in manchen Fällen sogar geflohen sind. Ganel ist früher viel gereist und war bei einigen Stämmen zu Gast. Zwei von uns hat er unter beträchtlichem Risiko für ihn selbst befreit, andere suchten ihn auf, und eine von uns wurde von ihrem Vater zu ihm gebracht, der entschied, dass sie dem Stamm Schande gebracht hätte, den Gedanken aber nicht ertragen konnte, sie zu töten.” Sie lächelte. “So sind wir alle hier gelandet. Und deshalb sind wir auch alle dankbar dafür, hiersein zu dürfen. Nur wenige von uns sind in Ganel verliebt, so viel will ich zugeben. Doch wir lieben ihn auf eine andere Weise. Wir schätzen ihn für den Mann, der er ist, für das, was er für uns getan hat, für sein großes Herz. Unsere Kinder sind unser Geschenk an ihn, ebenso wie unsere Bemühungen für das, was er unser gemeinsames Unterfangen nennt und das uns allen den Luxus ermöglicht, den du sonst kaum irgendwo außerhalb der Stadt finden wirst.”

In diesem Augenblick wurden die schweren Vorhänge beiseitegeschoben, und Ganel und Enric traten ein. Eryn war dankbar für ihr Erscheinen und fühlte sich etwas töricht ob der Arroganz, mit der sie diese Frau zu überzeugen versucht hatte, man würde sie kaum besser als eine Dienerin behandeln.

“Ah, welch eine Augenweide”, schmeichelte Ganel, sobald er sie erblickte. “Hattet ihr eine angenehme Wartezeit? Nicht zu angenehm, so will ich hoffen, oder unsere Gesellschaft wäre unwillkommen.”

Mial lächelte. “Ich empfand sie als angenehm. Maltheá ist auf jeden Fall die Tochter ihrer Mutter.”

Eryn war kurz davor zu fragen, weshalb genau man sie auf diese Weise beleidigte, erinnerte sich aber rechtzeitig daran, dass Leute, die Malriel mochten, diesen Vergleich nicht als Beleidigung betrachten würden. Also hob sie nur ihre Augenbrauen und wartete darauf zu hören, was ihre Gesprächspartnerin zu so einem wenig schmeichelhaften Vergleich veranlasst hatte.

“Sie wollte mich überzeugen, dass eine Frau einen einzigen Mann nicht mit so vielen anderen teilen müssen sollte”, lächelte sie, dann ergriff sie Ganels Hand und drückte einen zärtlichen Kuss darauf.

Eryn hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Oder wäre vom Boden verschluckt worden. Beides hätte den Zweck erfüllt. Verlegenheit färbte ihre Wangen rot, und sie setzte dazu an, sich zu erklären.

Doch Ganel warf nur seinen Kopf zurück und lachte mit aufrichtiger Belustigung. “Natürlich! Eine Aren kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie irgendetwas teilen soll – doch ich würde alles, was ich besitze, darauf verwetten, dass sie keinen Einspruch erheben würden, wäre es umgekehrt – wäre ich einer von acht Gefährten einer Frau.”

Eryn wollte widersprechen, schloss aber ihren Mund wieder. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht wirklich näher begründen und in Worte fassen konnte, hatte er Recht – irgendwie hätte es einen Unterschied gemacht, wäre es anders herum.

Ganel, der sie beobachtet hatte, tätschelte ihr gönnerhaft das Haupt. “Ich sehe, dass mein Vermögen sicher ist. Dein Gesicht sagt mir alles.”

Eine weitere von Ganels Gefährtinnen steckte ihren Kopf zum Vorhang herein und fragte: “Das Abendessen ist fertig. Wollt ihr hier drin essen oder draußen mit uns allen?”

“Mit euch”, antwortete Eryn rasch. Sie war froh, dass Ganel nicht böse mit ihr war aufgrund dessen, was Mial ihm erzählt hatte, doch ihr war auch nicht danach, sich für den Rest des Abends von ihm aufziehen zu lassen.

*  *  *

Enric ritt voran, als sie den Pass erreichten, der durch das Gebirge führte.

“Errichte einen Schild”, instruierte er seine Gefährtin und tat das Gleiche. “Sieh zu, dass er auch das Packpferd schützt.”

Sie gehorchte und sah sich dann um, ob irgendeine Gefahr in den Schatten des Nachmittags lauerte, die ihn zu dieser Vorsicht veranlasste. Dann erinnerte sie sich, dass er vor langer Zeit einmal einen Vorfall mit Räubern erwähnt hatte, als er und Vran’el durch dieses Gebiet gereist waren.

Enric war froh, dass sich die Hitze von drückend zu gerade einmal unangenehm wandelte. Als die Felsen auf beiden Seiten in die Höhe zu wachsen begannen und ihnen Schatten spendeten, nahm er seine Kopfbedeckung ab und erfreute sich an der Luft in seinem verschwitzten Nacken.

“Wissen wir, wie groß Pirinkar ist?”, fragte Eryn. “Ich glaube nicht, dass ich jemals irgendwo eine Karte des Landes gesehen habe. Haben wir überhaupt eine?”

“Nein zu beidem. Ich könnte mir denken, dass sie es als strategischen Vorteil erachten, den sie nicht an ein Land weitergeben wollen, bei dem sie stets klargestellt haben, dass sie einen gewissen Abstand wünschen. Und jetzt noch weniger. Das ist immerhin das zweite Mal innerhalb von ein paar Jahren, dass sie kurz vor einem Krieg mit den Westlichen Territorien stehen.”

“Aber Pirinkar besitzt Landkarten von den Westlichen Territorien, vermute ich?”

Enric zuckte mit den Schultern. “Davon gehe ich aus.”

“Und vom Königreich?”

“Das ist ebenfalls wahrscheinlich, würde ich sagen. Wir haben niemals ein großes Geheimnis daraus gemacht, und den Herstellern der Landkarten steht es frei, ihre Produkte an jeden zu verkaufen, der willens ist, ihre Preise zu bezahlen.”

Eryn kaute auf ihrer Unterlippe. “Ist das klug?”

“Das wird sich noch zeigen. Sollte das Schlimmste zum Tragen kommen und Takhan fallen, können wir nur hoffen, dass sie es nicht schaffen, die magische Barriere im Meer zu passieren.”

Diese Aussage beunruhigte sie. “Du denkst also, es bestünde eine realistische Chance, dass sie den Orden besiegen könnten? Zumindest gehe ich davon aus, dass der Orden den Westlichen Territorien in ihrer Stunde der Not beistehen würde?”

“Was Letzteres betrifft, so denke ich das auf jeden Fall. Besonders, nachdem der König das Band zwischen den beiden Ländern gerade mit seinem Kommitment mit Del’na’bened gestärkt hat. Was eine Niederlage betrifft… Es ist immer gefährlich, sich seines Sieges allzu gewiss zu sein. Wir wissen so gut wie nichts über sie, nur dass sie Magier verachten und gut mit mechanischen Geräten sind. Wir haben keine Informationen darüber, ob sie eine stehende Armee haben, wie groß sie ist, wie fähig, ob sie irgendeine Methode entdeckt haben, wie man Magier ohne Magie dingfest machen kann und so weiter. Vielleicht überdenken sie sogar ihre Beschränkungen für Magier und lassen sie nicht nur in den Tempeln heilen, sondern schicken sie in den Kampf, falls eine reale Gefahr besteht, dass sie eine Schlacht verlieren. Ich hoffe nur, es gibt keine Priester, die heimlich Kampfkunst trainiert haben. Das wäre in der Schlacht höchst unbequem. Für uns, meine ich.”

Eine Weile setzten sie ihren Weg schweigend fort, Enrics Augen stets auf die Umgebung gerichtet.

Eryn entschied sich, ein weiteres Thema anzusprechen. “Wegen dieser Besessenheit mit vollen Namen… Lam, Etor und Gistor sind ihre Titel, die mit akademischen Erfolgen zusammenhängen. Holm, Reig und Legen sind Familienpositionen. Und dann sind da noch zwei weitere für Priester, die ich aber vergessen habe. Das macht mich zu…” Sie nahm sich einen Moment Zeit, um die Teile zu kombinieren. “Lam Eryn, Reig von Haus Vel’kim.”

Enric lächelte, was Eryn nicht sehen konnte, da sie hinter ihm ritt. “Die Papiere, die die Triarchie für uns vorbereit hat, hast du dir nicht angesehen, oder?”

“Nein. Warum?”

“Darin steht, was man in Pirinkar als unsere vollständigen Namen betrachten wird.” Er wühlte in der ledernen Tasche, die er um seinen Brustkorb geschlungen trug, und zog die besagten Papiere hervor. Er hielt sein Pferd an, bedeutete Eryn so nahe heranzukommen wie der schmale Pfad es gestattete, und streckte seine Hand aus, um ihr die Dokumente zu reichen.

Sie faltete sie auseinander und überflog die erste Seite, bis sie die Namen fand. Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden. Lam, weil er seine Rechtsstudien in Takhan beendet hatte. Reig, weil er Malriels Erbe war. Dahinter seine Funktion. Genau so hätte sie selbst es auch kombiniert.

Sie las den Namen, der auf der nächsten Seite stand, und runzelte die Stirn. Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan.

“Was für ein Unsinn ist das denn? Ist der Titel Gistor nicht dermaßen abgehoben, dass man ihn nicht einmal durch bloße Studien, sondern nur durch irgendeine außergewöhnliche Leistung erlangen kann? Und warum Forscherin und nicht Heilerin?”

“Deine Studien im Bereich des Heilens waren umfangreich genug, um einen höheren Titel als Lam zu rechtfertigen, und deine eindrucksvollen Entdeckungen in verschiedenen Bereichen sollten ausreichen, um dich mit den höchsten Ehren zu versehen. Was deinen Beruf als Heilerin anbelangt – man hat uns gewarnt, die Leute nicht an den Makel unserer Magie zu erinnern. Und genau das würde dein Heilerberuf tun, und zwar jedes Mal, wenn dich jemand grüßt. Außerdem ist es ein bequemer Ausdruck, falls wir erklären müssen, wie du den Titel Gistor verdient hast. Eine Forscherin zu sein bedeutet, dass die Entdeckung neuer Dinge deine Berufung ist.”

“Sie nennen dich Stellvertreter im Orden”, entgegnete sie. “Weshalb soll das nicht ständig an deine Magie erinnern? Der Orden ist eine Organisation für Magier!”

“Doch keine, mit der viele von ihnen vertraut sind. Aus diesem Grund haben sie auch nicht Orden der Magier geschrieben. Wenn jemand fragt, was der Orden ist, kann ich immer noch antworten, dass es sich dabei um eine Institution handelt, die sich der militärischen Verteidigung des Landes verschrieben hat. Alles in allem wäre das keine Lüge. Und es würde sie daran erinnern, dass wir nicht ganz so nachlässig waren wie unsere Freunde in den Westlichen Territorien, wenn es darum geht, unsere Kampffertigkeiten zu trainieren.”

Eryn faltete die Papiere wieder und reichte sie Enric zurück. “Ich glaube noch immer, dass es anmaßend ist, wenn ich einfach davon ausgehe, dass ihr höchster Titel angemessen für mich ist.”

Er steckte die Dokumente zurück in seine Tasche und ritt weiter.

“Du bist nicht diejenige, die davon ausgeht, Liebste”, meinte er über seine Schulter. “Sondern die Triarchie. Das bedeutet, dass es nur zu Verwirrungen führen würde, wenn du versuchst bescheiden zu wirken und dich stattdessen Lam oder Etor nennst. So steht es immerhin nicht auf den Papieren. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass man Regeln dort unterwürfigst folgt. Wenn deine Papiere nicht zu dem passen, wer du zu sein behauptest, mag es sein, dass sie dich nicht einmal nach Kar hineinlassen.”

“Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan”, murmelte sie mehrmals, um den Namen in ihrem Gedächtnis zu verankern. “Was ist mit uns beiden? Werden wir uns gegenseitig mit unseren vollen Namen ansprechen, wenn uns jemand hören kann, oder darf es etwas zwangloser sein, da wir miteinander verbunden sind?”

“Wir können uns der Kurzformen unserer Namen bedienen.”

“Wird das in meinem Fall Maltheá oder Eryn sein? Können wir von ihnen verlangen, dass sie das akzeptieren oder werden sie mich aus ihrer Stadt werfen, wenn ich sie zu sehr verwirre?”

“Zwischen uns beiden ist Eryn in Ordnung, würde ich meinen. Wir können immer noch behaupten, es wäre eine Art liebevoller Kosename, den ich für dich habe.”

Sie nickte, zufrieden mit dieser Lösung. Ohne ihren Sohn an einem fremden und womöglich feindseligen Ort verweilen zu müssen war schlimm genug, aber sich von Enric mit dem Namen ansprechen lassen zu müssen, der ihr verhasst war, weil er sie zu sehr an Malriel erinnerte, wäre zu viel.

“Wir werden ihnen erklären müssen, weshalb deine Gefährtin der Frau, die alle für deine Mutter halten, dermaßen ähnlich sieht”, erinnerte sie ihn. “Wir könnten ihnen erklären, dass wir Geschwister sind. Was rechtlich gesprochen nicht einmal so weit von der Wahrheit entfernt wäre.”

Enrics Schultern hoben und senkten sich mit einem Seufzen. “Wir versuchen sie dazu zu bringen, dass sie mit uns zusammenarbeiten, anstatt uns noch mehr abzulehnen. Es ist schon schlimm genug, dass wir Magier sind – wir können ihnen nicht den Eindruck vermitteln, wir kämen von einem Ort, wo es Bruder und Schwester gestattet ist – oder sie sogar dazu ermutigt werden – sich fortzupflanzen.”

“Ich war deine Gefährtin, bevor ich deine Schwester wurde”, grinste sie, wissend, dass er es nicht leiden konnte, wenn sie sich als seine Schwester bezeichnete.

“Bleiben wir einfach bei der Wahrheit, in Ordnung? Das ist in diesem Fall das geringere Übel. Und da viele von ihnen Malriel noch immer misstrauen, mag es dir ihren guten Willen einbringen, dass du ihre Familie offiziell verlassen hast. Eure Ähnlichkeit macht es schlussendlich unmöglich, jedwede Verbindung zwischen euch abzustreiten.”

“Weißt du, wenn diese Leute mich lieber mögen, weil ich mich von Malriel gelöst habe, dann können sie eigentlich so schlimm nicht sein.”

“Gewiss nicht alle von ihnen. Aber lass uns nicht vergessen, dass sich ein paar davon immer noch als Kriegstreiber versuchen.”

Eryn rümpfte die Nase. “Ach ja, da war diese Kleinigkeit.”

*  *  *

Auf dem Weg die Schotterstraße entlang knurrte Eryns Magen. Sie wusste, dass es nur mehr eine Frage von ein paar Stunden war, bis sie die Stadt Kar erreichten, doch in diesem Moment erschien ihr der Gedanke daran, noch dermaßen lange auf eine Mahlzeit warten zu müssen, beinahe unerträglich. Die Alternative war jedoch auch nicht besonders attraktiv.

Wüstenbewohner wussten, wie man Verpflegung für längere Reisen haltbar machte, und Haltbarkeit war in der Tat die hervorstechendste Eigenschaft. Ganz eindeutig war sie nicht dafür gedacht, kulinarische Befriedigung zu schaffen, sondern den Reisenden lediglich am Leben zu erhalten, bis er einen Ort erreichte, an dem ordentliches Essen verfügbar war.

Bislang hatten sie dreimal ihr Lager aufgeschlagen, doch da Eryn alles verweigerte, was Enric erjagte, ersparte er sich den dafür erforderlichen Aufwand. Stattdessen hatten sie versucht, die getrocknete Nahrung über dem Feuer zu rösten, um den Geschmack zu verbessern. Es hatte nicht funktioniert.

Die Landschaft war wahrscheinlich das Hauptproblem, sinnierte Eryn. Sie bot nicht ausreichend Abwechslung oder exotische Fremdartigkeit, um sie von ihrem Hunger abzulenken. In der Wüste war sie bestrebt gewesen, jede Körperstelle zu bedecken und ihr Innenleben ausreichend mit Wasser zu versorgen, ohne aber ihren Wasservorrat zu rasch zu verbrauchen. In den Bergen hatte sie sorgsam darauf geachtet, weder ihr Reittier, noch das Packpferd gegen eine harte Oberfläche stoßen oder ausrutschen zu lassen. Zusätzlich dazu hatte sie ihre Augen nach Banditen offengehalten. All das war nach der Wüste eine willkommene Abwechslung gewesen. Es war kühler, die Sonne schmerzte weniger in den Augen, alles war weniger sandig und monoton. Nachdem sie das Gebirge überquert und die Ausläufer erreicht hatten, fanden sie sich beinahe von einer Minute zur nächsten in einem opulenten Urwald wieder, der ein solch absurder Kontrast zu dem war, was auf der anderen Seite lag, dass Eryn dies alles zuerst einfach nur sprachlos angestarrt hatte. Vran’el hatte ihr vor einiger Zeit davon erzählt, doch sie hatte es lediglich seiner Neigung zur Übertreibung zugeschrieben.

Nach der Überwindung ihres Schocks hatte sie voller Entzücken festgestellt, dass die Insekten, die die Schlafkrankheit übertrugen, von hier kommen mussten. Aufmerksam hatte sie die Augen offengehalten, enttäuscht, als sie keines entdeckt hatte, das den Bildern und der Beschreibung in dem Buch entsprachen, das Enric ihr vor ein paar Jahren geschenkt hatte. Sie hatte das Enric gegenüber erwähnt, doch er hatte nur gelächelt und seine Erleichterung zum Ausdruck gebracht.

Es dauerte nur ein paar Stunden, um durch diese grünen aber dunstigen Gefilde mit Bäumen, die höher wuchsen als alle, die Eryn bisher gesehen hatte, zu reiten. Die Luft war mit so viel Wasser geschwängert, dass ihre Kleider bereits nach ein paar Minuten an ihren Körpern klebten. Es war eine andere Hitze als die, die sie von der Wüste her kannte. Als würde die Luft das Wasser aus ihren Poren saugen und sie damit rascher ermüden als es die trockene, gnadenlose Hitze in den Westlichen Territorien vermochte.

Enric, stets bereit und willig, diejenigen weiterzubilden, die weniger gut informiert waren als er selbst, erklärte ihr, wie die Berge die Wolken am Durchkommen hinderten und sie damit zwangen, all ihre Feuchtigkeit regelmäßig auf dieser Seite des Gebirges abzugeben.

Eryn sah bald, dass dieses überbordend üppige Wachstum lediglich auf ein vergleichsweise kleines Gebiet beschränkt war. Je weiter sie die Berge hinter sich zurückließen, desto mehr wandelte sich die Landschaft zu dem, was sie vom Königreich her kannte. Die Ränder der Wälder, an denen sie vorbeikamen, bestanden sogar aus den gleichen Baumarten, die Eryn von zuhause bekannt waren, und es gab weitläufige Wiesen, wo sie einige der Kräuter wiedererkannte.

Sie folgten der leichten Steigung auf einen Hügel, und Eryn erstarrte, als plötzlich die Stadt Kar vor ihr erschien, angeschmiegt an den Rand eines riesigen Sees, der eine Biegung machte als wollte er die Masse an farbenfrohen Häusern sanft umarmen und Schutz vor jeglichen destruktiven Elementen versprechen, die sich nähern mochten.

Enric lächelte über ihr Erstaunen. “Ein beachtlicher Anblick, nicht wahr?”

“Es ist so… farbenfroh. Das ist seltsam. Das ist überhaupt nicht das, was ich von einem Ort erwartet habe, der mir als nüchtern und in seinem blinden Regelgehorsam irgendwie trostlos beschrieben wurde.” Sie sah noch einmal hin. Genau wie in Takhan gab es keine Stadtmauer. Hielten sie den See wirklich für eine unüberwindbare Barriere für Eindringlinge? Dass sie in der Lage wären, auf Boote zu schießen – und zu treffen – die sich mitten in der Nacht über den See wagen mochten? Oder waren sie dermaßen zuversichtlich, dass es kein Feind weit genug schaffen würde, um ihre Stadt tatsächlich anzugreifen? Entweder verbargen sie eine mächtige Waffe in ihrer Stadt, oder sie setzten dermaßen großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, dass es schon an Vermessenheit grenzte.

“Ein Ort voller Kontraste”, nickte Enric. “Übrigens, ein wenig weiter vorn an der Kurve bei diesem breiten Baum bin ich damals vom Pferd gefallen, als du Vedric zur Welt gebracht hast.”

Sie lächelte, ohne auch nur eine Spur an Mitgefühl zu zeigen. “Nun, ich kann nur sagen, dass das hier jedenfalls ein wesentlich angenehmerer Ort war als das Zimmer in der Klinik, in das sie mich gesteckt haben.”

“Lass mich dir sagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt kaum die Nerven hatte, die Landschaft zu bewundern”, erwiderte er etwas übellaunig, weil sein Leiden verharmlost wurde.

“Lustig, ich war mir meiner Umgebung damals sehr bewusst. Ich erinnere mich an die Bilder, die sie an der Wand hatten. Noch immer haben, sollte ich wohl sagen. Fröhliche kleine Skizzen von Kindern, die in den Straßen spielen und so etwas in der Art. Szenen, die zweifellos dazu gedacht waren, die armen, leidenden Mütter daran zu erinnern, warum sie sich das alles antaten. Bei mir hat das allerdings nicht funktioniert. Wäre ich in der Lage gewesen aufzustehen, hätte ich sie von den Wänden gerissen und zertrümmert.”

Er lachte. “Du bist wohl die einzige Frau, die ich kenne, die aggressiv wird, wenn man sie Dingen aussetzt, die im Allgemeinen als beruhigender Einfluss verstanden werden.”

Ihre Aufmerksamkeit kehrte zurück zu der Stadt vor ihnen, und sie staunte, wie das Wasser rundherum sie wie einen mehrfarbigen Edelstein in einer glänzenden, blauen Fassung erschienen ließ.

“Weißt du”, sinnierte Eryn, besänftigt durch den prächtigen Anblick, “jetzt, wo ich den Ort tatsächlich sehe, erscheint es mir nicht mehr so entsetzlich, dorthin zu gehen. Jetzt gerade habe ich das Gefühl, als gäbe es keine Herausforderung, die wir hier nicht meistern könnten.”

Enric erwiderte nichts darauf. Ihm war nicht ganz so zuversichtlich zumute.

Sie setzten ihren Weg fort, dann griff er nach ihren Zügeln, um ihr Pferd anzuhalten, als ihm ein plötzlicher Gedanke kam.

“Du hast gelernt, wie man Schilde errichtet und sie an die Lebenskraft einer Person bindet, nicht wahr? Genau wie der Schild, den Ved’al in deinem Inneren platziert hat, als du ein junges Mädchen warst? Nachdem er dich vor dieser Vergewaltigung bewahrt hat?”

Überrascht zog sie die Augenbrauen hoch. “Ja, das habe ich. Es war keine Fertigkeit, die ich für das Zertifikat in Takhan brauchte, aber Valrad hat mir vor ein paar Jahren gezeigt, wie es funktioniert. Bedeutet das, du möchtest, dass ich wieder so einen Schild in mir errichte? Bevor wir Kar betreten?”

“Mir wäre wohler, wenn du das tätest, ja.”

Kurz zog Eryn eine Diskussion in Betracht, entschied sich aber dagegen. Es war eine Kleinigkeit ohne irgendwelche unerwünschten Nebenwirkungen, die ihn beruhigen würde. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich darauf, einen Schild um ihre Fortpflanzungsorgane zu errichten, erweiterte ihn bis er den Zutritt sperrte wo Enric darauf beharrte, dass außer ihm niemand hindurfte. Das war der einfache Teil. Nun, einfach für jemanden, der sich mit den genauen Eigenschaften wie Durchlässigkeit und Stärke auskannte, die für einen Schild an diesem exakten Fleck und zu diesem Zweck erforderlich waren. Hier ging es nicht nur darum, eine Barriere zu errichten, die alles aufhielt, was aus irgendeiner Richtung auf sie zukam. Es gab Flüssigkeiten, die in unterschiedliche Richtungen durchfließen mussten. Und Enric musste weiterhin hindurch können.

Der zweite Teil bestand darin, die Barriere zweifach zu verknüpfen. Einerseits bedurfte es einer Energiequelle, die sich nicht einfach durch einen goldenen Gürtel oder Handschellen unterbrechen ließ, sondern die den Schild weiterhin versorgte, ganz egal, was auf der Außenseite geschah. Diese Energiequelle war nicht von der starken, bewusst eingesetzten Magie abhängig, sondern der tieferliegenden, die in jedem Tropfen Blut und jedem winzigen Stück Gewebe in ihrem Körper eingebettet war. Dieser beinahe nicht spürbare weil so niedrige Level an Magie würde erst dann aufhören zu existieren, wenn der Körper, dem sie innewohnte, verstarb.

Die zweite Verbindung war die zu ihren Gefühlen. Die waren der Auslöser dafür, wie durchdringbar der Schild war. Außer Lust gab es noch eine Reihe an positiven Gefühlen, die die Barriere deaktivieren und damit den Zutritt ermöglichten. Jedes Gefühl von Bedrohung, Ekel, Angst, Misstrauen oder Ärger von ihrer Seite würde sie jedoch unpassierbar und damit jeden Geschlechtsverkehr mit ihr unmöglich machen. Außerdem würde der Angreifer unerträgliche Schmerzen in seinen Genitalien erleiden, die ihn sehr wahrscheinlich davon abhalten würden, so etwas in absehbarer Zeit noch einmal zu versuchen.

Nachdem beide Verbindungen sachgemäß etabliert waren, öffnete sie die Augen wieder. “Erledigt.”

“Danke”, lächelte er und ergriff ihre Hand, um sie zu küssen. “Das ist mir wichtig. Ich schätze es auch, dass du das für mich tust, obwohl ich sehen kann, dass du es nicht für nötig befindest.”

“Wenn es nichts weiter als das braucht, um dir zumindest ein wenig Sorge zu ersparen, dann komme ich diesem Wunsch gerne nach.”

Erneut nahmen sie den letzten Teil ihrer Reise in Angriff.

“Vedric wäre begeistert gewesen von den farbenfrohen Häusern”, murmelte Enric. “Und von dem See. So etwas hat er noch nie gesehen.”

“Das musstest du jetzt unbedingt sagen, was?”, seufzte sie und verspürte einen Stich von Traurigkeit, obwohl ein kleiner Teil von ihr dankbar war, dass sie nicht die Einzige war, die ihren Sohn vermisste.

Er zuckte mit den Schultern, dann runzelte er die Stirn. “Wir sollten eine rasche Pause einlegen und etwas essen. Entweder bin ich wirklich hungrig, oder das Geistesband sagt mir, dass du es bist. Jedenfalls habe ich nicht vor, mit einem knurrenden Magen in der Stadt einzutreffen, egal, wessen Magen es ist.”

“Großartig”, brummte Eryn ohne jede Begeisterung, “noch mehr gepresste Hobelspäne.”

“Das ist jetzt aber nicht fair”, grinste er. “Woher willst du wissen, wie Hobelspäne schmecken? Ich gehe davon aus, dass du noch nie welche probiert hast.”

“Ich habe ein recht gutes Vorstellungsvermögen”, knurrte sie voller Unmut darüber, dass er ihren aus ihrer Sicht angemessenen Vergleich in Frage stellte.

“Gut. Dann kannst du einfach deine Augen schließen und dir vorstellen, es wäre etwas Wohlschmeckendes anstatt dich zu beklagen.” Er ließ unerwähnt, dass seine Erinnerung an die Küche in Pirinkar nicht gerade angenehm war. Wenn er ihre Hoffnung zerstörte, dass in der Stadt erheblich höherwertige Speisen auf sie warteten, würde sie das nur noch mehr deprimieren.

Kapitel 2

Kar

Enric brachte sein Pferd zum Stehen und stieg bedächtig und kontrolliert ab. Er wusste, dass die Stadtwachen, die auf der Brücke standen um ihnen den Zutritt in ihre Hauptstadt zu verwehren, ihn nicht einfach so angreifen würden, solange er sie nicht provozierte. Konnte er jedoch keine Dokumente vorweisen, die bestätigten, dass ihm die Erlaubnis zum Betreten der Stadt erteilt worden war und er sich weigerte sich zurückzuziehen, dann würden sie das allerdings sehr wohl tun.

Dennoch, es empfahl sich stets respektvolle Bedachtsamkeit, wenn man sich einer überlegenen Anzahl an potentiellen Angreifern gegenübersah. Obwohl diese sehr wahrscheinlich keinerlei Chance hatten gegen Eryn und ihn selbst zu bestehen, wenn es hart auf hart kam, so war es niemals klug, andere zu unterschätzen. Die fünf Männer in blauen und grauen Uniformen mit metallenen Helmen und Brustpanzern hielten ihre Waffen auf eine Art, die nicht wirklich bedrohlich wirkte, der aber das Versprechen innewohnte, dass sich das von einem Moment auf den nächsten ändern konnte.

“Ein Stock mit einem Stachel darauf”, flüsterte Eryn. Für sie mutete das nach einer seltsamen Kreuzung aus einem landwirtschaftlichen Werkzeug und einer Waffe an. Ihre Kompetenz im Kampf, die der Orden ihr entgegen ihren Wünschen vermittelt hatte, lenkte ihre Aufmerksamkeit – beinahe unbewusst – auf die Waffen.

In einer Hand hielt jeder von ihnen einen langen, hölzernen Stock, der einen erwachsenen Mann überragte und an dessen Ende ein spitzes, unregelmäßig geformtes Metallstück befestigt war. Keine elegante Waffe, auch keine, die für den Kampf gedacht war. Ihr Zweck bestand eher darin, Leute auf Distanz zu halten und den langen Griff als Barriere zu nutzen, um den Zutritt zu verwehren. Was nicht bedeutete, dass der Stachel an der Spitze nicht beträchtlichen Schaden anrichten konnte. Allerdings wohl kaum bei einem ausgebildeten und mit einem Schwert bewaffneten Kämpfer.

Doch eine eingehendere Untersuchung ihrer Uniformen zeigte ihr, dass dies ebenfalls zur Ausstattung gehörte. Ebenso wie ein Messer in Scheiden an ihren Gürteln. Sie wirkten gut vorbereitet auf körperliche Auseinandersetzungen, ganz egal, ob ihre Gegner lediglich auf Abstand, mit dem Schwert auf mittlere Distanz in Schach gehalten, oder aus der Nähe mit dem Messer verletzt werden mussten. Wenn man davon ausging, dass die Wachen darin ausgebildet waren, mit all den Waffen auch umgehen zu können, die sie bei sich trugen, so empfahl es sich wohl, sie nicht leichtfertig herauszufordern.

Dennoch bezweifelte Eryn, dass die Männer für sie selbst und Enric eine besondere Bedrohung darstellten. Zumindest solange sie und ihr Gefährte Magie zur Verfügung hatten, die Wachen jedoch nicht. Nach dem zu urteilen, was sie über Pirinkar gelesen und gehört hatte, würde man Männer mit magischen Fähigkeiten nicht zu Wachen ausbilden, sondern sie den Tempeln übergeben, wo Heilen der einzige Beruf war, zu dem sie Zugang hatten. Ähnlich wie alle Magier in Anyueel gezwungen waren, dem Orden beizutreten, obgleich dies als Privileg und keineswegs als Strafe betrachtet wurde.

Eine seltsame Vorstellung, dass das, was sie ihr Leben lang getan hatte, was sie trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten immer weiter verfolgt hatte, in diesem Land ein Brandmal darstellte. Es bedeutete, dass man auf eine bestimmte Weise geboren wurde. Die gleiche Weise, auf die auch sie zur Welt gekommen war.

Enric hatte in der Zwischenzeit ihre Papiere aus einem flachen Beutel im Inneren seiner Tunika hervorgezogen und übergab sie dem Mann, dessen Auftreten und eine Spur aufwändiger verzierte Uniform nahelegten, dass er einen höheren Rang bekleidete. Der Mann nahm die Papiere ohne irgendein Anzeichen von höflichem Interesse oder Freundlichkeit entgegen, dann trat er beiseite und gab damit den Blick frei auf eine adrette Frau in ihren mittleren Vierzigern. Ihr Gebaren war nicht wesentlich freundlicher als das der Wachen, doch ihr Blick wurde eine Spur weicher, als er auf Enric fiel. Genau wie bei ihrer ersten Begegnung vor einigen Jahren war ihr hellbraunes Haar im Nacken zu einem festen Knoten gebunden, und ihre Kleidung war nüchtern und förmlich. Ein paar zusätzliche graue Strähnen zeigten sich.

“Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, begrüßte er sie mit einem Lächeln. “Es ist ein Vergnügen, dich wiederzusehen. Es scheint, dass in Kar einzutreffen für mich für immer mit deinem Gesicht verbunden sein wird.”

Ein Mundwinkel der Frau zuckte kurz, als unterdrückte sie einen Anflug von Belustigung, während sie die Papiere in Empfang nahm, die der Wachmann ihr überreichte. Oder womöglich war sie lediglich erfreut darüber, dass er sich noch an ihren vollen Namen erinnerte, wollte es aber nicht zeigen.

Nachdem sie die erste Seite überflogen hatte, blickte sie mit einer beinahe unmerklich hochgezogenen Braue zu Enric auf.

“Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden. Lam. Du hast dich seit deinem letzten Aufenthalt hier also gebildet”, bemerkte sie ohne jedwede Begrüßung.

“Das habe ich. Ich habe Recht studiert”, erwiderte Enric freundlich.

Lam Ceiga kehrte zu den Dokumenten in ihrer Hand zurück. Nach einigen Sekunden blätterte sie zur zweiten Seite mit Eryns Details. Als sich sämtliche Informationen als deckungsgleich mit den Papieren, die sie vorab erhalten hatte, erwiesen, suchten und fanden ihre Augen die zweite Besucherin.

Enric beobachtete, wie sich ihre Augen vor Schock leicht weiteten, nachdem sie Eryns genauer in Augenschein genommen hatte. Ihre Augen sprangen zurück zu den Papieren in ihrer Hand, als wollte sie den Namen darauf noch einmal überprüfen.

“Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan?”, fragte sie dann, wie um sicherzugehen, dass trotz dieser unglaublichen Ähnlichkeit kein Fehler in ihren Schriftstücken vorlag.

“Ja, das wäre ich”, nickte Eryn, schwang sich von ihrem Pferd und trat neben ihren Gefährten. Sie unterdrückte ein Schaudern darüber, wie seltsam ihre Muttersprache aus dem Mund dieser Frau klang. Die Menschen in den Westlichen Territorien klangen ebenfalls anders als jene in Anyueel, doch ihre Aussprache war melodischer. Die Leute im Norden verzerrten sie mit den für die hiesige Sprache so typischen harten Lautäußerungen.

“Und ja, ich sehe Malriel von Haus Aren auf frappierende Weise ähnlich, was niemanden so sehr verstört wie mich selbst”, fügte sie hinzu, als Lam Ceiga sie weiterhin anstarrte.

Das veranlasste die andere Frau, sich zu räuspern und wieder am Riemen zu reißen.

“Vergib mir, Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan. Deine Papiere sind augenscheinlich in Ordnung.” Mit einer Handbewegung wies sie die Wachen an beiseite zu treten und den beiden, die nun offiziell Gäste anstatt Eindringlinge waren, Zutritt zu gewähren. Zumindest vorläufig.

Eryn und Enric folgten ihr in die Stadt, während sie ihre Pferde mit sich führten. Entweder hielt man es hier nicht für nötig, erschöpften Reisenden die Pferde abzunehmen, oder man wollte ihnen demonstrieren, dass sie alles andere als willkommen waren. Eryn kämpfte gegen ein leichtes Gefühl der Enttäuschung an, dass nicht Erbál derjenige war, der sie in Kar empfangen hatte. Ein ehrliches Lächeln wäre wesentlich ansprechender gewesen als das kühle Benehmen dieser Frau.

“Eure Pässe, damit ihr euch in der Stadt bewegen könnt, wurden bereits ausgestellt”, erklärte Lam Ceiga ohne sich umzudrehen, während sie flotten Schrittes vor ihnen hermarschierte. “Lam Erbál, Legen der Ferals, Botschafter in Kar, bestand darauf, euch diese Bürokratie bei eurer Ankunft zu ersparen und hat es auf sich genommen, alles selbst zu erledigen. Die Dokumente befinden sich zurzeit in seinem Gewahrsam.”

Eryns Aufmerksamkeit wanderte von ihrer Führerin zu ihrer Umgebung. Die Straßen bestanden aus großen, flachen, quadratischen Pflastersteinen, die ihr Muster veränderten, sobald kleinere Straßen und Gassen von dem abzweigten, was eindeutig die Hauptstraße sein musste. Sie war überrascht, wie sauber die Straßen wirkten, obwohl ihr Enric vor einigen Jahren davon berichtet hatte.

Und dann die Gebäude. Die meisten davon waren auf eine kuriose Weise konstruiert. Unten befand sich ein Steinfundament etwa so hoch wie sie selbst. Darüber befand sich eine seltsam geometrisch anmutende Anordnung von Holzbalken, deren Zwischenräume mit irgendeinem anderen Baumaterial aufgefüllt und dann mit einer Farbe im Spektrum von weiß bis dunkleren Erdfarben gestrichen waren. Sie ragten zwei bis vier Stockwerke empor.

Ganz so, als wollten sie dem seltsam korrekten und geordneten Gefühl dieses Ortes mit den ordentlichen Häusern und düster gekleideten Menschen entgegenwirken, hatten die meisten Fenster außen so etwas wie Kisten befestigt, aus denen eine Auswahl an Pflanzen mit hell leuchtenden Blüten wuchsen. Keine Kochkräuter oder Medizin; soweit Eryn das sehen konnte, dienten die Pflanzen rein dekorativen Zwecken.

Die äußere Erscheinung der Menschen erschien ebenfalls seltsam eintönig, als sie deren Kleidung studierte. Nicht jedoch ihre Haut- und Haarfarben. Eryn staunte über diese Vielfalt, die sich so unglaublich von den beiden Ländern unterschied, die sie kannte und in denen sie lebte. In Anyueel waren die Straßen von blonden Menschen dominiert, wenngleich sich dies in den kommenden Jahren ändern würde. Mit der Rückkehr der Magie in Frauen kehrten auch dunklere Haarfarben zurück. Und in den Westlichen Territorien waren die Leute dunkelhaarig und gebräunt von der unablässigen Wüstensonne.

Weder Enric mit seinem hellen Haar und seiner vergleichsweise blassen Haut, noch Eryn mit ihrem dunklen Haar und der nur leicht dunkleren Haut wirkten hier fehl am Platz. Sie war erleichtert, dass ihnen hier niemand besondere Aufmerksamkeit zu widmen schien. Enric hatte dafür gesorgt, dass sie Kleidung einpackten, die sie an einem Ort, wo Blumen das Einzige zu sein schienen, wo helle Farben gewünscht oder zumindest toleriert wurden, nicht hervorstechen würden.

“Komm weiter”, instruierte Enric sie leise. “Du kannst dich später umsehen, sobald wir untergebracht sind. Wenn wir sie verlieren, werden wir uns Ärger einhandeln ohne die Pässe, die uns gewisse Freiheiten dahingehend gewähren, dass wir uns unbeobachtet bewegen können. Oder so unbeobachtet, wie wir hier jemals sein werden.”

Eryn nickte und beschleunigte ihren Schritt ein wenig. Er hatte Recht. Lam Ceiga schien es nicht groß zu kümmern, ob man ihr folgen konnte oder nicht, und sie würde sich wohl nicht einmal die Umstände machen, nach ihren Gästen zu suchen, falls sie sich verirrten.

Einige Minuten später erreichten sie ein Gebäude, drei Stockwerke hoch, das zur Gänze aus hellbraunem Stein bestand. Es wirkte auf seltsame Weise elegant und wohlhabend.

Es gab drei unterschiedliche Fenstergrößen, obwohl alle davon unten eckig waren und sich nach oben zu einem Bogen krümmten, wie kleine Stadttore. Das Haus war asymmetrisch – eine Hälfte der Fassade stand weiter hervor als die andere. Etwas, das wie ein halber Zylinder aussah und sich nach oben über die Höhe eines Stockwerks entlang der Außenmauer erstreckte, ragte hervor. Es schien, als hätte jemand nachträglich entschieden, den im Inneren verfügbaren Platz zu erweitern, indem man dem Stockwerk noch einen Teil hinzufügte. Das seltsame Element war mit aufwändigen Steinschnitzereien und Säulen dekoriert, die die gleiche Art von halb-eckigen, halb-runden Fenstern umrahmte, die man auch rundherum fand.

Lam Ceiga gewährte ihnen nicht viel Zeit, um ihren Bestimmungsort zu betrachten, sondern klopfte an die ausladend verzierte Holztür mit ihrem Mittelstück aus zu blumigen Elementen geschmiedetem Eisen, umrahmt mit teilweise vergoldeten und teilweise unbemalten Holzschnitzereien.

Das hier war offensichtlich ein gehobener Stadtteil mit wohlhabenderen Einwohnern, vermutete Eryn. Zumindest sofern sie das beurteilen konnte, wenn sie die Gebäude in dieser Gegend mit denen verglich, die sie beim Betreten der Stadt erblickt hatte. Und Erbál war wichtig genug, damit man ihm solch eine Unterkunft gewährte. Gut. Das würde sich für ihre Mission hier zweifelsohne als nützlich erweisen. Daraus ließ sich ableiten, dass er die Art von einflussreichen Kontakten pflegte, die hinsichtlich ihrer Umgebung an einen gewissen Luxus gewöhnt waren.

Die Tür wurde geöffnet, und Eryn musste zweimal hinsehen um sicherzugehen, dass dies wahrhaftig ihr Freund Erbál war, der vor ihr stand. Was hatte man ihm bloß angetan? Er sah genau wie einer von ihnen aus!

*  *  *

Sie folgten dem Botschafter eine Treppe mit einem umständlich verzierten Handlauf auf einer Seite hinauf.

Enric sah, wie Eryn Erbál’s Rücken anstarrte, noch immer fassungslos über sein massiv verändertes Aussehen. Er konnte ihre Bestürzung nachvollziehen, teilte sie sogar bis zu einem gewissen Grad, obwohl er wusste, dass es für einen Diplomaten nur logisch und empfehlenswert war, sich soweit an sein Gastland anzupassen, dass er nicht auffiel. Der Gedanke dahinter war, dass sich die Leute um ihn herum wohler fühlten. Und damit weniger vorsichtig waren.

Er hatte Erbál schon zuvor in weniger aufwändigen Gewändern gesehen, als diese an seinem Geburtsort üblich waren. Bereits vor einigen Jahren hatte er sich an die lokalen Gegebenheiten in Anyueel angepasst, doch das Gleiche auch hier zu tun erforderte offensichtlich, dass er sich noch ein wenig mehr zurücknahm. Sein Haar war in seinem Nacken zusammengebunden und zusätzlich dazu noch – anscheinend mit einer Art Öl – nach hinten gestrichen. So sah es glatt aus, jede einzelne dunkle Strähne, die sonst entweichen hätte können, gezähmt. Seine Beine steckten in engen Hosen, die die Konturen seiner Oberschenkel und Waden umrissen. Es war wohl lediglich der Länge des Hemds und seiner Jacke zu verdanken, dass der gesamte Aufzug nicht mehr preisgab als man als sittlich erachten mochte. Sowohl vorne als auch hinten.

Und selbstverständlich war jedes einzelne Kleidungsstück an ihm in der Farbpalette gehalten, die man tagsüber für Menschen angesehenen – oder auch jeden anderen – Ranges für angemessen hielt: schwarz, braun und weiß.

Sie erreichten den ersten Stock, wo sie ein Raum so überladen mit krausen Schnitzereien auf Möbelstücken, hell gemusterten Stoffen und einer schier unmöglichen Anzahl an zerbrechlich wirkenden Ornamenten auf fast jeder Oberfläche erwartete. Es war, als würde sich das Innere des Hauses nach Kräften bemühen, das düstere Gebaren der Einheimischen auszugleichen.

Eryn, die gerade etwas sagen wollte, sehr wahrscheinlich etwas Abfälliges über Erbáls Erscheinungsbild, stand mit offenem Mund da. Ihre Augen huschten von einem Fleck zum nächsten, als wären sie unschlüssig, was sie zuerst betrachten sollten.

Enric schluckte und trat unfreiwillig einen Schritt zurück, sodass er beinahe auf der obersten Stufe ausrutschte. Sein Geist suchte verzweifelt nach einem ruhigen, schnörkellosen Fleck, der seinen Augen einen Moment lang Ruhe gewähren würde, ohne sie mit dieser Lawine an Farben, Mustern und Formen zu quälen.

“Es ist schon ein Angriff auf die Sinne, wenn man es nicht gewohnt ist”, meinte der Botschafter mit einem entschuldigenden Lächeln. Er trat auf Eryn zu, um sie mit einer Umarmung so zu begrüßen, wie es außerhalb der Ungestörtheit seines Domizils unerwünscht gewesen wäre.

“Auf jeden Fall”, pflichtete Eryn bei und erwiderte die Umarmung fest.

Einige Sekunden später gab Erbál sie frei und nahm stattdessen ihre Hände in seine. Er drückte sie liebevoll und atmete aus. “Ich bin so froh, dass ihr hier seid.” Dann begrüßte er Enric in einer eher formellen Weise bevor er vorschlug: “Ich werde euch das Haus zeigen und euch dann eine halbe Stunde Zeit geben, um euch einzurichten. Dann möchte ich gerne einen Spaziergang mit euch unternehmen.”

“Einen Spaziergang?”, fragte Eryn ohne große Begeisterung nach. Herumzulaufen war irgendwie ein wesentlich unattraktiverer Gedanke, als sich nach der langen Reise einfach zurückzulehnen und ein Glas mit etwas Schmackhaftem zu genießen. Als sie Enric müde nicken sah, war ihr klar, dass er ihre Empfindung teilte. Die Tatsache, dass er keinen Einspruch erhob, hatte nichts mit bloßer Höflichkeit zu tun, wie sie wusste. Es musste bedeuten, dass Erbál einen guten Grund haben musste, um auf diesem Spaziergang zu bestehen.

“Du mit deiner schlichten Erscheinung bildest einen beachtlichen Kontrast zu dieser… reichlichen Fülle hier drin”, kommentierte Eryn. “Mir gefällt nicht, was du mit deinen Haaren gemacht hast.” Sie berührte ihre eigenen. “Von uns wird nicht erwartet, dass wir das auch tun, hoffe ich?” Kurz berührte sie seinen Kopf und verzog das Gesicht über ihre sodann schmierigen Finger.

“Nein, das wird nicht erforderlich sein. Besonders nicht für Frauen”, versicherte ihr Erbál. “Und selbst wenn du dein Haar glätten wolltest, so haben Magier dafür bequemere Methoden zur Verfügung, bei denen sie auf keinerlei Substanzen zurückzugreifen brauchen.”

“Ist das der übliche Stil eines Hauptraumes in Pirinkar?”, erkundigte sich Enric. “Das ist weit von dem entfernt, was ich hier vor einigen Jahren gesehen habe. Allerdings ist dein Wohnsitz auch wesentlich hochwertiger als der Ort, an dem Vran’el und ich untergebracht waren. Wir wurden damals nicht gerade wie willkommene Gäste, sondern wie Eindringlinge behandelt.” Behutsam berührte er eine blasse Porzellanfigur eines tanzenden jungen Mädchens, neugierig, wie glatt und kühl sie sich unter seinen Fingern anfühlen würde.

“In eher… reich begüterten Kreisen ist das der übliche Stil, ja. Hier geht es vor allem darum, deinen Ort der Ungestörtheit, dein Heim, auf eine Weise zu formen, die du selbst ansprechend findest, mit der du aber auch Gäste mit deinem exquisiten Geschmack – und natürlich deinem Reichtum – beeindrucken kannst. Da es hier nicht wirklich Orte wie Musik- und Teehäuser gibt, wie wir sie in Takhan haben, erfüllen sie ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten vorwiegend in ihrem Zuhause. Pirinkar ist in dieser Hinsicht Anyueel ähnlicher. Gaststätten werden als Orte für niedere Klassen und Trunkenbolde betrachtet, während sich die noble Gesellschaft in privaten Häusern trifft.”

Eryn kniff einen Moment lang die Augen zusammen, als sie versuchte, irgendeine Verurteilung oder Andeutung von Snobismus hinter dieser Aussage zu erkennen. Sie konnte nichts davon heraushören und begann sich zu fragen, ob sie hier ihre eigenen Gefühle projizierte. Immerhin hatte er Recht. Mit Freunden zusammenzusitzen, sich am Abend nach Sonnenuntergang über einem netten Glas Tee zu unterhalten oder in einem Musikhaus zu Abend zu essen waren Dinge, die sie jedes Mal schmerzlich vermisste, wenn sie sich im Königreich aufhielt.

Enric versuchte das recht beunruhigende Gefühl beiseite zu schieben, wie wohl ihr Schlafzimmer aussehen mochte. Ebenso vollgestopft mit nutzlosen, zerbrechlichen Staubfängern und so reich verziert mit Stoffen in farbenfrohen Mustern wie dieser Raum hier? Würde er an solch einem Ort überhaupt einschlafen können? Selbst ohne Licht würde er noch immer wissen, dass all dies in der Dunkelheit lauerte, als würde es den Sonnenaufgang abwarten, damit es seine Sinne erneut mit diesem Detailreichtum quälen konnte.

“Ich schlage vor, dass ich euch nun euer Zimmer zeige und ihr euch dann vor unserem Spaziergang ein wenig erfrischt”, schlug Erbál vor und hob eine Hand, um zu einer weiteren Treppe links derjenigen zu deuten, die sie gerade erklommen hatten. “Die Diener werden euer Gepäck im Laufe der nächsten paar Minuten bringen, damit ihr euch waschen und umziehen könnt. Danach hat der Koch eine leichte Mahlzeit für euch bereitet, damit ihr die Zeit bis zum Abendmahl überbrücken könnt.”

Enrics höfliches Lächeln verbarg seinen Mangel an Begeisterung gekonnt. Er hoffte lediglich, dass wohlhabende Leute hier nicht nur bedeutend komfortabler wohnten, sondern auch köstlichere Mahlzeiten einnahmen als die Speisen, an die er sich erinnerte.

*  *  *

Enric seufzte erleichtert, als Erbál die Tür zu ihrem Zimmer öffnete und dann zur Seite trat, damit sie eintreten konnten. Es war wesentlich weniger überladen mit unendlichen Ansammlungen von Gegenständen als er befürchtet hatte. Er bemerkte auf Eryns Gesicht eine ähnliche Gefühlsregung, als sie hineinging und sich umsah. Allerdings dauerte es nur einen Augenblick, bis die Erleichterung über die sparsame Dekoration Ernüchterung wich. Die einzigen Möglichkeiten hier schienen entweder hoffnungslos überladen, oder schlicht und sogar deprimierend kahl. Der Wechsel von einem zum anderen innerhalb von Sekunden war ein recht massiver Kontrast für einen Verstand, der immer noch versuchte, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen.

Das Zimmer war alles andere als geräumig, als würde man es als frivol ansehen, zu viel Platz auf einen Ort zu verwenden, an dem man sich wohl nicht länger als nötig aufzuhalten hatte. Verglichen mit dem Prunk der anderen Räume, die sie gesehen hatten – diejenigen, die Gäste zu Gesicht bekamen – war diese Kammer nicht nur bescheiden, sondern beinahe asketisch.

“Lass mich raten”, bemerkte er trocken, “man betrachtet frühes Aufstehen hier als Tugend.”

Erbál lachte. “Das stimmt sogar. Die Möblierung der Schlafkammern soll das Aufstehen am Morgen weniger schwierig machen.”

Eryn nahm auf der Matratze Platz und hopste probeweise ein paarmal auf und ab. Oder zumindest versuchte sie es. Es gab keine besondere Federung. Das lud auf jeden Fall kaum dazu ein, länger darauf zu liegen als unbedingt nötig war.

Ihre Miene war wenig erfreut, als sie seufzte: “Das glaube ich sofort. Dieses Bett ist ungefähr so bequem wie der Boden eines Pferdestalls. Womöglich sogar unbequemer.”

“Jedenfalls sticht es nicht so sehr wie ein Heuhaufen”, konterte Erbál, als wäre er darauf bedacht, all das in einem weniger bedrückenden Licht erscheinen zu lassen. “Und es gibt hier drin keine Flöhe.”

“Kleine Freuden…”, murrte Eryn.

Sie fühlte sich ungefähr so erschöpft wie Enric aussah. Solange diese distanzierte und unfreundliche Frau bei ihnen war, hatte er sich die Mühe gemacht das zu verbergen, doch nun war die Maske abgefallen und ließ einen erschöpften Reisenden erkennen, der sich lieber hingelegt als mit ihrem Gastgeber einen Spaziergang durch die Stadt unternommen hätte.

“Ich werde im Salon warten, bis ihr fertig seid”, informierte Erbál sie, dann schloss er die Tür hinter sich.

Enric sank neben ihr auf das Bett. Ein unheilvolles, in die Länge gezogenes Knarren ertönte. Sie erstarrten und tauschten einen leicht beunruhigten Blick, als erwarteten sie, dass das Bett jeden Moment in seine Einzelteile zerfiele.

“Vielleicht geben sie uns ein besseres, wenn wir das hier kaputtmachen”, meinte Eryn in dem Versuch, die Situation mit Humor zu sehen.

“Oder sie flicken dieses hier einfach wieder zusammen”, erwiderte Enric und lehnte sich behutsam zurück, bis er flach dalag, seine Füße noch immer auf dem Boden. “Es ist ungefähr so bequem wie es aussieht.”

“Überhaupt nicht?”

“Genau.”

Eryn kuschelte sich an ihn und bettete ihren Kopf auf seine Schulter. “Bisher bin ich nicht besonders angetan von diesem Ort. Was ist mit dieser Frau nur los? Sind hier alle so, oder ist sie einfach nur verstimmt über unsere Anwesenheit hier?”

Sie spürte, wie sein Brustkorb mit einem Lachen erbebte.

“Tatsächlich war Lam Ceiga dieses Mal sogar freundlicher. Bedenke, dass es sich hier um eine Kultur handelt, in der die Leute selbst dann immens förmlich miteinander umgehen, wenn sie gut bekannt sind. Und zusätzlich ist man hier Fremden gegenüber misstrauisch.”

“Das bedeutet, wir werden eine erhöhte Dosis an Misstrauen zu spüren bekommen, und man wird uns rein aus Prinzip die kalte Schulter zeigen”, seufzte sie. “Ich dachte, das hier würde einfacher werden. Ich habe mich immerhin bereits einmal an eine neue Kultur angepasst.”

Enric zog sie näher an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Mach dir vorerst keine Sorgen. Das ist nur der erste Schock darüber, dass hier alles so anders ist, als du es kennst. In mancher Hinsicht sind die Leute hier denen in Anyueel recht ähnlich. Zum Beispiel gibt es hier kein Feilschen, wenn du etwas kaufen willst.”

Da Eryn keine großartigen Pläne hatte, sich in ausgiebigen Einkaufsorgien zu ergehen und deshalb wenig davon profitieren würde, zuckte sie nur mit den Schultern.

“Wir sollten uns fertigmachen”, murmelte sie und bemerkte, dass ihre Stimme nun schwerfälliger geworden war, wo ihr Körper sich in der Horizontalen entspannte. Wenn sie nicht bald aufstanden, würde sie hier einschlafen, ganz egal wie unbequem das Bett war.

“Das sollten wir wohl”, stimmte Enric zu ohne sich zu bewegen, als warte er darauf, dass sie zuerst aufstand.

Ein Klopfen an ihrer Tür veranlasste beide, sich zurück in eine aufrechte Position zu kämpfen und mühsam die Schwere in ihren Gliedern zu überwinden.

Eryn öffnete die Tür und gewährte zwei Dienern Zutritt, die, genau wie Erbál versprochen hatte, ihre Habseligkeiten brachten.

Sobald sie wieder fort waren, öffnete Eryn eine Tasche und zog für jeden von ihnen eine saubere Garnitur Kleidung hervor.

“Ich schätze, jetzt wo unsere Sachen hier sind, können wir uns umziehen und haben keine Ausrede mehr dafür, faul zu sein.” Sie warf ihm seine Kleider zu. “Ich zuerst.” Sie trat auf eine zweite Tür zu. “Was meinst du – ob das wohl ein Badezimmer ist?” Ohne auf seine Antwort zu warten, öffnete sie die Tür und pfiff durch die Zähne. Endlich eine nette Überraschung. “Sieh dir das an! Wir haben hier wahrhaftig ein Badezimmer – nur für uns allein, kein Teilen. Und ein großes noch dazu! Es ist sicher mindestens so groß wie das Schlafzimmer! Offensichtlich legt man hier größeren Wert auf Reinlichkeit als auf komfortable Nachtruhe.”

Gebannt konzentrierten sich Eryns Augen zuerst auf die riesige, weiß schimmernde Badewanne in der Mitte des Raumes, dann auf die Kupferrohre entlang der Wände. Da war eine recht zierlich anmutende Vorrichtung, aus der wohl das Wasser kommen sollte. Das sah vollkommen anders aus als die Wasserpumpe in ihrem eigenen Badezimmer in Anyueel, die ihr im Vergleich zu alldem hier plötzlich plump und altmodisch erschien.

Sie trat näher an die Wanne und sah genauer hin. Die kleine Apparatur war mit den Kupferrohren verbunden und würde sehr wahrscheinlich Wasser speien, sobald sie einen der beiden Porzellanknäufe auf jeder Seite der Öffnung drehte. Auf jeden davon war ein Wort in der hiesigen Sprache eingearbeitet. Eryn beugte sich vor, um sie zu entziffern. Es waren recht elementare Worte. Warm und kalt, erinnerte sie sich, begeistert, dass sie das Wissen um die Sprache, seit sie sie vor einigen Jahren zu lernen begonnen hatte, zum allerersten Mal außerhalb eines Buches anwenden konnte.

Sie runzelte die Stirn. Warm und kalt. Was sollte das denn bedeuten? Wasser war von Natur aus kalt. Es musste entweder mittels Magie oder Feuer erhitzt werden. Sie sah sich um. Weder im Schlafzimmer noch hier drin hatte sie eine Feuerstelle entdeckt, die es den Dienern erlauben würde, Wasser zu erhitzen, ohne dass sie es von wer weiß woher herbeischleppen mussten. War sie vielleicht irgendwo versteckt? Sie sah sich nach einer zusätzlichen Verkleidung oder einer Tür um, die irgendeine Aussparung verdecken mochte, fand jedoch auf den ersten Blick nichts. Achselzuckend wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Badewanne zu und entschied, nicht länger zu grübeln, wenn Experimentieren so viel reizvoller war.

Langsam drehte sie den Knauf, der mit “warm markiert war und vernahm ein leises Gurgeln, bevor Wasser aus der Öffnung hervorzuschießen begann. Eryn blinzelte. Ohne pumpen floss es einfach aus diesem metallenen Auslass und landete plätschernd in der glänzenden weißen Wanne. Und verschwand wieder durch ein rundes Loch. Auf einem Beistelltisch fand Eryn einen Stöpsel, dessen Größe und Form vermuten ließen, dass er zum Verschließen des Lochs gedacht war. Sie beugte sich vor um genau das zu tun und erstarrte, als das Wasser ihre Haut berührte. Es war warm! Und mit jedem Moment schien es ein wenig heißer zu werden! Wie war das nur möglich?

“Enric?”, rief sie, in ihrer Stimme von Müdigkeit keine Spur mehr. “Komm und sieh dir das an! Das ist phantastisch!”

*  *  *

“Ihr habt euch aber Zeit gelassen”, kommentierte Erbál, als sie der Straße folgten, die von seinem Heim und Arbeitsplatz wegführte. Es schwang ein Hauch eines Vorwurfs darin mit, als wäre er begierig darauf, diesen Spaziergang mit den Leuten zu unternehmen, die er im weitesten Sinn als seine Landsleute betrachten konnte.

“Eryn hat das Badezimmer entdeckt”, bemerkte Enric. “Sie war nicht mehr herauszukriegen.”

“Dann hast du also ein Bad genommen?”, fragte der Botschafter, seine Stimme nun amüsiert.

Bevor Eryn eine Chance hatte zu antworten, stieß Enric ein wenig gediegenes Schnauben aus. “Das hätte wesentlich weniger Zeit in Anspruch genommen, vermute ich. Nein, sie hat entdeckt, dass aus euren Rohren heißes Wasser herauskommt und musste sich auf Entdeckungsreise begeben. Entdecker und so.”

Erbál lächelte. “Ah, das war auch für mich eine beachtliche Entdeckung, als ich hier eintraf. Die erste Überraschung war, dass die Badezimmer direkt an den Schlafzimmern dranhängen, also hat jeder Bewohner ein eigenes. Sich ein Badezimmer teilen zu müssen wird als Zumutung erachtet. Zumindest in wohlhabenderen Wohnsitzen. Und dann war da noch das heiße Wasser, das ohne erkennbaren Aufwand der Diener bereitgestellt wird. Es erschien mir wie ein Wunder.”

“Also, wie funktioniert das?”, fragte Eryn ungeduldig. “Das Wasser muss irgendwo erhitzt werden. Vielleicht unterhalb des Daches? Das würde erklären, warum das Wasser dermaßen aus den Rohren herausschießt – weil es durch das Gewicht aus jeder verfügbaren Öffnung herausgedrückt wird. Aber das würde recht große Behälter für das Wasser erfordern, da ich vermute, dass sie mehr speichern sollten als man benötigt, um eine einzelne Badewanne zu füllen. Das würde eine beachtliche Belastung für das Gebäude bedeuten”, führte sie das, was sich mittlerweile von einer Unterhaltung in einen Monolog verwandelt hatte, fort. “Und man bräuchte auf jeden Fall mehr als einen Behälter, da das heiße Wasser separat aufbewahrt werden müsste. Allerdings kann man das nicht zu lange tun, sonst würde es wieder abkühlen. Was bedeutet, dass entweder jemand das Wasser ständig auf einer bestimmten Temperatur hält, sodass es auch ohne vorherige Ankündigung verfügbar ist, oder es wird auf eine Weise aufbewahrt, die die Hitze erhält – wie auch immer sich so etwas bewerkstelligen lässt. Damit bleibt noch…”

“Halt!”, unterbrach Erbál sie lachend. “Du machst mich schwindelig! Ich kann dir ein paar Grundlagen erklären, aber wenn du mehr darüber wissen willst, werde ich den Mann, der die Wartungsarbeiten durchführt, darum bitten, dass er dir das alles detaillierter erklärt, in Ordnung?”

Sie nickte eifrig.

Sie setzten ihren Weg dorthin fort, wo auch immer Erbál sie hinbrachte. Eryn schenkte den ungewohnten Straßen, Gebäuden, Geschäften und Leuten um sie herum keinerlei Beachtung, sondern konzentrierte sich auf das, was Erbál über dieses unglaubliche System wusste, das zu jeder Zeit heißes Wasser auf Abruf bereitstellte.

“Es gibt tatsächlich Wassertanks für heiß und kalt, jedoch nicht auf dem Dach, sondern im Keller. Du hast Recht – das Gewicht würde sonst die strukturelle Integrität des Gebäudes gefährden.”

“Aber wie kommt es mit solch einer Geschwindigkeit aus den Rohren, wenn es unten gespeichert wird?”, verlangte sie ungeduldig zu wissen. Wenn sie das Wasser von irgendwo heraufpumpen musste, dann bewegte es sich träge – selbst wenn sie Magie einsetzte, um ihre Kraft zu erhöhen.

“Das wird mit Druck bewerkstelligt. Anstatt sich auf das Gewicht des Wassers zu verlassen, indem man es weiter oben aufbewahrt, nutzen sie Pumpen, um im Inneren des Behälters Druck zu erzeugen. Wenn du einen Knauf in deinem Badezimmer drehst und damit ein Ventil öffnest, schaffst du einen Ausweg für das verdichtete Wasser, wodurch es herausschießt.”

Eryn nahm sich ein paar Augenblicke Zeit, um das in sich aufzunehmen. In ihrem Kopf ratterte es, als sie sich vorzustellen versuchte, wie all das aussehen musste.

“Wie groß sind diese Tanks? Wie oft werden sie nachgefüllt? Und wie? Wie wird das Wasser erhitzt? Und wie oft? Wie lange dauert das normalerweise? Wohin führt der Abfluss in der Badewanne? In wie vielen Räumen kann man die Ventile zur gleichen Zeit öffnen und noch immer Wasser bekommen? Kann ich gleichzeitig mit dir ein Bad nehmen? Wie genau wird der Druck in den Tanks erzeugt?”, bombardierte sie Erbál mit Fragen.

Beschwichtigend hob er seine Hände. “Langsam, meine Liebe. Ich fürchte, du stellst mehr Fragen als ich beantworten kann. Ich werde den Mann, den ich zuvor erwähnt habe, kontaktieren und ihn ersuchen, er möge ein wenig zusätzliche Zeit einplanen, wenn er das nächste Mal kommt. Das sollte etwa nächste Woche sein.”

Eryn nickte widerwillig. Geduld war noch niemals eine ihrer Stärken gewesen, und eine Woche lang auf Antworten warten zu müssen, nach denen sie in diesem Moment lechzte, war zermürbend.

Schließlich bemühte sie sich, die Umgebung in sich aufzunehmen, um sich von dem Rätsel des heißen Wassers abzulenken. Es schien, als durchquerten sie eine Art Handwerkerviertel – vorausgesetzt, die hatten ein eigenes Viertel und waren nicht überall in der Stadt verstreut.

Sie bewunderte die dekorativen schmiedeeisernen Ornamente, die über den Eingängen zu Werkstätten und Geschäften an den Fassaden der Gebäude befestigt waren.

“Das müssen Ladenschilder sein”, vermutete sie.

Erbál folgte ihrem Blick nach oben. “Ein wenig mehr als das. Das sind Gildensymbole. Sie zeigen an, welchem Beruf der Inhaber des Geschäfts nachgeht.” Er deutete nach vorne auf ein schwarzes Metallgebilde, das verdreht und nach oben gewunden war, bis es einer Kletterpflanze glich. Es war mit glänzenden, goldfarbenen Blättern verziert. “Siehst du das Symbol in der Mitte von alldem? Die Schere, um die sich eine Haarlocke ringelt? Das ist ein Friseur. Wann immer du solch ein Symbol siehst, weißt du sofort, um welche Art Geschäft es sich handelt.”

“Also haben alle von ihnen genau das gleiche Schild über ihrer Tür?”, fragte Eryn.

“Nicht genau das gleiche. Das Symbol selbst ist für jeden Beruf stets das gleiche, doch der dekorative Aspekt und die Größe hängen vom Geschmack des Inhabers ab – und davon, wie viel er willens oder in der Lage ist dafür auszugeben. Die Menge an Gold, die du siehst, zeigt in der Regel an, wie seine Ertragslage ist. Manche von ihnen verwenden nur das Symbol, andere fügen auch ihre Namen hinzu. Das betrifft vorwiegend Gasthäuser und auch alteingesessene Handwerker, deren Name weithin bekannt ist.”

“Wenn ich ein Gildensymbol mit einem Namen darunter sehe, kann ich also davon ausgehen, dass der Eigentümer einen sehr guten Ruf genießt und erstklassige Qualität liefert – was wahrscheinlich mit exorbitanten Preisen einhergeht?”, lächelte Eryn.

Erbál zuckte mit den Achseln. “Ja, das ist eine berechtigte Annahme. Was nicht bedeutet, dass Geschäfte ohne Namen auf ihrem Gildensymbol immer nur moderate Preise anbieten. Im Allgemeinen empfiehlt es sich, unterschiedliche Anbieter zu vergleichen, wenn du einen kostspieligen Artikel zu erwerben beabsichtigst.”

Enric hörte aufmerksam zu. Während seines letzten Besuchs hatte er nicht wirklich Zeit oder auch die Neigung gehabt, Genaueres über diesen Ort zu erfahren. Irgendwie war das bedauerlich. Doch damals waren seine Prioritäten ganz andere gewesen – Malriel vor einer möglichen Todesstrafe zu bewahren und nach Hause zu seiner Gefährtin und seinem neugeborenen Sohn zurückzukehren. Er und Vran’el hatten einige Tage hier verbracht und auf die Ausfertigung von Papieren und Bewilligungen von Anfragen gewartet, doch man hatte ihnen verboten, ihre wenig verlockende und karge Unterkunft zu verlassen.

“Noch ein Friseurbetrieb”, meinte Eryn, als sie ein ähnliches Schild entdeckte.

“Nein, nicht ganz. Dieses Mal befindet sich die Schere über einem Stoffballen, also ist das hier ein Schneider”, erklärte Erbál.

Sie setzten ihren Weg fort, und Erbál zeigte ihr die Symbole der unterschiedlichen Handwerker. Ein Büschel Trauben über einem Glas für eine Weinhandlung, zwei umeinander gewundene Blumen für jemanden, der mit Kräutern handelte, ein Baumstamm und Hammer für Tischler, zwei überkreuzte Schlüssel für Schlosser, ein paar Schuhe für Schuster und so weiter.

Nach einigen Minuten erreichten sie einen Landungssteg, der hinausführte in den See, der die Stadt halb umschloss. Sie hatten also den Stadtrand von Kar erreicht.

Eryn und Enric folgten dem Botschafter, der einige Schritte nach unten zum Wasser ging, wo ein paar kleine Boote an dem langen, hölzernen Pier vertäut lagen.

“Wir müssen doch wohl nicht in eines dieser… Dinger einsteigen?”, fragte Eryn ohne große Hoffnung. Sie hatte sich gerade einmal an Schiffe gewöhnt. In deren Fall gab es allerdings wesentlich mehr Substanz zwischen ihr und dem Wasser als bei diesen Nussschalen. Es brauchte wohl nicht viel, damit eine davon kenterte, sobald jemand eine falsche Bewegung vollführte.

“Ich fürchte schon”, erwiderte ihr Gefährte und ergriff ihre Hand um sicherzugehen, dass sie mitkam.

“Ich werde keinesfalls rudern, nur damit du es weißt”, knurrte sie und ließ zu, dass Erbál ihre Hand nahm, um ihr in das von ihm auserwählte Gefährt, das bedrohlich wackelte, zu helfen.

Sobald alle im Boot waren, löste Erbál das Tau und stieß das Boot mit einem Ruder vom Pier ab. Dann reichte er es an Enric weiter. Der Botschafter war der einzige anwesende Nicht-Magier und würde gewiss nicht die körperliche Anstrengung des Ruderns auf sich nehmen.

Ohne jeden Widerspruch akzeptierte Enric die Aufgabe und trieb das Boot mit jedem kräftigen Stoß vorwärts. Niemand sprach ein Wort, bis sie die Stadt weit hinter sich gelassen hatten. Erbál hob eine Hand um anzuzeigen, dass sie nun weit genug vom Ufer entfernt und damit wahrhaftig außerhalb der Reichweite aufdringlicher Augen oder Ohren waren.

*  *  *

“Unglücklicherweise ist die Fähigkeit des Lippenlesens hier recht gängig”, erklärte Erbál seine Entscheidung, sie an einen Ort zu bringen, wo es unmöglich war, sich ihnen ungesehen zu nähern, solange das Boot sanft in der Mitte des ausladenden Sees schaukelte. Er nickte Eryn zu. “Eine Fertigkeit, von der ich glaube, dass du sie ebenfalls beherrschst.”

“Das ist wohl wahr”, versetzte sie etwas verstimmt. “Aber ich habe dabei sicher nicht daran gedacht, dass es eine fabelhafte Möglichkeit ist, um andere auszuspionieren, sondern habe es für das Heilen erlernt.”

“Aber natürlich”, erwiderte Erbál und lächelte. “Nichts anderes hätte ich vermutet. Hier jedoch ist es nicht diese noble Gesinnung, die die Leute dazu veranlasst, sich diese Fähigkeit anzueignen. Da Magier als potentielle Gefahr betrachtet werden, wird das Lippenlesen als praktische Methode erachtet, um damit deren Fähigkeit zum Errichten schalldichter Barrieren zu begegnen. Vorausgesetzt, man kommt nahe genug an sie heran. Ihr würdet nicht glauben, wie übersät mit Gucklöchern die Gebäude hier sind.”

“Aber dass wir hier herausfahren wird den Leuten ebenfalls zu denken geben”, merkte Eryn an. “Es ist recht offensichtlich, dass du uns nicht für einen angenehmen, entspannenden Nachmittag hier herausgebracht hast.”

Er winkte ab. “Aber natürlich wird es das. Und sie erwarten es auch. Womöglich hätte es sie unendlich überrascht, hätte ich euch nicht an einen Ort gebracht, wo keine unwillkommenen Augen oder Ohren in der Nähe sind.”

“Wie weithin bekannt ist der Zweck unserer Reise hierher?”, wollte Enric wissen. “Gibt es irgendeinen Schein, den wir aufrechterhalten sollten?”

“Die höchsten Ränge wissen, dass es Pläne zur Ermordung der Königin von Anyueel gab, und dass die Spur nach Pirinkar führt. Ich kann nicht wirklich sagen, wie weit sich das verbreitet hat. In unserem Interesse hoffe ich, dass möglichst viele Leute bereits davon wissen. Sonst werden wir in den nächsten Tagen eine Menge Besucher empfangen. Die Leute hier sind sehr neugierig. Und dass man ihnen etwas nicht mitteilt, ist für sie kein Grund zu akzeptieren, dass dieses Wissen nicht für sie bestimmt ist.”

“Nun, das klingt ja vertraut…”, murmelte Eryn, die Spione leidenschaftlich hasste.

“Weiß hier jemand, dass du derjenige warst, der uns die Warnung über das anstehende Attentat auf das Leben der Königin zukommen hat lassen?”, fragte Enric.

“Ich hoffe inständig, dass dies nicht der Fall ist. Damit hätte ich eine Zielscheibe auf meinem Rücken.”

“Wie hast du davon erfahren?”, fragte er.

“Durch einen anonymen Brief, der an meine Residenz geliefert wurde.”

Eryn zog die Augenbrauen hoch. Sie hatte damit gerechnet, dass es sich dabei um das Ergebnis monatelanger detektivischer Bemühungen gehandelt hatte anstatt eines glücklichen Zufalls, solange Erbál in all seiner Sorgsamkeit und Gründlichkeit involviert war. Also war die rechtzeitige Warnung nichts als Glück gewesen. Irgendwie war das alles andere als tröstlich. Es bedeutete, dass die verantwortliche Person oder Personen es gut genug verheimlicht hatten, damit Erbál es aus eigenen Kräften nicht herauszufinden vermocht hatte.

“Das bedeutet, dass zumindest eine Person – der Absender des Briefes – weiß, dass unsere Anwesenheit das Resultat einer Warnung ist, die du uns zukommen hast lassen, und nicht unseres eigenen Spürsinns in Anyueel”, grübelte Enric.

“Sehr richtig”, bestätigte der Botschafter. “Bislang konnte ich die Identität meines wohlwollenden Informanten noch nicht lüften.”

“Gibt es hier irgendjemanden, dem du vertrauen kannst?”, fragte Eryn.

Erbál lachte. “Meine Güte, nein! Ich habe hier Freundschaften geschlossen, doch ich werde mich hüten, einem von ihnen zu vertrauen. In einer Position wie meiner gegenwärtigen kannst du niemals sicher sein, weshalb dir jemand näherkommen möchte.”

Eryn war es etwas peinlich, dass sie ihre Naivität auf diese Weise demonstriert hatte. Und doch würde sie Erbáls Raffinesse nicht besitzen und dazu gezwungen zu sein wollen, sie tagtäglich anwenden zu müssen, nur um ihr Überleben zu sichern. Für ihn waren Freundschaften keine Quelle der Freude, sondern eine Möglichkeit, um potentiellen Feinden nahe zu sein und Informationsquellen anzapfen zu können. Das klang unglaublich einsam, und sie würde keinesfalls tauschen wollen.

“Wie genau schätzen wir die bisherigen Vorkommnisse nun ein?”, fragte sie. “Ich gehe davon aus, dass irgendjemand in Pirinkar die gemeinsame Bedrohung loswerden will, die die Allianz zwischen Anyueel und den Westlichen Territorien im Falle eines Krieges darstellt. Die Ermordung der Königin hätte zwei Ziele erfüllt – erstens hätte sie das engere Band gekappt, das der König zwischen unseren Ländern schmieden will, und zweitens hätte man es so hingestellt, als wäre dies von den Westlichen Territorien ausgegangen. Und meinen Vater in seiner einflussreichen Position als Oberhaupt der Heiler und Gefährte einer Triarchin zu beschuldigen hätte den Zweck erfüllt. Selbst wenn der König persönlich nicht darauf hereingefallen wäre, so hätte es doch die Mehrheit seines Volkes geglaubt.”

“Ich würde sagen, das fasst es ganz gut zusammen”, nickte Erbál.

“Was also war die Absicht der Person, die dir die Nachricht zukommen ließ?”, setzte sie ihren Gedankengang fort. “Entweder will sie einen Krieg verhindern, indem sie die Position ihres eigenen Landes soweit schwächt, dass es zweimal überlegt, bevor es einen auslöst, oder man will den Krieg verlieren.”

“Es gibt eine dritte Möglichkeit”, ergänzte Enric. “Das Ergebnis von allem, was sich ereignet hat seit Erbál die Warnung erhielt, ist unsere Anwesenheit hier.”

Eryn zog die Augenbrauen zusammen. “Du meinst, all das könnte ein ausgeklügelter Plot sein, um uns hierher zu locken? Warum?”

“Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich all das in Übereinstimmung mit jemandes Plan entwickelt. Vielleicht möchte jemand tatsächlich einen Krieg beginnen, und uns auf einer Friedensmission ums Leben zu bringen wäre ein zuverlässiger Auslöser.”

Sie schluckte und fühlte sich plötzlich noch angreifbarer als zuvor. “Hätte es zu diesem Zweck nicht gereicht, Erbál umzubringen? Ich meine, wie eindeutiger kann man einen Krieg anzetteln als den Diplomaten zu töten, den dir jemand gesendet hat? Und uns beide zu töten würde unsere Länder auf jeden Fall gegen Pirinkar vereinen und einen Sieg sogar noch unwahrscheinlicher machen.”

“Wie ich schon sagte, ich habe keine Ahnung, ob das der Fall ist oder nicht. Ich sage nur, wir sollten es nicht ausschließen.”

“Du hast Recht”, stimmte Erbál zu. “Es war nicht schwer zu erraten, wen man auswählen würde, sobald sich die Notwendigkeit ergab, jemanden nach Kar zu entsenden. Enric war bereits einmal hier und hat zumindest ein paar Eindrücke gesammelt, und Eryn, bei dir ist bekannt, dass du Material für Sprachstudien erhalten hast. Die Tatsache, dass ihr beide miteinander verbunden seid, macht euch zu den wahrscheinlichsten Kandidaten. Doch obwohl wir all das bedenken sollten auf unserer Suche nach dem, was hier wirklich vor sich geht, so ist es doch zu früh, um einer Option den Vorzug zu geben.”

Enric pflichtete bei, obwohl es ihm keineswegs lag, sich blind vorwärts zu tasten – und das an einem Ort, der ihm nicht vertraut war. “Was schlägst du vor, wo wir unsere Ermittlungen beginnen sollen?”

“Morgen Abend wird es eine offizielle Veranstaltung geben, um euch beide in Kar willkommen zu heißen. Dabei werde ich euch ein paar der einflussreicheren Leute vorstellen. Womöglich erwächst euch daraus eine Eingebung. Und dann würde ich vorschlagen, ihr wendet euch an die Magier – oder Priester, wie man sie hier nennt.”

“Wie erpicht werden die Hohen und Mächtigen hier sein, morgen unsere Bekanntschaft zu machen?”, fragte Eryn mit einem Gefühl des Unbehagens. “Abgesehen von der Tatsache, dass wir von einem Land hergeschickt wurden, dem viele von ihnen misstrauen, kommt noch hinzu, dass sie Magiern mit Verachtung begegnen oder sie zumindest ignorieren.”

“Das stimmt”, gestand Erbál ohne Zögern. “Andererseits begrüßen sie aber auch alles, was Abwechslung bringt. Ihr seid eine unbekannte Kombination von Umständen. Ihr seid einflussreiche Politiker und im Besitz von beträchtlichem Vermögen – etwas, das respektiert wird. Dennoch seid ihr auch Magier, was hier als eine niedere Klasse von Menschen betrachtet wird. In welche Richtung die Waage ausschlägt, wird sehr stark davon abhängen, wie ihr euch morgen präsentiert.”

“Keine offensichtlichen Hinweise auf unseren zutiefst verachtungswürdigen Makel”, wiederholte Eryn, was sie bereits mit Enric diskutiert hatte.

“Genau. Verhaltet euch auf eine Weise, die den Leuten die Entscheidung erleichtert, in welche Kategorie sie euch stecken sollen – in die der ausländischen Edelleute. Das wird auch erfordern, dass ihr in der Öffentlichkeit eure Erhabenheit über mich demonstriert.”

Eryn verzog das Gesicht. “Was?”

“Ihr seid wichtiger als ich, und unser Umgang miteinander muss das widerspiegeln”, erklärte er. “Magier werden normalerweise nicht mit Ehrerbietung behandelt. Zu sehen, dass ich euch als jemand Übergeordneten behandle, sollte die Botschaft transportieren helfen, dass man euch auf Augenhöhe begegnen muss.” Er lächelte Eryn an. “Ich weiß, dass dies allem widerspricht, woran du glaubst – etwas vorzugeben, das du nicht bist und andere Menschen als untergeordnet behandeln. Doch in diesem Fall wird es unserem Ziel dienen. Wenn die Leute eine Sache wissen, aber die andere immer wieder vor Augen gehalten bekommen, beginnen sie zu glauben, was sie sehen. Das ist ein Aspekt der menschlichen Natur. Einen, den wir zu unserem Vorteil nutzen können.”

“Im Lügen und Vortäuschen bin ich nicht gut”, entgegnete Eryn, ihre Haltung resigniert. “Besonders, wenn ich dafür meine Freunde herabwürdigen muss.”

“Ich weiß. Aber in diese Rolle musst du hineinwachsen, und zwar rasch.” Erbál nahm ihre Hand und drückte sie. “Die Einheimischen müssen euch großzügig verzeihen, dass ihr Magier seid, indem sie entscheiden, dass ihr mit ihnen viel mehr gemeinsam habt als mit den Priestern. Priester können niemals auf einen Nicht-Magier hinabschauen, also ist das ein wirksames Mittel, um hier einen Kontrast zu schaffen.”

“Was bedeutet, dass uns die Priester auch nicht akzeptieren werden, weil wir zwar theoretisch Magier sind, uns aber nicht so verhalten”, argumentierte Eryn.

“Das wird sich zeigen. Da Priester schon von klein auf lernen, dass sie weniger wert sind, mag es sein, dass euch manche von ihnen dafür bewundern, dass ihr in der Gesellschaft der Nicht-Magier akzeptiert werdet”, konterte der Botschafter. “Aber konzentrieren wir uns zu Beginn erst einmal nur auf eine Sache.”

Du hast leicht reden, dachte Eryn, du musstest kein Kind in einem anderen Land zurücklassen und vermisst es so sehr, dass es wehtut. Sich die Zeit zu nehmen, eines nach dem anderen zu überdenken, klang für sie nicht besonders ansprechend. Da war dieser innere Drang, der sie zur Eile antrieb und vollkommen außer Acht ließ, dass es galt, mit großer Bedachtsamkeit vorzugehen und nichts zu überstürzen. Dies mochte sonst für alle drei Länder verheerende Konsequenzen mit sich bringen. Trotzdem…

Kapitel 3

Seltsame Sitten

Enric spürte, wie Eryn neben ihm in der Kutsche von unruhiger Energie beseelt war. Ein Teil davon war sehr wahrscheinlich der Einweisung geschuldet, die Erbál ihnen angedeihen hatte lassen. Sie hatte aus einer Liste von Leuten bestanden, denen sie mit ziemlicher Sicherheit bei dieser formellen Zusammenkunft anlässlich ihrer Ankunft begegnen würden. Mit dem vollen Namen jeder einzelnen Person. Alles in allem hatte es einige Stunden erfordert, um die Details auswendig zu lernen. So hatten sie ihren ersten Tag nach ihrer Ankunft in Kar verbracht – mit dem Einprägen einer fortlaufenden Kaskade an Namen in einem so fremdartigen Stil, dass ihre Gehirne mit nur wenig aufwarten konnten, womit sich all dies verknüpfen ließ.

Dieser Abend war nun so etwas wie eine Abschlussprüfung und würde zeigen, wie zuverlässig ihr Erinnerungsvermögen war. Eine Person mit dem falschen Namen anzusprechen oder auch nur eine fehlerhafte Variation des korrekten zu gebrauchen stellte eine beträchtliche Beleidigung dar, die sie nach Möglichkeit vermeiden mussten. Sonst würde dies ihre Mission, die Einheimischen mit ihrer Eleganz, ihrem Flair und ihrer Wichtigkeit zu imponieren, maßgeblich erschweren.

Enric hätte die Zeit lieber darauf verwendet, Pläne zu schmieden, sich mit der Anordnung der Straßen oder der Kultur besser vertraut zu machen, doch Erbál hatte darauf bestanden, dass diese Namensliste wichtiger als alles andere war. Eryn war ebenfalls verdrossen darüber, dass sie den Tag ans Haus gefesselt war mit Listen aus Namen und Titeln, die für sie keinerlei Bedeutung hatten, solange sie sie nicht mit Gesichtern verknüpfen konnte.

Eryn zog ihr Kleid nach oben in dem vergeblichen Versuch, mehr von ihrem Dekolleté zu bedecken. Das Kleid. Der zweite Grund dafür, weshalb sie sich unwohl fühlte und herumzappelte. Es hatte zwei Dienerinnen gebraucht, die ihr hineinhelfen hatten müssen – eine Prozedur, die Enric nicht mitangesehen, sondern nur vom benachbarten Raum aus mitangehört hatte. Es hatte qualvoll geklungen. Wahrscheinlich war es gut, dass die Frauen die Flüche nicht verstanden hatten, die Eryn ausgestoßen hatte. Erbál neben ihm hatte ausgesehen, als würde ihm vor dem Moment grauen, an dem Eryn aus dem Zimmer herauskam nach den Torturen, die sie anscheinend erdulden hatte müssen.

Es hatte beinahe eine Stunde gedauert, sie zu überzeugen, dass sie es anziehen musste. Ursprünglich hatte sie darauf bestanden, eines von den formellen Abendkleidern zu tragen, die sie mitgebracht hatte, doch Erbál hatte ihr wiederholt erklärt, dass sie sich damit allzu sehr abheben würde. Sie mussten sich einfügen, und das schloss mit ein, sich wie die Einheimischen zu kleiden. Eryn hatte argumentiert, dass die Illusion, sie wäre eine von ihnen, sogleich zerstört werden würde, sobald sie ihren Mund öffnete – entweder weil sie sich einer für diese Leute fremden Sprache bediente, oder weil sie in deren Muttersprache vor sich hin stotterte. Erbál war standhaft geblieben und hatte erklärt, dass dies ein weiterer Grund war sicherzustellen, dass ihr körperliches Erscheinungsbild diesem Eindruck von Fremdheit entgegenwirkte, anstatt ihn zu verstärken. Er hatte sich bereits vor ihrer Ankunft erlaubt, Kleidung für sie und Enric zu bestellen, also mussten diese lediglich für den perfekten Sitz angepasst werden.

“Wie schaffen es die Frauen hier, in diesen Kleidern zu atmen?”, presste Eryn hervor. “Mir ist schwindelig. Das ist so eng, dass ich nicht genug Luft in meine Lungen bekomme! Wenn ich mich zu viel bewege, laufe ich Gefahr ohnmächtig zu werden!”

Erbál nickte voller Anteilnahme. “Ich weiß – ich beneide dich keineswegs. Es ist eine grausige Mode. Sie wurde eingeführt, um Frauen davon abzuhalten, dass sie sich allzu viel bewegen und sie in die Art hilflose Kreatur zu verwandeln, mit der sich weniger selbstbewusste Männer gerne umgeben. So fühlen sie sich in ihrer Vorstellung von Männlichkeit nicht bedroht. Du magst das nicht glauben, doch die Kleider sind nicht einmal mehr annähernd so einengend wie noch vor einhundert Jahren.”

Eryn starrte ihn vollkommen entsetzt an. Diese Folterkleidung, die sie gerade trug, war eine gemäßigte Version?

“Sie haben aber noch immer einiges an Arbeit vor sich. Wenn du mich fragst, sind sie immer noch nicht soweit, Frauen als gleichberechtigt anzuerkennen”, knurrte sie.

“In Anyueel ebenso wenig, was das angeht”, warf Enric ein. “Frauen können in der Gesellschaft ausschließlich über den Einfluss ihres Gefährten Bedeutsamkeit erlangen. Und es gibt so gut wie keine Möglichkeit für sie, eine Position politischer Macht zu erlangen. Du bist die einzige Ausnahme, und das liegt allein an deiner beachtlichen magischen Stärke. Die Westlichen Territorien sind uns in dieser Hinsicht weit voraus.”

“Ja, weil sie schon immer magisch begabte Frauen hatten”, murmelte Eryn. “Doch sie haben ihre eigenen Probleme – wie zum Beispiel, dass sie Nicht-Magier als Menschen zweiter Klasse betrachten.”

Erbál lächelte vage. “Ich gebe zu, das ist wahr. Doch zu unserer Verteidigung muss ich sagen, dass wir zumindest nicht auf die Weise mit ihnen verfahren, wie es Pirinkar mit Magiern tut – als wären sie abscheuliche Geschöpfe, die mehr oder weniger hinter Tempelmauern eingesperrt werden müssen.”

“Dann sind wir uns also einig, dass Pirinkar von allen drei Ländern dasjenige ist, das Leuten fernab des wahrgenommenen Idealzustands am wenigsten Rücksicht entgegenbringt”, seufzte Eryn. “Das würde mich zumindest ein wenig trösten, wäre ich nicht die Einzige von uns, die in diesem grässlichen Kleidungsstück festsitzt. Oder eher Kleidungsstücken. Habt ihr eine Ahnung, aus wie vielen Einzelteilen sich diese grauenhafte Komposition zusammensetzt? Ich glaube, ich habe irgendwann den Überblick verloren. Einer der Teile war nur dazu da, um meine Taille zusammenzuschnüren! Zwei Leute waren nötig, um ihn zu schließen! Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, wie sehr meine inneren Organe gequetscht werden? Das ist überhaupt nicht gesund! Ich kann kaum sitzen! Was für einer Art von Schönheitsideal soll das überhaupt dienen? Der Illusion, dass Frauen auf eine Weise gebaut sind, die zwei Männerhänden erlaubt, ihre Mitte zu umfassen?”

Erbál überlegte kurz, dann zuckte er mit den Schultern. “Ich weiß, dass diese Aussage deinem Ärger entspringt, doch sie mag tatsächlich nicht so weit von der Wahrheit entfernt sein. Eine schmale Taille lässt eine Frau zerbrechlicher wirken, und genau so sollen sie sich selbst wahrnehmen.”

“Ich habe noch nicht viel von diesem Ort gesehen oder irgendjemanden kennengelernt, aber ich mag ihn schon jetzt nicht”, knurrte sie. “Wie lange soll diese oberflächliche Veranstaltung heute Abend dauern? Werden wir dort in einer Stunde oder zwei wieder fort sein oder ist es so eine endlose Angelegenheit wie ein königlicher Ball zuhause?”

“Es wird als Beleidigung empfunden, wenn du dort bereits nach zwei oder drei Stunden wieder gehst, ohne dass du einen echten Notfall zu deiner Entschuldigung vorweisen kannst”, informierte sie der Botschafter.

Eryn unterdrückte ein gequältes Stöhnen. Genau das hatte sie befürchtet. “Das ist ein Alptraum! Wie soll ich mir all diese Namen merken, freundlich zu den Leuten sein und jedes meiner Worte abwägen, damit ich keine Andeutung darauf fallenlasse, dass wir Magier sind, wenn mein Gehirn mit dringend benötigtem Sauerstoff unterversorgt ist?”

Erbál ließ den Atem entweichen und sah Enric an. “Besteht eine realistische Chance, dass sie sich benehmen wird?”

Enrics Gesichtsausdruck zeugte von seinen Zweifeln, als seine Augen über das Kleid wanderten. “Einige Stunden lang, während sie in diesem Ding feststeckt? Ehrlich gesagt, würde mich das überraschen.”

Einige Sekunden des Schweigens folgten, in denen das Rattern der Kutschenräder auf den Pflastersteinen und das Klappern von Hufeisen die einzigen hörbaren Geräusche waren.

Erbál nickte langsam und schürzte die Lippen. “Also schön, ich werde an die Gastgeberin herantreten und sie ersuchen, sie möge zwei ihrer Zofen schicken, damit sie die Schnürung in deinem Rücken ein wenig lockern, damit du leichter atmen kannst.”

Die Erleichterung hinter Eryns Lächeln kam aus tiefstem Herzen. Sie wollte sich nach vorne beugen und seine Hand drücken, bemerkte aber, dass sie ihren Oberkörper dafür nicht weit genug neigen konnte. In ihren Augen glänzte es entschlossen.

“Nie wieder werde ich zulassen, dass du mich in so etwas steckst! Ich werde deinem Schneider einen Besuch abstatten und mich mit ihm darüber unterhalten, wie man ein formelles Kleid im hiesigen Stil anfertigen kann, in dem ich nicht ersticke.”

Erbál nickte besiegt. “Ich schätze, mit diesem Kompromiss muss ich mich zufriedengeben. Ich werde dich begleiten. Seine Fremdsprachenkenntnisse mögen sonst nicht ausreichen, um deine Wünsche umzusetzen.”

Eryn lächelte grimmig. “Weißt du, was mir in meinen Sprachunterweisungen gefehlt hat? Flüche. Du solltest mir ein paar beibringen. Ich habe das Gefühl, dass ich sie brauchen werde. Tatsächlich hätte ich bereits Verwendung dafür gehabt.”

Er schnaubte. “Darauf greife ich womöglich zurück, sollte ich jemals einen todsicheren Weg brauchen, damit eine Krise zu einem Krieg eskaliert. Aber sicher nicht vorher.” Er blickte aus dem Kutschenfenster, als das Gefährt zum Stillstand kam. “Wir sind da.”

*  *  *

Prüfend zog Eryn den Atem ein und ließ ihn wieder entweichen. Dann lächelte sie. Das war schon besser. Nun stand sie nicht länger an der Schwelle einer Ohnmacht, nachdem die zwei schweigsamen Zofen, die Erbál für sie organisiert hatte, die Schnürung dieser unsäglichen Vorrichtung, in die ihr Oberkörper hineingestopft war, eine Spur gelockert hatten.

Sie trat hinaus in einen kleinen Garderobenraum und ergriff Enrics dargebotenen Arm. Erbál ging voraus und reichte einem bedrohlich wirkenden Mann mit erheblich mehr Rüschen als irgendjemand tragen sollte, eine gefaltete Karte mit kunstvoll geschnittenen Kanten. Sehr wahrscheinlich die offizielle Einladung um zu belegen, dass es ihnen gestattet war, diesen verschwenderisch anmutenden Bereich zu betreten, der sich direkt hinter dem Diener auftat. Es war so etwas wie ein Vorraum: zwei Stockwerke hoch mit zwei luxuriösen, breiten, perfekt symmetrisch geschwungenen Treppen mit kompliziert geformten, schwarzen Handläufen auf einer Seite. Sie nahmen auf je einer Seite des Raumes ihren Anfang und trafen einen Stock höher auf der gleichen Plattform aufeinander, von der aus sich eine reich verzierte Doppeltür öffnete in den Raum, wo wohl die Gäste empfangen wurden. Die Plattform wurde von einer Anzahl kunstvoll ausgestalteter Säulen getragen, die offenkundig aus dem gleichen hellen Stein durchzogen mit subtilen dunkleren Adern gefertigt waren wie die Stufen. Zwischen den Säulen unter der Plattform waren mehrere geschlossene Türen sichtbar.

Während der Diener zuerst die Einladung und dann die drei Gäste gewissenhaft überprüfte, beobachtete Eryn drei Frauen, die von Männern die Treppe hinaufgeleitet wurden. Sie waren in ähnlich lächerliche Monstrositäten gekleidet wie sie selbst. Junar vermochte womöglich aus dem Stoff, der für ein einziges verwendet wurde, drei Kleider zu schneidern. Die Männer ähnelten einander in ihrem Erscheinungsbild sogar noch stärker als die Frauen. Jeder Einzelne von ihnen trug eine dunkle, kragenlose Jacke aus irgendeinem schweren Stoff, in den krause Muster eingewebt waren. Sie reichte bis zu den Knien. Darunter kam eine Art von zugeknöpfter Weste in einer nicht ganz so strengen Farbe zum Vorschein, und unter der trug man ein weißes Hemd mit langen, hauchdünnen Rüschen am Hals und an den Handgelenken. Viel zu überladen und weiblich für Eryns Geschmack. Die Hosen wirkten im Vergleich dazu einfach, gingen jedoch aus irgendeinem Grund nur bis zu den Knien, genau wie der Überrock. Die Waden steckten gut sichtbar in irgendeinem hellen, anschmiegsamen Material.

Und um das Bild zu vervollständigen, hatten sie alle ihre Haare mit dem gleichen Öl zurückgestrichen, das sie schon an Erbál gesehen hatte. Außer Enric, der es mit Hilfe von Magie tat.

Sie sah zu ihrem Gefährten auf. Sie hatte ihn immer schon für einen gutaussehenden Kerl gehalten – nun, zumindest nachdem ihr Hass sie nicht länger für seine körperlichen Vorzüge blind gemacht hatte. Doch sogar er sah in diesen Kleidern lächerlich aus. Einerseits verspürte sie Schadenfreude darüber, dass es nicht einmal der sagenhafte, eindrucksvolle Lord Enric vermochte, Rüschen gut aussehen zu lassen, andererseits jedoch wurde ihr das Herz bei seinem Anblick schwer.

Vedric würde in Gelächter ausbrechen, könnte er seinen Vater in seiner aktuellen Aufmachung sehen. Der Gedanke ließ sie lächeln, löste aber auch einen Stich der Sehnsucht aus.

Erbál bedeutete ihnen, vor ihm die Stufen zu der Plattform emporzusteigen um zu zeigen, dass ihr Rang seinen eigenen übertraf. Eryn hob das Kinn, legte ihre Hand auf Enrics Arm und nahm die Mühe in Angriff, sich selbst und das beträchtliche Gewicht all dieser Stoffe nach oben zu schaffen.

Oben angelangt, eröffnete sich ihnen der ausladende Saal geschmückt mit verzierten Säulen, Spiegeln, goldenen Besätzen und einem Boden in einem schwindelerregenden, mehrfarbigen Muster. Neben der Tür standen drei Personen, ein Mann und eine Frau, die vielleicht, vielleicht auch nicht in ihren frühen Fünfzigern sein mochten, und ein jüngerer Mann, dessen Lächeln eher einer Maske als einem Ausdruck ehrlicher Freude entsprach.

“Die Gastgeberin und der Gastgeber”, flüsterte Erbál hinter ihnen, wobei sich seine Lippen kaum bewegten. “Und ihr ältester Sohn.”

Enric hätte dieser Erinnerung nicht bedurft. Er hatte den Namen der Gastgeberin von der Gästeliste, die sie von Erbál erhalten hatten, wiedererkannt. Sie war eine der drei Richterinnen, die vor sechs Jahren den Vorsitz über Malriels Verhandlung geführt hatten. Das Einzige, woran er sich bei ihr deutlich erinnerte, war ihre monotone Stimme, die geklungen hatte, als hätte ihr der Beruf über ein paar Jahrzehnte hinweg jede Regung aus der Stimme gesaugt.

Er hielt vor ihr an und nickte zum Gruß, bevor er sprach: “Gistor Noraske, Legen der Weisens, Richterin erster Ebene von Pirinkar, es ist mir eine Ehre, dir erneut zu begegnen.”

Die Richterin betrachtete ihn eine Weile, ihre Braue leicht hochgezogen, während ihre Augen seinen Anblick aufnahmen, kombiniert mit dem sehr vertrauten Stil der Eleganz seiner Kleidung, wie sie unter den Vertretern der örtlichen höheren Klasse gängig war.

“Die Ehre ist ganz auf meiner Seite, Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden”, erwiderte die Richterin freundlich mit leichtem Akzent – mit einer Stimme, die weniger bar jeder Modulation war, als Enric sich erinnerte. Vielleicht war ihre Ausdruckslosigkeit nur für berufliche Zwecke reserviert.

Dann bewegte sich ihr Blick zu Eryn, und einen Moment lang stockte ihr Atem. Eryn wartete geduldig, bis die Frau ihren Schock über die überraschende Ähnlichkeit mit derjenigen, die in ihrem Gerichtssaal angeklagt gewesen war, überwunden hatte.

“Ich darf dir meine Gefährtin vorstellen, Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan”, meinte Enric, als hätte er nichts bemerkt. “Maltheá, das ist Gistor Noraske, Legen der Weisens, Richterin erster Ebene von Pirinkar.”

“Ich… ja… natürlich. Sei willkommen bei unserer bescheidenen Zusammenkunft zu euren Ehren, Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan”, schaffte es Gistor Noraske schließlich auszusprechen. Dann stellte sie ihren eigenen Gefährten und ihren Sohn vor, deren Namen Eryn bereits von der Liste kannte.

Gleich darauf wurde Erbál begrüßt, bevor sie alle den Raum betraten, der aus wenig mehr zu bestehen schien als glänzenden Oberflächen unterschiedlicher Art und delikaten Ornamenten in unterschiedlichen Größen, die sämtliche architektonischen Strukturen wie Türen, Fenster, Säulen, Spiegel, Nischen und sogar die beiden gigantischen Feuerstellen umgaben und schmückten.

Am fernen Ende des Saals sahen sie eine Gruppe von mindestens zehn Künstlern, allesamt in Schwarz und Weiß gekleidet, die gerade dabei waren, sich soweit bequem niederzulassen, dass sie mehrere Stunden lang für Zerstreuung in Form von Musik sorgen konnten.

“Ich vermute, es wird getanzt?”, flüsterte Eryn in Erbáls Richtung. “Zumindest würde der große, freie Platz ohne Tische und Stühle sowie die Anwesenheit mehrerer Musiker das nahelegen. Ich gehe davon aus, dass die Leute rücksichtsvoll genug sind, um nicht von uns zu erwarten, dass wir mitmachen?”

Erbál bestätigte das. “Du hast Recht. Es wird getanzt werden, und nein, niemand erwartet von euch, dass ihr euch in der Kunst der lokalen Tänze als bewandert erweist. Ihr könnt euch auf die Seite stellen und einfach zusehen. Ihr werdet die Tänze als recht unterschiedlich zu denen erleben, die ihr kennt. Der Grundgedanke ist, dass eine Frau mit einem Mann teilnimmt, doch die Tänze selbst erfordern häufige Interaktionen mit unterschiedlichen Paaren. Alles ist sehr gut aufeinander abgestimmt und präzise und angenehm mitanzusehen, doch jeder falsche Schritt wird sofort offensichtlich.”

“Klingt ja reizend”, meinte Eryn ausdruckslos, froh darüber, dass sie außen vor bleiben konnte.

Ihre Aufgabe für diesen Abend war es, gesehen zu werden, mit so vielen Leuten wie nur möglich zu reden und alles in allem einen positiven Eindruck zu hinterlassen, damit man geneigt war, mit ihnen zu kooperieren und zu helfen oder ihre Untersuchungen zumindest nicht zu behindern.

Gemäß der Gästeliste, die Erbál sie hatte auswendig lernen lassen, würden fünf Richter und sechs Regierungsmitglieder an diesem bescheidenen Anlass teilnehmen. Das waren diejenigen, die Eryn und Enric als ihre Priorität betrachten mussten. Obgleich sie auf Erbál angewiesen waren, damit er sie in die richtige Richtung wies und sie vorstellte. Andernfalls waren diese Leute nicht mehr als eine anonyme Masse an pompösen Kleidern, farbenfrohen Gesichtern und seltsamen Frisuren.

Erbál hatte ihnen erklärt, dass es keine große allgemeine Vorstellung der Ehrengäste geben würde. Die Leute würden stattdessen von sich aus mit ihnen reden und ihre Bekanntschaft suchen. Und denjenigen, die dies absolut nicht wünschten, sondern einfach nur einen angenehmen Abend auswärts verbringen wollten, stand dies ebenfalls frei.

Eryn erschauderte, als sie sah, wie eng die Kleider mancher Frauen um die Taille geschnürt waren. Wie konnten die sich überhaupt bewegen? Konnten sie so ein gefahrvolles Unterfangen wie einen Tanz in Angriff nehmen, ohne nach ein paar Minuten als Folge der Anstrengung ohnmächtig zu werden? Nun, das würde sie wohl bald genug zu sehen bekommen.

Der Botschafter stellte sie einer Anzahl an Leuten von der Liste vor, die ein Interesse daran geäußert hatten, sie kennenzulernen. Er vollführte die Vorstellung in der hiesigen Sprache, und Eryn bemerkte, dass sie den Worten mit jedem Mal, wo sie wiederholt wurden, leichter folgen konnte.

Dennoch entschied sie sich dagegen, ihre Fremdsprachenkenntnisse im Moment einem Test zu unterziehen. Man wusste nie, ob es sich nicht einmal als nützlich erweisen mochte, dass die Leute vergaßen, dass sie eine Menge von dem verstand, was um sie herum gesprochen wurde.

Etwa eine Stunde musste vergangen sein, bevor die Musiker sich mit einem sanften Akkord Gehör verschafften, als wollten sie die Anwesenden vorsichtig an ihre Anwesenheit erinnern.

“Das ist die Einladung für jene Gäste, die zu tanzen wünschen, sich in der Mitte des Saals zu versammeln”, erklärte ihnen Erbál. “Es ist immer die gleiche Melodie zu Beginn, um zu signalisieren, dass der Abschnitt des Abends, wo getanzt wird, gleich beginnt. Kommt, lasst uns ein wenig zurücktreten.” Er führte sie an einen Fleck, von dem aus sie die Vorgänge beobachten konnten, ohne im Weg zu stehen.

Sie sahen zu, wie zwölf Paare vortraten und sich teilten, um zwei gegenüberliegende Reihen zu formen, von denen eine ausschließlich aus Frauen, und die andere aus ihren männlichen Gegenstücken bestand. Als alle so arrangiert waren, dass der Tanz beginnen konnte, beendeten die Musiker ihre vorhergehende Melodie und begannen mit einer neuen.

“Sind es immer genau zwölf Paare?”, wollte Enric von Erbál wissen.

“Im Allgemeinen ja. Obwohl es auch ein paar Tänze für kleinere Zusammenkünfte gibt, die nur sechs erfordern. Und zwei, glaube ich, wo sich sechzehn Paare gegenüberstehen.”

Die Reihe der Männer neigte wie in einer einzigen Bewegung ihr Haupt vor den Damen, die die Geste daraufhin erwiderten. Dies erwies sich als die Eröffnung eines Musters an Bewegungen, die von jeder einzelnen Person erforderten, dass sie genau wusste, was sie zu tun hatte. Jedes zweite Paar trat vorwärts aufeinander zu, doch anstatt nach ihren Partnern zu greifen, drehten sie sich auf die Seite und näherten sich stattdessen dem Nachbarn ihres Partners, ergriffen dessen Hände und vollführten einen Kreis, bevor sie an ihren vorherigen Platz zurückkehrten.

Enric beobachtete die Bewegungsabläufe, fasziniert von den unvorhersehbaren Mustern, die sich alle paar Sekunden veränderten.

“Das ist… eindrucksvoll”, murmelte er Erbál zu. “Sehen all die Tänze so aus?”

“Ja, in der Regel schon. Tanzen wird hier nicht als Akt zweier Menschen betrachtet, sondern als einer für die gesamte anwesende Gesellschaft. Es erfordert Interaktion, Präzision, Eleganz und eine Menge Erfahrung. Ein Fehler eines einzigen Tänzers kann die Ordnung der gesamten Gruppe zerstören.”

Plötzlich erschienen die Bälle in Anyueel nicht mehr ganz so düster. Zumindest beinhaltete das Tanzen nicht das ständige Risiko, sich als unfähig bloßzustellen, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit zu einem falschen Schritt oder verpassten Einsatz führte.

“Die Geschwindigkeit scheint mir recht langsam”, merkte Enric an. “Tanzen scheint mir kein besonders dynamischer Zeitvertreib. Oder trifft das lediglich auf dieses besondere Lied zu?”

Der Botschafter lächelte leise. “Sieh dir die Kleider an, Enric. Was denkst du, was geschehen würde, wenn du diese Frauen irgendwelchen strapaziösen Aktivitäten aussetzt? Sie würden umkippen.”

“Wie lange üben die Leute diese Tänze in der Regel, bevor man sie als tauglich erachtet, um sie in der Öffentlichkeit zu vollführen, ohne dass sie sich blamieren?”, fragte Eryn als nächstes.

“Einige Jahre. Es ist Teil der klassischen Ausbildung wohlhabender Bürger. Die Kinder lernen das Tanzen ab dem Alter von zehn Jahren. Es gibt besondere Anlässe nur für junge Menschen, wo sie ihren Fortschritt zeigen und für das tatsächliche Tanzen bei wichtigen Zusammenkünften mit einflussreichen Gästen üben können.”

Eryn presste ihre Lippen aufeinander. Somit war diese Art des Tanzens ein besonderes Merkmal der Reichen und Mächtigen. Ein weiterer Aspekt, den sie hier ablehnte. Bislang war ihr erster Eindruck von Kar kein besonders positiver. Lächerliche Kleidung, eine übertriebene Vorliebe für Titel und eine recht klare Vorstellung von Privilegien stand einem erstaunlichen System gegenüber, das auf Abruf heißes Wasser lieferte, wenn man einen Knauf drehte.

Sie wollte sich diese eklatante Demonstration von kostspieliger Bildung nicht länger ansehen. Es musste hier irgendwo einen Ort geben, wo sie ein paar Minuten lang Ruhe und Frieden genießen konnte.

*  *  *

Eryn stieß den Atem aus und starrte ihr Spiegelbild vor dem Hintergrund des geräumigen Badezimmers an, in das sie für ein paar wertvolle Minuten vor den höflichen Unterhaltungen und prahlerischen Demonstrationen einer privilegierten Erziehung geflohen war.

Die dunklen, raffiniert gezeichneten Linien an den Rändern ihrer Augenlieder sahen mittlerweile etwas verschmiert aus. Der Grund dafür war wohl der Schweiß, der ihre gesamte Haut zu befeuchten schien. Sie fragte sich, wie gefleckt der Stoff unter ihren Armen wohl sein würde, wenn sie später aus dem Kleid herausstieg. Sie griff nach einem kleinen Handtuch, füllte die Keramikschüssel vor sich mit Wasser aus einer dieser wundersamen Rohrkonstruktionen und tauchte das Handtuch hinein. Dann tupfte sie vorsichtig um ihre Augen herum, um einen Gutteil der schwarzen Farbe zu entfernen, der ihre Augen größer wirken lassen sollte. Als Nächstes wusch sie sich die Schweißperlen von der Stirn und setzte dann damit fort, das kühle, feuchte Tuch auf jedes Stück unbedeckte Haut zu pressen, dass sie erreichen konnte. Das würde ihr zumindest für eine kurze Weile Abkühlung verschaffen.

Mit einem letzten leidgeprüften Blick auf ihr zweidimensionales Gegenstück öffnete sie die Tür und trat hinaus in den angenehm ruhigen Korridor, dessen Lichter gerade hell genug waren, damit die Besucher den Weg fanden. In der Ferne konnte sie die behäbige und leicht melancholische Musik vernehmen, die maßgeschneidert war für die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Frauen. Es wäre rücksichtsvoller, sie aus dem Gefängnis dieser Fallen zu befreien, die man hier Kleider nannte, anstatt ihnen zu erlauben, ohne rasche Bewegungen zu tanzen, dachte Eryn verdrießlich und zwang sich dazu, weiter auf die lebhafte Versammlung zuzugehen. Nun, zumindest der männliche Teil davon konnte sich eine gewisse Lebhaftigkeit erlauben – die Frauen mochten ohnmächtig werden, falls sie es versuchten.

Alle paar Schritte auf dem Weg zurück kam sie an einer weiteren geschlossenen Tür mit einem Türrahmen doppelt so groß wie sie selbst mit aufwändig geschnitzten Verzierungen vorbei. Ihre Schritte verlangsamten sich, als sie eine Tür bemerkte, die einen Spaltbreit offenstand. Das war nicht der Fall gewesen, als sie vor einigen Minuten hier vorbeigekommen war. Es gab kein Licht darin, also bot sich wohl die Schlussfolgerung an, dass sich niemand darin aufhielt. Sie sah sich kurz um und überprüfte, ob sie unbeobachtet war, bevor sie sich der Tür näherte. Ihr Unwille, zu den anderen zurückzukehren und die Neugier, wie wohl ein regulärer Raum in dieser Villa aussah, ließen sie die Tür ein wenig weiter aufschieben. Sie verharrte regungslos, als sie ein seltsames, regelmäßiges Geräusch hörte, das sie an das Aufsperren eines Schlosses erinnerte. Vielleicht war es ein weiteres Gerät wie ihre Klangmaschine oder das mechanische Spielzeug?

Dankbar, dass die Türangeln gut gepflegt waren und nicht knarrten, schlüpfte sie in das Zimmer. Auch nach ein paar Sekunden, während derer sie ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte sie noch immer nicht mehr erkennen als verschwommene Umrisse der Möbel. Lediglich das Licht, das hinter ihr vom Korridor hereinfiel, leuchtete ihre unmittelbare Umgebung so weit aus, dass sie zumindest nirgendwo dagegen stoßen würde.

Sie folgte dem eigentümlichen Geräusch ein paar Schritte weit und stand direkt vor einer runden Scheibe, unter der irgendwelche klobigen, länglichen Objekte baumelten. Die waren allein deshalb erkennbar, weil das dunkle Material einen starken Kontrast zu der hellen Wand dahinter bot.

“Was haben wir denn hier”, murmelte sie zu sich selbst und versuchte, im Halbdunkel weitere Details zu erkennen.

Die runde Scheibe schien in regelmäßigen Abständen über Markierungen zu verfügen, doch sie konnte nicht sagen, ob diese lediglich dekorativer Natur waren oder irgendeinem bestimmten Zweck dienten. Dahinter saß irgendeine Art von Mechanismus, der das Geräusch produzierte, das sie hereingelockt hatte. Sie konnte nichts erkennen, als sie einen Blick dahinter warf. Die Scheibe schluckte sogar noch das letzte Quäntchen an Licht, das durch die offene Tür hereinfiel. Sie wollte nichts anfassen und beschädigen, also trat sie einen Schritt zurück und seufzte.

“Keine Chance ohne Licht”, murmelte sie und wollte sich umdrehen, als eine freundliche männliche Stimme aus der Dunkelheit sie erstarrten ließ.

“Erlaube mir, dir zu Diensten zu sein”, bot sie hilfsbereit an in dem typischen Akzent der Einheimischen, wenn sie sich Eryns Sprache bedienten.

Oh nein – das würde ihr eine Standpauke von Enric einbringen, dachte sie, bevor ein leises, kratzendes Geräusch ertönte, dem eine kleine Flamme folgte, die zuerst eine, dann eine weitere Lampe erhellte.

Eryn blinzelte ob der plötzlichen Helligkeit, dann fand sie einen Mann vor, der auf einem geschmackvollen Sofa saß, das aussah, als diente es mehr der Dekoration denn als bequemes Sitzmöbel. Sie hatte also falsch gelegen mit ihrer Annahme, dieses Zimmer sei unbesetzt. Wer schlich sich denn einfach so davon und versteckte sich in einem dunklen Raum? Nun, wohl jemand genau wie sie selbst, kam es ihr in den Sinn.

“Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan, wie ich annehme”, fuhr die fremdländische, doch angenehme Stimme fort. Es klang nicht nach einer Frage. Doch da sie sehr wahrscheinlich die einzige weibliche Besucherin aus dem Süden war, die gegenwärtig in der Stadt verweilte, war es keine allzu eindrucksvolle Leistung, dass er ihre Identität korrekt erraten hatte.

“Ja, das bin ich.”

Ihre Augen passten sich nun an das Licht an und erlaubten ihr, ihre unerwartete Gesellschaft genauer zu betrachten. Er mochte etwa in ihrem Alter sein, von adretter Erscheinung und eine Spur weniger farbenfroh gekleidet als die anderen Männer, die sie an diesem Abend erblickt hatte. Das allein sprach schon für ihn. Sein hellbraunes Haar war zurückgestrichen, so wie es hier offensichtlich Mode war. Das ermöglichte einen uneingeschränkten Blick auf intelligente graue Augen, eine fein geschnittene Nase und den dünnen Streifen eines Bartes, der der Linie seines Kinns und der Oberlippe folgte. Ein ansehnliches, einnehmendes Gesicht. Das im Augenblick Belustigung ausdrückte.

“Ich wollte hier nicht eindringen. Wirklich nicht”, versicherte sie ihm eilig. “Ich entschuldige mich für die Unterbrechung von… was auch immer du hier drin getan hast. Ich werde nicht länger stören und mich verabschieden.”

“Ich hatte den Eindruck, du würdest die Uhr gerne untersuchen”, erwiderte er höflich. “Du hast mich keineswegs gestört. Ich nehme mir lediglich die Freiheit, ein paar Minuten in einsamer Erwägung zu verbringen, wenn ich die Anstrengung sozialer Interaktionen als allzu ermüdend empfinde.”

Während sie noch überlegte, wie sie auf diese Aussage reagieren sollte, erhob er sich. Er war merklich größer als sie selbst und bewegte sich mit beinahe makelloser Eleganz.

In einer Entfernung, die angenehm war ohne ihr zu nahe zu treten und sie nicht einschüchterte, blieb er stehen.

“Ich gehe davon aus, dass dir mechanische Methoden zur Zeitmessung nicht vertraut sind?”, erkundigte er sich höflich.

“Ich… nein. In Anyueel haben wir andere Methoden wie Wasseruhren oder Öllampen mit Markierungen, und die Westlichen Territorien benutzen dafür Sanduhren und Sonnenuhren”, antwortete sie.

“Dann gewähre mir das Vergnügen, dir den Mechanismus zu erklären, den wir zu diesem Zweck verwenden”, bot der hilfsbereite Fremde an.

Eryn nickte, froh darüber, dass ihrem Eindringen nicht mit Verärgerung, sondern mit unverhoffter Zuvorkommenheit begegnet wurde. Auf seine Einladung hin trat sie wieder näher auf die Uhr zu. Die Scheibe war mit zwölf Symbolen markiert, die sie als Zahlen erkannte. Als sie dahinter blickte, sah sie nun, dass der Mechanismus ausschließlich aus einigen Zahnrädern in unterschiedlichen Größen und einer Spirale mit kleinen Gewichten daran zu bestehen schien.

“Das hier ist ein recht altes Exemplar”, erklärte ihr der Mann. “Ich würde vermuten, dass es sich seit mindestens zwei Jahrhunderten im Besitz der Familie Weisen befinden muss. Ein Erbstück, sofern das der korrekte Begriff ist.”

Zwei Jahrhunderte, dachte Eryn, während ihr Hals trocken wurde. Dieses erstaunliche Gerät war hier veraltet, während es in ihrem Zuhause eine spektakuläre Neuheit wäre.

Ganz ohne Aufforderung begann er ihr den Mechanismus zu erklären.

“Diese Art von Uhr besteht aus sehr grundlegenden Komponenten. Das hier” – er deutete auf ein mittelgroßes Rad mit besonders feinen Zacken – “ist das Zahnrad, das als Hauptrad bezeichnet wird. Dahinter befindet sich ein langer, dünner Metallstreifen, der als die Hauptfeder bekannt ist. Dieser Teil speichert Energie. Wieviel gespeichert werden kann, hängt stark von der Elastizität des Materials und seiner tatsächlichen Länge ab.” Dann deutete er auf eine Ansammlung von vier Zahnrädern. “Die ersten drei dort bilden das Räderwerk. Das erste Rad davon zeigt die Minuten an, das dritte die Sekunden. Angetrieben wird es von den Gewichten, die du dort hängen siehst. Doch da wir nicht wollen, dass die gesamte Kraft zu schnell freigesetzt wird, benötigen wir etwas, das die Freigabe kontrolliert. Diese Kombination von Teilen nennt sich Anker und besteht aus einer Unruh, die vor und zurück schwingt und so die Abgabe der Energie kontrolliert, immer ein Zahn auf einmal.”

Eryn starrte die Zahnräder unterschiedlichen Durchmessers und mit einer Variation von Zähnen unterschiedlicher Größe und Form an. Sie versuchte zu kombinieren, was sie gerade gehört hatte, indem sie auf die wenigen Grundlagen der Mechanik zurückgriff, die sie sich zuhause durch das Zerlegen der Geräte erarbeitet hatte.

“Die Gewichte üben Druck auf das hier aus, das diesen dann weitergibt, nur eben nicht zu schnell. Was uns zu diesen Komponenten hier bringt, die dafür zuständig sind, alles langsam und regelmäßig zu halten. Die Bewegung wird dann auf diese Zahnräder hier übertragen, die diese Stäbchen auf der Scheibe bewegen”, versuchte sie es in eigene Worte zu fassen und hoffte, dass sie sich nicht vollkommen zum Narren machte.

Der Mann überlegte einen Moment lang, während sich seine elegant geformten Augenbrauen zusammenzogen, als er versuchte, eine Verbindung herzustellen zwischen ihrer amateurhaften Erklärung und seinen vorangegangenen Worten. Dann nickte er.

“Ja, so kann man das sagen. Gut gemacht.”

Eryn trat einen Schritt zurück und betrachtete die andere Seite der Scheibe mit all den Zahlen und den drei kurzen Stäben.

“Wie wird das dritte Stäbchen bewegt? Du hast Zahnräder für zwei davon erwähnt.”

“Wir bezeichnen die Stäbchen als Zeiger. Und du hast Recht, ich habe nur zwei davon erwähnt. Sehr aufmerksam von dir. Es gibt ein eigenes Rad für den langsamsten der Zeiger, der nur nach einer gewissen Anzahl von Umdrehungen des Minutenrads bewegt wird.”

“Wie lese ich das?”, fragte sie weiter. “Ihr unterteilt eure Tage in nur zwölf Einheiten? Das ist ein vollkommen neues Konzept für mich. Ich bin an vierundzwanzig Stunden gewohnt.”

“Ebenso wie wir. Der Stundenzeiger bewegt sich an einem Tag zweimal um das Ziffernblatt.”

“Welcher ist das? Der pummelige dort?”

Er blinzelte und lächelte dann. “Ja, jener, der weniger athletisch wirkt. Der schlankere ist für die Minuten, und der lange, dünne Zeiger für Sekunden. Jede Umdrehung des Sekundenzeigers führt dazu, dass sich der Minutenzeiger um eine kleine Markierung weiterbewegt. Und nachdem sechzig kleine Markierungen überwunden wurden, bewegt sich der Stundenzeiger vorwärts.”

Eryn starrte das Ziffernblatt eine halbe Minute lang an, dann versuchte sie: “Damit ist es jetzt gerade neunzehn Stunden, achtundzwanzig Minuten und ungefähr vierzig Sekunden spät.”

“Das stimmt. Wenngleich wir eher sagen würden, dass es sieben Uhr achtundzwanzig am Abend ist.”

“Was passiert, wenn die Gewichte das Ende der Schnur erreichen?”

“Dann muss die Uhr aufgezogen werden, damit sie weiterhin ihre Dienste leisten kann.”

Sie nickte langsam, eingenommen von dieser faszinierenden neuen Methode, die Zeit unter Verwendung von Zahnrädern zu messen.

“Doch wie ich schon sagte, handelt es sich hier um einen überholten Mechanismus. Wir haben in der Zwischenzeit ausgeklügeltere entwickelt, die keiner Gewichte oder Pendel mehr bedürfen.” Er legte den Kopf schief. “Du wärst nicht etwa daran interessiert, mehr darüber zu erfahren?”

Eryn sah zu ihm auf und schluckte. Sie wusste, wie unnachgiebig dieses Land seine Technologie und sein Wissen bewachte. Dieser Mann mochte sich bereits jetzt Ärger eingehandelt haben, sofern irgendjemand von dieser kleinen Unterrichtsstunde soeben erfuhr.

“Ich fürchte, das wäre keine besonders vernünftige Idee. Ich schätze das Angebot, möchte dir aber keine Schwierigkeiten einbringen”, zwang sie sich zu sagen.

Sein Lachen war ein Ausdruck aufrichtigen Amüsements. “Hat dir dein Botschafter eine Liste mit namhaften Personen von öffentlichem Interesse erstellt? Oder zumindest eine Gästeliste für diesen Abend?”

Leicht verwirrt fasste sie ihn ins Auge. Was für eine Frage war das als Reaktion auf ihre Sorge um sein Wohlbefinden?

“Ja, eine Gästeliste. Weshalb?”

“Ich gehe davon aus, dass er betont hat, wie wichtig es ist, sie auswendig zu lernen, damit du die Leute korrekt ansprechen kannst?”

“Ja! Warum fragst du?”, rief sie ungeduldig.

“Dann bin ich zuversichtlich, dass dir mein Name bekannt sein wird.” Er stellte sich eine Spur aufrechter hin. “Ich bin Etor Gart, Legen der Durachts, Konsul erster Ebene von Pirinkar. Es ist mir ein Vergnügen, deine Bekanntschaft zu machen.”

Eryn runzelte kurz die Stirn, als sie sich zu erinnern versuchte, unter welcher Kategorie dieser Name gestanden hatte. Er hatte Recht, er klang vertraut.

Sie riss die Augen auf, als die Erinnerung zurückkehrte. “Etor Gart! Vertreter der höchsten Regierungsebene!” Verdammt, er war wichtig, und zwar so richtig! Und ihm unter solchen Umständen zu begegnen!

“Das ist richtig. Du siehst also, dass es in meinem Ermessen liegt, dir dieses Angebot zu machen, ohne damit eine Inhaftierung oder sonstige Sanktion zu riskieren,” lächelte er. “Wenngleich mich deine Sorge rührt.” Er hob seinen rechten Arm, um ihn ihr anzubieten. “Sollen wir zu den anderen Gästen zurückkehren?”

*  *  *

So subtil er es vermochte, stieß Erbál Enric an und nickte in die Richtung, wo Eryn den Saal betrat, ihre Hand auf dem Arm eines Mannes.

“Den kenne ich”, murmelte Enric und schloss seine Augen, um sich das Bild des Gerichtssaals vor sechs Jahren ins Gedächtnis zu rufen. Dieser Mann hatte einen Sitz am obersten Tisch gehabt. Somit war er einer der Regierungsvertreter. “Regierung”, fügte er hinzu.

Der Botschafter nickte. “Ja. Etor Gart. Ein Mann, der aus solchen Anlässen wie diesem hier wenig Vergnügen zieht. Diese Eigenschaft hat er mit deiner Gefährtin gemeinsam – hin und wieder macht er sich davon und versteckt sich ein paar Minuten lang. Kein Wunder, dass er und Eryn einander begegnet sind. Womöglich haben sie versucht, sich in der gleichen Nische zu verstecken.”

“Allerdings ein Mann, den es nützlich ist zu treffen”, flüsterte Enric zurück, mehr als willens, Eryn ihre verdächtig lange Toilettenpause zu verzeihen, wenn solch ein Ergebnis dabei herauskam. Besonders, da der Mann recht zufrieden wirkte. Das war eine unübliche Reaktion darauf, wenn man Eryn bei solch einer Veranstaltung begegnete. Leute, die den Versuch starteten oder dazu gezwungen waren, mit ihr zu interagieren, reagierten im Allgemeinen irritiert und verärgert anstatt erfreut.

“Das ist wohl wahr”, stimmte Erbál zu und lächelte, als die beiden in ihre Richtung kamen.

“Lam Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden. Ich bin erfreut, dich wiederzusehen, wenngleich unter solch gravierenden Umständen”, grüßte Etor Gart und nickte ihm zu.

Enric reagierte in gleicher Weise. “So wie ich, Etor Gart, Legen der Durachts, Konsul erster Ebene von Pirinkar. Wir hoffen, dass sich all dies auf zufriedenstellende Weise lösen lässt.”

Dann begrüßte Etor Gart Erbál, indem er in seine Muttersprache wechselte. “Lam Erbál, Legen der Ferals, Botschafter in Kar. Es ist ein Vergnügen, dich hier zu sehen.”

“Das Vergnügen ist ganz das meine, Etor Gart, Legen der Durachts, Konsul erster Ebene von Pirinkar. Wie ich sehe, hast du Gistor Maltheá, Reig von Haus Vel’kim, Forscherin in Takhan bereits getroffen.”

Eryn strengte sich an, um dem Austausch zu folgen – besonders, nachdem ihr Name erwähnt worden war.

“Das habe ich.” Er lächelte ihr zu. “Ich fand ihr Interesse an mechanischen Geräten und ihre rasche Auffassungsgabe höchst stimulierend.”

Dann entschuldigte er sich und schlenderte davon, wobei er hin und wieder stehenblieb, um mit anderen Leuten zu sprechen.

“Was hat er gesagt? Das zum Schluss habe ich nicht ganz verstanden”, meinte sie stirnrunzelnd. “Hat er gesagt, ich hätte ihn stimuliert? Ich schwöre, ich habe nichts dergleichen getan! Er hat mir lediglich eine Uhr erklärt, und das einzige Mal, wo ich ihn angefasst habe, war, als ich seinen Arm auf dem Weg hierher ergriff.”

“Nein, es war nichts in dieser Art”, versicherte Erbál ihr rasch. “Er war von deiner Intelligenz beeindruckt. Es scheint, als würde er dich mögen.”

Eryn war erfreut über diese Beurteilung. Nachdem sie Lam Ceiga begegnet war, hatte sie schon befürchtet, alle Leute hier würden sie mit solcher Gleichgültigkeit behandeln.

“Lasst uns hier nicht herumstehen, sondern lieber versuchen, euch so vielen Leuten wie nur möglich vorzustellen”, legte der Botschafter ihnen nahe. “Wir sind immerhin zum Arbeiten hier.”

Also arbeiteten sie. Eryn fand heraus, dass bloßes Reden nicht ganz so schlimm war wie mit den Leuten tanzen zu müssen. Sie war auch froh, dass keine Notwendigkeit zur Demonstration übermäßiger Freude bestand, wenn man jemanden kennenlernte; nichts als eine höfliche Zusicherung, welches Vergnügen es war, reichte vollkommen. Das bedeutete, ihre Wangen würden am Ende dieses Abends nicht entkräftet sein von der Anstrengung des erzwungenen Lächelns.

Obwohl sie ihre Runden gemeinsam begonnen hatten, fanden sie sich in Gesprächen mit unterschiedlichen Personen wieder und setzten diese in ihrem eigenen Tempo in unterschiedlichen Richtungen fort. Diese Person wollte sie jener Person vorstellen, und dann mussten sie unbedingt noch einen guten Freund, ein Familienmitglied oder einen Bekannten treffen.

Pflichtbewusst beantwortete Enric Fragen über sein Heimatland, was genau der Orden war und weshalb er die Reise nach Kar auf sich genommen hatte, obwohl die Antworten auf alle drei selbstverständlich in einem Ausmaß modifiziert werden mussten, um für die Zuhörer angemessen zu sein. Erbál blieb eine Weile an seiner Seite, dann machte er sich auf die Suche nach Eryn, um sie eine Zeitlang zu begleiten, bevor er wieder zu ihrem Gefährten zurückkehrte.

“Ich hatte bereits das Vergnügen, deine ungemein bezaubernde und reizvolle Gefährtin kennenzulernen”, meinte Enrics aktueller Gesprächspartner. Reizvoll. Was für eine seltsame Art sich auszudrücken, wenn man sich auf die Gefährtin eines anderen Mannes bezog. Womöglich eine ungeschickte Formulierung in einer fremden Sprache, dachte er. Doch die folgenden Worte des Mannes zeigten ganz klar, dass dies keineswegs der Fall war.

“Ich habe mich gefragt, ob du wohl mein Angebot für ihre Gesellschaft für heute Nacht annehmen würdest?”

Damit wurde ein Stück stabiles, kostspielig aussehendes Papier in Enrics Hand gedrückt. Er starrte den Mann an, während er sich zwang, seinen Zorn über solch eine impertinente Anfrage unter Kontrolle zu bringen, und zwar rasch.

Erbál neben ihm hustete und lächelte den Mann an, der sich – ohne sich dessen im Klaren zu sein – in tödliche Gefahr manövriert hatte.

“Wirst du uns für einen kurzen Augenblick entschuldigen? Lam Enric, Reig of Haus Aren, Stellvertreter im Orden ist gleich wieder bei dir.” Er ergriff Enrics Arm und zog ihn beiseite und hinter eine Säule, die ihnen zumindest ein Quäntchen Privatsphäre gewährte.

Enrics Augen waren zusammengekniffen. Erzürnt zischte er: “Was hatte das zu bedeuten? Ist das eine Art Test, oder war es diesem Schwachkopf ernst damit? Das muss eine Art Beleidigung sein, wo man sehen will, wie ich darauf reagiere, wie sehr ich mich provozieren lasse!”

“Du musst dich augenblicklich beruhigen, Enric!”, beschwor ihn der Botschafter eindringlich. “Sein Begehr zum Ausdruck zu bringen, dass man die Nacht mit jemandes Gefährtin verbringen möchte im Austausch für monetäre Entschädigung, ist hier eine akzeptierte Vorgehensweise. Die Anfrage selbst ist keine Beleidigung. Dir eine niedrige Summe anzubieten allerdings schon. Lass uns das Papier ansehen, das er dir gegeben hat. Dann können wir sagen, ob das hier ein Test oder ein ehrliches Angebot ist.”

Enric öffnete das Papier und starrte auf eine dreistellige Zahl. Nach einer raschen Umrechnung verglich er den Betrag mit Goldstücken aus Anyueel. “Das wäre er bereit für eine Nacht mit Eryn zu bezahlen?”

Erbál nickte erleichtert. “So ist es. Das ist ein großzügiges Angebot, und ich kann dir sagen, dass du nicht beleidigt wurdest, sondern stattdessen ein großes Kompliment erhalten hast.”

Enric stieß den Atem aus und schloss die Augen. “Warum hast du uns auf so etwas nicht vorbereitet? Denkst du nicht, dass es uns einiges an Anspannung erspart hätte, wenn du das erwähnt hättest?”

“Ich entschuldige mich. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass man mit einem Angebot dieser Art an euch herantreten würde. Ihr seid Fremde hier, und im Allgemeinen würde man euch mehr Zeit zugestehen, um euch an die Gebräuche hier anzupassen anstatt zu erwarten, dass ihr ab dem ersten Tag mit allen davon vertraut seid.” Erbál drehte Enric herum. “Nun wirst du zu dem netten Mann zurückkehren, ihm für sein großzügiges Angebot danken und es höflich ablehnen. Dabei wirst du weder ihm, noch dem Brauch, oder auch der Gesellschaft, der er entstammt, mit Verachtung begegnen. Hinfort mit dir.”

Enric warf ihm über die Schulter einen finsteren Blick zu, tat aber, wie ihm geheißen. Das war absurd. Er musste einem Mann dafür danken, dass er ein Interesse an einer Nacht wilder Vergnügungen mit Eryn geäußert hatte! Zuhause hätte er ihm mittlerweile die Nase gebrochen. Und vielleicht die eine oder andere Rippe.

Er kam bei dem Mann an, der höflich lächelte, als er seiner Antwort harrte.

“Ich danke dir für dein Interesse und deine Großzügigkeit, doch ich fürchte, ich kann dein Angebot nicht annehmen”, erklärte Enric höflich und nickte kurz, bevor er sich abwandte. Es war an der Zeit, Eryn zu finden und sie zu warnen.

*  *  *

“Er hat was getan?”, keuchte Eryn und starrte ihren Gefährten entsetzt an. Das konnte nicht wahr sein! Keinesfalls konnte ein Mann, der kaum mehr als ein paar Sätze mit ihr gewechselt hatte, töricht genug sein, um an ihren Gefährten heranzutreten in der Absicht, eine Nacht mit ihr zu erwerben?

“Ein wenig leiser, wenn du so gut wärst”, zischte Erbál. “So etwas ist hier üblich. Wenn jemand Gefallen an dem Gefährten einer anderen Person findet, dann unternimmt man sehr höfliche Schritte in dem Versuch, eine vergnügliche Nacht für sich zu arrangieren. Das bedeutet, dass man eine Ausgleichszahlung anbietet, und sofern diese akzeptiert wird, tritt man an die fragliche Person heran und lädt sie ein.”

“Das ist geisteskrank!”, beklagte sich Eryn flüsternd und spürte, wie ihr die Hitze in den Kopf stieg. Der hatte Nerven einfach anzunehmen, ihr Körper stünde zum Verkauf! Wirkte sie dermaßen verzweifelt und mittellos, dass jemand dächte, sie würde auch nur daran denken, solch ein dreistes Angebot anzunehmen? Welche Art von Botschaft schickte die Kleidung, in die Erbál sie gesteckt hatte?

“Es ist hier gang und gäbe, und ich würde dich dringend ersuchen, diese Diskussion zu verschieben, bis wir hier fort sind. In der Zwischenzeit rate ich dir, es als Kompliment zu betrachten und solche Angebote schlicht und einfach höflich abzulehnen, sollten dir noch weitere gemacht werden”, beharrte Erbál mit einem leisen Murmeln.

Eryn knirschte mit den Zähnen, dann verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. Ein Kompliment, was? Nun, das würde sich noch zeigen.

“Wer war es?”, verlangte sie zu wissen.

“Du meinst, wer ein Interesse an deiner Gesellschaft geäußert hat?”, fragte Enric, nicht besonders angetan von ihrem Interesse.

“Ja. Zeig ihn mir.”

Ihr Gefährte seufzte und drehte sich um und zurück zu den Gästen. Einige von ihnen tanzten, während andere herumstanden und sich über dem einen oder anderen Getränk unterhielten.

“Siehst du den Mann mit dem grünen Rock mit der dunkelgelben Weste darunter?”

“Den großen mit den roten Haaren und dem Schnurrbart?”

“Nein, weiter rechts. Dunkle Haare mit grauen Schläfen.”

Eryn betrachtete ihn eine Weile, dann zuckte sie mit den Schultern. Er war nicht eben von umwerfender Erscheinung, aber dennoch ansprechend genug, dass sie nicht damit gerechnet hätte, dass er für Geschlechtsverkehr bezahlen musste. Oder willens wäre. Nun, das bedeutete womöglich, dass sie es tatsächlich als Kompliment erachten konnte.

Erbál nahm Enric das kleine Stück dicken Papiers aus der Hand und reichte es Eryn. “Hier. Das hat er Enric für das Vergnügen deiner Gesellschaft geboten.”

Eryn faltete es auseinander und runzelte die Stirn über die Zahl. Rasch berechnete sie, welchem Betrag dies in Anyueel in Goldstücken entsprach. Eine Münze aus Pirinkar war ungefähr ein ein-dreiviertel Goldstück wert… Sie riss die Augen auf.

“Das sind mehr als fünfhundert Goldstücke!”, hauchte sie. “Für eine einzige Nacht mit mir?”

“Fünfhundert fünfundzwanzig”, fügte Enric trocken hinzu. “Kann ich davon ausgehen, dass du das Angebot nun als Kompliment anstatt als Beleidigung erachtest?”

“Nun…” Sie schluckte. “Ich schätze schon.” Sie wandte sich an Erbál. “Obwohl das davon abhinge, was der gängige Preis für solche Arrangements ist.”

“Lass mich dir versichern, dass er großzügiger war als ich erwartet hätte. Es scheint, als gefiele ihm der Gedanke daran, er könnte sich als Erster damit brüsten, eine Nacht mit dir verbracht zu haben.”

“Du sagst also, dass du nicht denkst, ich wäre diese Summe wert und dass du überrascht bist, dass jemand anderer in dieser Hinsicht nicht mit dir übereinstimmt?”, knurrte sie, aus irgendeinem unerfindlichen Grund von seinen Worten gekränkt.

“Ihm wärst du es jedenfalls wert, und das ist alles, was zählt”, erwiderte der Botschafter mit einem Grinsen. “Ich fürchte, ich habe deinen Stolz soeben ein wenig verletzt. Bitte verzeih mir – ich wollte nicht ungalant sein. Ich bin sicher, du wärst eine wundervolle Ablenkung für jeden Mann, der das Glück hat, sich deine Gesellschaft für eine Nacht zu sichern.”

Ich bin der einzige Mann, der sich ihre Gesellschaft für sämtliche Nächte sichert”, wandte Enric mit einer gewissen Schärfe ein und signalisierte damit wenig subtil, dass er keinesfalls willens war, dieses Thema noch weiter zu erörtern. Zuvor war sie darüber entsetzt gewesen, dass man sie wie eine Ware behandelte, und nun diskutierte sie, wie angemessen der angebotene Betrag war. Er hatte Ersteres vorgezogen. “Wie viel länger müssen wir noch bleiben?”, fragte er dann zur Überraschung seiner Gefährtin. Dies war das erste Mal, dass er derjenige war, der diese Frage an ihrer statt stellte.

Erbál hütete sich, sich in diesem Moment über ihn lustig zu machen. “Die Gäste werden bald für ein spätes Abendessen in den benachbarten Raum gerufen werden. Das ist der Zeitpunkt, wo es akzeptiert wird, wenn sich die ersten Gäste verabschieden, ohne dass daraus ein Anlass zum Ärgernis erwächst.”

“Gut. Dann werden wir genau das tun. Oder zumindest Eryn und ich. Dir steht es natürlich frei, ohne uns zu bleiben.”

Der Botschafter schüttelte den Kopf und lächelte. “Ich würde euch lieber begleiten und mir anhören, was eure Eindrücke von diesem Abend waren.”

*  *  *

Erbál reichte Eryn eine dampfende Tasse mit dem cremigen, süßen Getränk, das die Leute – besonders Kinder – hier am Beginn und am Ende des Tages bevorzugten. Behutsam nahm sie sie entgegen, sorgsam darauf bedacht, nur den Henkel zu berühren und sich nicht die Finger zu verbrennen.

Es war kurz vor Mitternacht, und sie hatte soeben dieses schreckliche Kleid abgelegt und sich ihr Nachthemd angezogen. Es war nicht wirklich angemessen, sich irgendjemandem außerhalb der Familie im Schlafgewand zu präsentieren, doch die Schicklichkeitsregeln konnten ihr gestohlen bleiben. Sie enthüllte nichts in unanständiger Weise und hätte es absolut lächerlich gefunden, sich etwas anderes überzuziehen, wenn sie ohnehin bald zu Bett gehen würden. Und das hier war Erbál, ein alter Freund, der kein einziges Mal irgendein unangemessenes Interesse an ihr gezeigt und noch nicht einmal mit ihr geflirtet hatte um sie zu necken, so wie es sein Nachfolger Ram’kel zuweilen zu seiner eigenen Belustigung tat. Und dass Enric trotz seiner Tendenz zur Eifersucht entspannt wirkte, musste bedeuten, dass dies hier eine akzeptable Ausnahme war.

Sobald sie sich gesetzt hatte, wandte sich Enric an ihren Gastgeber. “Also. Erzähl mir mehr über diesen seltsamen Brauch, sich ein paar Stunden mit der Gefährtin einer anderen Person zu kaufen. Das kommt mir etwas merkwürdig vor in einer Kultur, die emotionale Distanz schätzt, übermäßig korrekt dabei vorgeht, alle möglichen Dinge zu dokumentieren und darauf achtet, dass die Grenzen zu anderen gewahrt bleiben.”

Erbál lächelte. “Ich weiß, dass man in Anyueel mit dem Prinzip der Prostitution vertraut ist. Und auch in Takhan. Sexuelle Gefälligkeiten gegen Bezahlung sollen angeblich eines der ältesten Gewerbe sein. Neu ist hier lediglich die Tatsache, dass ein Lebensbund nicht mit dem gleichen Ausmaß an Exklusivität einhergeht, wenn es darum geht, die Vorzüge seines Partners zu genießen.”

Eryn zog die Stirn in Falten. “War das nicht ursprünglich der einzige Sinn hinter der Einführung eines Lebensbundes? Um eine rechtliche Basis für genau diese Exklusivität zu schaffen?”

“Ja, vor vielen Jahrhunderten”, stimmte der Botschafter zu. “Doch wenn du die Gründe dafür betrachtest, dann kannst du sehen, weshalb man das heutzutage nicht mehr als ganz so notwendig erachtet. Erstens gab es damals noch keine magische Heilung, was bedeutet, dass Krankheiten, die durch geschlechtlichen Verkehr übertragen wurden, ein beträchtliches Problem waren. Dass dein Partner nicht mit anderen Leuten schlief war ein Weg, um Ansteckung zu vermeiden. Und dann wollte man noch sichergehen, dass die eigenen Nachkommen auch wirklich von einem selbst abstammten. Zumindest soweit es Männer betraf. Aus diesem Grund waren Männer in der Regel auch strenger, wenn es um die Treue der Frauen ging. Sie erkannten nicht, dass ihre Gefährtinnen Verführungsversuchen durch andere Männer weniger häufig ausgesetzt gewesen wären, hätte man diese Männer ebenso hart bestraft.”

Nachdenklich blickte Enric zur Decke empor. “Du sagst also, dass die praktischen Überlegungen, die Monogamie wünschenswert gemacht haben, nicht länger erforderlich sind, um körperliche Gesundheit zu gewährleisten und sicherzustellen, dass man nicht die Kinder eines anderen aufzieht? Das würde bedeuten, dass hier die emotionale Komponente keine übergeordnete Rolle spielt für ein Kommitment. Mein Hauptgrund dafür, dass ich nicht will, dass Eryn mit anderen Männern schläft, ist sicherlich nicht meine Angst, sie könnte schwanger werden oder eine Krankheit an mich weitergeben, sondern weil ich jemanden, den ich liebe und als zu mir gehörig betrachte, nicht teilen will.”

Erbál nickte zustimmend. “In der Tat. Doch wir müssen in diesem Fall zwischen den Klassen unterscheiden. Die meisten Kommitments hier sind nicht das Ergebnis daraus, dass sich zwei Menschen ineinander verlieben und einander immerwährende Liebe schwören. Meist geht es dabei um finanzielle und politische Überlegungen – und auch um den Wunsch, Nachkommen mit dem Makel der Magie zu vermeiden.”

“Also genau wie in den Westlichen Territorien”, murmelte Eryn. “Nur dass man dort das magische Potential erhöhen anstatt ausrotten will.”

“Aber, aber”, erwiderte Erbál mit einem leichten Vorwurf in der Stimme, “da muss ich widersprechen. Zuhause ist uns lediglich daran gelegen, junge Menschen zu vorteilhaften Verbindungen zu ermutigen – ganz sicher zwingen wir sie nicht dazu, wenn sie anderweitig geneigt sind. Denk an deine Schwester Pe’tala – sie ist ein gutes Beispiel. Sie entschied, sich nicht an ihren Verehrer zu binden, und das wurde ohne jeden Überredungsversuch akzeptiert. Nun, zumindest von Seiten ihres Vaters und den Eltern des Jungen. Wir schätzen eine emotionale Bindung, da wir nicht wollen, dass unsere Kinder bitter und unglücklich werden. Denn sobald Emotionen eine Rolle spielen, wird der Gedanke, den Partner mit anderen zu teilen, inakzeptabel.”

Enric wirkte nachdenklich. “Du hast erwähnt, man müsse zwischen den sozialen Klassen unterscheiden. Ich schätze, das bedeutet, dass arrangierte Kommitments vorwiegend eine Strategie der höheren Klassen sind? Alle anderen folgen dem Prinzip, sich aus Liebe an eine andere Person zu binden?”

Erbál lächelte. “Nun, sagen wir stattdessen lieber, dass sie es zumindest als Ideal betrachten, dem Herzen zu folgen. Genau wie wahrscheinlich auch an jedem anderen Ort der Welt, haben Kommitments eine Auswirkung auf die finanzielle Situation. Die Kinder eines reichen Händlers oder Handwerkers werden stets mehr Anwärter auf ihre Hand haben als die eines armen Straßenfegers. Das ist hier nicht anders als in jedem unserer Länder.”

“Nach Herzenslust die Partner untereinander zu tauschen ist also lediglich eine dekadente Sitte unter den Reichen, weil sie in lieblose Kommitments gezwungen wurden. Wie reizend”, knurrte Eryn. “Können die Frauen zumindest mitreden, mit wem sie die Nacht verbringen, oder werden sie lediglich informiert, bei welcher Adresse sie auftauchen sollen?”

“Du missverstehst mich”, korrigierte Erbál sie. “Das betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Solltest du einen anziehenden Mann treffen, mit dem du die Nacht verbringen willst, steht es dir ebenso frei, an seine Gefährtin heranzutreten und ihr ein Angebot für das Vergnügen seiner Gesellschaft zu unterbreiten. Sollte sie akzeptieren, ist das noch kein Versprechen, dass es auch passieren wird. Es ist nichts anderes als ihr Einverständnis, dass du ihn einladen kannst. Er hat noch immer jedes Recht abzulehnen, solltest du nicht nach seinem Geschmack sein. Das Gleiche gilt für Frauen. Hätte Enric dem Angebot heute Abend zugestimmt, so wärst du noch immer in einer Position gewesen, es abzulehnen.”

“Wenn ich darüber nachdenke”, sinnierte Enric, “dann schätze ich, dass es doch zu der Kultur passt. Es ist ein recht kalter und distanzierter Weg, um seine körperlichen Bedürfnisse zu stillen.”

“Es ist Prostitution, nichts weiter”, knurrte Eryn.

Erbál zuckte mit den Schultern. “Das ist ein Standpunkt. Keiner, den ich teile, wohlgemerkt. Prostitution ist meiner Ansicht nach kein Handel zwischen Gleichgestellten, sondern einer, wo die Bedürfnisse einer Person Vorrang haben. Das ist hier nicht der Fall. Beide Parteien müssen zustimmen, und da wir hier über eine soziale Klasse sprechen, die in der Regel nicht dringend auf Geld angewiesen ist, spielen finanzielle Anreize kaum jemals eine große Rolle.” Er hielt kurz inne, dann korrigierte er: “Obwohl ich zugeben muss, dass Personen mit sehr hohem Ansehen erheblich seltener – wenn überhaupt – eine Abfuhr erhalten.”

“Was bedeutet, dass es eine Beleidigung wäre, und dass die Leute vermeiden wollen, wichtige Leute gegen sich einzunehmen?”, vermutete Eryn. “Was bedeutet das für uns? Wie wichtig war der Mann, der heute Abend dieses Angebot für mich gemacht hat?”

Der Botschafter winkte ab. “Wie sein Angebot zeigt, hat er beträchtliche Mittel zu seiner Verfügung, doch er hält kein Amt, das es ihm ermöglichen würde, uns das Leben zu erschweren, wenn er uns die Kooperation verweigert. Obwohl sich niemals sagen lässt, wer seine Freunde sind und ob diese willens wären, dich für eine empfundene Beleidigung zu bestrafen.”

“Das bedeutet, wir sollten hoffen, dass niemand wie Etor Gart ein Angebot macht”, knurrte Enric. “Ich habe nicht die Absicht, dieses Ausmaß an Nachgiebigkeit an den Tag zu legen, um uns eine Chance auf Fortschritt zu sichern.”

“Ich bin zuversichtlich, dass das nicht nötig sein wird”, versuchte Erbál ihn zu beruhigen. “Leute in seiner Position sind mit so etwas in der Regel vorsichtiger. Ohne Zweifel sind sich die meisten von ihnen im Klaren darüber, dass eure Länder es nicht mit dieser Art Brauch halten.”

“Du könntest auch dieses Mal wieder falsch liegen”, erwiderte Enric gnadenlos. “Du dachtest auch, niemand wäre so kühn, wenig mehr als einen Tag nach unserer Ankunft hier mit solch einem Angebot an uns heranzutreten.”

Erbál presste als Reaktion auf diesen Vorwurf einen Moment lang die Lippen aufeinander, blieb aber ruhig. “Du hast Recht, ich habe die Situation falsch eingeschätzt”, gab er mit einer gewissen Steifheit zu. Er war bekannt dafür, dass er bei seinen Annahmen größte Vorsicht walten ließ. Pe’tala hatte vor einigen Jahren ihre Schwester sogar ausgelacht, weil sie Erbáls Worte in Zweifel gezogen hatte. Immerhin war bekannt, dass er immer richtig lag. Es musste an ihm nagen, dass er sich geirrt hatte. Und dass Enric so unverblümt den Finger darauf legte, musste es noch unangenehmer machen.

“Nun, es war nur eine Kleinigkeit. Und es ist kein Schaden daraus entstanden”, warf Eryn ein, ihr Ton versöhnlich. Mit einem Seitenblick auf Enric fügte sie hinzu: “Die Person, deren Voraussagen ohne Fehl zutreffen, muss ich erst noch kennenlernen.”

Enric verstand den Hinweis und seufzte, dann drehte er sich zu Erbál. “Ich entschuldige mich. Dieser Vorfall hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht. Und der Gedanke, meine Weigerung dahingehend, dass andere Männer mit meiner Gefährtin intim werden können, könnte zu Komplikationen führen, macht mich nervös. Und dass die Männer in dieser Stadt glauben, sie hätten die Freiheit, über Eryn als mögliche Bettpartnerin auch nur zu denken, verstört mich noch mehr.”

“Ich verstehe”, erwiderte Erbál großzügig. “Keine Sorge. Ich fühle mich nicht angegriffen. Ich kann dir nur sagen, dass das Gesetz Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung untersagt, also liegt es in deiner Macht, ihn abzulehnen. Jeder Versuch, Eryn dazu zu zwingen, würde der Person, die es versucht, nicht nur öffentliche Schande einbringen, sondern hätte auch ernsthafte juristische Konsequenzen. Aber lasst uns nicht länger bei diesem unangenehmen Thema verweilen und lieber besprechen, wie wir weiter vorgehen sollen.”

Eryn zog fragend eine Augenbraue hoch und beschrieb mit ihrem Zeigefinger einen Halbkreis in der Luft. Das war die Geste, die der König bei seinem Besuch in der Klinik vor ein paar Jahren benutzt hatte, um ihr zu signalisieren, dass sie eine schalldichte Barriere errichten sollte. Doch anders als sie selbst damals, schien Erbál sofort zu verstehen, was sie damit meinte. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf und gab ihr damit zu verstehen, dass potentielle versteckte Zuhörer keinerlei wertvolle Einblicke von der nachfolgenden Unterhaltung gewinnen würden. Es war ein Thema, von dem erwartet wurde, dass sie es besprachen.

“Wir sollten mit den Priestern in Kontakt treten”, schlug Enric vor.

Der Botschafter nickte. “Daran habe ich ebenfalls gedacht. Ich würde empfehlen, dass ihr nicht sofort mit euren Recherchen beginnt, sondern erst daran arbeitet, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Nur ungern teilen die Leute hier Informationen mit Fremden oder arbeiten mit ihnen zusammen. Was bedeutet, ihr solltet daran arbeiten, nicht als Fremde wahrgenommen zu werden.”

Eryn seufzte. Das klang nach einem zeitintensiven Unterfangen – besonders, da sie hier über fünf Tempel sprachen. Vedric würde wohl schon mitten in der Pubertät sein, bevor seine Eltern zurückkehrten, grübelte sie säuerlich.

“Ich schlage vor, ihr beginnt mit dem Tempel des Inneren Zirkels”, legte Erbál ihnen nahe.

Ihre Augenbrauen wanderten nach oben. “Das ist derjenige, dem Malriels Ankläger entstammt.”

“Genau der”, bestätigte Erbál. “Meine Hoffnung ist, dass sie noch immer angemessen beschämt sind und es daher als eine Art Wiedergutmachung betrachten, mit euch zu kooperieren.”

“Dann werden wir dort beginnen”, pflichtete Enric bei, bestrebt zu zeigen, dass er Erbáls Einschätzung vertraute, obwohl er ihn zuvor beleidigt hatte. “Ich erinnere mich an die Notizen zu den Tempeln, die du während deiner jährlichen Besuche in Takhan angefertigt hast. Vor unserer eiligen Abreise habe ich sie mir noch einmal durchgesehen, doch ich könnte deine Hilfe dabei gebrauchen, mir die Details noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Und Eryn hat sie überhaupt nicht gesehen.”

Erbál nickte und setzte sich etwas bequemer in seinen massiven Stuhl, um sich für ein längeres Gespräch einzurichten. Eryn erhitzte ihr cremiges Getränk noch einmal und hörte sich an, wie die Magier in dieser Stadt lebten.

»Ende der Leseprobe«

„Königliche Schwierigkeiten“ – Der Orden: Buch 6

Kapitel 1

Heimkehr

Enric und sein Sohn hoben beide den Blick von dem Brettspiel zwischen ihnen und blickten zu den beiden Frauen hin, die einander auf dem Rasen in recht brutaler Weise mit dem Schwert attackierten. Pe’talas triumphierender Ausruf, der nun anstatt des Hintergrundgeräuschs von klirrendem Stahl ertönt war, hatte sie zum Aufblicken veranlasst.

“Was ist eine selige Schuldigung für eine Kämpferin?”, fragte der fünfjährige Junge neugierig, indem er wiederholte, was seine Tante seiner Ansicht nach soeben mit schadenfroher Boshaftigkeit von sich gegeben hatte. Seiner Mutter und seiner Tante beim Schwertkampf zuzusehen war stets eine unversiegbare Quelle spaßiger neuer Ausdrücke. Aus irgendeinem Grund jedoch schien sein Vater in der Regel nicht besonders erfreut, wenn er Fragen zu deren Bedeutung beantworten musste. Zuweilen schlug er sogar vor, sie sollten hineingehen und ihr Spiel im Hauptraum fortsetzen, doch Vedric schüttelte jedes Mal heftig den Kopf, unwillig, das unterhaltsame Spektakel aufzugeben.

“Eine armselige Entschuldigung für eine Kämpferin”, korrigierte ihn Enric geistesabwesend, während er beobachtete, wie sich Eryn hinter einen Baum duckte, nachdem sie ihr Schwert verloren hatte. “Es bedeutet, dass deine Tante denkt, deine Mutter könne mit ihrem Schwert nicht besonders gut umgehen.”

“Ich finde, sie kann das sehr gut”, äußerte Vedric loyal, wenngleich sein Gesichtsausdruck deutlich zeigte, dass er es nicht eben als heldenhaften Zug betrachtete, dass sich seine Mutter hinter einem Baum verschanzte.

“Komm hinter diesem wehrlosen Baum hervor und ergib dich, du jämmerlicher Feigling!”, rief Pe’tala und schwang ihr Schwert als wäre sie drauf und dran, den erwähnten hilflosen Baum mit einem einzigen Hieb zu fällen.

“Jämmerlicher Feigling”, kicherte Vedric und bedeckte seinen Mund mit beiden Händen. Seine braunen Augen funkelten vor Vergnügen darüber, dass er all diese unfreundlichen Worte mitanhören konnte, mit denen er in Gegenwart von Erwachsenen nicht um sich werfen durfte.

Enric seufzte in dem Bewusstsein, dass die Aufmerksamkeit seines Sohnes in nächster Zeit wohl kaum zum Spiel zurückkehren würde. Einerseits störte es ihn keineswegs, dass der Junge den beiden Frauen beim Kampf zusah. Das würde ihm ein grundlegendes Verständnis von einer Disziplin vermitteln, die er selbst in etwa einem halben Jahr zu trainieren beginnen würde müssen. Andererseits entsprachen Eryns und Pe’talas Vorstellungen von Schwertkampf nicht gerade dem, was der Orden als… angemessen empfand. Fluchen und Beschimpfungen waren ein Teil davon, und zudem auch noch ein recht unübliches Ausmaß an Kreativität. Diese beiden Frauen legten eine unverfrorene Missachtung dessen an den Tag, was gemeinhin als ehrenhaftes Verhalten im Kampf erachtet wurde. Sollte Vedric diesem Beispiel folgen, würde er die Geduld seines zukünftigen Kampftrainers zuhause in Anyueel auf eine harte Probe stellen.

Der Junge und der Mann sahen von der Terrasse aus zu, wie Eryn ein paarmal tief durchatmete. Dann errichtete sie einen Schild, schoss einige magische Blitze auf ihre Schwester ab und stürmte dorthin, wo ihr Schwert im Gras lag. Pe’tala schützte sich hastig mit einem Schild vor den Geschossen und fluchte, als Eryn die Waffe erreichte und ihr so ein einfacher Sieg verwehrt wurde.

Enric räusperte sich, dann erhob er die Stimme: “Darf ich euch nochmals daran erinnern, dass ein Kind anwesend ist?”

Pe’tala lächelte entschuldigend in seine Richtung und näherte sich erneut ihrer älteren Schwester.

Vedric beobachtete einige Sekunden lang den raschen Austausch an Hieben. Als sich allerdings nichts Interessantes ankündigte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Vater.

“Warum müssen wir von hier weggehen? Ich will hierbleiben. Können wir nicht hierbleiben?”

Enric unterdrückte ein resigniertes Seufzen. Genau diese Diskussion hatten sie bereits mindestens zehn Mal in ebenso vielen Tagen geführt. Und vor sechs Monaten war es genau gleich verlaufen, als sie kurz davor waren, Anyueel zu verlassen und nach Takhan zu gehen. Es war nicht so, als wäre der Junge unwillig, nach Takhan oder Anyueel zu gehen, er sträubte sich lediglich dagegen, von dort fortzugehen, wo er sich gerade aufhielt.

“Ich verstehe, weshalb du gerne länger bleiben möchtest. Aber ich fürchte, es liegt nicht in meiner Macht, dir diesen Wunsch zu erfüllen. Deine Mutter und ich würden uns beträchtlichen Ärger mit Lord Tyront und dem König einhandeln, würden wir uns einfach weigern zurückzukehren.” Er zerzauste das braune Haar seines Sohnes, das nach einem halben Jahr unter der Sonne der Westlichen Territorien heller als üblich war. “Es gibt auch etwas Gutes dabei. Du wirst Plia und deine Großmutter Gerit wiedersehen.”

Während er seiner Tante dabei zusah, wie sie gewandt einem Angriff auswich, nickte er langsam, als würde er abwägen, ob sie sechs Monate lang nicht zu sehen ein adäquater Preis für den Vorteil war, Plia und seine Großmutter wiederzuhaben.

“Verdammt!”, hörten sie Pe’tala fluchen und blickten einmal mehr zum Gras. Dort lag sie auf dem Boden, während Eryn ihrer Schwester mit einem selbstgefälligen Grinsen die Spitze ihrer Klinge an den Hals hielt.

Vedric sprang auf und klatschte aufgeregt in die Hände. Ein zufälliger Beobachter hätte dieses offensichtliche Vergnügen über den Sieg seiner Mutter womöglich reizend gefunden, doch die Reaktion war genau die gleiche, wenn seine Tante siegreich aus einem Kampf hervorging.

“Was war Pe’talas großer Fehler? Warum konnte deine Mutter gewinnen?”, fragte Enric seinen Sohn. Er konnte diese Gelegenheit ebenso gut nutzen, um Vedric etwas beizubringen, dass sich eines Tages zweifellos als nützlich erweisen würde.

Eine Weile starrte ihn der Junge an, dann sah er zu dem Baum, hinter dem sich Eryn versteckt hatte. Nach etwa einer halben Minute zuckte er mit den Achseln.

“Pe’tala hat deiner Mutter die Waffe weggenommen. Doch anstatt sicherzugehen, dass deine Mutter sie nicht mehr erreichen kann, hat sie sie auf dem Boden liegengelassen.”

Vedric schien das für keine besonders interessante Enthüllung zu halten und sah zu, wie sich die beiden Frauen der Sitzinsel auf der Terrasse näherten. Eryn löste den Schild auf, den sie errichtet hatten, um die Terrasse von ihrem vorübergehenden Kampfschauplatz abzutrennen und so den Jungen vor Schaden zu bewahren.

Pe’tala ließ sich auf ein Kissen neben ihrem Neffen sinken und nickte zu dem Spiel hin. “Wer hat gewonnen?”

“Niemand”, erwiderte Enric. “Irgendwie haben ihn eure Beleidigungen zu stark abgelenkt, als dass er sich auf das Spiel hätte konzentrieren können.”

Sie winkte ab. “Die waren harmlos. Du solltest mich hören, wenn niemand in Hörweite ist.”

“Weißt du, warum du verloren hast?”, schulmeisterte Vedric sie in überlegener Manier.

Seine Tante schnaubte. “Hör sich das einer an! Ganz wie dein Vater. Er genießt es ebenfalls, die Leute in den zweifelhaften Genuss seiner Weisheiten kommen zu lassen. Dann sag schon; weshalb habe ich verloren?”

“Weil Mutter ihr Schwert zurückbekam! Das war deine Schuld”, teilte er seine geborgte Weisheit.

Mit einem leicht gereizten Lächeln lehnte sich Pe’tala vor. “Wirklich. Nun, da du solch ein kluger junger Mann bist, kannst du mir sicher sagen, wie ich es besser hätte machen können?”

Von einem Augenblick zum nächsten geriet Vedrics Selbstbewusstsein ins Wanken. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Er hatte einfach nur etwas Kluges und Erwachsenes sagen wollen, um einen Moment lang zu glänzen, nichts weiter.

Enric lächelte nachsichtig über den leicht flehenden Blick seines Sohnes. “Das passiert, wenn du die Meinung anderer Leute als deine eigene präsentierst. Lass dir das eine Lehre sein.”

Der Junge war eindeutig nicht besonders angetan davon, wie sich das Gespräch entwickelt hatte und entschied, seine Aufmerksamkeit der einzigen Erwachsenen zuteilwerden zu lassen, die noch nicht bei ihm in Ungnade gefallen war: seiner Mutter.

Wortlos stand er von seinem Platz zwischen seinem Vater und seiner Tante auf und legte demonstrativ die paar Schritte zu Eryn zurück, um sich neben sie zu setzen.

“Ich bin froh, dass du gewonnen hast”, murmelte er mit einem Seitenblick auf seine Tante.

“Das bin ich ebenfalls”, stimmte Eryn zu und verbarg ein Lächeln. Nun schien es, als wäre sie allein die glückliche Empfängerin all seiner Aufmerksamkeit. Nun, sie würde das Beste daraus machen. “Und weißt du was? Sie hätte mich dieses Schwert wirklich nicht mehr aufheben lassen dürfen. Ich meine, ich stand ohne Waffe hinter einem Baum versteckt! Sie hätte sich zwischen mich und das Schwert stellen sollen, damit ich es nicht erreichen kann.”

Vedric nickte nachdrücklich. “Ja!”

Pe’tala verdrehte die Augen. “Oh bitte, Schwester! Es ist einfach nur erbärmlich, wie sehr es dich nach Zuwendung dürstet. Schlicht und ergreifend beschämend.” Sie sah sich um. “Wo ist übrigens meine Brut? Sie schläft doch wohl nicht noch immer?”

Enric schüttelte den Kopf. “Nein, sie ist vor etwa einer Stunde aufgewacht. Rolan hat sie zu einem Besuch bei deinem Vater mitgenommen.”

“Und ihr beiden wolltet lieber hierbleiben und uns beim Kämpfen zusehen”, erkundigte sich Pe’tala, “anstatt sie zu begleiten?”

“Wir entschieden uns dafür, ein paar friedliche Stunden hier zu verbringen, da wir Takhan in zwei Tagen verlassen. Und Valrad sehen wir morgen ohnehin bei der kleinen Zusammenkunft, die Malriel zu unserem Abschied arrangiert hat.” Er lächelte, als Eryn stöhnte – ihre übliche Reaktion, wenn solche Anlässe auch nur erwähnt wurden.

“Solltest du nicht auf dem Weg zu deinem Examen sein?”, fragte Eryn missmutig. Als würde ihn wegzuschicken sie auch gleichzeitig von der unangenehmen Aussicht befreien, dass sie nicht nur eine gesellige Veranstaltung besuchen musste, sondern auch noch eine, die von ihrer Mutter ausgerichtet wurde.

Enric nickte. “Ich werde etwa in einer halben Stunde aufbrechen und sollte mich jetzt fertigmachen. Wünscht mir Glück.”

Pe’tala grinste. “Warst du nicht derjenige, der mir einmal erklärte, Glück bräuchten nur diejenigen, die nicht vorbereitet sind? Dass fleißige Leute, die vernünftig genug sind, um sich ausreichend vorzubereiten, solch ein abstraktes Konzept nicht benötigen, dass es eine Frage von Ursache und Wirkung sei?”

Er seufzte und stand auf. “Natürlich kann ich mich darauf verlassen, dass du mir meine Worte in solch einem Moment vorhältst.”

Sie lehnte sich vor. “Sag mir nicht, du bist nervös, Ordenslord? Solch ein mickriges kleines Examen wird dich doch wohl kaum aus der Ruhe bringen?”

“Das ist kein mickriges, kleines Examen, wie du es nennst”, konterte er, gereizt darüber, dass ihre Worte nicht ganz ungerechtfertigt waren. Er war tatsächlich ein wenig nervös und schätzte es weder, dass es ihr aufgefallen war, noch dass sie sich über ihn lustig machte. “Nachdem ich es bestehe, werde ich in diesem Land als vollwertiger Rechtsgelehrter anerkannt sein”, erwiderte er würdevoll.

“Und welch ein lebensverändernder Umstand das sein wird”, meinte Pe’tala mit einem abfälligen Grinsen. “Es ist nicht so, als hättest du nicht ohnehin Zugriff auf erstklassige juristische Betreuung gehabt, wenn man bedenkt, dass der Bruder deiner Gefährtin und dein enger Freund Ram’an beide Rechtsgelehrte sind.”

Eryn hob ihre Hand und umschloss damit seine Finger. “Hör nicht auf sie. Alles wird gutgehen. Daran hast du die letzten vier Jahre gearbeitet. Geh und beeindrucke sie!”

“Toller Zeitpunkt übrigens”, fuhr Pe’tala fort ihn zu reizen. “Du legst dein großes Abschlussexamen ab, wenn du gerade drauf und dran, bist das Land zu verlassen, in dem du damit etwas anfangen könntest.”

“Halt die Klappe, Tala”, knurrte ihre ältere Schwester.

“Halt die Klappe, Tala”, krähte Vedric glücklich, was ihm einen kühlen Blick seitens seiner Tante einbrachte.

“Sie kann das sagen, du nicht”, tadelte sie ihn.

Bedrückt ließ sich der Junge in die Kissen zurücksinken und sinnierte darüber, wie ungerecht Erwachsene im Allgemeinen waren. Wenn es schlecht war, dann sollte niemandem erlaubt sein, es zu sagen. Wenn es nicht schlecht war, warum durfte er es dann nicht sagen? Er hegte den Verdacht, dass sie sich diese Regeln einfach im Vorbeigehen ausdachten. Wenn er eines Tages erwachsen war und somit selbst Regeln erfinden durfte wie es ihm passte, würde er niemals ungerecht zu Kindern sein, schwor er sich. Er würde wie Vern sein. Vern war alt aber nett.

“Mach mich stolz, Geliebter”, lächelte Eryn zu ihrem Gefährten empor. “Mach die Welt zu einem besseren Ort, indem du ihr etwas gibst, dass sie so dringend braucht: noch einen Juristen.”

Enric knirschte mit den Zähnen und zog seine Hand aus ihrer. “Danke für eure Unterstützung, ihr beiden.”

Pe’tala kicherte, als er sich umdrehte und durch die Terrassentür nach drinnen verschwand.

Eryn drückte sich von ihrem Kissen hoch.

“Du gehst ihm nach und hältst seine Hand, um seine Nerven zu beruhigen, so wie eine unterstützende, hingebungsvolle Gefährtin, Schwester?”

“Selbstverständlich, du Dummkopf”, erwiderte Eryn und folgte ihm hinein.

Vedric biss sich auf die Lippe. Sein erster Impuls wäre gewesen, den unschmeichelhaften Ausdruck zu wiederholen, einfach aus Freude darüber, dass er ihn gehört hatte.

“Wage es nicht”, warnte seine Tante ihn mit zusammengekniffenen Augen, als könnte sie seine Gedanken lesen. “Ich würde nicht besser darauf reagieren, wenn du mich einen Dummkopf nennst als wenn du mir sagst, ich solle die Klappe halten.”

Der Junge verschränkte die Arme und blitzte sie an. “Jetzt gerade mag ich dich nicht.”

Pe’tala nickte in offenkundigem Verständnis für seine Gefühle. “Das ist schon in Ordnung. Das geht vorbei.”

* * *

Während sie sich im Aren Hauptraum mehr oder weniger vor Malriels Gästen und insbesondere vor Malriel selbst versteckte, ließ Eryn ihren Blick über die ausgedehnten Gärten wandern und hielt sich an ihrem Glas süßen Weißweins fest. Wieder eine dieser mühsamen Veranstaltungen, auf deren Abhaltung das Oberhaupt von Haus Aren in regelmäßigen Abständen bestand. Um die soziale Struktur aufrechtzuhalten, wurde Malriel nicht müde ihrer Tochter immer wieder zu erklären. Und natürlich war die bevorstehende Abreise von Eryn, Enric und ihrem Sohn nach ihrem jüngsten sechsmonatigen Aufenthalt in Takhan ein fabelhafter Vorwand für diese Zusammenkunft hier.

Seit fünf Jahren waren sie nun schon gezwungen, ihr Leben zu gleichen Teilen zwischen den Städten Anyueel und Takhan aufzuteilen. Wenngleich in Enrics Fall nicht ganz so viel Zwang erforderlich gewesen war, wie er freimütig zugab. Er war zufrieden mit diesem Arrangement, das es ihm gestattete, in beiden Ländern seinen Geschäften nachzugehen und gleichzeitig alle paar Monate ein wenig Freiheit vom Orden zu genießen. Und nun hatte er, erst am Vortag, seine Ausbildung zum Juristen abgeschlossen, indem er seine Abschlussprüfung mit hohen Ehren bestand.

Nicht, dass sie etwas anderes von ihm erwartet hatte. Der Orden – oder eher sein Vorgesetzter, Freund und Mentor Tyront – hatte alles getan, um Enric von einem faulen, jungen Tunichtgut in einen Mann zu verwandeln, der stets sein Möglichstes gab. Eine Einstellung, die Eryn nicht teilte. Erfolgen gegenüber hatte sie eine ökonomischere Einstellung. Die Aussicht auf eine gute Note konnte sie kaum dazu bewegen, mehr Aufwand zu betreiben, als die Sache ihrer Ansicht nach rechtfertigte.

Und dann war da Vedric, der nie etwas anderes als das Herumreisen zwischen seinen beiden Heimatorten kennengelernt hatte. Eryn hoffte, dass dies nicht eines Tages zu einem Problem werden würde. Was wäre wenn dieses ständige Entwurzeln jegliches Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Heimat zerstörte, das er sonst entwickelt hätte? Oder wenn ein rastloser Mann aus ihm würde, für den der bloße Gedanke daran, sich eines Tages mit einer Familie an einem Ort niederzulassen, eine Folter war und ihn dazu verdammte, für den Rest seines Lebens die Länder zu durchwandern?

Das waren genau die düsteren Gedanken, die von ihr Besitz ergriffen, wenn sie eine weitere gesellige Veranstaltung ertragen und dabei vorgeben musste, sie verstünde sich ganz fabelhaft mit ihrer Mutter, obwohl jede einzelne anwesende Person – ebenso wie eine Menge abwesender Personen – wusste, dass dem keineswegs so war. Wahrscheinlich warteten sie lediglich auf eine weitere dieser angespannten Auseinandersetzungen oder kurzen Ausbrüche zwischen Mutter und Tochter, die ihre Umgebung so ungemein unterhaltsam fand. Das würde den Klatschbasen Material für mindestens eine Woche liefern. Das war die eine Sache, die beide Seiten des Meeres gemeinsam hatten, ganz egal, welche Unterschiede sie trennten – diese Vorliebe für das Wetzen ihrer Zungen.

Misstrauisch stieß Eryn den Atem aus, als ihr Blick auf Malriel fiel, die in ihre Richtung kam. Malriel, das Oberhaupt von Haus Aren und Triarchin der Westlichen Territorien, war eine Schönheit – sehr zum Leidwesen ihrer Tochter. Nachdem sie erst vor ein paar Jahren in einen Lebensbund mit Eryns Vater eingetreten war, hatte er sie darum gebeten, ihr Äußeres nicht länger dahingehend zu verändern, dass sie jünger aussah. Eryn war überzeugt, dass die Gesetze der Natur nicht vorsahen, dass Menschen mit fortschreitendem Alter noch anziehender wirkten, zumindest nicht auf die Art und Weise, wie es bei Malriel der Fall war. Zehn zusätzliche Jahre hatten ihrer gefährlichen Ausstrahlung, erotischen Anziehungskraft und naturgegebenen Anmut keinen Abbruch getan. Auf unerklärliche Weise war genau das Gegenteil passiert. Es war, als würden ihr immenses Selbstvertrauen, ihre Anspruchshaltung und ihr respekteinflößender Ruf nun schlussendlich zu ihrem Alter passen. Dass Eryns Gesichtszüge beinahe ein Spiegelbild der ihrer Mutter waren, machte die Sache nicht besser. Überhaupt nicht. Unglücklicherweise trug es lediglich dazu bei, Eryn an ihre enge Verbindung zu erinnern, während es Enric dazu veranlasste, sich seiner Adoptivmutter gegenüber nachsichtiger zu zeigen – und empfänglicher für ihre Wünsche zu sein.

Malriel näherte sich der Terrassentür, während sie einen ungemein widerwilligen Vedric hinter sich herzog. Ihre Finger hatten sich fest um sein zierliches Handgelenk geschlossen. Das Gesicht des Jungen zeigte leichte Anzeichen von Panik, als erwarte er, dass irgendein Verderben unmittelbar über ihn hereinbrechen würde. Seine Großmutter wirkte grimmig und entschlossen. Und aufgebracht.

Falls Ärger ein Gesicht hatte, dann war es womöglich genau dieses. Und das bedeutete, dass die kurze Pause von dieser ermüdenden Zusammenkunft, die sich Eryn durch das Hineinschleichen gestohlen hatte, baldigst ein abruptes und wenig friedliches Ende finden würde.

Malriel blieb unmittelbar vor ihrer Tochter stehen und warf ihr einen steinernen Blick zu. “Warum hat mich mein Enkel gerade als Königin der Dunkelheit bezeichnet – vor meinen Freunden?”

Eryn unterdrückte eine Grimasse. Sie musste wirklich, wirklich vorsichtiger sein mit ihren Bemerkungen, solange Vedric in der Nähe war. Mit fünf Jahren war er alt genug, um Dinge rasch aufzuschnappen. Noch verstand er allerdings nicht so ganz, was er besser für sich behalten sollte, um niemanden zu beleidigen. Oder seiner armen Mutter Ärger einzuhandeln, wie in genau diesem Moment.

Sie sah zu ihrem Sohn hinab, dann wieder zu Malriel und zuckte mit den Schultern.

“Weil er trotz seines jungen Alters ungewöhnlich talentiert darin ist, den Charakter einer Person einzuschätzen?”, wagte sie sich vor. Sie entschied, dass Unverschämtheit diese Situation nicht mehr allzu sehr verschlimmern würde und sie ebenso gut versuchen konnte, sich ein wenig auf Malriels Kosten zu amüsieren.

Malriel presste einen Daumen und Zeigefinger gegen ihre Nasenwurzel und schloss die Augen, als kämpfe sie gegen sich anbahnende Kopfschmerzen. “Ist er das? Dann scheint es also, als wäre ihm das ganz allein eingefallen und meine Annahme, er müsse es von dir gehört haben, sei falsch.”

Eryn seufzte und hockte sich vor Vedric, der den Austausch der beiden Frauen mit einem verunsicherten Stirnrunzeln verfolgt hatte. Als wäre ihm bewusst, dass jemand in Schwierigkeiten steckte, er sich jedoch nicht sicher war, um wen es sich dabei handelte – und als hoffe er inbrünstig, es möge sich nicht herausstellen, dass er es sei.

“Was habe ich dir über diesen Ausdruck gesagt, Vedric?”, fragte sie eindringlich.

Er dachte kurz nach, dann gab er gehorsam wieder: “Ihn nicht in höflicher Gesellschaft zu verwenden.”

Sie nickte, richtete sich wieder auf und sah Malriel mit einer Miene an, die ausdrücken sollte, dass sich die Zunge eines Kindes nicht kontrollieren ließ.

Vedric meldete sich erneut zu Wort, und seine Stimme passte zu der Verwirrung auf seinem Gesicht, als er ungebeten hinzufügte: “Aber du hast zu Vater gesagt, dass Malriel vom verdammten Haus Aren genauso wenig als höfliche Gesellschaft zählt wie ein Rudel tollwütiger Straßenköter.”

Darauf folgte Stille. Von der scharfkantigen Sorte.

Malriels Lippen waren zu einer blassen, ärgerlichen Linie aufeinandergepresst, und es war offensichtlich, dass allein die Anwesenheit des Jungens sie davon abhielt, ihren eindeutig wenig freundlichen Gedanken, die sich ebenfalls nicht für höfliche Gesellschaft eigneten, Luft zu machen.

Zumindest hatte sich der Junge recht genau an ihre Worte erinnert, dachte Eryn mit einer seltsamen Mischung aus Unmut und Stolz. Sogar ihre Erklärung des Begriffs tollwütig war ihm im Gedächtnis geblieben. Das musste man ihm lassen. Nun mussten sie nur noch daran arbeiten, ihm ein feineres Gespür dafür zu vermitteln, welche Bemerkungen man vor welchem Publikum zum Besten geben konnte. Aber in diesem Fall war der Schaden bereits angerichtet.

“Aber Malriels Freunde sind höfliche Gesellschaft”, erklärte sie ihm milde.

Das Oberhaupt von Haus Aren bedachte sie mit einem vernichtenden Blick, bevor sie vor ihrem Enkel in die Hocke ging.

“Vedric, mein Herz, deine Mutter hat nur gescherzt, als sie das sagte. Sie würde sicher nicht wollen, dass du glaubst, dies sei eine angemessene Art und Weise, über die eigene Mutter zu sprechen.” Ihre Augen konzentrierten sich wieder auf ihre Tochter. “Das würde sie kaum zu einem guten Vorbild machen und könnte dich denken lassen, dass du sie ebenfalls eines Tages so behandeln kannst. Nun geh und spiel mit deiner Cousine. Da gibt es noch etwas, das ich mit deiner Mutter besprechen muss.”

Sie wartete, bis Vedric in Richtung Rolan und seiner Tochter davongestürzt war, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder Eryn zuwandte.

Ihre braunen Augen glänzten gefährlich, als sie ihre Tochter tadelte: “Das ist nicht akzeptabel! Ich lasse nicht zu, dass du in Gegenwart des Jungen dermaßen abfällig über mich sprichst! Dazu hast du kein Recht. Nur weil du und ich in der Vergangenheit gewisse… Schwierigkeiten hatten, bedeutet das nicht, es stehe dir zu, ihn gegen mich aufzubringen.”

“Ich tue nichts dergleichen”, meinte Eryn achselzuckend, wusste jedoch genau, dass Malriel Recht hatte – ihren Sohn hineinzuziehen war alles andere als reif. “Der Klang von Königin der Dunkelheit gefällt ihm einfach. Es klingt stattlich für ihn. Betrachte es als Kompliment.”

“Ich würde es vorziehen, wären seine Komplimente weniger beleidigend, besonders da jede einzelne Person, die es mitangehört hat, sehr genau weiß, woher ein Ausdruck dieser Art gekommen sein muss”, zischte sie.

Das hob Eryns Laune beträchtlich. “Es waren also viele Leute in der Nähe, die es gehört haben?”

Malriel kniff die Augen zusammen. “Ich sehe schon, dass sich mit dir keine Unterhaltung führen lässt, die einer Erwachsenen würdig ist. Darüber werde ich ein Wörtchen mit deinem Vater reden.”

Die jüngere Frau stöhnte. Valrad würde ihr auf jeden Fall das eine oder andere darüber zu sagen haben, dass sein Enkel Eryns Beleidigungen über seine Gefährtin wiederholte, ganz egal, ob es öffentlich oder in privatem Umfeld geschah.

“Im Ernst? Das mächtige Oberhaupt von Haus Aren läuft zu ihrem Gefährten um Hilfe, wenn sie mit ihrer eigenen Tochter am Ende ihrer Weisheit angelangt ist? Ist das nicht ein wenig erbärmlich?”

Ihre Mutter lächelte dünn. “Ich weiß, was du hier versuchst, aber es wird nicht funktionieren. Es ist keine Schande, wenn ich auf die Hilfe meines Gefährten zurückgreife in einer Angelegenheit, bei der ich allein wenig Aussicht auf Erfolg habe. Ich werde etwas gegen deine Haltung unternehmen, und da ich nicht zu dir durchzudringen vermag, muss ich es an jemanden delegieren, dem du zuhören wirst. Vielleicht weise ich sogar das Oberhaupt deines eigenen Hauses darauf hin, dass es nicht eben dazu beiträgt, die Beziehung zwischen unseren Häusern so harmonisch wie in den letzten Jahren zu erhalten, wenn mich sein Erbe öffentlich beleidigt.”

“Vedric ist gerade einmal fünf Jahre alt!”, stöhnte Eryn. “Du übertreibst das alles maßlos!”

“Auf ihn mag das zutreffen, nicht aber auf dich. Und wir wissen beide, dass Vedric hier nicht das Problem ist”, betonte Malriel. Jetzt, wo sie die Oberhand in dem Gespräch gewonnen hatte, war auch ihre Gelassenheit zurückgekehrt. Sie drehte sich um, damit sie die paar Terrassenstufen hinabsteigen und sich wieder zu ihren Gästen gesellen konnte. Lächelnd warf sie über ihre Schulter zurück: “Geh nicht zu weit weg, Theá, Valrad wird bald mit dir reden wollen.”

Eryn mahlte mit den Zähnen. Verflucht.

* * *

Enric seufzte, als er zur Terrassentür blickte und Valrad von Haus Vel’kim aus dem Raum kommen sah, in dem sich Eryn seines Wissens die letzten zwanzig Minuten versteckt hatte. Ihr Vater wirkte ein klein wenig angespannt um den Mund herum, obwohl er es zu verbergen suchte um nicht zu zeigen, dass etwas nicht in Ordnung war. Bei einem Anlass wie diesem hier schickte sich das nicht. Nicht, dass irgendjemand unter den Gästen mit Frieden und Harmonie rechnete, solange Eryn und Malriel länger als ein paar Minuten auf einmal am gleichen Ort weilten.

Eryn folgte einige Schritte hinter Valrad. Anders als er, hielt sie sich nicht mit irgendwelchen Bemühungen auf, ihre eigene Unzufriedenheit zu verbergen. Ihre Lippen waren zu etwas verzogen, was ein wohlmeinender Beobachter wohl als ein Lächeln bezeichnen mochte, doch ihre Augen waren verengt und ließen keinen Zweifel an dessen Aufrichtigkeit.

Somit schien es also, als hätte Eryn soeben eine Standpauke über sich ergehen lassen müssen. Enric zweifelte nicht daran, dass es etwas mit Malriel zu tun hatte. Valrad hatte sich in den letzten fünf Jahren redlich bemüht, sich nicht in eine Position zwischen seiner neuen Gefährtin und seiner neu entdeckten Tochter drängen zu lassen. Ein Bestreben, das in seinem Fall zum Scheitern verurteilt war. Klug wäre gewesen, sich einfach von ihren Zankereien, Streitereien und spitzen Bemerkungen abzuwenden und sie allein damit fertig werden zu lassen. Doch Enric wusste, dass dies für Valrad ebenso unmöglich war, wie sich für eine Seite zu entscheiden. Er steckte in der Rolle als ewiger Vermittler fest.

Malriel war die Liebe seines Lebens, die er jahrzehntelang aus der Ferne bewundert hatte. Erst vor ein paar Jahren hatte er entdeckt, dass sie seine Gefühle erwiderte – nach ihrer Gefangenschaft in einem fremden Land, wo ihr die Angst um ihr Leben den Mut gegeben hatte, ihm ihre Liebe zu erklären.

Und auf der anderen Seite stand Eryn, bei der er erst ein paar Monate vor seinem Kommitment zu ihrer Mutter entdeckt hatte, dass sie seine leibliche Tochter und nicht seine Nichte war. Eine Tochter, um die er hart kämpfen musste, damit sie schlussendlich ihre Verbitterung darüber überwand, dass er seinen eigenen Bruder auf diese Weise betrogen hatte.

Sein Beruf als Heiler und seine Position als Leiter der Klinik gingen mit einer gewissen Neigung zum Helfen, Lösen von Problemen und zur Verbesserung von Situationen einher. Eine noble, allerdings nach Enrics Dafürhalten selbstzerstörerische Gesinnung, soweit es Malriel und Eryn betraf.

Die beiden Frauen waren an einem Punkt angelangt, wo sie einander nicht mehr offen bekriegen konnten. Die Zuneigung zu Valrad, die sie beide empfanden, und der Wunsch, ihn nicht zu verletzen, machten das unmöglich. Die Tatsache, dass ihnen der gleiche Mann am Herzen lag, hielt sie davon ab, einander an die Kehle zu gehen. Aber auch nicht mehr als das. Die Spannung war im Allgemeinen unter Kontrolle, brach aber gelegentlich hervor und wurde in ihrer Körpersprache oder sarkastischen und zuweilen verletzenden Bemerkungen offenbar.

Es gab so Vieles, das zu vergeben Eryn nicht über sich brachte. Wie Malriels fehlgeschlagenen Versuch, ihr den Tod des Mannes zur Last zu legen, den sie damals als ihren Vater betrachtet hatte. Und auch ihren erfolgreichen Vorstoß, mit dem sie Eryns Verhütungsmaßnahmen mit Hilfe eines höchst wirksamen – und höchst illegalen, sofern ohne Zustimmung der Empfängerin verabreichten – magischen Fruchtbarkeitstranks außer Kraft setzte.

Malriel war im Gegenzug noch immer etwas gekränkt darüber, dass Eryn dem Haus, in das sie geboren worden war, entsagt hatte. Und die Tatsache, dass Eryn sich ganz fabelhaft mit ihrer Großmutter Malhora verstand, mit der Malriel selbst seit Jahrzehnten immer wieder ihre Schwierigkeiten hatte, sorgte für zusätzliche Reibung.

Alles in allem war der Friede in dieser Familie in etwa so stabil wie ein Dach aus Pergament bei einem Gewitter. Enric schien es, als wären es nur die Männer – nämlich Valrad, sein Sohn Vran’el und er selbst – die eine Eskalation verhinderten, wenn schon Friede nicht immer möglich war.

“Was hat sie jetzt wieder angestellt?”, flüsterte Pe’tala, nachdem sie neben Enric getreten war. “Vater bringt sie irgendwohin. Siehst du, wie sein linker Nasenflügel zuckt? Ein sicheres Zeichen dafür, dass er unter diesem wenig überzeugenden Lächeln verärgert ist.”

“Malriel kam einige Minuten zuvor aus dem Haus, also gehe ich davon aus, dass die beiden wieder Streit hatten”, murmelte er zurück.

Pe’talas Gefährte Rolan kam hinzu. “Vedric sagte mir gerade, dass Malriel böse zu sein schien, weil er sie als Königin der Dunkelheit bezeichnet hat.”

Enric unterdrückte ein Stöhnen. “Ich habe Eryn gesagt, sie soll aufpassen, wenn sie das in seiner Anwesenheit sagt. Aber ich schätze, die Konsequenzen zu tragen ist wirksamer als alles, was ich ihr sagen könnte, um sie von dieser Gewohnheit zu kurieren.”

Sie sahen zu, wie Valrad Eryn zu der Gruppe um Malriel führte. Dabei handelte es sich wohl um diejenigen, die Vedrics Worte mitangehört hatten. Es schien, als bestünde Valrad auf gewissen Bestrebungen zur Schadenskontrolle von Eryns Seite.

Eryn lächelte die versammelte Gruppe an, sagte etwas, nickte und lachte dann. Ihre Handgesten deuteten darauf hin, dass sie versuchte, eine plausible Erklärung für den Ausrutscher ihres Sohnes zu liefern. Nach weniger als zwei Minuten entschuldigte sich Eryn und deutete auf Enric, den sie wahrscheinlich als Ausrede für ihr Weggehen benutzte.

“Malriel wirkt zufrieden”, grinste Pe’tala hämisch, sobald ihre Schwester zu ihnen gestoßen war. “Offensichtlich hast du deine Speichelleckerei dort überzeugend betrieben.”

Kurzerhand nahm Eryn Rolan sein Glas aus der Hand, legte den Kopf zurück und leerte es mit einem Schwung, bevor sie meinte: “Das habe ich. Und jetzt fühle ich mich schmutzig. Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich morgen sein werde, diese Frau für sechs Monate los zu sein.” Sie sah sich um. “Mein Kind sollte mit eurem spielen. Wo sind sie? Es ist kein gutes Zeichen, wenn sie außer Sichtweite sind und es dermaßen ruhig ist.”

Rolan nickte zu den Bäumen in einer abgelegeneren Ecke des Gartens fernab von zerbrechlichen Gegenständen wie Gläsern und Tellern. “Vern spielt dort drüben mit ihnen Verstecken. Er sagte, er wollte uns noch einen letzten ruhigen Abend mit dir gönnen, bevor wir wieder ohne dich auskommen müssen.”

Eryn schnaubte. “Er findet diese Anlässe in etwa so erhebend wie ich selbst. Das war bloß eine Ausrede, um ein paar Minuten lang von diesen Leuten wegzukommen. Und noch dazu eine, die ihn rücksichtsvoll erscheinen lässt, während er tatsächlich egoistisch war.”

Pe’tala zog die Schultern hoch. “Ich weiß. Aber da dies bedeutet, dass ich hier ein paar Minuten lang ungestört mit anderen Erwachsenen stehen kann, bin ich mehr als willens, ihn damit durchkommen zu lassen. Ich könnte mir denken, dass er den ewig gleichen Fragen entgegen will: Freut er sich schon darauf, nach so langer Zeit wieder nach Hause zu kommen? Wird er Takhan sehr vermissen? Wie sehen seine Pläne aus, wenn er erst einmal wieder zurück ist?”

Eryn musste zugeben, dass genau diese Fragen im Laufe der letzten Wochen regelmäßig aufgetaucht waren. Kein Wunder, dass er es müde war, sie zu hören und zu beantworten. Aus mehr als einem Grund, wie sie vermutete. Ihre Versuche, mit ihm über seine Rückkehr zu reden, hatte er mit einem Lächeln abgetan und ihr erklärt, dass alles in Ordnung wäre und er sich auf die Rückkehr nach Anyueel freute. Eryn konnte nicht glauben, dass er ganz so entspannt war, wie er ihr weismachen wollte, doch mit zweiundzwanzig Jahren war er sicherlich alt genug, um selbst zu entscheiden, ob er über etwas reden wollte, das ihn belastete.

“Wie sehen eure Pläne für euren letzten Morgen hier aus?”, fragte Pe’tala.

“Ram’an hat uns in seine Residenz zu einem Frühstück mit ihm und Valcredy eingeladen”, antwortete Eryn mit klar erkennbarem Mangel an Freude. Valcredy war die zweite Person, die sie nur allzu gerne zurückließ. Damals in Anyueel war sie Enrics Geliebte gewesen, bevor Eryn aufgetaucht war, und nun war sie aus keinem anderen Grund mit Ram’an verbunden als in den Genuss des bequemen Lebens und des erhabenen Status zu kommen, den er bieten konnte. Dass Ram’an ihr genau das angeboten hatte im Austausch dafür, dass sie ihm zwei Kinder gebar, die Mitglieder seines Hauses waren und somit in der Lage, ihm nachzufolgen und eines Tages Haus Arbil zu übernehmen, machte für Eryn wenig Unterschied.

Rasch schnappte sie sich ein weiteres Glas Weißwein von einem Tablett, als ein Kellner vorbeikam.

“Es sieht so aus, als würde ich heute Vedric ins Bett bringen müssen”, stellte Enric resigniert fest. “Wenn du weiterhin in diesem Tempo Alkohol zu dir nimmst, stehen die Chancen gut, dass du vor ihm schläfst.”

“Ich bin zivilisiert und gesellig, obwohl die Königin der Dunkelheit anwesend ist”, knurrte Eryn. “Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich das weiterhin durchziehe und dabei auch noch nüchtern bleibe.”

“Auf so einen Gedanken wäre ich niemals gekommen”, lächelte ihr Gefährte und stieß mit seinem Glas gegen ihres. Was auch immer ihr half, Malriel einen letzten Abend lang auszuhalten, ohne dabei auszurasten.

* * *

“Hm?”, meinte Eryn und hob ihren Kopf von der Hand, auf der er gestützt war. Ein Kopf, der heute unglaublich schwer wog und nicht von allein aufrecht bleiben wollte.

“Ich habe gefragt, ob ihr gestern in der Aren Residenz einen netten Abend verbracht habt”, wiederholte Ram’an seine Frage.

Eryns Augen verengten sich, als sie Valcredys kaum wahrnehmbares abfälliges Lächeln über Eryns verkaterten Zustand bemerkte.

“Wunderbar. Reizend wie immer”, erwiderte sie ausdruckslos und griff nach ihrem Saftglas.

Enric beugte sich rasch vor, hob es vom Tisch auf und drückte es ihr in die Hand. Offensichtlich traute er ihrer Koordinationsfähigkeit im Moment nicht so ganz.

Vedric, der sein Frühstück bereits zuvor beendet und die Erlaubnis zum Verlassen des Tisches erhalten hatte, stürmte auf sie zu und warf sich in die Arme seiner Mutter. Dabei entging das Glas nur knapp einem scherbenreichen Schicksal.

“Mutter!”, beschwerte er sich lautstark, “Akalee hat mich gebeißt!”

Eryn zuckte zusammen ob der Lautstärke seiner Mitteilung und korrigierte ihn dann gedankenverloren: “Akalee hat mich gebissen.”

Die braunen Augen des Jungen weiteten sich vor Erstaunen. “Dich auch?”

Seine Mutter runzelte die Stirn, verwirrt von der Wendung des Gesprächs. “Was?”

“Was?”, erwiderte Vedric ebenso perplex.

Enrics Lippen krümmten sich leicht amüsiert. Er wandte sich an seinen Sohn, damit er seine Gefährtin davor bewahren konnte, sich an einer auch nur halbwegs vernünftigen Unterhaltung beteiligen zu müssen. “Nein, sie hat deine Mutter nicht gebissen. Du hast es nur falsch gesagt. Also, warum hat sie dich gebissen?”

Vedrics Blick huschte zu Valcredy und Ram’an, als wäre er unwillig, Details vorzubringen solange die Eltern der Missetäterin lauschten.

“Ich weiß es nicht”, murmelte er schlussendlich zurückhaltend.

Enric war nicht bereit, einfach so aufzugeben. “Was hast du getan oder gesagt, bevor sie dich gebissen hat?”, bohrte er nach.

Nach dem Gesichtsausdruck seines Sohnes zu urteilen, schien er nicht länger geneigt, seine Spielgefährtin zu verpetzen, wo dies nun unerwarteterweise dazu führte, dass er sich damit selbst Ärger einhandelte.

“Äh… nichts”, stammelte Vedric.

“Wirklich?”, fragte Enric mit gerunzelter Stirn nach. “Wenn das die Wahrheit ist, dann hast du gewiss nichts dagegen, das unter einem Lügenfilter zu wiederholen.”

Die entsetzte Miene des Jungen verriet ihn noch bevor er seinen Mund öffnen und seine vorhergehende Aussage ergänzen konnte. “Vielleicht habe ich zu ihr gesagt, dass sie ein hässlicher Stein ist.”

“Hast du das. Dann war es womöglich nicht ganz unverdient, dass sie dich gebissen hat, was meinst du?”, antwortete Enric vernünftig.

Vedric mied den Blick seines Vaters, als er wortlos nickte.

In diesem Moment kam Akalee, ein zierliches Mädchen von vier Jahren mit dem blonden Haar ihrer Mutter, um die Ecke. Sobald sie die Gruppe bemerkte, füllten sich ihre großen Augen mit Tränen, und einen Moment später entwich ihrem weit offenen Mund, der den Blick auf all ihre Zähne und ihr rosa Zahnfleisch gewährte, ein gepeinigtes Heulen.

Eine recht begabte kleine Schauspielerin, ging es Eryn durch den Kopf – trotz der Pein, die das Geräusch verursachte, als es in ihrem Kopf widerhallte. Entweder gab es unter Jungs kein Weinen auf Abruf, oder Vedric hatte aus Gründen männlichen Stolzes entschieden, nicht auf solche Methoden zurückzugreifen. Sein verblüffter Blick ließ sie allerdings eher vermuten, dass er das bislang lediglich noch nicht gemeistert hatte.

Ram’an und Valcredy standen beide gleichzeitig auf, dann sahen sie einander verlegen an, als wären sie unsicher, wer von ihnen nun ihre Tochter trösten sollte.

Lächerlich, dachte Eryn säuerlich. Diese beiden hatten zwei Kinder miteinander gemacht und mussten einander daher nackt gesehen haben. Wie war es also möglich, dass sie sich noch immer benahmen, als wären sie schüchtern miteinander? Wie geschäftsmäßig konnte ein Arrangement bleiben, wenn es erforderte, dass man seit mehreren Jahren unter dem gleichen Dach lebte und gemeinsam Kinder großzog? Nicht, dass es sie irgendetwas anging, gemahnte sie sich verdrossen.

Das war eine alte Diskussion, eine, die sie ein ums andere Mal mit Ram’an vom Zaun brach, nachdem er ihr vor ein paar Jahren mitgeteilt hatte, dass er Valcredy sozusagen eine Stelle als seine Gefährtin und Mutter seiner Kinder angeboten hatte. Die Diskussionen hatten nie irgendwohin geführt und meist in einem Streit geendet. Danach sprachen sie üblicherweise mindestens eine Woche lang kein Wort miteinander. Jedes Mal, wenn das passierte, nahm sich Eryn fest vor, es nie wieder zur Sprache zu bringen. Bislang hatte sie es mehr als ein Jahr lang geschafft, sich an diesen Vorsatz zu halten. Dabei zählte sie selbstverständlich auch die sechs Monate mit, die sie nicht in diesem Land verbrachte. Man musste sich an kleine Siege klammern, wo auch immer sie zu finden waren.

Valcredy war schließlich diejenige, die zu ihrer Tochter ging, das Mädchen hochhob und sie mit zu den Sitzkissen brachte.

“Ich bin kein hässlicher Busch!”, schniefte Akalee.

“Busch habe ich nicht gesagt!”, warf Vedric ein. Ganz eindeutig war er aufgebracht darüber, dass seine Worte ungenau wiedergegeben wurden. “Ich habe gesagt, dass du ein hässlicher Stein bist!”

Daraufhin heulte das Mädchen noch lauter auf, während sie ihre gebräunten Ärmchen um den Hals ihrer Mutter schlang.

Mit einer Hand bedeckte Eryn ihre Augen. Ihr Sohn, der Diplomat.

“Als wäre ein hässlicher Stein irgendwie besser als ein hässlicher Busch”, seufzte sie und ließ dann ihren Kopf zurücksinken. “Keines von beiden ist besonders hässlich. Beide sind für eine Beleidigung ungeeignet. Warum nennst du sie nicht einfach nur hässlich?”, murmelte sie lauter als es ihre Absicht gewesen war.

“Denkst du etwa, das hier sei witzig?” Valcredys Stimme war so tödlich wie ihr Blick.

Eryn schüttelte den Kopf und beobachtete, wie die blonde Sängerin ihr Kind an sich drückte, um ihm Trost zu spenden. “Nein, keineswegs. Die Beleidigung war einfallslos, und die Reaktion darauf ist für meinen Geschmack viel zu laut. Das alles ist mit nichts als Nachteilen verbunden.”

Ram’ans Gefährtin kniff die Augen zusammen. “So gehst du also mit dem rüden Benehmen deines Sohnes um?”

Eryn verdrehte die Augen. “Was soll ich denn deiner Ansicht nach tun? Ich meine, er bekam, was er verdient hat – deine Tochter hat ihn gebissen! Warum lassen wir sie das nicht unter sich ausmachen? Das ist eine wertvolle Gelegenheit für sie, Problemlösungsfähigkeit zu entwickeln.”

“Unfassbar”, murmelte Valcredy und schüttelte den Kopf, während sie weiterhin den Rücken ihrer schluchzenden Tochter streichelte. “Aber was hätte ich auch erwarten sollen von einer Frau, die ganz offensichtlich unter den Nachwirkungen von zu viel Alkohol leidet? Du bist vielleicht ein tolles Vorbild!”

“Nun, wir können uns nicht alle dadurch auszeichnen, dass wir mit unserem hübschen Aussehen und unserer Gebärmutter unseren Lebensunterhalt sichern. Welch ein Glück deine Töchter haben, dass es von dir so vieles zu lernen gibt”, erwiderte Eryn ausdruckslos. Sie war zu müde und verstimmt, um sich mit falschem Lächeln und verschleierten Beleidigungen aufzuhalten. Auch wenn es keinesfalls als höflich erachtet wurde, seine Gastgeberin zu beleidigen, so war sie doch zumindest weder ein Mitglied des Senats in Takhan, noch des Rats der Magier in Anyueel. Somit würde das hier abgesehen von ein wenig Missmut keinerlei Konsequenzen nach sich ziehen.

Enric und Ram’an tauschten einen eindringlichen Blick, bevor beide wie auf’s Stichwort auf die Beine kamen.

“Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen”, verkündete Enric. “Unser Schiff legt in weniger als drei Stunden ab, und wir müssen sicherstellen, dass auch alles gepackt ist.”

“Keine Minute zu früh”, ätzte Valcredy beinahe unhörbar.

“Wie war das?” bellte Eryn.

Weit aufgerissene, blaue Augen sahen sie an. “Nichts.”

Eryn ergriff Enrics Hand und ließ sich von ihm von den Kissen auf dem Boden hochziehen. Mit einem boshaften Blick zu Valcredy trat sie auf Ram’an zu und zog ihn in eine Umarmung. Eine lange und feste Umarmung. Als Enric sich räusperte, küsste sie Ram’an auf beide Wangen und ignorierte die Gastgeberin vollkommen, als sie sich den Toren zuwandte.

Enric küsste Valcredy auf eine Wange, dann ergriff er mit entschuldigender Miene Ram’ans Arm.

Ram’an winkte ab, noch bevor er etwas von sich geben konnte. “Sorge dich nicht, mein Freund. Sie werden einander sechs Monate lang nicht sehen. Dann werden wir es erneut mit einer zivilisierten Zusammenkunft versuchen. Ich wünsche euch eine sichere Heimreise. Sei so gut und schicke mir eine Nachricht, sobald ihr wohlbehalten angekommen seid. So wie immer. Gehab dich wohl, werter Kollege.”

Enric lächelte und nickte, bevor er seinen Sohn hochhob und Eryn den Weg hinab zum nächstgelegenen Ausgang folgte. Unglücklicherweise hatte Eryn nicht gerade die vorteilhafteste Route auserwählt, um sich hocherhobenen Kopfes davonzumachen. Sie mussten das Grundstück umrunden und somit einen beträchtlichen Umweg in Kauf nehmen. Doch wer war er schon, um ihren entschlossenen Abgang zu ruinieren?

* * *

An die Reling des Schiffs gelehnt blickte Enric auf das Meer hinaus. Sonnenuntergänge versetzten ihn stets in einen entspannten, wenn auch nachdenklichen Gemütszustand. Die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen, kam dem Meer gemächlich immer näher.

Ohne den Kopf zu drehen lächelte er, als Eryn neben ihn trat. Das bedeutete, dass Vedric endlich eingeschlafen sein musste, was seinen Eltern ein wenig Zeit allein miteinander ermöglichte.

Eryn und das Meer hatten im Laufe der letzten paar Jahre einen zerbrechlichen Waffenstillstand geschlossen. Die Wellen machten sie nicht länger seekrank, und im Gegenzug sah sie davon ab, ihren Mageninhalt in das Meer zu entleeren und alles Maritime farbenfroh zu verfluchen.

Wortlos schob sie ihren Arm durch seinen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, während sie zusahen, wie die Sonne den Horizont berührte. Obwohl Schiffe nicht eben ihr liebstes Transportmittel waren, war dies die Tageszeit, wo sie die Vorzüge der Seefahrt nachvollziehen konnte.

Winzige Wellen reflektierten das schwächer werdende Licht der versinkenden Sonne in einer Säule aus tanzenden glitzernden Punkten, die mit Schatten durchsetzt waren. Über ihnen wurde ein Teil des dunkler werdenden Lichts von den Wolkenbändern reflektiert, während ein anderer Teil verschluckt wurde. Es wirkte wie ein besänftigendes Bild für die Welt, um sie schrittweise auf die Dunkelheit vorzubereiten, die sie bald einhüllen würde.

Nahezu geräuschlos glitt das Schiff durch das finstere Gewässer, keineswegs behindert durch den fehlenden Wind, der die Segel aufblähen und ihrem Fortkommen dienen sollte. Magie hatte seinen Platz eingenommen und stellte eine angemessene Vorwärtsbewegung sicher.

Eryn sah zu ihrem Gefährten auf, als sie seinen leichten Stoß in ihre Seite spürte. Er nickte mit dem Kinn in Richtung des Schiffsbugs, wo Vern einige Schritte von ihnen entfernt mit verschränkten Armen und grüblerischer Miene stand.

Sie nickte kurz und richtete sich auf, bevor sie auf den jungen Mann zuging.

“Es ist wunderschön, nicht wahr?”, bemerkte er, ohne seinen Blick von der untergehenden Sonne abzuwenden. “Ich habe gerade daran gedacht, als ich das Meer vor sechs Jahren zum ersten Mal überquerte.”

Eryn lächelte. Sie erinnerte sich ebenfalls daran. Er war ein Junge von sechzehn Jahren gewesen, aufgeregt ob des Abenteuers, bei dem er es geschafft hatte, sich anzuschließen. Damals hätte sich niemand auch nur entfernt vorstellen können, dass bis zu seiner Rückkehr nach Anyueel sechs Jahre vergehen würden. Sechs Jahre – im Zuge derer er sich gemäß den Standards der Westlichen Territorien zum Heiler hatte ausbilden lassen, sämtliche ihm offenstehende künstlerischen Richtungen erkundet und sich einen beachtlichen Ruf als Frauenheld erworben hatte.

Es war seltsam, ihm beim Erwachsenwerden zuzusehen. Da sie alle sechs Monate den Ort gewechselt hatten, war sie jedes Mal überrascht, wenn sie nach Takhan zurückgekehrt war und gesehen hatte, wie sehr Vern sich sowohl in seinem körperlichen Erscheinungsbild als auch seiner geistigen Reife verändert hatte. Er war gewachsen und nun sogar ein wenig größer als sein Vater. Aber das war so ziemlich die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen. Der Krieger hatte den muskulösen, sehnigen Körper eines Kämpfers. Vern, wenn auch weit entfernt von dürr, war eindeutig nicht von der athletischen Sorte. Er hatte lange, schlanke, sensible Finger, die sich sowohl auf das Heilen als auch das Schaffen meisterhafter Kunst verstanden. Sein blondes, leicht gewelltes Haar reichte ihm bis auf die Schultern und folgte damit dem Stil, den Künstler in Takhan bevorzugten.

Seine Augen blickten nicht mehr ganz so ernst wie früher. Die Gesellschaft in Takhan hatte ihn mit offenen Armen willkommen geheißen, ihn als Ausnahmetalent gefeiert, während er Zuhause in Anyueel ein Außenseiter war, ein seltsamer Junge mit ungewöhnlichen Interessen und Talenten, mit denen kaum jemand wirklich etwas anzufangen wusste.

Mit der Entscheidung, Valrads Angebot zur Verlängerung seines Aufenthalts in Takhan anzunehmen, hatte er sein Leben in Anyueel zurückgelassen, ohne auch nur eine Sekunde lang zu zögern.

Außer seiner Familie hatte es dort kaum etwas gegeben, um ihn zurückzuhalten. Dafür waren die Chancen und Gelegenheiten, die Takhan bot, einfach zu verführerisch.

Orrin hatte seinen Sohn zweimal jedes Jahr für ein paar Wochen besucht und jedes Mal seine Gefährtin Junar und seine Tochter Téa mitgebracht. Er hatte es so eingerichtet, dass er sich Eryn und Enric anschließen konnte, wenn sie Anyueel verließen und ein zweites Mal kurz vor ihrer Rückkehr aus Takhan hinreiste. Dieses Mal allerdings würde er stattdessen auf dem Landungssteg warten, um seinen Sohn zuhause willkommen zu heißen.

Eryn überlegte, ob der Krieger in den letzten Tagen oder sogar Wochen vor der sehnsüchtig erwarteten Rückkehr seines Sohnes wohl empfindlich und launisch gewesen war. Und wie Verns Wohnsituation aussehen mochte. Würde er wieder bei seinem Vater einziehen oder sich ein eigenes Quartier nehmen? Mit dem Geld, das er mit dem Verkauf seiner Gemälde in Takhan verdient hatte sowie mit dem Lohn, den er bei Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Heiler in Anyueel erhalten würde, konnte er sich auf jeden Fall eine eigene Unterkunft leisten.

“Wie kommst du dieser Tage mit Loft zurecht?”, fragte Vern nach ein paar Minuten des Schweigens in ihre Gedanken hinein.

Eryns Wangen blähten sich mit der Luft ihres Atemzugs, als sie an den administrativen Leiter der Klinik in Anyueel dachte. Loft. Vor einiger Zeit war er Berater des Königs gewesen, einer von zweien. König Folrin hatte sich entschlossen, eine andere Position für ihn zu finden, nachdem der Mann sich als weniger anpassungsfähig gegenüber Veränderungen erwiesen hatte als für seine Position ratsam war. Pe’tala hatte Rolan, den ersten administrativen Leiter, nach Takhan entführt, als sie selbst abreisen und in ihre Heimat zurückkehren musste. Daraufhin hatte der König nach einer Konsultation mit Rolan und Lord Poron, dem Oberhaupt der Klinik, seinen früheren Berater zum Nachfolger bestimmt.

Eryns eigene Geschichte mit Loft sprach nicht eben von großer Freundschaft. Er störte sich an Eryn seit dem Tag, an dem sie als Gefangene des Königs in die Stadt gebracht worden war. Er hatte sogar vorgeschlagen, der König möge sie benutzen, damit sie seine Kinder austrug und damit zu der verbotenen Praktik zurückkehren, magisch begabte Thronerben zu zeugen. Seine Übernahme von Rolans Position war keine erfreuliche Enthüllung für sie gewesen. Doch mit Lord Poron als Oberhaupt der Heiler hatte sie als einfache Heilerin kaum etwas mit dem administrativen Leiter zu tun.

“Ich gehe ihm aus dem Weg, und ich denke, dass er sich mir gegenüber der gleichen Taktik bedient”, meinte sie schulterzuckend. “Wenn ich denke, dass etwas zur Sprache gebracht werden sollte, dann gehe ich damit zu Lord Poron und überlasse es ihm, sich mit Loft abzugeben.”

“Soweit ich letztes Mal von Vater gehört habe, leistet er gute Arbeit.”

“Das stimmt wohl”, räumte sie widerwillig ein. “Aber er muss auch nur zusehen, dass er das am Laufen hält, was Rolan eingeführt hat.” Sie wusste, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Die Klinik wuchs immer weiter und war einem ständigen Wandel unterzogen, also wäre es kaum ausreichend gewesen, nur aufrecht zu erhalten, was ein paar Jahre zuvor festgelegt worden war. Doch bei dem Gedanken daran, irgendetwas auch nur entfernt Positives über diesen Mann zu sagen, anerkennen zu müssen, dass er tatsächlich nützlich oder fähig war, zog sich alles in ihr zusammen.

“Weißt du schon, wo du wohnen wirst? Wenn du möchtest, kannst du eine Weile in unserem Gästezimmer unterkommen, bis du dich für einen Ort entschieden hast”, meinte sie, um das Thema zu wechseln.

Er schüttelte den Kopf. “Das ist ein wirklich freundliches Angebot, aber Vater hat mir bereits eine Unterkunft besorgt. Dort kann ich sofort einziehen.” Ein Lächeln umspielte seine Lippen. “Vollkommen allein zu leben wird eine ganz neue Erfahrung für mich werden. Nun, zumindest so allein wie es geht, wenn jemand anderer das Kochen und Putzen für mich übernimmt. Nachdem dein Vater bei Malriel einzog und ich bei Vran’el blieb, nahm dein Bruder Valrads Versprechen meinem Vater gegenüber wirklich ernst, sogar nachdem ich volljährig war.”

“Typisch Juristen. Sie vermeiden es aus Prinzip, bindende Versprechen zu brechen. Vorwiegend, weil sie zu träge sind, um sich mit den Konsequenzen zu plagen, wie ich vermute”, scherzte sie.

Vern lächelte und blickte auf das Meer hinaus. Die Sonne war nun vollkommen verschwunden. Nur ein Hauch eines rötlichen Glühens, das in ein paar Minuten verblasst sein würde, war verblieben.

“Ich freue mich schon darauf, wieder nach Hause zu kommen. Der verlorene Sohn kehrt zurück, bereit, die ganze Weisheit zu teilen, die er aus der Ferne mitbringt”, verkündete er hochfliegend.

“Oh Mann”, seufzte sie und schüttelte den Kopf. “Was für ein Blödsinn.”

 

Kapitel 2

Wiedereingewöhnung

Enric stand an Deck gegen die Reling gelehnt und hob seinen Arm zum Gruß, sobald er die vier Leute erkannte, die auf dem Pier standen und sie erwarteten. Orrin hob seine Hand in gleichermaßen gelassener Manier, während Junar und ihre fünfjährige Tochter Téa mit erheblich größerer Aufregung winkten. Doch für zwei Ordensmagier geziemte sich solch eine ungerechtfertigte Zurschaustellung von Gefühlen nicht. Es war einfach nicht angemessen. Die Leute würden darüber genauso schwatzen wie sie sich über jeden anderen Unsinn ausließen, der ihnen eine kleine Abwechslung von ihrem tristen Alltagsleben bot.

Vern kniff die Augen zusammen, um die vierte Person zu identifizieren, die bei seiner Familie stand. Kurz darauf riss er sie erstaunt auf.

“Ist das Plia?”, fragte er nach Luft ringend.

Eryn sah ihn von der Seite an. “Natürlich ist das Plia. Sie erwartet uns jedes Mal hier, wenn wir aus den Westlichen Territorien zurückkehren.

Vern starrte noch immer geradewegs auf die kleine Gruppe, die mit jedem Moment ein wenig besser erkennbar wurde. “Sie ist auf jeden Fall erwachsen geworden”, bemerkte er.

Sie schmunzelte. “Nun, was hast du erwartet? Sie hat nicht einfach aufgehört zu altern, damit dir die Eingewöhnung leichter fällt, falls du mit so etwas gerechnet hattest.”

“Nein, ich habe nur…”, begann er, beendete den Satz aber nicht. Ihm fehlten die Worte.

Eryn grinste und zwang sich, seine Reaktion nicht zu kommentieren. Sie erinnerte sich, dass es damals eine gewisse… Anziehung zwischen Plia und Vern gegeben zu haben schien, bevor der Junge sich entschieden hatte, seine Heimat für so lange Zeit zu verlassen. Eine reizende, unschuldige Bewunderung zweier junger Menschen, die gerade erst damit begonnen hatten, die wundersamen Empfindungen zu entdecken, die mit dem Erwachsenwerden einhergingen.

Plia war damals gerade einmal vierzehn Jahre alt gewesen – zu jung, als dass er dieser Anziehung, die er ihr gegenüber empfunden haben mochte, Taten folgen ließ. Eryn hatte ihn gewarnt, er solle die Hände von ihr lassen, bis das Mädchen älter war.

Eryn hatte Plias Gesicht wiederhergestellt, das im Babyalter durch ein Feuer entstellt worden war, indem sie den Schaden wegheilte. So erlangte das Mädchen die ihr eigene Schönheit, mit der die Natur sie ursprünglich ausgestattet hatte, wieder. Erst vor kurzem war sie volljährig geworden und zu einer ernsthaften, etwas reservierten jungen Frau herangewachsen, die sehr stolz auf ihre Arbeit war. Dies war der einzige Bereich, wo sie tatsächlich für das einstand, woran sie glaubte und keinesfalls willens war, irgendetwas zu akzeptieren, das sie als nachteilig für die Qualität ihrer Medizin erachtete. Sogar Loft, der administrative Leiter der Klinik und ihr Vorgesetzter, hatte sich mehr als einmal ihrem unerbittlichen Starren in Verbindung mit ihren streng verschränkten Armen gegenübergesehen, als er etwas einzuführen versucht hatte, das die junge Frau als ihrer Arbeit abträglich einschätzte.

“Lebt sie noch immer bei Enrics Mutter?”, fragte Vern, seine Augen noch immer auf Plia gerichtet.

“Sicher. Obwohl ich nicht weiß, wie lange sie das noch tun wird”, erwiderte Eryn, bevor sie ihn erstaunt ansah. “Wie kommt es, dass du das nicht weißt? Hätte sie dir davon nicht geschrieben, falls sie ausgezogen wäre?”

Vern schluckte, seine Miene plötzlich gepeinigt. “Nun, wir sind nicht wirklich in Kontakt geblieben.”

Eryn blinzelte. Das kam unerwartet. “Du hast ihr in all der Zeit niemals geschrieben? Warum nicht? Hattet ihr einen Streit oder so etwas?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein. Ich hatte einfach nur so viel zu tun, zu sehen, zu lernen…”

Sie presste ihre Lippen aufeinander, um den Vorwurf, der ihr auf der Zunge lag, für sich zu behalten. Somit hatte er sich also schlichtweg nicht die Mühe gemacht, Plia zu schreiben – sozusagen der einzigen Freundin seines Alters, die er im Königreich jemals gehabt hatte. Die Freude an seinem neuen Leben, sein Status als künstlerisches Genie, als Heilerlehrling, als Ziel der Aufmerksamkeiten zahlreicher Frauen waren ihm wichtiger gewesen als sich ein wenig Zeit dafür zu nehmen, um mit einem jungen Mädchen in Kontakt zu bleiben, von dem er stets nur Liebenswürdigkeit und Wertschätzung erfahren hatte.

In all diesen Jahren hatte Plia dies Eryn gegenüber kein einziges Mal erwähnt – weder hatte sie ein einziges Wort der Beschwerde ausgesprochen noch sich verstimmt gezeigt, wenn Eryn über ihn sprach. Obwohl solch eine Vernachlässigung schmerzhaft für sie gewesen sein musste. Und nun kehrte er zurück, einfach so, und entschied, dass sie jetzt, wo er sie nach mehr als fünf Jahren wieder zu Gesicht bekam, hübsch genug war, um sein Interesse zu wecken. Einfach famos.

Eryn schluckte ihren Ärger darüber, dass er Plia so gedankenlos fallengelassen hatte, fest entschlossen, ihren Unmut nicht zum Ausdruck zu bringen. Das war nicht ihr Problem, sondern Plias. Weder würde sie dem Mädchen raten, Vern nicht besser zu behandeln als er es verdiente, noch würde sie Vern für sein Verhalten tadeln – ganz egal, wie groß die Versuchung war. Beide waren volljährig und damit offiziell erwachsen.

Sie blickte nach unten, als sich zwei schmale Arme um ihre Oberschenkel schlangen. Vedric war zu kurz, um über die Reling zu spähen und zu sehen, was vor sich ging.

“Sind wir schon da?”, wollte er wissen.

“Beinahe”, antwortete sie, froh über die Ablenkung von ihrem Ärger auf Vern. Das hier war ein freudiger Anlass, und dafür wollte sie nicht übel gelaunt sein.

“Wie lange noch?”, beharrte Vedric.

“Nicht mehr lange.”

“Sind wir schon da?”

“Ja.”

Sein kleines Gesicht, das so viel Ähnlichkeit mit seinem Vater aufwies, hellte sich auf. “Wirklich?”

“Nein. Hör auf mich zu fragen, oder ich werde dich jetzt sofort schlafen schicken, und du kannst Téa nicht begrüßen”, drohte sie. Sie bemerkte, wie ihr einer der Seemänner einen missbilligenden Blick zuwarf. Dieser Austausch hatte wohl ein winziges Stück weit herzlos angemutet, doch sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass es auf endlose Diskussionen mit Wiederholung der gleichen Frage hinauslaufen würde, wenn sie Vedric nicht rechtzeitig Einhalt gebot.

Schließlich wurde der massive Anker mit einem lauten Rumpeln der Ketten hinuntergelassen, und fleißige Hände platzierten die Landungsbrücke, damit die Passagiere nach zweieinhalb Tagen auf See von Bord gehen konnten. Eryn war froh darüber, dass der Schiffsverkehr zwischen Bonhet und der Stadt eingerichtet worden war und ihnen damit die Reisezeit auf der Straße erspart blieb. Dank der magisch begabten Seefahrer stellte die Fahrt stromaufwärts kein Problem dar, auch ohne den Einsatz von Tieren, die das schwere Gefährt mit kaum wahrnehmbarer Geschwindigkeit zogen.

“Du darfst meine Hand halten und das Schiff mit mir als Erster verlassen”, bot sie an. Eifrig umschloss Vedric ihre Finger und setzte dazu an, zur Landungsbrücke zu laufen.

“Gemach, Vedric. Es besteht kein Grund zur Eile. Sei lieber achtsam, damit du nicht ausrutscht und in den Fluss fällst”, warnte sie ihn, wusste aber noch bevor sie fertig gesprochen hatte, dass er ihr nicht zuhörte. Er hatte Téa erblickt. Sie wurde von ihrem Vater auf ähnliche Weise unter Kontrolle gehalten, damit sie nicht einfach losrannte und die Neuankömmlinge begrüßte, ohne sich vorzusehen und Gefahr lief, so nahe am Wasser auszurutschen.

“Téa!”, rief Vedric und versuchte, seine Mutter an der Hand zu ziehen, damit sie ihre Schritte beschleunigte.

Junar lachte, als die Reisenden ihr kleines Begrüßungskommitee erreichten. “Euer Wirbelwind ist genauso ungeduldig wie unserer! Willkommen zurück, ihr alle!” Eryn umarmte zuerst die Schneiderin, dann Plia. Téa, ihre kleine Namensvetterin, schien sich in so etwas wie eine Schlacht der Wörter mit Vedric gestürzt zu haben. Beide schnatterten mit solch unglaublicher Geschwindigkeit, dass Eryn sich wunderte, ob irgendeiner von beiden verstand, was der andere von sich gab oder ob das Ziel darin lag, einfach nur die eigenen Neuigkeiten so rasch wie möglich loszuwerden.

Sie wandte sich Orrin zu, der seinem Sohn in einer herzhaften, mannhaften Begrüßung auf den Rücken klopfte, auf die gleiche Weise, wie er auch Enric begrüßte, nachdem sie einander ein paar Monate lang nicht gesehen hatten. Dies wirkte wie eine seltsam distanzierte Art für einen Mann, um seinen Sohn nach so langer Zeit zu begrüßen, doch Eryn wusste, dass es hier nur darum ging, den Anschein zu wahren. Der höchste Krieger des Ordens sollte sich in der Öffentlichkeit nicht allzu menschlich zeigen. Und einen anderen Mann zu umarmen hätte womöglich genau diesen Eindruck hinterlassen, auch wenn es sich dabei um seinen Sohn handelte. Doch sie wusste genau, dass Orrin genau das tun würde, sobald sie sich hinter geschlossenen Türen befanden.

Glücklicherweise kamen solche Einschränkungen im Umgang mit Frauen nicht zum Tragen. Somit was sie in der Lage, Orrin öffentlich zu umarmen, ohne seinen sorgsam kultivierten Ruf als furchteinflößender Kämpfer zu gefährden. Jeder wusste, dass das schwächere Geschlecht nahezu abhängig von Berührungen und Umarmungen war – wohingegen Männer sich selbstverständlich lieber die Augäpfel mit einem rostigen Rasierer behandeln würden als zuzugeben, dass sie solch einer enormen und peinlichen Schwäche wie einer Vorliebe für körperliche Nähe zum Opfer fielen.

Unauffällig beobachtete Eryn aus dem Augenwinkel, wie Plia Vern ein höfliches Lächeln schenkte und ihm ihre Hand entgegenstreckte.

“Willkommen zurück, Vern. Es ist lange her”, meinte sie freundlich.

Eryn applaudierte innerlich. Das hatte sie außergewöhnlich gut gemacht. Plia hatte ihm gezeigt, dass das völlige Fehlen von Kontakt zwischen ihnen in den letzten Jahren ihr nicht das Geringste ausmachte, dass sie nichts anderes als Bekannte waren, die einander eine Weile nicht getroffen hatten. Eryn bezweifelte, dass dies Plias wahren Gefühlen entsprach, dennoch hatte sie die Situation gut gemeistert.

Vern wirkte, als hätte ihn die Begrüßung vollkommen verwirrt. Eryn vermutete, dass er womöglich entweder einen tränenreichen oder aber einen kühlen Empfang als Ausdruck verletzter Gefühle erwartet hatte. Nun gut, wenn ihn das bereits aus der Bahn warf, dann würde er keineswegs angetan davon sein, wenn er erfuhr, dass Plia mit einem charmanten jungen Zimmermann liiert war.

“So, Orrin”, wandte sie sich an den Krieger und begrüßte ihn dann wie jedes Mal, wenn sie einander nach längerer Abwesenheit begegneten, immer mit der gleichen Frage: “Wurde dieser entsetzliche Orden nun endlich aufgelöst oder in etwas Nützliches verwandelt? Wie eine Gruppe reisender Musiker oder etwas in dieser Art?”

“Nein, er ist noch immer intakt”, erwiderte er gutmütig und fragte im Gegenzug: “Wie sieht es aus, nehmen wir unser Kampftraining morgen früh wieder auf? Ich wette, du hast es in der Fremde vernachlässigt, so wie du es jedes Mal tust.”

“Morgen?” Sie gab vor, darüber nachzudenken. “Ich glaube nicht, dass ich morgen verfügbar bin. Dieser fordernde Vorgesetzte, den wir haben, und die königliche Nervensäge werden uns gleich sehen wollen, darauf wette ich alles.”

Enric schüttelte leicht den Kopf, sparte sich aber die Mühe, ihr einmal mehr zu erklären, wie unklug es war, solche Bemerkungen zum Besten zu geben, solange sich ihr Sohn in Hörweite befand. Es schien, als hätte sie von dem kleinen Zusammenstoß mit Malriel erst vor wenigen Tagen nichts gelernt.

* * *

Sobald sie bei ihrem Haus eintrafen, öffnete Enric die Tür zum Innenhof, um die Bergkatze hinauszulassen. Erst vor ein paar Minuten hatte er Urban geweckt, nachdem sie die letzten vier Tage in einem magisch herbeigeführten Schlaf in einer Holzkiste verbracht hatte. Nun musste sie sich wieder an ein anderes Klima gewöhnen, an kühlere Temperaturen. Das dauerte in der Regel einen Tag oder zwei.

Anpassung war jedes Mal ein Thema, wenn sie den Ort wechselten, für alle von ihnen. Sechs Monate lang fort zu sein mochte nicht allzu lange erscheinen, doch es gab stets kleine Veränderungen sowohl in der jeweiligen Gesellschaft, in die sie zurückkehrten, als auch bei ihnen selbst.

Bei Vedric war das eindrucksvoll ersichtlich. Jedes Mal, wenn sie entweder in Takhan oder Anyueel ankamen, mussten sie seine gesamte Garderobe ersetzen, weil ihm nichts mehr passte, das für das lokale Klima angemessen war.

Er ging in sein Arbeitszimmer und nahm die Nachrichten zur Hand, die im Laufe der letzten paar Tage angekommen waren. Alles davor war an ihre Residenz in Takhan übermittelt worden. Eine Nachricht war von Tyront, eine weitere vom König, die ihn beide sehr höflich anwiesen, sie am Tag nach ihrer Ankunft aufzusuchen. Das war zu einer Routine geworden, eine, die er auch verfolgt hätte, wäre er nicht vorgeladen worden. Eryn würde die gleichen Nachrichten auf ihrem eigenen Schreibtisch vorfinden, vielleicht noch mit einer dritten von Lord Poron. Diese letzte jedoch würde tatsächlich eine freundliche Einladung sein, sich mit einer Tasse Tee zusammenzusetzen und zu besprechen, was sich in der Klinik tat.

Was das Heilen anbelangte, war Eryns Position ein klein wenig kompliziert. Schon die letzten sechs Jahre, seit Lord Poron zum Oberhaupt der Heiler bestellt wurde – die Position, die Eryn ursprünglich selbst bekleiden hatte wollen. Nach Stärke gemessen war Lord Poron die Nummer fünf, Eryn Nummer drei. In einer Institution, wo der Rang von der magischen Stärke abhing, war sie somit seine Vorgesetzte. Da Eryn allerdings auch in einer Eigenschaft als Heilerin in der Klinik Arbeit verrichtete, war sie damit Lord Poron unterstellt, der dieser Disziplin vorstand. Somit war sie die Untergebene ihres eigenen Untergebenen.

Nach ein paar anfänglichen Schwierigkeiten bezüglich Zuständigkeit hatten Eryn und Lord Poron zu einer bequemen, halb-offiziellen Routine gefunden. Lord Poron berichtete an Eryn – wozu er verpflichtet war. Und er fragte sie nach ihrer Meinung und ihrem Rat und teilte seine persönlichen Gedanken mit ihr – wozu er nicht verpflichtet war. Eryn behandelte ihn im Gegenzug nicht wie einen Untergebenen und akzeptierte seine Entscheidungen, auch wenn sie selbst womöglich anders gehandelt hätte. Sie schafften es, die Klinik in einer Gesinnung von Zusammenarbeit und Gleichheit am Laufen zu halten und sie ständig zu verbessern. Enric vermutete, dass es die Sache beträchtlich erleichterte, dass Eryn keine große Freundin von Hierarchien war. Auch wenn sich Lord Poron bislang kein einziges Mal in einer Weise geäußert hätte, die auf Unmut darüber schließen ließ, dass er einer Frau unterstellt war, die nicht einmal die Hälfte seiner Jahre zählte, machte Eryns Aversion gegen das Ausspielen ihres Rangs die Dinge zweifellos unkomplizierter.

“Die Üblichen?”

Er blickte auf, als Eryn in sein Arbeitszimmer schlenderte, in ihrer Hand ein paar Nachrichten.

“Ja, der König und Tyront.” Er nickte zu den Blättern in ihrer Hand. “Und du hattest zudem noch eine von Lord Poron, wie ich annehme?”

“Ja, so wie immer.” Sie ließ sich auf das Sofa neben seinem Schreibtisch sinken. “Für mich ist das zu einer Art Willkommensritual geworden – heimkommen und jedes Mal die gleichen drei Nachrichten in meinem Arbeitszimmer vorfinden. Ich schätze, ich wäre ernsthaft besorgt, sollten eines Tages nur zwei davon auf mich warten.” Sie hob eines der Blätter. “Der König will mich zweimal sehen. Einmal gemeinsam mit dir und einmal mit Vedric. Das ist neu. Hast du irgendeine Ahnung, was der Grund sein könnte?”

Enric dachte einen Moment lang nach. “Er ist Vedrics Pate. Und der Junge wird nun langsam alt genug, damit man eine halbwegs vernünftige Unterhaltung mit ihm führen kann.”

“Du denkst also, er will ab jetzt den netten Onkel spielen? Warum will er mich mit dem Jungen sehen, warum nicht uns beide?”

“Nun, seine Anziehung dir gegenüber war stets stärker ausgeprägt als zu mir”, erwiderte er, sein Tonfall etwas trocken.

Sie lachte. “Ich bezweifle, dass das sein primäres Motiv ist. Mich kann er einfach nur leichter manipulieren als dich.”

Er lächelte. Damit hatte sie Recht. Obwohl sich ihre eigenen Fähigkeiten in politischer Strategie, oder wie sie es zu nennen pflegte die Disziplin, andere zu manipulieren und zu belügen, damit sie taten, was man von ihnen wollte in den letzten paar Jahren ebenfalls verbessert hatten.

Er beobachtete, wie sie die Nachricht des Königs ein weiteres Mal durchlas. Eine wunderschöne, dunkelhaarige Frau Mitte Dreißig, ihre Haut gebräunt von ihrem Aufenthalt in einem Wüstenland, deren braune Augen den Zeilen auf dem Papier vor ihr folgten. Mittlerweile waren sie seit sieben Jahren zusammen. Bislang die besten sieben Jahre seines Lebens. In der Vergangenheit hatte es ein paar beträchtliche Hindernisse und Schwierigkeiten zu überwinden gegeben, doch soweit sie waren siegreich daraus hervorgegangen.

Sie hatte sein Leben weit über seine Vorstellungen hinaus bereichert. Zum einen hatte er natürlich eine Person an seiner Seite, die er mehr liebte als sein Leben. Das allein war bereits eine bemerkenswerte Verbesserung im Vergleich zu den ersten vierunddreißig seines Lebens. Doch die Verbindung mit Eryn beinhaltete noch einiges mehr. Dank ihres Bruders Vran’el, dem Oberhaupt des Hauses, in das sie sich hatte adoptieren lassen, mussten sie sechs Monate jeden Jahres in Takhan verbringen. Vran’el wollte engen Kontakt zu Vedric, dem aktuellen Erben seines Hauses, halten. Und auch zu seiner Schwester aus der Fremde. Wäre nicht der König, der ebenso starke Ansprüche auf Eryn und Enric geltend machte, hätte Vran’el womöglich sogar versucht, sie zu einem dauerhaften Umzug in die Westlichen Territorien zu zwingen.

Eryns Gefährte zu sein hatte ihm kurz gesagt eine vollkommen neue Familie, neue Freunde, eine neue Kultur, neue Geschäftsmöglichkeiten und auch eine neue Perspektive hinsichtlich verschiedener Dinge eingebracht. Sie war in bescheidenen Verhältnissen aufgezogen und von dem Mann, den sie für ihren Vater gehalten hatte, unterwiesen worden. Das bedeutete, dass die Anhäufung großer Geldsummen für sie kein Ziel war, das es Wert war, sein Leben danach auszurichten. Das hatte in der Vergangenheit zu zahlreichen Diskussionen zwischen Eryn und Enric geführt. Schließlich hatte er ihr Gewissen zu beruhigen vermocht, indem er ihr einen Teil ihrer beträchtlichen finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellte, damit sie sie für die Errichtung und den Betrieb eines Waisenhauses sowie jegliche anderen wohltätigen Zwecke, die sie für unterstützungswürdig befand, verwenden konnte.

Und dann hatte sie ihn noch mit einem Sohn beschenkt – wenn auch nicht unbedingt freiwillig. Eine Zeitlang hatte er gehofft, sie würden ein weiteres Kind bekommen, doch Eryn hatte ursprünglich nicht einmal ihr erstes gewollt und somit sichergestellt, dass es kein weiteres geben würde. Niemals. Sie hatte dauerhafte Maßnahmen ergriffen, die kein Fruchtbarkeitstrank, mochte er auch noch so mächtig sein, jemals überwinden würde können.

“Ich bin müde”, seufzte Eryn.

“Dann geh und leg dich hin, Liebste. Vedric wird noch eine Weile bei Orrin und Junar sein, und die Diener kümmern sich um unser Gepäck. Möchtest du zuerst ein Bad nehmen?”

Sie lächelte sehnsüchtig. Ein Bad. Sie liebte Bäder. Doch ein halbes Jahr in einer Gegend zu verbringen, wo Wasser recht rar war, bot ihr diese Gelegenheit nicht besonders oft. Zumindest nicht ohne ein schlechtes Gewissen, wenn sie an die Leute in der Stadt dachte, die es nötiger brauchten.

“Ja, ich denke, das werde ich. Ich suche mir nur noch ein Buch aus, über dem ich hinterher einschlafen kann.” Damit stand sie auf und verließ sein Arbeitszimmer. Ihre Nachrichten ließ sie gedankenverloren auf seinem Sofa zurück.

* * *

“Lady Eryn. So wie jedes Mal nach Eurem Aufenthalt in Takhan bin ich froh, Euch wieder hier zu haben. Das Leben in der Stadt mutet während der Zeit, die Ihr hier mit uns verbringt, abwechslungsreicher und unterhaltsamer an”, lächelte der König und ergriff ihre beiden Hände, um sie zu sich zu ziehen und ihre Wangen zu küssen.

Innerlich seufzte sie. Niemand anderem als sich selbst konnte sie die Schuld dafür zuschreiben. Vor fünf Jahren hatte sie ihm kühn demonstriert, dass sie seine Berührung nicht länger fürchtete. Daraufhin hatte er sich entschlossen, ihr gegenüber den traditionellen Gruß aus ihrem Heimatland anzuwenden, wenn er sie mehr oder weniger allein antraf. Hinsichtlich ihrer Beziehung als König und Untertanin fand sie dies ein wenig zu dreist, doch sie verstand, dass dieser Faktor – das Übertreten einer Grenze – genau das war, was für ihn den Reiz ausmachte.

“Eure Majestät”, erwiderte sie, “es ist auf jeden Fall gut, wieder zurück zu sein.”

Der Blick des Königs wanderte zu dem fünfjährigen Vedric, der sich daraufhin wieder erinnerte, dass es in Gegenwart des Mannes mit der goldenen Krone ein gewisses Protokoll zu befolgen gab und eine hastige, leicht ruckartig anmutende Verbeugung vollzog.

“Junger Mann.” Der Monarch nahm ihn mit einem Nicken zur Kenntnis. “Wie stehen die Dinge um Takhan?”

Der Junge dachte einen Moment lang nach, dann hellte sich sein Gesicht auf. “Da war ein großer Sandsturm! Der Sand war überall, sogar in meiner Unterwäsche und zwischen meinen Zehen! Und in meinen Ohren!” Dann verdüsterte sich seine Miene. “Aber dann haben die Magier ihn einfach aufhören lassen.”

“Wir haben ihn nicht wirklich aufgehalten, Liebling.” Eryn lächelte über seine Enttäuschung darüber, dass diese spezielle Naturgewalt entschärft worden war, noch bevor er Gelegenheit hatte, alle möglichen Schrecken auszukosten. “Wir haben lediglich einen Schild um die Stadt errichtet.”

Vedric zuckte mit den Schultern. Offensichtlich sah er wenig Sinn in der Betonung dieses Details, wo doch das Ergebnis aus seiner Sicht das gleiche war. Er blickte zurück zum König. “Und ich habe eine Nacht im Waisenhaus verbracht! Es war einfach toll – sie können dort im gleichen Zimmer mit anderen Kindern schlafen, und da ist immer jemand, der spielen will! Aber am nächsten Morgen nach dem Frühstück musste ich wieder nach Hause”, fügte er hinzu, erneut einer Gelegenheit für Spaß beraubt.

“Die Idee war nicht, dass du dich dort amüsierst”, betonte seine Mutter ihn mit einem leicht irritierten Unterton. “Du solltest dabei etwas lernen und erkennen, wie privilegiert dein eigenes Leben ist im Vergleich zu anderen Kindern.”

Der König lächelte. “Ich verstehe. Offensichtlich teilt Euer Sohn Eure eigene Gleichgültigkeit Luxus gegenüber, meine liebe Lady. Ich könnte mir denken, dass das Abenteuer, eine Nacht in einem Haus voller Kinder zu verbringen, die fehlende Pracht, die er von seinem Zuhause kennt, mehr als ausgleicht. Ein Einzelkind hat andere Prioritäten als eines mit Geschwistern – wie zum einen die ständige Verfügbarkeit von Spielgefährten.”

Eryn lächelte gekünstelt. Sie war es müde, dass dieses Thema einmal mehr zur Sprache gebracht wurde. Als wäre es nicht nervenaufreibend genug, dass Malriel sie dazu drängte, sich noch einmal fortzupflanzen und alle möglichen Leute sie mit gutgemeinten Hinweisen bedachten. Aber natürlich würde der König solch eine praktische Gelegenheit sie zu irritieren nicht vorüberziehen lassen. Es wäre untypisch für ihn.

“Oh, selbstverständlich”, nickte sie und fügte dann mit vor Sarkasmus triefender Stimme hinzu: “Dann sollte ich besser zusehen, dass er Geschwister bekommt, um diese schreckliche Leere in seinem Leben zu füllen.”

“Ein Bruder!” Vedric sprang auf und ab und klatschte in die Hände. “Ich will einen Bruder!”

Sie wandte sich in seine Richtung und sah auf ihn hinab. Wie nur schaffte er es, dass sich jede Unterhaltung, an der er teilnahm, in letzter Zeit so mühsam für sie gestaltete? “Erstens war das eine sarkastische Bemerkung. Über Sarkasmus haben wir gesprochen – das ist, wenn du nicht wirklich meinst, was du sagst, sondern genau das Gegenteil. Ich habe nicht die Absicht, noch ein Kind zu bekommen. Und zweitens bestünde selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ich doch ein Kind bekomme, die Möglichkeit, dass es ein Mädchen wäre.”

“Aber wir haben doch schon so viele Mädchen!” protestierte er und ignorierte den Teil, wo man ihm erklärt hatte, dass es keine Geschwister mehr geben würde, vollkommen. Mit Hilfe seiner Finger erstellte er eine Liste der weiblichen Kinder seines Alters auf beiden Seiten des Meeres. “Da ist Téa, Ha’im, Akalee und Zahyn!” Es klang, als hätten Orrin, Pe’tala und Ram’an nur Mädchen gezeugt, um ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen.

“Ich gehe davon aus, dass es im Waisenhaus Jungs gab?”, erkundigte sich der König mit einem wissenden Lächeln.

“Ja, viele!”, bestätigte Vedric eifrig, seine Augen groß bei der erfreulichen Erinnerung. “Einer davon konnte meinen Namen rülpsen!”

Der König nickte, offenkundig nicht im Mindesten überrascht von Vedrics Bewunderung für diese spezielle Fertigkeit. “Tatsächlich ein eindrucksvolles Kunststück. Wie bedauerlich, dass deine Eltern nicht willens scheinen, dir entgegenzukommen, indem sie dir einen Bruder schenken, mein junger Freund.”

“Vater würde schon. Mutter sagt nein”, seufzte der Junge und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

“Wer sagt das?”, schnappte Eryn.

“Großmutter”, gab er triumphierend zurück, als hätte er den Wahrheitsgehalt der Aussage über alle Zweifel hinweg bewiesen, indem er diese besonders vertrauenswürdige Quelle zitierte.

“Wenn wir gerade von deiner Großmutter sprechen”, warf König Folrin ein, bevor Eryn etwas darauf erwidern konnte. “Wie ergeht es Malriel?”

Vedric seufzte. “Sie sagt, ich darf nicht Königin der Dunkelheit zu ihr sagen. Weil es nicht nett ist.”

Der Monarch nickte langsam. “Sie hat Recht, das ist es nicht. Ich könnte mir denken, dass deine Mutter auf jeden Fall daran arbeiten wird, von nun an ihre Zunge in deiner Gegenwart besser im Zaum zu halten. Aufmerksame junge Ohren und ein Mund, der wenig Zurückhaltung zeigt, wenn es um die Weitergabe von heiklen Kleinigkeiten geht, sind niemals eine unproblematische Kombination.” Er sah nachdenklich auf den Jungen hinab, bevor er fragte: “Welche Ausdrücke benutzt deine Mutter, wenn sie von mir spricht?”

Eryns Augen weiteten sich alarmiert. Sie schluckte, dann nahm sie rasch die Hand des Jungen in ihre und drückte sie warnend. Was war gar nicht gut.

“Eure Majestät, ich denke…”, begann sie, doch der Monarch hob lediglich – ohne auch nur einen Blick für sie zu erübrigen – eine Hand, die ihr zu schweigen gebot.

Seine Augen blieben auf den Jungen gerichtet, und er lächelte. “Bitte, Lady Eryn, unterbrecht nicht die Unterhaltung, die ich mit Eurem Sohn führe. Es ist nicht höflich.” Er deutete auf das dünne goldene Band auf seinem Kopf. “Nun, junger Mann, du bist dir im Klaren darüber, was das hier bedeutet?”

Vedric nickte und antwortete fröhlich: “Ihr seid der König, und alle müssen tun, was Ihr sagt.”

“Sehr gut. Eine Lektion, die ein junger Mensch meiner Ansicht nach nicht zu früh lernen kann. Natürlich musst du auch die Anweisungen deiner Mutter befolgen. Sollten jedoch meine Wünsche und ihre nicht die gleichen sein, müsstest du dich den meinen beugen. Verstehst du das?”

“Ja. Ihr seid wichtiger als sie”, verkündete der Junge feierlich.

“Ja, warum nicht?”, stimmte der König nach kurzer Überlegung zu. “Drücken wir es der Einfachheit halber so aus. Nun, wie nennt deine Mutter mich im Allgemeinen, wenn sie von mir spricht?”

Eine Plage wie sie im Buch steht”, antwortete Vedric wie der wohlerzogene kleine Junge, der er nicht war, den er jedoch zuweilen so überzeugend imitieren konnte, wenn es seinen Zwecken diente.

“Ich verstehe. Sonst noch etwas?”

Königliche Nervensäge”, fügte Vedric nach einem Moment des Nachdenkens hinzu, dann zuckte er mit den Schultern.

Eryn schloss die Augen. Sie hätte seine Stimmbänder vorübergehend außer Gefecht setzen sollen, um ihn vom Antworten abzuhalten, sobald der König ihn ansprach. Warum fiel ihr das erst jetzt ein?

“Wie ungemein interessant. Vielen Dank, Vedric. Gut gemacht. Lass mich dir eine weitere Frage stellen: Wie spricht dein Vater von mir?”

“Seine Majestät. König Folrin. Oder der König”, antwortete der Junge ohne Zögern.

“In der Tat. Und wie verweist er auf deine Großmutter?”

“Malriel.”

“Immer? Da gibt es keinen anderen Namen, mit dem er sie bedenkt? Nicht einmal, wenn er verärgert ist?”

Vedric dachte kurz nach, dann schüttelte er den Kopf.

“Bestens. Ich gestehe, dass mich Lord Enrics Voraussicht hinsichtlich seiner Ausdrucksweise sogar in privatem Umfeld nicht überrascht. Ich könnte mir denken, dass es hier eine Lektion zu lernen gibt, sowohl für dich als auch deine Mutter. Nämlich, dass man sich auf lange Sicht Ärger ersparen kann, wenn man von einer Person stets mit ihrem ordentlichen Namen oder ihrem Titel spricht, selbst wenn man verstimmt ist.”

“Jawohl, Eure Majestät”, murmelte Eryn und hielt ihren Blick zurückhaltend zu Boden gerichtet, um ihre Frustration darüber zu verbergen, dass sie gemeinsam mit einem Fünfjährigen belehrt wurde.

“Vedric”, fuhr König Folrin fort, “ich habe einen wichtigen Auftrag für dich. Ich brauche deine Unterstützung, damit wir deiner Mutter bei ihrem… Problem mit dem Zeigen von Respekt helfen können. Somit ersuche ich dich also, sie jedes Mal zu korrigieren, wenn sie einen Ausdruck benutzt, den man nicht als höflich oder respektvoll betrachten würde. Kann ich mich in dieser Sache auf dich verlassen?”

Der Junge straffte die Schultern und nickte, unverkennbar begeistert, dass man als wichtig genug erachtete für das Privileg, dem König persönlich zu Diensten sein zu dürfen.

“Ausgezeichnet.”

* * *

Tyront bedeutete Enric, im Salon Platz zu nehmen, während er selbst zwei Gläser mit dem Wein füllte, den Enric bekanntermaßen bevorzugte. Obwohl der Grund für diese Zusammenkunft Ordensangelegenheiten betraf, wollte er sie dennoch nicht in seinem Arbeitszimmer abhalten. Sein erstes Zusammentreffen allein mit Enric nach einigen Monaten der Trennung, im Laufe derer es lediglich schriftlichen Austausch gab, musste in einer freundlicheren Umgebung stattfinden. Seit ihrer ersten und bislang einzigen Auseinandersetzung vor einigen Jahren, als Enric den Befehl seines Vorgesetzten ignoriert und den König beinahe bis zur Leblosigkeit gewürgt hatte, war Tyront darauf bedacht, dass sie sich stets freundschaftlich trennten, wenn Enric das Land verlassen musste, und mit gleicher Wärme wieder aufeinandertrafen.

“So”, sagte Enric, nachdem er das Glas entgegengenommen hatte. “Heraus damit.”

Tyront hielt sich nicht damit auf vorzugeben, es gäbe nichts, das er ansprechen wollte. Etwas, das er nicht während ihres ersten Treffens am gleichen Tag in Eryns Gegenwart hatte erwähnen wollen.

“Ich muss dich nach Bonhet schicken, damit du einen Blick darauf wirfst, wie die Dinge in dem neu errichteten Ordensaußenposten laufen. Unsere Kollegen dort sollen nicht vergessen, dass sie uns weiterhin Rechenschaft schulden, auch wenn sie nun an einem anderen Ort als dem Hauptquartier stationiert sind.”

Enric nickte. Der Auftrag versetzte ihn nicht eben in Begeisterung, doch er war vernünftig. Und ganz unerwartet kam er zudem nicht. Dies war das erste Mal seit Jahrhunderten, dass Magiern gestattet wurde, die Hauptstadt zu verlassen und sich anderswo niederzulassen. Nun, nicht genau dort, wo sie wollten, sondern in einem designierten Ordensaußenposten, aber dennoch. Es musste von Beginn an klar sein, dass dieser neue Standort ihnen keinerlei Unabhängigkeit von den Richtlinien des Ordens oder den damit verbundenen Pflichten gewährte. Und wer war besser dazu geeignet, ihnen das ins Gedächtnis zu rufen als die Nummer zwei des Ordens? Tyront stand es nicht frei herumzureisen, er musste kurzfristig verfügbar sein und den Rat der Magier im Zaum halten.

“Du könntest Eryn und den Jungen mitnehmen”, schlug Tyront vor als wollte er den Befehl, mit dem er ihn so kurz nach seiner Ankunft aus den Westlichen Territorien schon wieder auf den Weg schickte, etwas abmildern. “Ein paar Heiler werden dort immerhin ebenfalls stationiert sein. Sie könnte sich bei deren Eingewöhnung als hilfreich erweisen.”

Der jüngere Mann lächelte in Anerkennung der Geste, schüttelte aber bedauernd den Kopf. “Es wäre nicht fair, sie schon so bald wieder von hier fortzubringen. Sie braucht etwas Zeit, um den Kontakt mit den Leuten, die ihr nahestehen, wieder zu festigen und sich über all die Veränderungen in unserer Abwesenheit zu informieren. Es gibt immer ein paar Schwierigkeiten, die es in keine der Nachrichten schaffen, die man uns schickt und die nach unserer Rückkehr hierher Stück für Stück aufgedeckt werden müssen. Und Vedric muss sich auch rasch hier an den Alltag gewöhnen. Immerhin soll er in ein paar Monaten seinen Unterricht hier beginnen.”

“Ich weiß, dass du es ebenfalls vorziehen würdest, nicht zu gehen”, meinte Tyront und lehnte sich mit seinem Glas zurück. “Und ich schätze es, dass du dich weder beschwerst noch versuchst, mich umzustimmen. Ich werde dich nicht lange fortschicken. Zwei oder drei Tage sollten ausreichen um sicherzustellen, dass dort alles in Ordnung ist.”

Für den Moment, dachte Enric. Der zweite neue Außenposten in Rokhstend sollte in ein paar Monaten eröffnet werden, und er hegte keinen Zweifel daran, dass man ihn auch dorthin entsenden würde. Und ihn immer auf die Reise schicken würde, wenn es Schwierigkeiten an einem Standort gab und seine Autorität oder Erfahrung erforderlich waren, um sich darum zu kümmern. Doch zumindest waren Vögel verfügbar, um zügig mit den Außenposten zu kommunizieren und kleinere Angelegenheiten rasch und ohne die Notwendigkeit einer Reise zu erledigen, wenn sich Schwierigkeiten ergaben.

“Dann würde ich vorschlagen, dass du dich in den nächsten paar Tagen auf den Weg machst, damit du bald wieder zurückkehren und dich endlich hier eingewöhnen kannst. Wie ich höre, hat Vern sein neues Quartier bereits bezogen”, bemerkte Tyront und lenkte das Thema damit von der unbequemen Entsendung weg.

“Ja, das hat er. Es ist nicht weit von der Klinik entfernt, also hat er einen kurzen Arbeitsweg. Das Geld, das er in Takhan mit seiner Kunst verdient hat, ermöglicht ihm, sich eine Unterkunft zu nehmen, die sich nicht viele in seinem Alter leisten könnten, ohne auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern zurückzugreifen.”

Der Anführer des Ordens nickte. “Ich weiß. Zumindest wird er es gemütlich haben. Das ist ein positiver Aspekt, da ich annehme, dass es nicht leicht für ihn sein wird, hierher zurückzukehren, wo sein künstlerisches Talent so wenig geschätzt wird.”

Genau das bereitete auch Enric Sorgen. Vern war seit dem Beginn seines Trainings in Takhan kein einziges Mal zurück in Anyueel gewesen. Außer den Gelegenheiten, wo ihn seine Familie in Takhan besuchte, hatte er keinerlei Kontakt mit seinem Heimatland gepflegt. Seinen Möglichkeiten hier in Anyueel waren Grenzen gesetzt, die es in Takhan einfach nicht gab. Er fragte sich, ob Vern dies frustrierend finden und ob der Junge, oder eher junge Mann, damit fertigwerden würde.

“Orrin ist enorm froh, seinen Jungen zurückzuhaben”, schmunzelte Tyront. “Ich kann nicht einmal mehr zählen, wie oft ich ihm versichern musste, dass Vern keine Möglichkeit hat, seinen Aufenthalt nach dem Ablegen seiner Zertifizierungsprüfungen noch zu verlängern, dass der Orden einer möglichen Anfrage dieser Art nicht zustimmen würde. Nicht, dass der Junge es versucht hätte, wohlgemerkt. Entweder hat er seine Heimat vermisst und wollte zurückkommen, er wollte seinem Vater nicht das Herz brechen, oder er wusste, dass es wenig Hoffnung gab, dass wir ihn noch länger dortbleiben lassen.”

“Wir werden ihm allerdings die Erlaubnis erteilen müssen, gelegentlich für kurze Besuche nach Takhan zurückkehren”, betonte Enric. “Er hat dort viele Freunde gewonnen und wird auch den Kontakt mit seinen Kollegen und den anderen Künstlern pflegen wollen.” Was ein weiterer Punkt war, der das Potential barg, Vern Kummer zu bescheren – er ließ wesentlich mehr Freunde in Takhan zurück als er in Anyueel vorfand. Doch zumindest Geliebte hatte er keine in Takhan zurücklassen müssen. Ein gebrochenes Herz zusätzlich zu seinem Neubeginn in Anyueel hätte ihm die Sache erheblich erschwert. Allerdings waren Verns Affären für ihre kurze Dauer und große Anzahl bekannt. Sie hatten niemals lange genug gedauert, als dass daraus eine ernsthafte Verbundenheit mit einer seiner Partnerinnen für vergnügliche Stunden entstehen hätte können.

“Das wird kein Problem sein. Wir werden darauf bestehen, dass er seine Besuche so ansetzt, dass er gemeinsam mit euch nach Anyueel zurückkehren kann.”

Enric schwenkte den Wein in seinem Glas und beobachtete, wie die dunkle Flüssigkeit das Licht schluckte. “Du fürchtest also, dass er nicht freiwillig zurückkehren würde, wenn niemand sicherstellt, dass er an Bord des Schiffes geht?”

“Ganz so drastisch würde ich es nicht ausdrücken, doch es schadet nicht, auf Nummer sicher zu gehen.”

Enric nickte. Dem stimmte er vollkommen zu.

* * *

Zum ersten Mal in sechs Monaten stieß Eryn die Türen der Klinik wieder auf. Dieser Akt vermittelte ihr das Gefühl, als käme sie zum zweiten Mal nach Hause. Ganz egal, dass Lord Poron zum Oberhaupt der Heiler bestellt worden war – sie betrachtete all das hier immer noch als ihres. Sie hatte es ins Rollen gebracht, aufgebaut, darüber gewacht und sein Wachstum unterstützt. Obgleich sie Bedauern verspürte, wenn sie daran dachte, dass ein beträchtlicher Teil dieses Wachstums und der Veränderungen nun in ihrer Abwesenheit geschahen. Natürlich hatte Lord Poron sie mit seinen Nachrichten über alles, was während ihrer Aufenthalte in Takhan passiert war, auf dem Laufenden gehalten, doch es war ein Unterschied, ob man aktiv daran teilnehmen konnte, einen Ort zu formen, oder ob man darüber informiert wurde, wie es andere taten.

Selbst jetzt nach ihrer Rückkehr war Eryn nicht wirklich in einer Position, Entscheidungen zu treffen. Sie konnte Lord Poron und den König lediglich beraten und abwarten, ob man ihre Ideen als brauchbar genug erachtete, um sie umzusetzen. Nicht, dass sie sich darüber beschweren konnte, dass man ihren Rat ignorierte. Ganz im Gegenteil – beide waren bestrebt, sie einzubinden und den Eindruck zu vermeiden, sie gehöre nicht länger hierher. Dennoch war dieser Tage alles so ungemein bürokratisch geworden. Sicher, eine wachsende Anzahl an Heilern aus zwei verschiedenen Ländern, die in der Klinik arbeiteten, sowie die erste Gruppe an nicht-magischen Heilern, die sie vor einem Jahr aufgenommen hatten, erforderte eine gewisse Struktur – das war ihr durchaus bewusst. Doch ihrer Ansicht nach war hier auch die Handschrift des Ordens unverkennbar. Wenn die Dinge ohnehin bereits kompliziert waren, dann vermochte es der Orden, sie beinahe undurchschaubar zu gestalten. Alles hatte auf ihre lange bewährte, staubige, bürokratische Art und Weise zu geschehen.

Sie setzte ihren Weg in die obere Küche, die sie vor zwei Jahren eingerichtet hatten, fort. Dank der wachsenden Zahl an Heilern sowohl aus Takhan als auch Anyueel war der kleine Raum unten der Herausforderung, allen Platz zu bieten, einfach nicht mehr gewachsen gewesen.

Neuankömmlinge gewöhnten sich rasch an die Routine, den Tag mit einer informellen Zusammenkunft in der Küche zu beginnen, ein warmes Getränk zu sich zu nehmen und über dieses und jenes zu tratschen. Es war ein wirksamer Weg, um unter den Heilern ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu stärken und half auch dabei, Neuzugänge der gesamten Belegschaft vorzustellen.

Jubel brach aus, als Eryn den Raum betrat, und Lebern – einer der ersten Heiler, die sie nach Eröffnung der Klinik vor sieben Jahren aufgenommen und ausgebildet hatte – rief aus: “Seht nur, wer von der anderen Seite des Meeres zurückgekehrt ist! Lady Maltheá von Haus Vel’kim!”

Eryn warf ihm einen bösen Blick zu. Er wusste genau, wie sehr sie es hasste, mit ihrem Titel und ihrem in Takhan offiziellen Namen angesprochen zu werden. Der Name, der sie noch immer mit Malriel von Haus Aren verband, da er zeigte, dass sie der gleichen Familie entstammten.

“Mach nur weiter so, und ich werde die Sachen, die ich aus Takhan mitgebracht habe, wieder zurückschicken.”

Lebern horchte auf. “Du hast Geschenke mitgebracht?”

“Natürlich habe ich das. Einige Instrumentengarnituren für Diagnose und Behandlung, zwei weitere Bücher über Heilkräuter, die mein Vater verfasst hat, und einige Fässer von diesem entsetzlichen Getränk, das ihr so toll findet, weil es euch wach und aufmerksam hält.”

Onil lachte. “Wenn du so weitermachst, werden wir dich jedes Mal mit einer Parade begrüßen müssen, wenn du aus Takhan zurückkommst.”

Eryn schüttelte den Kopf, froh darüber, dass sie trotz der zunehmenden Anzahl an Heilern und ihren eigenen immer wiederkehrenden langen Abwesenheit so mühelos ihren Platz unter ihnen fand. “Opportunistischer Haufen. Geht mir aus dem Weg, ich brauche etwas zu trinken.”

“Das Übliche?”, fragte ein anderer Heiler. Auf ihr Nicken hin nahm er einen Becher zur Hand, füllte ihn mit Wasser und schüttelte ein wenig ihres bevorzugten Kräuterpuders aus einem Vorratsglas hinein, bevor er das Getränk mit etwas Magie erhitzte und ihr reichte.

Eryn lächelte dankbar und genoss das wohlige Gefühl, an einen Ort zurückzukehren, wo die Leute ihr das Gefühl gaben, dass sie dazugehörte, wo man wusste, was sie morgens gerne trank und wo man sie jedes Mal nach ihrer Ankunft willkommen hieß.

“Bist du auf dem Weg zu LP?”, fragte Lebern grinsend. Mit LP bezog man sich dieser Tage auf Lord Poron, zuweilen sogar in seiner Gegenwart. Ihn störte es allerdings nicht, sondern er betrachtete es als Kosenamen.”

“Ja, warum?”

“Dann mach dich auf eine winzig kleine Überraschung gefasst.”

Auf ihren fragenden Blick hin grinste er nur und hegte ganz offensichtlich keinerlei Absicht, sie wissen zu lassen, was sie erwartete.

“Also schön, dann gehe ich mal los und sehe mir an, was diese kryptische Bemerkung zu bedeuten hat. Die Sachen aus Takhan sollten heute irgendwann vom Hafen geliefert werden. Seht zu, dass jemand dafür unterschreibt und sie dann verstaut.”

Damit wandte sie sich ab und ging die paar Schritte zu Lord Porons Arbeitszimmer.

“Herein”, hörte sie ihn auf ihr Klopfen hin antworten und öffnete die Tür.

Loft mit seinem kahlen Haupt und ewigem Stirnrunzeln stand vor dem Schreibtisch, ohne mehr als einen flüchtigen Blick in ihre Richtung zu werfen. Augenscheinlich war er ebenso wenig begeistert über das Zusammentreffen mit ihr wie sie es war, ihn zu sehen. Sie tauschten ein knappes Nicken, dann machte sich Loft in Richtung der Verbindungstür davon und verschwand in sein eigenes Zimmer.

Lord Poron stand von seinem Stuhl auf und lächelte bei ihrem Anblick erfreut.

Eryn erwiderte das Lächeln, dann blinzelte sie. Ach du lieber Himmel! Er sah anders aus, und zwar radikal. Das war es offenkundig, worauf Lebern angespielt hatte. Lord Poron erschien nicht länger wie ein Mann in seinen Achtzigern, sondern hatte etwa zwanzig Jahre abgestreift.

“Ihr seht…” Sie hielt inne und überlegte, wie sich dieser unverkennbare Wandel höflich ansprechen ließ. Manche Leute reagierten etwas empfindlich, wenn jemand eine kosmetische Veränderung kommentierte.

“Jünger aus?”, schlug Lord Poron mit einem amüsierten Glänzen in seinen Augen vor.

Gut. Zumindest gab er sich nicht der Illusion hin, die Leute würden die dramatische Veränderung seines Erscheinungsbildes nicht sofort bemerken.

“Ja. Jünger.” Sie näherte sich seinem Schreibtisch und nahm davor Platz, als er auf einen Sessel deutete. “Wie kommt das? Ihr wart stets recht widerwillig, auch nur die Beschwerden wegzuheilen, die das Alter mit sich brachte. Ihr sagtet, Ihr fändet es frivol, Eure Magie und Euer Heilerwissen für so etwas einzusetzen. Was hat Eure Meinung geändert?”

Er lachte leise. “Mehrere Faktoren. Zum einen war da Aurna.”

Sie grinste. Wie es aussah, hatte seine Gefährtin also weniger Bedenken dabei, Magie für Zwecke außerhalb der medizinischen Notwendigkeit einzusetzen.

Er fuhr fort: “Vor ein paar Monaten überredete sie mich, sie ein wenig jünger erscheinen zu lassen. Nun, nicht nur ein wenig, wenn ich vollkommen ehrlich bin. Sie sieht jetzt so alt wie Vyril aus.”

Eryns Augenbrauen wölbten sich nach oben. So alt wie Tyronts Gefährtin? Das bedeutete, dass Aurna nun fünfundzwanzig Jahre jünger aussah!

“Aurnas Falten haben mich nie gestört”, seufzte er. “Zusammen alt zu werden ist ein Privileg, wenn man eine Person findet, an der man hängt. Sich dem Teil mit dem Altern zu verwehren und einfach nur das Zusammensein genießen fühlt sich noch immer ein wenig wie Schummeln an. Als wären wir unwillig, den Preis zu bezahlen. Doch nach einigen Monaten, in denen ich mich geweigert hatte, schaffte Aurna es schlussendlich, mich zu überreden. Sie ist meine Gefährtin, also wie könnte ich ihr auf Dauer verweigern, was sie sich so inniglich wünscht, wenn es in meiner Macht steht, ihr solch eine Veränderung zu gewähren?”

Sie nickte. “Natürlich konntet Ihr das nicht. Und das hat Euch dazu bewogen, auch Euer eigenes Erscheinungsbild zu verändern?”

“Nicht zu Beginn. Ich war durchaus zufrieden damit, meinem Alter entsprechend auszusehen. Doch eines Tages gingen wir zu einem der Geschäfte auf der anderen Seite der Stadt, wo wir uns sonst nicht aufhalten und man uns nicht kennt. Irgendeine Freundin von Aurna hatte ihr ein kleines Porzellangeschäft für besonders kunstvolle Schalen empfohlen. Ich war an diesem Tag ohne meine Robe unterwegs.” Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. “Der Betreiber des Geschäfts fragte mich, ob ich nicht ein reizendes Set an kunstvoll gefertigten und bemalten Vasen für meine zauberhafte Tochter erstehen wollte.”

Eryn lachte und sah die Entrüstung, die die Erinnerung daran noch immer auslöste, in sein Gesicht geschrieben.

“Nun, ich bin froh, dass Ihr Euch auf eine Lösung geeinigt habt, die Euch beide glücklich macht.”

“Mit glücklich bin ich mir in meinem Fall noch nicht ganz sicher. Ich betrachte es immer noch als frivol, doch meine Irritation darüber, für den Vater meiner eigenen Gefährtin gehalten zu werden, wog erheblich schwerer als mein Unwille, mich einer kosmetischen Veränderung zu unterziehen.”

Sie grinste. “Das kleinere Übel zu wählen mag nicht immer der Pfad zu wahrer Glückseligkeit sein, doch zuweilen müssen wir uns damit zufriedengeben, wenn wir das Unglücklichsein vermeiden können.”

Der alte Mann lächelte, wobei er nun erheblich weniger Falten zeigte. “Weise Worte, meine Liebe. So, erzähl mir von deinen Plänen für die Klinik, jetzt, wo du wieder zurück bist. Die Dinge bleiben kaum lange unverändert, sobald du aus den Westlichen Territorien zurückkehrst. Ich möchte lediglich wissen, worauf ich mich dieses Mal einstellen muss.”

Schulterzuckend nahm sie einen Schluck aus ihrem Becher. “Ob Ihr es nun glaubt oder nicht, langsam gehen mir die revolutionären neuen Konzepte aus. Ich glaube, dieses Mal können wir uns auf die Veränderungen konzentrieren, die Ihr in Euren Briefen als notwendig bezeichnet habt. Wie die Vergrößerung der Räumlichkeiten, jetzt wo wir weiterhin neue Heilerlehrlinge sowie Praktikanten und Heiler aus Takhan aufnehmen.”

“Das ist eine Erleichterung, muss ich gestehen. Ich bin nicht sicher, dass wir über die Ressourcen verfügen, um mehrere Innovationen gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Der König ließ mich wissen, dass es mir grundsätzlich freisteht zu tun was immer ich möchte, solange er nicht dafür bezahlen oder sich hinterher mit irgendwelchem Ärger herumplagen muss”, informierte Lord Poron sie. “Bedauerlicherweise ist der Platz um unser Gebäude herum beschränkt, weshalb es uns nicht freisteht, die Klinik nach Herzenslust umzubauen und zu vergrößern. Jedoch lässt sich wohl ein ähnlich brauchbares Resultat erzielen, wenn wir nahegelegene Gebäude erwerben. Damit würde einhergehen, dass wir Bereiche, die weitgehend unabhängig operieren, in die andere Örtlichkeit umsiedeln.”

“Wie kosmetische Veränderungen”, meinte Eryn nachdenklich. “Oder vorbeugende Schwangerschafts- und Gesundheitsuntersuchungen.”

Er nickte. “Genau daran dachte ich auch. Ich bin froh, dass wir hier übereinstimmen. Ich habe zudem überlegt, Plia und die Kräuter umzusiedeln, doch das würde wenig Sinn ergeben. Wir brauchen sie dort, wo der Bedarf an Medizin am größten ist. Auf lange Sicht könnten wir auch in Betracht ziehen, den Unterricht in ein anderes Gebäude zu verlegen. Der Unterrichtsbereich umfasst derzeit fünf ganze Räume, und wenn wir zusätzliche Nichtmagier als Heilerlehrlinge aufnehmen wollen, wird das nicht reichen.”

Eryn biss sich auf die Lippe. Eine Heilerschule… Das klang umwerfend.

Der ältere Heiler lächelte über ihren Gesichtsausdruck. “Ich kann sehen, dass dir die Idee zusagt. Nichts anderes hatte ich erwartet, gebe ich zu.”

“Da Ihr davon sprecht, weitere Nicht-Magier aufzunehmen, gehe ich davon aus, dass sich der erste Jahrgang an Schülern wacker schlägt? Das Konzept entwickelt sich vielversprechend?”

“Ich freue mich berichten zu können, dass dies auf jeden Fall zutrifft. Sarol von Haus Roal war dabei eine enorme Hilfe. Wir korrespondieren regelmäßig miteinander, und seit unserer Aufnahme von nichtmagischen Schülern hat er uns bereits zweimal besucht. Unter all diesem rauen Verhalten war erkennbar, dass er große Stück auf das hält, was wir hier tun – obwohl Magier diejenigen sind, die es tun.”

Eryn wusste, dass das stimmte. Er selbst hatte als Heiler ohne magische Fähigkeiten in einer Stadt, in der das Heilen vorwiegend von Magiern in Angriff genommen wurde, mehr als genug Hindernisse überwinden müssen. Die Konsequenz davon war, dass Nicht-Magier mit Diskriminierung zu kämpfen hatten. Natürlich nicht offiziell. Zumindest nicht in einer Klinik, wo Valrad von Haus Vel’kim an der Spitze stand.

“Ich habe dir geschrieben, dass ich überlegt habe, unsere Vereinbarung mit den Apothekern aufzukündigen, wenn du dich erinnerst”, fuhr er fort. Sie nickte, woraufhin er weitersprach: “Sie lassen nicht davon ab, Plia das Leben so schwer wie möglich zu machen. Die meisten von ihnen fühlen sich ungerecht behandelt, wenn sie von einer Sorte Medizin mehr bestellt als von einer anderen. Sie unterstellen ihr, dass sie sich ihre Lieblinge herauspickt. Was vollkommener Unsinn ist. Ich bat Loft, die Ausgaben und die Anzahl der Verschreibungen zu überprüfen, und sie bestellt die Produkte in Übereinstimmung mit dem, was benötigt wird. Sie ist übrigens recht geschickt darin geworden, den Bedarf erstaunlich genau vorauszusehen. Eine sehr fähige junge Dame.”

Stolz und Vergnügen durchströmten Eryn bei dem Lob. Es tat gut zu hören, dass Plias harte Arbeit und Fertigkeiten geschätzt wurden. Später würde sie die Lobesworte an das Mädchen weitergeben.

“Hat sich die Situation seither verbessert?”, wollte sie wissen.

Mit einem traurigen Seufzen äußerte er sich gegenteilig. “Nein, überhaupt nicht. Ich habe entschieden, unsere Zusammenarbeit mit ihnen zu beenden und Plias Bereich zu erweitern. Sie vor einigen Jahren als medizinische Herbalistin aufzunehmen war ein schlauer Zug. Andernfalls wären wir nun stark von den Apothekern abhängig. Wie auch immer, mit einem der Apotheker würde ich gerne weiterhin arbeiten; ich werde ihm ein Angebot unterbreiten, in der Klinik anzufangen. Sofern er zustimmt, unter Plia zu arbeiten, versteht sich. Dann werde ich mit Plia besprechen, wie viel mehr Leute ihrer Ansicht nach benötigt werden, um die erforderlichen Mengen und die Bandbreite an Medizin herzustellen.”

“Das klingt fabelhaft. Ich denke, wir haben uns ihre ständigen Streitereien jetzt lange genug angesehen. Habt Ihr schon entschieden, welche Heiler Ihr zum neuen Ordensaußenposten nach Bonhet schicken werdet?”, fragte sie.

“Das habe ich tatsächlich. Felden bat mich, ihn zu entsenden, und ich denke, er ist eine gute Wahl. Als einer der Heiler der ersten Stunde hier hat er genug Erfahrung, um ohne ständige Beaufsichtigung außerhalb der Hauptstadt und mit recht beschränkten Ressourcen zu heilen. Zwei der drei Heiler aus Takhan haben sich ebenfalls freiwillig gemeldet. Ich vermute, dass sie einen Standort näher an ihrer Heimat vorziehen. Das würde ihre Reisezeit für einen Besuch in Takhan um ein Drittel reduzieren. Ich werde einen von ihnen mitschicken. Und zusätzlich noch einen der frisch ausgelernten Heiler. Drei Heiler sollten für den Moment ausreichen. Sollte es vorübergehend Bedarf für mehr geben, können wir ihn decken, wenn es schlagend wird.”

Eryn nickte langsam. Sie würde Felden auf jeden Fall vermissen, stimmte aber zu, dass er eine gute Wahl war. Jemand würde seinen Unterricht übernehmen müssen. Aber mit zwei qualifizierten Heilern aus Takhan mit weitreichender Erfahrung im Heilen, die hier verblieben, war das kein Problem. Die der ersten Klasse an frisch qualifizierten Heilern wollte sie noch nicht zum Unterrichten einsetzen. Sie sollten sich zuerst wahrhaftig in ihren neuen Beruf einfinden anstatt zu versuchen, Erfahrung an andere weiterzugeben, die sie selbst noch nicht gesammelt hatten.

Lord Poron hob die Hände. “Das war es so ziemlich von meiner Seite. Ich schätze, du wirst deine Arbeit hier bald wiederaufnehmen?”

“Morgen, wenn es Euch recht ist. Ich habe die meisten der ermüdenden Treffen, die mich nach meiner Rückkehr hier immer erwarten, hinter mir. Somit kann ich meine Zeit nun für etwas Nützliches verwenden.”

“Ich werde Loft instruieren, er möge dich ab morgen in den Dienstplan miteinbeziehen. Deine üblichen Präferenzen? Dreimal pro Woche, einmal davon Nachtschicht?”

“Ja, so wie immer”, bestätigte sie. “Werde ich Euch heute Abend bei Inads Veranstaltung sehen?”

“Aber auf jeden Fall. Wie du sehr wohl weißt, meine liebe Eryn, würde Aurna niemals eine Zusammenkunft versäumen, bei der du anwesend bist.”

Eryn schnalzte mit der Zunge. “Hofft sie etwa immer noch auf irgendwelche Skandale oder unterhaltsamen Ausrutscher?”

Hilflos hob er die Hände. “Was soll ich dazu sagen? Ganz egal, wie höflich und zurückhaltend du dich in diesen letzten paar Jahren gezeigt hast, so glaubt sie doch immer noch, dass es diesen ungezähmten Teil von dir gibt, der eines Tages wieder hervortreten wird. Und sie ist fest entschlossen dabei zu sein.”

Sie schnaubte. “Das ist keine besonders freundliche Gesinnung, muss ich sagen. Zumindest nicht, wenn es um Leute geht, die sie zu mögen behauptet.”

Lord Poron zog die Schultern hoch. “Ich widerspreche dir nicht. So ist Aurna eben, immer bereit, sich auf Kosten anderer zu amüsieren. Aber in deinem Fall zieht sie es vor, wenn du nicht diejenige bist, die einstecken muss, wie ich wohl hinzufügen sollte.”

Sie kam auf die Beine und seufzte. “Das macht keinen großen Unterschied. Wenn jemand anderer als ich Ärger abbekommt, bin ich für gewöhnlich trotzdem diejenige, die hinterher entweder mit Tyront oder dem König Schwierigkeiten hat. Eure Gefährtin wird es mir also verzeihen, wenn ich nach einem friedlichen, wenn auch wenig erinnerungswürdigen Abend strebe anstatt ihr die Abwechslung zu bescheren, nach der sie sich sehnt.”

Er lachte. “Ich werde das so an sie weitergeben – und eine Standpauke riskieren, weil ich dir überhaupt davon erzählt habe.”

Das entlockte ihr ein Grinsen. “Die Gefahren einer Beziehung, was?”

* * *

Eryns Schritte wurden langsamer, als sie Vern vor den Türen der Klinik erblickte. Er starrte darauf, während sich seine Fäuste öffneten und erneut ballten, als wäre er dabei, den Mut zum Betreten des Gebäudes zu sammeln. Das war seltsam. Das war nicht sein erstes Mal in der Klinik seit seiner Rückkehr aus Takhan; soweit sie wusste, hatte er bereits zwei oder drei Schichten hier gearbeitet. Warum zögerte er hineinzugehen? War etwas vorgefallen?

Sie beschleunigte wieder, näherte sich ihm und gab vor, seine offenkundige Scheu nicht bemerkt zu haben.

“Guten Morgen”, sagte sie fröhlich und lächelte ihn an.

Er erwiderte das Lächeln, doch es reichte nicht bis zu seinen Augen.

Sie ließ jegliche Verstellung fallen, griff nach seinem Ärmel und zog ihn mit sich fort vom Eingang und um die nächste Ecke.

“Was ist los?”

“Nichts!”, versicherte er ihr eilig, unverkennbar lügend.

“Vern, ich bin weder blind noch dumm. Heraus damit! Irgendetwas stimmt nicht, und ich will wissen, was. Hast du mit irgendeinem der Heiler Ärger? Oder mit einem Patienten?”

“Nein, nichts dergleichen. Es ist nur…” Er gestikulierte hilflos. “Es liegt an mir. Oder an allem anderen, wie auch immer man es sehen will. Ich meine… ich bin hierher zurückgekommen in der Erwartung, ich würde zu Dingen zurückkehren, die ich kenne, zu einer Stadt, mit der ich vertraut bin. Aber nichts ist mehr so wie damals, als ich fortging! Ich fühle mich verloren und allein in meinem neuen Quartier. Ich habe noch nie zuvor allein gelebt. Und dann ist da die Klinik. Schau, es ist großartig, dass sich die Dinge auf diese Weise entwickelt haben, doch ich ging von hier weg als es gerade einmal eine Handvoll Heiler und Rolan gab und wir versucht haben, die Dinge irgendwie am Laufen zu halten. Es war nicht wichtig, dass keiner von uns irgendeine Ahnung davon hatte, wie man ein Heilzentrum führt, wir haben einfach herumexperimentiert und die Dinge währenddessen verbessert. Jetzt ist dieser Ort jeden Tag für das Heilen geöffnet und voll mit neuen Heilern und Lehrlingen. Da ist noch etwas – nicht einmal die Straßen sehen wie früher aus, wenn ich sie entlanggehe. Der Hafen, den Enric neu bauen hat lassen, sieht jetzt vollkommen anders aus. So riesig. Viele Magier, die ich sehe, tragen jetzt violette Roben anstatt der braunen Kriegerroben, die vor sechs Jahren fast die einzigen waren, die man sah. Und dann sind da die Leute aus den Westlichen Territorien mit ihrer dunkleren Haut und schwarzen Haaren… Versteh mich nicht falsch – ich liebe es, wie sich die Dinge entwickelt haben, diesen ganzen Austausch zwischen den beiden Ländern. Doch es ist einfach nur ein weiterer Faktor, der mich erkennen lässt, dass ich tatsächlich nicht mehr an den Ort zurückgekehrt bin, den ich vor einigen Jahren verlassen habe. Ich war ein Gast in Takhan, und nun fühle ich mich wie ein Eindringling in Anyueel.” Er schloss die Augen und lehnte seine Stirn gegen die kühle Steinwand der Klinik.

Eryn schluckte. Das war eine Menge gewesen. Und sie wusste, dass sie ihm damit nicht wirklich helfen konnte. Das war ein Prozess der Wiedereingewöhnung, den er irgendwie durchstehen musste.

“Ich weiß, dass es schwierig ist, Vern. Ich erinnere mich daran, wie es war, als ich nach sechs Monaten zum ersten Mal aus Takhan zurückkam. Das war eine wesentlich kürzere Zeitspanne als die, die du dort verbracht hast, also gab es nicht ganz so viele Veränderungen, doch ich kann mir vorstellen, dass das hier wirklich hart für dich sein muss. Du wirst Zeit brauchen um herauszufinden, wo dein neuer Platz in Anyueel ist, um wieder ein Teil davon zu werden. Du bist ebenfalls nicht die gleiche Person, die du warst, als du von hier fortgingst, also müssen sich die Leute auch erst wieder an dich gewöhnen.”

“Ich vermisse meine Freunde in Takhan bereits”, murmelte er. “Und ich habe keine Kleider, die sich für die Temperaturen hier eignen. Unter meiner Heilerrobe friere ich ständig.”

“Aber das kann kaum ein großes Problem darstellen, oder? Du erinnerst dich doch wohl, dass die Gefährtin deines Vaters eine Schneiderin ist?”

“Ich bin deprimiert, nicht hirntot, vielen Dank”, knurrte er. “Ich habe mich bereits von ihr vermessen lassen, aber sie wird noch zwei Tage brauchen, bis sie die ersten beiden Garnituren an Kleidung für mich fertig hat. Sie hat mir angeboten, in der Zwischenzeit ein paar Sachen von meinem Vater zu tragen, aber die sehen absolut lächerlich an mir aus. Ich meine, er ist ein Krieger mit breiten Schultern – in eines seiner Hemden passe ich fast zweimal!”

“Also hast du dich stattdessen entschieden zu frieren?”, fragte sie nach.

“Nun, ja. Das ist auf jeden Fall die würdevollere Option.”

Eryn nahm seinen Arm, um ihn zurück zum Eingang der Klinik zu ziehen. “Zumindest in dieser Sache kann ich dir helfen, denke ich. Nimm einfach zwei zusätzliche Garnituren an Heilerkleidung mit, wenn du heute heimgehst. Wenn du sie in Verbindung mit deiner Robe trägst, solltest du das Frieren auf ein Minimum begrenzen können.”

“In Ordnung. Danke. Das schätze ich wirklich.”

Sie betraten das Gebäude und sahen, wie Loft aus einem Behandlungszimmer herauskam und das nächste betrat, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

“Und wessen vollkommen irrsinnige Idee war es überhaupt, ihn zu Rolans Nachfolger zu machen?”, flüsterte Vern.

“Offiziell die von Rolan und Lord Poron. Aber ich verdächtige den König”, erwiderte Eryn ebenso leise. “Ich glaube, dass dies zwei Zwecken dienen sollte: Er wollte den Klotz loswerden und sich außerdem gut damit unterhalten, indem er in den kommenden Jahren zusieht, wie ich mich mit ihm herumplage.”

Loft tauchte wieder aus dem Zimmer auf und hielt kurz inne, um sie anzusehen, woraufhin sie augenblicklich zu sprechen aufhörten. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. Er öffnete seinen Mund, schien seine Meinung aber dann zu ändern und entfernte sich wortlos in Richtung der Treppe, zweifellos auf dem Weg in sein Arbeitszimmer.

Sie setzten ihren Weg zur oberen Küche fort, wo bereits ein paar Heiler und Lehrlinge vor ihrer Schicht zusammensaßen oder standen. Eryn bemerkte, wie sich Vern versteifte, als er Plia mit Onil sprechen sah. Es schien also erhebliche Spannungen zwischen den beiden zu geben.

Als Plia die Neuankömmlinge erblickte, lächelte sie Eryn an und nickte Vern höflich zu, bevor sie sich damit entschuldigte, es warte viel Arbeit auf sie.

Vern nahm Eryns betont ausdruckslose Miene in sich auf. “Dir gefällt das, oder? Du denkst, dass ich genau das verdiene. Oder irre ich mich?”

In gespielter Überraschung erwiderte sie: “Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.”

“Ich werde das wieder in Ordnung bringen. Ich werde sie heute nach der Arbeit nach Hause begleiten und mich entschuldigen.”

Eryn nickte. “Ein guter Plan. Finde ich fabelhaft. Auf diese Weise wirst du den netten jungen Mann kennenlernen, mit dem sie sich seit zwei Jahren trifft. Er ist großartig. Jeden Abend nach der Arbeit holt er sie ab und bringt sie heim. Das befürworte ich sehr, weil es sie dazu motiviert, ihre Schichten zu einer zivilisierten Stunde zu beenden.”

Sie beobachtete, wie Verns Miene in sich zusammenfiel.

“Sie trifft sich mit jemandem? Schon seit zwei ganzen Jahren?” Er klang ungläubig.

Ein paar Gesichter drehten sich zu ihnen um, also zog Eryn ihn in eine Ecke und flüsterte: “Du bist in Takhan von einem Bett in das nächste gesprungen, also wie kann es dich überraschen, dass Plia eine Beziehung hat? Sie ist eine ungewöhnlich schöne und kluge junge Frau mit einem respektablen Beruf und einem guten Einkommen – wie kommst du auf die Idee, niemand könnte sich für sie interessieren? Die Leute drehen sich nach ihr um, wenn sie sie auf der Straße sehen, und wann immer sie etwas kauft, bieten ihr die Händler einen Preisnachlass an, nur damit sie lächelt! Was hast du erwartet?”

Vern errötete und stammelte: “Ich… nun… also… nichts. Ich habe nichts erwartet. Ich muss jetzt los. Und wegen zusätzlicher Kleidung nachsehen…”

Eryn rieb sich über das Gesicht. Armer, törichter junger Mann. Zusätzlich zu allem, mit dem er jetzt schon kämpfte, schien er nun auch noch entdeckt zu haben, dass er sich noch immer zu Plia hingezogen fühlte. Damit sollte er wohl besser achtgeben, dachte sie. Plias Galan war nicht gerade von der lesewütigen Sorte, sondern arbeitete täglich mit scharfen und schweren Werkzeugen. Und er war angetan von Plia und beschützte sie. Sie war absolut sicher, dass es Ärger bedeutete, wenn ein anderer Mann Interesse an ihr zeigte.

 

Kapitel 3

Gespräche von einem Erben

Enric klopfte bei Lord Remdels Haus. Ein Diener öffnete kurz darauf die Tür, verbeugte sich, gewährte ihnen Zutritt zum Eingangsbereich und nahm sich alsdann ihrer Umhänge an.

Ein Ausbruch schrillen Gelächters aus dem Salon zu ihrer Linken ließ Eryn resigniert ausatmen. “Das war es, was ich in diesen letzten Monaten vermisst habe – Inads gezierte Heiterkeitsbekundungen”, murmelte sie.

“Dann bin ich ja froh, dass du nicht länger ohne sie auskommen musst. Zumindest eine Zeitlang nicht”, erwiderte Enric.

Der Diener, der ihre Umhänge an sich genommen hatte, kehrte zurück und führte sie in den Salon.

“Lady Eryn! Lord Enric!”, rief Inad mit solch tiefempfundenem Entzücken, dass Eryn sich ob ihrer eigenen Gefühle ein klein wenig schuldig fühlte. Von jemandem gemocht zu werden, den sie selbst gerade so tolerierte, löste ein schlechtes Gewissen bei ihr aus. Soweit es Inad betraf, war ihr dieses Gefühl in den letzten sechs Jahren ein ständiger Begleiter gewesen.

“Inad”, lächelte Enric und ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte. Wie stets erfreute er sie auch dieses Mal damit, dass er die formale Begrüßung aus den Westlichen Territorien vollführte und ihre Hand küsste.

Somit blieb Eryn kaum eine andere Wahl als es ihm gleichzutun und die Geste zu vollführen, mit der Frauen einander in ihrem Herkunftsland begrüßten, indem sie die Finger ihrer linken Hand mit Inads verschränkte. Es bescherte Inad die Gelegenheit, weltgewandt zu wirken.

“Ich bin so erfreut, Euch hier zu haben. Es ist schon zu einer Art Tradition geworden, dass Ihr Euren ersten geselligen Abend bei einer meiner Zusammenkünfte verbringt, ist es nicht so?”, schwatzte sie laut genug, um von allen gehört zu werden.

Sicher, dachte Eryn, das war auch der Grund, weshalb Inad erhebliche Mühen darauf verwendete herauszufinden, wann genau sie zurückkehrten, damit sie die Erste sein konnte, die exakt zwei Tage nach ihrer Rückkehr nach Anyueel Einladungen ausschicken konnte.

“Ja”, lächelte Eryn, “es ist wirklich ein charmanter Zufall, dass du diese Anlässe stets so kurz nach unserer Ankunft veranstaltest.”

Enric warf ihr einen warnenden Blick zu, doch ihre Gastgeberin lächelte nur mit vorgetäuschter Bescheidenheit, offenkundig zuversichtlich in der Illusion, dass ihr kleiner Plot unentdeckt blieb.

Sie gingen weiter in die Richtung, wo Enrics Mutter Gerit mit Vyril zusammenstand und sich zwanglos mit ihr unterhielt.

“Guten Abend, Mutter”, begrüßte ihr Sohn sie und beugte sich hinab, um ihre Wangen zu küssen, bevor er sich Vyril zuwandte. “Und auch dir einen guten Abend. Wo ist Tyront?”

“Er wird etwas später zu uns stoßen. Da gibt es irgendein Detail mit der Schatzkammer, um das er sich mit Lord Seagon kümmern muss, soweit ich das verstanden habe. Aber ich gehe davon aus, dass es nichts Wichtiges ist, sonst hätte man dich ebenfalls verständigt”, fügte sie hinzu, als sie seine Gedanken erriet.

Junar und Orrin betraten den Salon, erspähten sie und kamen sofort auf sie zu.

“Ich frage mich, wie gut Vern damit zurechtkommen wird, wenn er zwei Kinder zu hüten hat”, sorgte sich Junar, nachdem sie alle begrüßt hatte. “Ich weiß, dass er mehr als in der Lage ist, sich um Téa zu kümmern, aber Téa und Vedric gemeinsam…”

Eryn winkte ab. “Er bekommt das sicher ganz fabelhaft hin. Außerdem weiß er genau, wohin er sich wenden kann, sollte er sich nicht mehr zu helfen wissen. Ich habe Plia gebeten, sie möge zuhause bleiben, damit er ihr einen Boten schicken kann, falls er Hilfe benötigt.”

“Vielleicht hätten wir überhaupt besser Plia gefragt”, erwiderte die Schneiderin. “Sie hat früher schon auf die beiden aufgepasst und weiß somit, womit sie es zu tun hat.”

“Ich finde deinen Mangel an Vertrauen in meinen Sohn verstörend”, meinte Orrin, den ihre Zweifel an den Fähigkeiten seines Nachkommens ein wenig schmerzten. “Ich bin zuversichtlich, dass er alles im Griff hat. Es wird auf jeden Fall eine Herausforderung für ihn werden. Doch er ist mein Sohn, er wird sich durchsetzen.”

Das brachte Eryn zum Lachen. “Ich erinnere mich an das erste Mal, als du dich um beide gekümmert hast. Du warst nach ungefähr drei Stunden kurz davor, vor Verzweiflung in Tränen auszubrechen.”

“Das ist vollkommener Unsinn”, bestritt der Krieger steif. “Das kannst du nicht beweisen.”

“Das brauche ich auch nicht. Ich weiß, was ich gesehen habe. Und du weißt ebenfalls, dass ich Recht habe.”

Junar räusperte sich. “Themenwechsel. Gerit, wie ich höre, hast du dich entschieden, im Waisenhaus auszuhelfen? Ich finde, das ist eine ganz wunderbare Idee.”

Eryn blinzelte und wandte sich Enrics Mutter zu. “Tatsächlich?”

Gerit nickte. “Ja. Ich habe mehr Zeit zur Verfügung als ich füllen kann, wenn ihr drei in Takhan seid. Also entschied ich mich dazu, Vyril im Waisenhaus unter die Arme zu greifen. Es hilft mir auch dabei, die Zeit zu überbrücken, bis ich meinen Enkel wiedersehe”, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das die Traurigkeit hinter ihren Worten nicht ganz zu überdecken vermochte.

Natürlich. Aus dem Haus ihres früheren Gefährten Anwin fortzugehen war nicht nur eine Befreiung von einem Leben als Dienerin sowohl ihres Gefährten als auch ihres Sohnes gewesen, sondern hatte sie auch den Kontakt zu ihren beiden dort lebenden Enkelkindern gekostet. Die beiden anderen Enkel, die Kinder ihrer Tochter Leris, lebten zu weit von der Stadt entfernt, um sie regelmäßig zu sehen. Somit überschüttete sie Vedric jedes Mal, wenn er ein halbes Jahr in Anyueel verbrachte, mit all ihrer großmütterlichen Zuwendung. Und solange er fort war, musste es da eine Lücke in ihrem Leben geben; eine, die sie offensichtlich zu füllen entschieden hatte, indem sie Kindern eine Großmutter ersetzte, die keine hatten.

Eryn befürwortete die Idee. Sowohl die Waisen als auch Gerit würden davon profitieren.

Lord Poron und Aurna gesellten sich als nächste zu ihnen, wodurch es erforderlich wurde, den Kreis ein wenig zu vergrößern.

Eryns Augen wanderten von Vyril zu Aurna. Sie wirkten in der Tat, als wären sie etwa gleich alt. Verblüffend. Natürlich hatte sie selbst ihren Anteil an kosmetischen Veränderungen durchgeführt, da dies dafür sorgte, dass Geld in die Schatzkammer der Klinik floss; doch kaum jemals so ausgiebige und nicht bei Leuten, die sie gut kannte.

Vyril schüttelte den Kopf. “Aurna, ich kann noch immer nicht glauben, wie fabelhaft du aussiehst. Niemals im Leben hätte ich gedacht, dass neben dir zu stehen jemals dazu führen könnte, dass ich mich alt fühle. Ich verspüre den Drang, Eryn ebenfalls um eine Verjüngung anzubetteln. Oder deinen Gefährten, was das betrifft. Offensichtlich hat er ein beachtliches Talent dafür.”

Lord Poron lachte. “Ich musste rasch eines entwickeln; das war nichts als reine Notwendigkeit, um unser Überleben zu sichern. Bevor Heiler aus Takhan zu uns stießen, war Eryn die Einzige, die in der Lage war, diese Prozeduren durchzuführen und so die finanzielle Unabhängigkeit der Klinik sicherzustellen. Das bedeutete, dass es mir als Oberhaupt der Heiler zufiel, diese Pflicht zu übernehmen. Da die Nachfrage nach kosmetischen Veränderungen seither immens gewachsen ist, hatte ich ausreichend Gelegenheit, meine Fertigkeiten in diesem Bereich zu praktizieren und zu verfeinern.” Er zwinkerte Vyril zu. “Meine Dienste stehen dir zur Verfügung, Vyril – im Austausch für ein kleines Vermögen, versteht sich.”

“Schande über dich, Poron”, rief Vyril in gespielter Verzweiflung aus, “du würdest mir tatsächlich den vollen Preis verrechnen? Nach all den Jahren, die wir uns nun schon kennen? Und auch wenn man bedenkt, dass die Veränderungen, die du an deiner Gefährtin durchgeführt hast, der Grund dafür sind, weshalb ich es selbst in Betracht ziehe?”

Lord Poron zuckte mit den Schultern. “Du kannst immer noch deine gute Freundin Eryn konsultieren. Ich habe keinerlei Zweifel, dass sie dir für ihre Dienste sehr wenig – wenn überhaupt etwas – verrechnen würde. Doch es ist bekannt, dass sie kaum Begeisterung dafür aufbringt. Wenn du willens bist, ihr verstimmtes Gesicht zu ertragen, um dir Geld zu ersparen…”

Enric grinste. “Wenn man die Preise für kosmetische Veränderungen bedenkt, würde ich meinen, dass eine Menge Leute bereit wären, Eryns schmollende Miene für eine Weile zu ertragen, wenn sie im Gegenzug eine kostenlose Behandlung erhielten.”

“Herzallerliebst”, kommentierte Eryn säuerlich. “Sprecht doch einfach weiterhin so über mich, als stünde ich nicht direkt neben euch.” Sie drehte erleichtert den Kopf, als Inad sich zu ihnen stellte, hinter ihr ein Diener mit einem Tablett mit Weingläsern.

“Bitte, nehmt ein Glas”, drängte die Gastgeberin. “Das Abendessen wird in ein paar Minuten serviert, also bleibt noch ein wenig Zeit, um uns entspannt zu unterhalten.”

Jeder der Gäste nahm gehorsam ein Glas entgegen.

Anstatt weiterzugehen zu ihren anderen Gästen, blieb Inad bei der Gruppe und schickte den Diener mit einer Geste fort. Trotz der Tatsache, dass Eryn Inads Gegenwart nicht eben genoss, war sie froh, dass dadurch die anderen davon abgehalten wurden, ihre Unterhaltung über Eryns Abneigung kosmetischen Veränderungen gegenüber fortzusetzen.

“Gerit”, rief die Gastgeberin aus, nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort auf eine Weise zu äußern, als wäre es nicht von allergrößter Wichtigkeit, “du musst ja ungemein glücklich sein, dass du deine Familie wieder aus der Fremde zurückhast! Der kleine Vedric muss enorm gewachsen sein – das tun sie in dem Alter doch immer, nicht wahr?” Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr sie fort: “Du musst kommen und mich besuchen, wenn du das nächste Mal auf ihn aufpasst! Mein eigener Enkel ist mit siebzehn Jahren nicht mehr wirklich ein Kind.” Sie wandte sich Eryn zu. “Übrigens wurde mir gesagt, dass er in Betracht zieht, in den Heilerberuf einzusteigen! Wie wunderbar – unser eigener Heiler in der Familie!”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln, während sich in ihrem Inneren alles verkrampfte. “Einfach wunderbar.” Natürlich wäre Inad ungemein erfreut darüber, einen Heiler zu ihrer Verfügung zu haben – sie rechnete mit kostenlosen kosmetischen Veränderungen für sich selbst. Eryn erinnerte sich an Inads Enkel, als sie Orrin vor ein paar Jahren bei seinem Kampfunterricht assistieren hatte müssen. Ein frecher Junge, der seine Gedanken geradeheraus sagte und der ungemein überzeugt war von der Wichtigkeit sein Großvaters, der einen Sitz im Rat der Magier hatte. Es war ungerecht von ihr anzunehmen, dass er noch immer die gleiche Person war, dass das Älterwerden ihn nicht auf die eine oder andere Weise hatte reifen lassen. Und doch war sie froh, dass die Entscheidung, ob man ihn als Heilerlehrling aufnehmen sollte, nicht die ihre war, sondern Lord Poron zufiel.

“Ich hoffe doch, dass du keinerlei bevorzugte Behandlung für deinen Enkel erwartest, Inad”, warnte Lord Poron sie mit für ihn ungewohnter Strenge. Es schien, als wäre er ebenfalls darüber besorgt, Inads Wünschen nachkommen zu müssen. “Wir sind sehr gewissenhaft, wenn es um die Auswahl derer geht, die sich dem ausgiebigen Training unterziehen dürfen. Wir suchen uns jene Kandidaten aus, die uns überzeugen, dass sie über die Ausdauer, Disziplin und Fähigkeiten verfügen, um das mühsame und lange Training erfolgreich abzuschließen und dann hinterher Erfüllung in ihrem Beruf als Heiler finden.”

“Aber selbstverständlich nicht”, kam Inads hastiger Ausruf. Augenscheinlich war sie zutiefst betroffen von solch einer Unterstellung. Auch wenn ihr Gesichtsausdruck nur allzu deutlich zeigte, dass sie genau darauf gehofft hatte.

Eryn fragte sich, ob Inads Enkel wohl dahingehend beeinflusst worden war, das Heilen als eine wünschenswerte Berufswahl zu erachten, oder ob das tatsächlich seinen eigenen Neigungen entsprach. Nun, das herauszufinden war Lord Porons Aufgabe.

Ein Diener näherte sich seiner Herrin und flüsterte in ihr Ohr. Inad nickte einmal, dann wandte sie sich ihren Gästen zu und verkündete: “Das Mahl ist serviert! Bitte folgt mir in das Esszimmer.”

Orrin war der Mann, der der Gastgeberin am nächsten stand und zögerte keinen Augenblick, als es darum ging zu tun, was von ihm erwartet wurde – ihr seinen Arm anzubieten. Lord Poron geleitete Junar und Aurna, während Enric seine Mutter und Eryn zum Esstisch führte. Vyril akzeptierte huldreich Lord Woldarns Arm, da Tyront noch nicht aufgetaucht war.

Eryn beteiligte sich nicht an den Unterhaltungen während des Essens, schenkte ihnen nicht einmal Aufmerksamkeit, sondern erlaubte ihren Gedanken, zu ihrer bevorstehenden ersten Schicht am nächsten Tag zu schweifen. Obwohl sie in der Einrichtung alles andere als eine Fremde war, so war doch jeder erste Tag immer wieder anders. Jedes Mal, wenn sie zurückkehrte, waren da neue Leute und kleine Veränderungen, mit denen sie sich erst vertraut machen musste. Und auch ihr übliches Spiel, Loft so gut es ging aus dem Weg zu gehen.

“Wie geht es der guten Malriel?”, drängte sich Inads Stimme in ihre Gedanken. Die Frage war nicht an sie, sondern an Enric gerichtet, doch trotzdem weckte sie ihre Aufmerksamkeit. Anspannung – eine natürliche Reaktion auf alles Gefährliche, dachte sie ironisch und kehrte zu ihren Gedanken zurück, als Enric zu antworten begann.

Erst als die Nachspeise serviert wurde, wandte man sich einem Thema zu, das Eryns Aufmerksamkeit fesselte.

“…langsam Zeit für ihn, dass er zusieht, dass er dem Land einen Erben beschert, oder etwa nicht?”, äußerte sich Lord Woldarns Gefährtin und Inads enge Freundin Elset im Brustton der Überzeugung. “Wie alt ist er mittlerweile? Vierunddreißig? In dieser Sache hat er die Dinge wahrlich schleifen lassen, muss ich sagen.”

“Nun, in den letzten Jahren war er recht beschäftigt damit, einen stabilen, dauerhaften Kontakt mit einem Land zu etablieren, von dem wir über Jahrhunderte hinweg abgeschnitten waren”, warf Eryn zur Überraschung der Anwesenden ein. Sie konnte selbst kaum glauben, dass sie den König und was die Gesellschaft offensichtlich als eine Pflichtverletzung von seiner Seite erachtete, verteidigte.

“Das mag eine Ansicht sein”, kam Lord Woldarn seiner Gefährtin zu Hilfe, “doch ein Kind zu zeugen ist wohl kaum solch eine aufwändige Aufgabe, sollte man meinen.”

Diese geistlose Bemerkung brachte ihm ein paar leise Lacher ein. Eryn unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen.

“Das ist wohl wahr, doch ein Kind so großzuziehen, dass es in der Lage ist, die Führung eines ganzen Landes zu übernehmen, ist jedenfalls ein beträchtlicher Aufwand. Und ich sehe nicht wirklich, wie er diese Aufgabe an irgendjemanden sonst delegieren könnte. Immerhin ist er der Einzige, der in dieser Hinsicht über Erfahrung verfügt.” Im Interesse von Höflichkeit und Diplomatie schluckte sie den letzten Teil, den sie noch hinzufügen hatte wollen – dass es für den König nicht ganz so leicht war wie für die meisten anderen reichen Leute in diesem Land, die die Erziehung ihrer Kinder schlicht an Diener übertrugen.

Das Geistesband vermittelte ihr, dass sich Enric amüsierte. Immerhin war sie normalerweise nicht dafür bekannt, zur Verteidigung des Königs zu eilen. Ganz im Gegenteil.

“Elset hat nicht ganz Unrecht”, meldete sich nun Lord Poron zu Wort. “Der König muss langsam darüber nachdenken, Kinder in die Welt zu setzen. Anders als unsere Freunde in den Westlichen Territorien, die ihre Anführer wählen, sind wir hier auf einen Thronerben aus der Blutlinie des Königs angewiesen. Wie die Geschichte uns bereits mehr als einmal gezeigt hat, führt das Fehlen eines direkten Nachkommen tendenziell zu Spannungen und zuweilen sogar zu Erbfolgekriegen. Das würden wir doch nicht wollen.”

Eryn erwiderte nichts darauf. Es gab wenig, das sie sagen konnte, um sein Argument zu entkräften. Und doch war der Gedanke, sich zum Nutzen anderer Leute fortzupflanzen nichts, dem sie zustimmen konnte, ganz egal, ob König oder nicht. Sie selbst war gezwungen worden, ein Kind zu bekommen, weil Malriel auf einem Enkelkind aus ihrer direkten Abstammung bestand. Somit wäre sie also die Letzte, die Druck auf den König ausüben würde, damit er dem Königreich einen Erben schenkte. Es gab immer noch einen anderen Weg, um die Nachfolge zu sichern. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, einen fähigen Cousin dafür heranzuziehen. Wäre das Königreich weniger traditionell in seiner Herangehensweise an Adoptionen, hätte dies eine weitere Lösung dargestellt. Doch Adoption war nur so lange erlaubt, wie die zu adoptierende Person noch unmündig war. Eine Einschränkung, mit der man sich in den Westlichen Territorien nicht aufhielt; dort fand man die Ansichten im Königreich in dieser Hinsicht recht befremdlich und unpraktisch.

Später, als sie in ihrer Kutsche den Heimweg angetreten hatten, fragte Eryn: “Stimmst du dem zu? Denkst du ebenfalls, dass der König als Teil seiner Pflichten dem Königreich gegenüber ein Kind bekommen sollte? Das würde miteinschließen, dass er sich eine Gefährtin sucht, die weitgehend nur diesem Zweck dient, sofern Zeit wirklich solch ein wichtiger Faktor ist, wie die Leute zu denken scheinen.”

Enric spitzte die Lippen. Wenn er ihre eigene Erfahrung mit Malriels Fruchtbarkeitstrank bedachte und auch ihre Missbilligung von Ram’ans Entscheidung, sich eine Gefährtin nur für die Bereitstellung eines Erben zu nehmen, wusste er, dass er hier achtsam antworten musste.

“Ich glaube nicht, dass es darauf eine simple Antwort gibt, Liebste. In unserer Kultur ist es bedauerlicherweise recht klar, was von einem König erwartet wird. Idealerweise würde er sich in eine Frau mit passendem Hintergrund verlieben, zwei oder drei Kinder mit ihr bekommen und das Geschäftliche mit dem Vergnüglichen verbinden. Doch die einzige Frau, die er sich bislang an seiner Seite hätte vorstellen können, warst du. Die Frage ist nun, wie tolerant wir als seine Untertanen sein können oder wollen, wenn es darum geht, ihm ausreichend Zeit zuzugestehen, auf dass er seine Suche nach einer Frau fortsetzen kann, die er tatsächlich lieben anstatt nur an seiner Seite akzeptieren kann.”

Sie seufzte. “Du hast das Problem ungemein kurz und bündig zusammengefasst, gut gemacht. Allerdings hast du es versäumt, meine Frage zu beantworten.”

“Ich denke, dass er ziemlich rasch eine Lösung für diese Situation finden muss. Es kümmert mich nicht wirklich, ob er das tut, indem er ein Kind mit einer zufällig ausgewählten Frau zeugt oder die Adoptionsgesetze ändert. Aber du darfst dich darauf verlassen, dass er sich sehr wohl darüber im Klaren ist, dass er in dieser Sache handeln muss – mehr als jeder andere.”

Das konnte sie glauben. So etwas würde der Aufmerksamkeit des Königs wohl kaum entgehen.

*  *  *

Eryn pfiff leise durch die Zähne, als sie mit Enric um die Ecke zum Thronsaal bog und Ram’kel von Haus Arbil, Ram’ans jüngeren Bruder und Botschafter in Anyueel, vor der hohen Doppeltür erblickte.

“Sieh dir das an”, murmelte sie. “Wir sind offenbar nicht die Einzigen, die heute vorgeladen wurden. Ich werde immer neugieriger, was der König will.”

Enric teilte dieses Gefühl und nickte Ram’kel zu, als sie zu ihm stießen. Er war gerade von seinem kurzen Besuch in Bonhet zurückgekehrt, wohin Tyront ihn entsandt hatte. Nicht so sehr, um wirklich irgendetwas dort zu erledigen, sondern vorwiegend, um Präsenz zu zeigen und als Mahnung zu fungieren, dass die Anführer des Ordens niemals weit entfernt waren. Nach seiner Rückkehr hatte Eryn ihn informiert, dass er mit ihr zum König kommen sollte. Wie immer hatte seine Nachricht keinerlei Hinweis darauf enthalten, weshalb er sie zu sehen wünschte.

“Eryn. Enric. Eure Anwesenheit verspricht, dass die Sache interessant wird”, kommentierte der Botschafter, der offenbar ebenso wenig informiert war.

Erst jetzt öffneten die Wachen die Türen und verkündeten die Namen der drei.

“Lord Enric von Haus Aren. Lady Eryn von Haus Vel’kim. Botschafter Ram’kel von Haus Arbil.”

“Das klingt, als würde er doppelt so viele Leute ankündigen dank all dieses unnötigen Unsinns mit den Häusern”, murmelte Eryn, trat aber gehorsam mit den beiden Männern ein.

König Folrin und sein Berater Marrin standen auf dem Thronpodest und warteten geduldig darauf, dass sie sich näherten.

“Lady Eryn. Lord Enric. Botschafter”, begrüßte König Folrin sie mit einem knappen huldvollen Kopfnicken. “Es gibt da eine Angelegenheit, die viele als eine von beträchtlicher Bedeutsamkeit beurteilen würden, und in deren Zusammenhang ich Euch um Euren Rat bitten möchte”, begann er, ohne Zeit auf irgendwelche Höflichkeiten zu verschwenden. “Und um Eure Hilfe bei dem Unterfangen, das in Angriff zu nehmen ich im Begriff bin. Wie Ihr alle wisst, bin ich nicht nur bestrebt, unsere freundschaftliche Beziehung zu den Westlichen Territorien aufrechtzuerhalten, sondern ich will sie auch auf jede erdenkliche Weise fördern, die ich als klug erachte. Zusätzlich dazu gibt es da eine Pflicht, die zu erfüllen von mir erwartet wird. Eine, von der viele meinen, ich hätte sie bislang vernachlässigt. Bis zu einem gewissen Grad muss ich einräumen, dass dies nicht ganz unwahr ist. Somit möchte ich diese Gelegenheit ergreifen, um zwei Ziele auf einmal zu verfolgen.”

Eryns Gedanken sprangen zurück zu dem Abend vor ein paar Tagen – der, bei dem die recht dringliche Pflicht des Königs zur Bereitstellung eines Thronerben diskutiert wurde. Und nun sprach er von einer Pflicht, die er vernachlässigt hatte, und seinem Wunsch, die Verbindung zu den Westlichen Territorien zu stärken.

Sie lächelte. Davon ausgehend gab es nur eine einzige offensichtliche Schlussfolgerung, was seine Absichten betraf. Das war ein Thema, das ihm unangenehm war, weshalb er darum herumredete anstatt zum Punkt zu kommen, wie er es sonst typischerweise vorzog.

“Die Gelegenheit, eine Gefährtin aus den Westlichen Territorien zu nehmen”, äußerte sie gelassen.

Der König starrte sie an, unfähig, seine Überraschung und Fassungslosigkeit zu verbergen. Das dauerte allerdings nur eine Sekunde, dann hatte er sich wieder im Griff und lächelte sie an.

“Ein Kompliment an Eure Kombinationsgabe, Lady Eryn. Wie immens befriedigend, dass all der Unterricht und die praktische Erfahrung der letzten paar Jahre Eure Fähigkeit zur Anwendung von gesundem Menschenverstand zu schärfen vermochten.”

Darüber zog sie nur eine Augenbraue hoch und begegnete seinem Blick ohne zu blinzeln. Spiel nur herunter, dass ich dich durchschaut habe und dir das überhaupt nicht passt, dachte sie, zufrieden mit seiner Verstimmung. Dies war das allererste Mal, dass sie seine Absichten rascher erraten hatte, als ihm lieb war. Sie beabsichtigte, diesen Moment auszukosten, ihn in ihrem Gedächtnis zu verankern, damit sie ihn zu ihrer Aufmunterung hervorholen konnte, wenn sie ihn brauchte. Sein Versuch, sie zu entmutigen, damit er damit seine eigene Unzulänglichkeit überdenken konnte, machte es nur umso süßer.

König Folrin wandte sich wieder an die beiden Männer. “Wie Lady Eryn so scharfsinnig bemerkt hat, beabsichtige ich, eine Gefährtin zu nehmen. Idealerweise würde diese Dame aus den Westlichen Territorien stammen. Ich muss Euch nicht sagen, dass diese Auswahl keine Aufgabe ist, die leichtfertig in Angriff genommen werden kann. Meine Wahl wird sehr wahrscheinlich erheblichen Einfluss auf das politische Gleichgewicht in Takhan haben. Das Haus, zu dem meine zukünftige Gefährtin gehört, wird beträchtlichen Einfluss gewinnen, was dazu führen mag, dass sich existierende Allianzen auflösen und neue formen werden, die entweder von dieser neuen Entwicklung profitieren oder ihr entgegenwirken wollen.”

Enric gefiel nicht, wohin das führte. “Das bedeutet, Ihr befehlt uns, Euch beim Treffen einer Wahl zu assistieren, die so wenig politische Unruhe wie möglich nach sich zieht?”

Der Monarch hob sein Kinn. “Nein, nicht befehlen, Lord Enric. Ich bitte um Eure Unterstützung.”

Unterstützung, dachte Enric verärgert. Er wollte die Verantwortung delegieren, falls sich seine Wahl als problematischer herausstellte, als irgendjemand voraussehen konnte.

Des Königs Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. “Ich weiß, was Ihr denkt, Lord Enric. Es ist genau das, was ich an Eurer Stelle ebenfalls vermuten würde. Doch lasst mich Euch versichern, dass ich absolut willens und in der Lage bin, die Konsequenzen meiner Handlungen selbst zu tragen.” Er trat direkt vor Enric hin, dann hob er seine Hand und berührte seinen eigenen Hals; eine Erinnerung an damals, als es Enrics Hand gewesen war, nachdem der König Eryn diesen einen Kuss aufgezwungen hatte. “Das habe ich schon immer. Oder würdet Ihr dem nicht zustimmen?”, meinte der König mit gedämpfter Stimme. Er trat einen Schritt zurück und wandte sich wieder an alle drei. “Worum ich Euch ersuche, ist Eure Hilfe bei meiner Entscheidung. Das Wissen, die Einblicke und die Erfahrung mit Takhan, über die Ihr verfügt, sind allem überlegen, was meine Quellen bereitzustellen imstande waren. Ihr sollt jene Dinge mit mir teilen, nach denen zu fragen ich nicht auf den Gedanken käme. Die Entscheidung, ob Ihr Eure Mitwirkung in diesem Prozess öffentlich machen wollt oder nicht, obliegt Euch selbst.”

Ram’kel war der Erste, der sich verbeugte und erwiderte: “Es wäre mir eine Ehre, Euch in dieser Angelegenheit zu Diensten zu sein, Eure Majestät.”

Enric zögerte noch ein paar Sekunden, dann nickte er. “Sowie auch mir.”

Alle drei wandten sich Eryn zu, die ihre Stirn in Falten zog und die Arme verschränkte. “Ich verstehe, weshalb Ihr ihre Hilfe wollt. Aber warum meine? Ich bin nicht darauf bedacht, Kontakte zu wichtigen Leuten zu pflegen. In vielen Fällen vermeide ich es sogar bewusst. Welche Unterstützung könnte ich wohl bieten, die mein Gefährte und der Botschafter nicht bereitstellen könnten?”

König Folrin bedachte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ihr unterschätzt Eure Nützlichkeit, meine liebe Lady. Euch mag weder die gute Meinung, noch die Gesellschaft wichtiger Leute interessieren, doch Euer Status ist ein recht erhabener, Dank der Tatsache, dass Ihr die Tochter einer Triarchin und die Schwester des Oberhaupts eines Hauses seid sowie den höchstrangigen Heiler der Westlichen Territorien zum Vater habt. Zu Eurer Familie allein gehören ein paar der mächtigsten Leute des Landes. Selbst wenn Ihr also nicht die Nähe der Hohen und Mächtigen sucht, so lässt sich das in Eurem Fall nicht vermeiden. Und außerdem schätze ich Eure Meinung, meine Lady. Ich zähle auf Eure Hilfe bei der Bewertung jedes Vorschlags, der mir unterbreitet wird. Darf ich also auch auf Eure Hilfe hoffen, Lady Eryn? Sie wäre höchst willkommen.”

Nun, sie hatte kaum eine große Wahl in der Sache. “Selbstverständlich, Eure Majestät.”

“Ausgezeichnet. Ich würde Euch alle ersuchen, mir eine allgemeine Bewertung der aktuellen politischen Situation in Takhan zukommen zu lassen. Dies mag einen ersten Einblick dahingehend gewähren, welche Häuser schon aus Prinzip ausgeschlossen werden müssen. Lady Eryn, aufgrund Eures Desinteresses in allem, was Politik betriff, erwarte ich nicht, dass Euer Bericht ebenso detailliert ausfallen wird. Dennoch ist es eine gute Übung für Euch, um einen besseren Einblick zu erlangen, was in einem Eurer Aufenthaltsländer vor sich geht. Ich erwarte Eure Berichte samt ersten Empfehlungen hinsichtlich vorteilhafter Häuser in zehn Tagen. Ich verlasse mich darauf, dass Ihr diese Angelegenheit vorläufig vertraulich behandelt. Ihr seid entlassen.”

Eryn verbeugte sich steif und wartete, bis die beiden Männer es ihr gleichtaten, bevor sie sich alle umdrehten und den Thronsaal verließen.

Marrin lächelte. “Lord Enric und der Botschafter schienen sich nicht besonders an dem Einsatz zu stören, nachdem Ihr klargestellt habt, dass man sie nicht zur Verantwortung ziehen würde, sollte sich die schlussendliche Wahl als problematisch erweisen. Doch Lady Eryn war alles andere als begeistert darüber, dass sie sich involvieren soll. Ich frage mich, ob sie sich als so nützlich erweisen wird, wie Ihr hofft.”

König Folrins Lippen zuckten. “Nicht, wenn es darum geht, politische Situationen zu analysieren, da stimme ich rückhaltlos zu. Doch ich möchte sie von Anfang an miteinbeziehen, da sie sich als nützlich erweisen wird, wenn ich nach Takhan gehe und die Kandidatinnen, die wir auswählen, persönlich treffe. Trotz all der Zurückhaltung, die sie in höfischer Gesellschaft zu zeigen gelernt hat, ist sie von den dreien noch immer diejenige, die mir ihre Meinung am ehesten unverfälscht kundtut. Ich will sie keinesfalls dazu ermutigen, dies frei nach ihren Launen zu praktizieren, doch zweifellos ist es von Vorteil, wenn eine wichtige Entscheidung wie die Auswahl einer zukünftigen Königin für mich und mein Königreich ansteht.”

*  *  *

“Ich kann einfach nicht glauben, dass er uns da hineinzieht”, seufzte Eryn, nachdem Enric die Tür zu seinem Arbeitszimmer hinter ihr und Ram’kel, der ihnen in stillschweigender Übereinkunft gefolgt war, geschlossen hatte. Sie ließ sich auf das Sofa fallen, während die beiden Männer stehenblieben.

“Offensichtlich will er sich dieser Herausforderung nicht allein stellen”, meinte Ram’an achselzuckend. “Und bei Menschen mit Verbindungen und Einfluss in den Westlichen Territorien sowie einer engen Bindung zu ihm selbst ist es naheliegend, dass sie miteinbezieht”, strich er hervor. “Lasst es uns als Vertrauensbeweis anstatt einer mühsamen Aufgabe betrachten.”

Eryn rollte mit den Augen. “Du genießt es unverkennbar, wenn du wichtig sein kannst.”

Des Botschafters Miene blieb unbeeindruckt, als er erwiderte: “Aber natürlich. Was denkst du, was mich in erster Linie dazu bewogen hat, ein Botschafter zu werden? Nun lasst uns lieber über die Aufgabe sprechen, mit der wir betraut wurden.” Er sah zu Enric, der ihm signalisierte, er solle weitersprechen. “Ich kann euch eine allgemeine Übersicht über die Nachkommen der führenden Familie jedes Hauses zukommen lassen, an wen die aktuellen Generationen versprochen wurden und bereits verbunden sind, und auch, wer noch immer verfügbar ist. Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass in den Hauptzweigen der Familien nicht mehr viele Kandidaten zur Verfügung stehen.”

“Ja”, murmelte Eryn, “weil ihr Kommitment-Vereinbarungen für sie abschließt, sobald sie alt genug sind, um einen Löffel zu halten. Sofern ihr überhaupt so lange wartet.”

Enric warf ihr einen warnenden Blick zu, um sie zum Schweigen zu bringen. Das war im Moment keine besonders hilfreiche Einstellung.

Ram’kel ließ sich dadurch nicht aus der Bahn werfen. “Für detailliertere Informationen über andere Mitglieder der Häuser, die nicht der direkten Linie des Oberhaupts entstammen, werden wir jemanden in Takhan kontaktieren müssen, der Zugriff auf diese Informationen hat.” Er sah Eryn an. “Ich würde vorschlagen, dass du deinen Vater ersuchst, uns hier behilflich zu sein. Zum einen lagern in der Klinik sämtliche medizinischen Akten über jeden, der jemals in Takhan geboren und behandelt wurde, und zum anderen hat die Vel’kim Familie noch ihre eigenen Aufzeichnungen über Erkrankungen und vererbte Leiden. Du wirst einfach nur zusehen müssen, dass du den Grund, weshalb wir diese Informationen benötigen, unerwähnt lässt, damit wir die Anforderungen seiner Majestät hinsichtlich Vertraulichkeit erfüllen.”

Eryn nickte. Das klang nach einem vernünftigen Plan. Auf diese Weise konnten sie sehen, wer überhaupt noch zu haben war. Mit ein wenig Glück würde das die Auswahl einschränken.

“So”, meinte Ram’kel mit einem Lächeln, “was denkt ihr über die Entscheidung des Königs, sich endlich eine Gefährtin zu nehmen und sein Land mit einer Königin und einem Erben zu beglücken?”

“Wir sind selbstverständlich begeistert”, erwiderte Enric trocken.

Eryn enthob sich einer Antwort. Sie war nicht ganz sicher, wie sie dazu stand. Sie hatte ihre eigenen unangenehmen Erfahrungen mit dem König gemacht, und eine Frau an ihn auszuliefern fühlte sich irgendwie… abartig an. Welche Art Frau würde sowohl zum König als auch dem Land passen? Eine, die genauso skrupel- und bedenkenlos war wie er selbst, damit sie auf persönlicher Ebene miteinander harmonierten? Aber was würde das für das Königreich bedeuten? War eine solche Person an der Spitze nicht mehr als genug? Doch was war die Alternative? Eine gütige und einfühlsame Frau, die sich um das Wohlergehen der Menschen sorgte, und die womöglich unter dem politischen Druck und der Frustration darüber, dass sie einen Gefährten mit vollkommen gegenteiligen Prioritäten hatte, zugrunde gehen würde? War der Versuch, jemanden zu finden, der sowohl zum Charakter des Königs passte als auch eine taugliche Königin war, überhaupt realistisch?

Und darüber hinaus musste diese Frau auch noch der richtigen Familie entstammen, damit sich politische Spannungen vermeiden ließen, die jede Vernunft sprengten. Ihm eine Gefährtin zu finden war wahrscheinlich die unangenehmste Aufgabe, die sie bislang von ihm erhalten hatte. Welch pures Vergnügen!

Natürlich konnte sie Ram’kel gegenüber nichts davon verlauten lassen, auch wenn sie den Verdacht hegte, dass ihm klar war, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. Selbst nach fünf Jahren war sie noch immer nicht sicher, ob es ein schlauer Zug gewesen war, ihm zu der Position als Botschafter in Anyueel zu verhelfen. Er leistete keine schlechte Arbeit, wie sie widerwillig gestehen musste. Auch wenn er ihr die zweifelhafte Ehre zuteilwerden ließ, dass er in ihrer Gegenwart sein glattes, diplomatisches Benehmen ablegte und sie neckte und provozierte. Nicht in einem Ausmaß, dass es erforderlich machte, ihm Grenzen zu setzen, dafür war er zu klug. Aber genug, um sie zuweilen zu irritieren und den Drang in ihr zu wecken, ihm einen ordentlichen Tritt zu verpassen.

Ram’kel blickte zu Enric, da er offenkundig von Eryn keine hilfreichen Wortmeldungen erwartete. “Gibt es sonst noch etwas, das ich tun kann, um euch bei der Vorbereitung der Analyse zu helfen, die wir in zehn Tagen präsentieren sollen? Obwohl ich weiß, dass ihr eure eigenen Quellen habt, würde ich vorschlagen, dass wir die gleichen Informationen nicht mehr als einmal einholen. Das könnte sonst Argwohn auslösen und Gerüchten zum Start verhelfen – genau das, was wir zu diesem Zeitpunkt zu vermeiden trachten. Wir wollen nicht, dass die Häuser uns mit Vorschlägen für passende Kandidatinnen überhäufen und mit Warnungen, wenn wir ein Haus dem anderen vorziehen.”

Enric nickte. “Ich stimme zu. Wir werden es dich wissen lassen, falls wir zusätzliche Informationen benötigen, damit wir unsere Bemühungen zu deren Beschaffung koordinieren können.”

Der Botschafter nickte und ergriff Eryns Hand für einen Kuss, stets erfreut über den Funken an Ärger, der in ihren Augen auch nach all diesen Jahren immer noch aufblitzte. Es war eine unnötige Geste, wenn sie unter sich waren, und sie wusste, dass er es nur tat, weil sie Formalitäten jeder Art hasste. Umso mehr, wenn sie so vollkommen überflüssig waren wie in genau diesem Moment. Wenn er besonders verschmitzter Stimmung war, sprach er sie sogar mit Lady Maltheá an. Allerdings nicht heute. So weit ging er nie, wenn Enric zugegen war.

Sobald Ram’kel ihr Haus verlassen hatte, stöhnte Eryn und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

“Kannst du das glauben? Dieser Mann hat mich dazu gezwungen, dass ich deine Gefährtin werde, indem er mich bedrohte, dass er die Nacht mit mir verbringt, drängte mir einen Kuss auf, um dich zur Reise in die Westlichen Territorien zu veranlassen und hatte eine Affäre mit meiner eigenen Mutter! Und jetzt soll ich ihn dabei unterstützen, dass er eine Gefährtin findet? Wie absurd ist das denn bitte? Wo finde ich eine Frau, die ich ausreichend hasse, um ihr so etwas anzutun? Besonders, seit Valcredy nicht mehr verfügbar ist?”

Enric ignorierte ihre abschließende Bemerkung über Ram’ans Gefährtin. “So schlimm ist das nicht, Eryn. Der König hat uns beträchtlichen Einfluss auf die Zukunft des Königreichs gewährt, in dem er uns bat, ihm in dieser Angelegenheit zu helfen. Vorausgesetzt, er handelt gemäß unseren Empfehlungen, versteht sich.”

“Ich will diesen Einfluss nicht! Das mag dazu führen, dass die Leute oder der König selbst uns die Schuld geben, falls es danebengeht. Was ist, wenn sich die Königin als eine Art machthungrige Irre erweist? Der Kreis der verfügbaren Frauen wird immerhin nicht besonders groß sein. Abgesehen davon, dass sie aus dem richtigen – oder zumindest nicht dem falschen – Haus stammen soll, muss sie auch noch eine Nicht-Magierin sein, damit unsere Gesetze hier diesbezüglich nicht verletzt werden. Was schätzt du, wie viele Nicht-Magierinnen wir in führenden Familien einer Gesellschaft finden werden, wo im Verlauf der letzten paar Jahrhunderte auf magische Stärke bei Nachkommen größter Wert gelegt wurde?”

Er nickte. “Ich weiß. Niemand sagte, dass es eine einfache Aufgabe werden würde.”

Sie knirschte mit den Zähnen, schluckte aber ihre Antwort, als sich die Eingangstür öffnete und Vedrics Stimme erklang, als er sich mit seiner Großmutter unterhielt. Die hatte während ihres Treffens mit dem König auf ihn aufgepasst.

Wenig später kam der Junge in das Arbeitszimmer seines Vaters gerannt und warf sich in die Arme seiner Mutter.

“Wir haben heute Inad besucht!”, strahlte Vedric. “Sie sagt, wir sind verwandt!”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln. Zumindest irgendjemand war erbaut über diese Kleinigkeit. “Dann hat es dir also bei Inad gefallen? Das freut mich zu hören.”

Gerit kam kurz darauf nach – wahrscheinlich, nachdem sie ihren eigenen und Vedrics Umhang ordentlich aufgehängt hatte. Da der Junge die Haken noch nicht erreichen konnte, ließ er den seinen einfach auf den Boden fallen. Sie musste zusehen, dass ein weiterer, tiefer liegender Haken an der Wand befestigt wurde, damit sie ihm beibringen konnte, nicht überall, wo er gerade unterwegs war, eine Unordnung zu hinterlassen.

“Danke, dass du dich um ihn gekümmert hast”, meinte Enric zu seiner Mutter. “Wie ich höre, hat ihm der Besuch bei Inad gefallen.”

Gerit schenkte dem Jungen auf Eryns Schoß ein warmes Lächeln. “Ja, das hat er. Und er war so artig.”

Eryn zog eine Augenbraue hoch. “War er das? Bist du sicher, du hattest das richtige Kind dabei?”

“Oh, Mutter!”, jaulte der Junge. “Das war gemein! Ich bin anbetungswürdig. Inad hat das gesagt.”

“Mein Fehler. Ich würde Inad doch wohl nicht widersprechen wollen.”

Zufrieden, dass seine Mutter ihren Fehler eingestanden hatte, wandte er sich einem weiteren wichtigen Thema zu. “Kann ich ein Brötchen haben?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Nein. Wir essen in etwa einer Stunde. Du würdest dir nur den Appetit verderben.”

“Nur eines? Biiiiiitte?”

Seine Mutter schüttelte den Kopf. “Nein. Du kannst eines haben, wenn du aufgegessen hast.”

“Du bist so streng!”, heulte er. “Warum nicht?”

“Weil du die Nährstoffe brauchst, damit du zu einem kräftigen Burschen heranwächst, und Brötchen enthalten die einfach nicht.”

“Warum?”

“Weil der Bäcker sie nicht dafür gedacht hat, dass sie anstatt einer richtigen Mahlzeit vertilgt werden, sondern als Nachspeise oder kleinen Imbiss zwischendurch.”

“Warum?”

Eryn entschied, den Fragen nun einen Riegel vorzuschieben. Es war eine Sache, ihrem Sohn Dinge zu erklären, damit er die Welt um sich herum etwas besser verstand, aber eine ganz andere, sich von ihm auf ihren Nerven herumtrampeln zu lassen. “Du solltest gehen und ihn das fragen.”

Er blinzelte. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Sie beraubte ihn der Möglichkeit, seine knapp formulierte Fragerei fortzusetzen. Doch er konnte immer noch zum Ausgangsthema zurückkehren.

“Ich will ein Brötchen!”

Nun trat Enric vor und warf ihm einen strengen Blick zu. “Deine Mutter hat nein gesagt. Und wenn du nicht damit aufhörst, sie zu quälen, wird es später keine Nachspeise für dich geben.”

Vedric schmollte und verschränkte die Arme, erwiderte dieses Mal aber nichts darauf.

Gerit meldete sich zu Wort und streckte dem Jungen ihre Hand entgegen. “Ich habe Vyril versprochen, sie heute im Waisenhaus zu besuchen. Du kannst mich begleiten, wenn du möchtest.”

“Das Waisenhaus?” Vedric spitzte die Ohren. Seine Frustration darüber, dass er seiner Vorliebe für süße Brötchen nicht frönen durfte, war bereits vergessen. “ Gibt es in dem hier viele Jungs? In dem in Takhan leben ganz viele Jungs!”

“Ich denke, es gibt dort einige von ihnen, ja”, erwähnte seine Großmutter leichthin. “Bedeutet das, du kommst mit mir?”

“Ja! Ja! Ja!” Vedric sprang auf und klatschte in die Hände, bevor er aus dem Zimmer stürmte.

Eryn seufzte ausgiebig und blickte zu ihrem Gefährten empor. “Warum hört dieser Junge bloß niemals auf mich? Warum braucht es immer ein strenges Wort von dir, damit er still ist? Bin ich zu nachsichtig mit ihm? Sicher nicht! Junar sagt sogar, ich wäre strenger als notwendig. Nicht, dass das viel aussagt. Sie und Orrin verwöhnen ihre Tochter nach Strich und Faden. Das passiert, wenn eine Frau, die dachte, sie wäre unfruchtbar, und ein Mann in seinen Fünfzigern ein Kind miteinander haben.”

“Ich glaube nicht, dass es an dir liegt, Liebste. Es ist womöglich meine imposanter körperliche Erscheinung. Vergiss nicht, dass er mich beim Schwertkampf gesehen hat. Das mag ausreichen, um ihn zweimal nachdenken zu lassen, bevor er sich mir widersetzt.”

Seine Gefährtin schnaubte. “Genau das ist es, was er nicht lernen soll – dass ein Schwert zu schwingen und groß zu sein alles ist, was im Leben zählt.”

“Er ist erst fünf Jahre alt. Es wird noch ausreichend Gelegenheit für uns geben, ihm ordentliche Werte zu vermitteln.” Er zog sie vom Sofa hoch. “Komm, bereiten wir das Abendessen vor, solange Mutter Vedric beschäftigt.”

*  *  *

Mürrisch zog Eryn das Schwert. Zeit, es hinter sich zu bringen. Die erste Trainingsstunde mit Orrin nach ihrer Rückkehr aus dem Westen war immer die schwierigste. Während ihr gelegentliches Training in Takhan mit Kilan, Pe’tala oder Enric dazu diente, ihre Fähigkeiten lediglich auf dem aktuellen Level zu halten, war Orrin noch immer entschlossen, sie zu verbessern. Ganz egal, für wie unnötig sie selbst das erachtete. Doch Tyront hatte Orrin freie Hand gegeben, so fortzufahren, wie er es als nützlich erachtete, also konnte sie kaum etwas dagegen tun.

“Du weißt, dass das nächste Spiel in zwei Wochen stattfindet, nehme ich an?”, fragte Orrin, während er sie langsam zu umkreisen begann.

“Ich habe nicht die Absicht, daran teilzunehmen, wenn es das ist, worauf du hinauswillst”, erwiderte sie.

Seit sie vor sechs Jahren in Takhan mit der Idee aufgewartet hatte, war das Spiel zu einer regelmäßigen Veranstaltung gewachsen. Orrin und Enric hatten ein Regelwerk dazu entwickelt und sofort das Potential erkannt, dass sich die Leute auf diese Weise freiwillig zum Training ihrer Kampffertigkeiten veranlassen ließen. Seither hatte sich das Spiel in einen Wettkampf verwandelt. Sowohl in Takhan als auch in Anyueel veranstaltete man zweimal pro Jahr ein Spiel für die eigenen Leute – und eine größere Veranstaltung, bei der die besten Spieler jedes Landes gegeneinander antraten. Der Gewinner des Vorjahres war sodann der Gastgeber für das nächste Spiel.

Orrin hatte vor ein paar Jahren damit aufgehört, Kinder zu trainieren und konzentrierte sich nun darauf, die ehrgeizigen Spieler auf beiden Seiten des Meeres in fortgeschrittener Schlachtstrategie zu unterweisen. Interessant war, dass ein paar der besten Spieler im Königreich tatsächlich als Heiler tätig waren. Etwas für Eryn vollkommen Unverständliches. Ihrer Vorstellung nach musste die Hinwendung zum Heilen für viele Magier die einzige Möglichkeit sein, um dem ständigen Streben nach der Verbesserung ihrer Kampffertigkeiten zu entkommen und stattdessen etwas Nützliches tun zu können. Dass sie das Heilen zu ihrem Beruf erkoren hatten und in ihrer Freizeit die Schlacht suchten, passte irgendwie nicht zu Eryns Bild von der Wirklichkeit.

Das anstehende Spiel war nicht das große, sondern eines der beiden kleineren. Jedes Jahr versuchte Orrin erneut, sie zur Teilnahme am Spiel zu bewegen. Er betonte, dass die Erfinderin nicht nur ein Teil davon sein, sondern auch danach trachten sollte, möglichst lange im Spiel zu verbleiben.

Jahr für Jahr erklärte Eryn ihm immer wieder das Gleiche – dass ihre Inspiration für diese Idee aus der Beobachtung von Kindern beim Versteckspiel erwachsen war, wo sie gesehen hatte, wie sehr diese das Spiel genossen, das sie selbst bereits in deren Alter gespielt hatte. In ihrer Vorstellung gab es da wesentlich weniger Schlachtstrategie, Formationskampf und Fallenstellen. Für sie war dies nicht länger ein Spiel, sondern ein Probedurchlauf für einen Krieg. Was auch der Grund war, weshalb Orrin in seiner Kapazität als Oberhaupt der Krieger von diesem Spiel so angetan war.

Wenngleich er ihre Einstellung kannte, versuchte er immer aufs Neue, sie miteinzubeziehen, zu starrköpfig, um einfach zu akzeptieren, dass Kriegsspiele allem zuwiderliefen, wofür sie stand.

Zu ihrer Überraschung verfolgte er das Thema nicht weiter, sondern wandte sich in eine vollkommen andere Richtung, als er meinte: “Ich sorge mich wegen…” – er griff an und zog sich wieder zurück, als sie seinen Hieb parierte – “…Vern.”

“Ach ja?”

“Ich habe den Eindruck, dass er mir aus dem Weg geht. Und wenn ich es endlich schaffe, dass er einmal mit uns zu Abend isst, wirkt er unaufmerksam und verdrossen. Sag mir nicht, dass du nichts bemerkt hast?”

Eryn nickte. “Das habe ich. Aber das war zu erwarten. Nach all dieser Zeit ist er nach Hause zurückgekehrt, an einen Ort, der so ganz anders ist als der, von dem er einst fortging.”

“Sollte er diese Veränderung nicht gutheißen? Dass dieser Ort so war wie er war, bewegte ihn immerhin, von hier wegzugehen”, argumentierte der Krieger.

“Das mag sein, trotzdem er hat damit gerechnet, zu etwas Vertrautem zurückzukehren. Aber die Stadt hat sich so stark verändert, dass er sich einmal mehr wie ein Fremder fühlt. Ein wenig inspirierendes wenngleich vertrautes Zuhause ist besser als ein fortschrittliches aber unbekanntes. In Takhan war er dieser leuchtende Stern, dieser junge, immens talentierte Künstler, der gleichzeitig ein Heiler ist – eine Kombination, die man dort nicht kannte und als höchst wünschenswert betrachtete. Doch hier, trotz all dieser Veränderungen, wird sein Talent für das Zeichnen und Malen noch immer zu wenig geschätzt. Und mit den Heilern aus Takhan, die nun hier stationiert sind, gehört er nun nicht einmal mehr in diesem Bereich zu den am weitesten fortgeschrittenen Fachleuten. Es ist schwierig für ihn, und er kämpft dagegen an, nicht in seine alte Rolle zurückzufallen – in die eines Außenseiters.”

Orrin ließ sein Schwert sinken, ein unverkennbares Anzeichen seiner Bestürzung. Er war ein großer Verfechter dessen, dass man seine Deckung niemals vernachlässigte, besonders, wenn man jemandem mit einer gezogenen Waffe gegenüberstand.

“Das ist alles andere als ermutigend. Solange er sich hier nicht zugehörig fühlt, mag er in Betracht ziehen, wieder in die Westlichen Territorien zurückzukehren. Ich habe ihn gerade erst zurückbekommen; ich will nicht, dass er wieder fortgeht.” Er seufzte schwer. “Kann ich irgendwas tun? Oder gibt es etwas, das du tun kannst?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Mir fällt nichts ein. Sofern du nicht ein nettes junges Mädchen kennst, in das er sich womöglich verlieben könnte.”

Orrin schürzte die Lippen. “Er scheint recht angetan von Plia, jetzt wo du es erwähnst. Jedes Mal, wenn er uns besucht, fragt er Junar ganz beiläufig, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen ist.”

Sie kniff die Augen zusammen. “Das schlägst du dir am besten gleich wieder aus dem Kopf, Orrin! Vern verdient Plia nicht, nach dem, wie er sie während seiner Abwesenheit behandelt hat. Wusstest du, dass er ihr nicht ein einziges Mal geschrieben hat? Sie hat für ihn geschwärmt, als er nach Takhan ging, und wenig später erfuhr sie und auch jeder andere, dass er eine Affäre nach der anderen hatte. Plia trifft sich jetzt schon seit mehr als zwei Jahren mit ihrem jungen Freund, einem soliden und zuverlässigen Kerl – genau das, was ein Mädchen braucht und verdient, das in seiner Kindheit nicht wusste, woher es seine nächste Mahlzeit bekommen sollte. Wage es bloß nicht, sie zu benutzen, um deinen Sohn an diesen Ort zu binden, ich warne dich! Du würdest auch nicht wollen, dass deine eigene Tochter auf solch eine Weise benutzt wird.”

Der Krieger blinzelte, überrascht über diesen Ausbruch. “Natürlich nicht”, versicherte er ihr eilig. “Ich wollte damit nicht andeuten, dass ich sie für meine eigenen Zwecke benutzen wollte.”

Gut, dachte sie. Nicht, dass sie es zugelassen hätte.

“Wie laufen die Dinge in der Klinik?”, erkundigte sich Orrin, unverkennbar bestrebt, zu einem Thema mit weniger Streitpotential zu wechseln.

“Soweit läuft alles gut. Wir sehen uns derzeit nach passenden Gebäuden in der Nähe der Klinik um. Uns geht langsam der Platz aus.”

Sie nahmen den Schwertkampf wieder auf und attackierten und parierten eine Weile, ohne zu sprechen.

“Er ist ein guter Junge, weißt du”, meinte Orrin schließlich. “Er mag etwas gedankenlos gehandelt haben in der Art und Weise, wie er Plia behandelt hat, doch dass ihm sein rauschender neuer Lebensstil zu Kopf stieg bedeutet nicht, dass er sie verletzen wollte.”

Eryn nickte. “Das weiß ich. Trotzdem muss er die Konsequenzen tragen und entscheiden, ob er versuchen will, sie als Freundin zurückzugewinnen. Ich hoffe aufrichtig, dass er nicht versuchen wird, ihre Beziehung für seine eigenen selbstsüchtigen Wünsche zu ruinieren.”

“Selbstverständlich wird er das nicht”, behauptete Orrin zuversichtlich.

Eryn erwiderte nichts darauf. Diese Überzeugung teilte sie nicht ganz so rückhaltlos.

»Ende der Leseprobe«

„Familienbande“ – Der Orden: Buch 5

Kapitel 1

Ein Erbe für Haus Vel’kim

“Warum kann ich die Schmerzen nicht blockieren?”, zischte Eryn mit zusammengebissenen Zähnen, als sich ihre Eingeweide mit einer weiteren Wehe verkrampften.

Valrad stand in der Klinik neben ihrem Bett und ertrug männlich ihren schraubstockartigen Griff um seine Finger. Die Spitzen muteten anhand der reduzierten Durchblutung bereits leicht bläulich an.

“Das sollst du gar nicht, weil dieser Schmerz nicht blockiert werden darf”, erklärte er geduldig. “Er begleitet dich durch die Geburt, gibt dir Signale.”

“Die Signale können mich gernhaben! Diese Qual soll einfach nur aufhören!”, stöhnte sie und blinzelte, als eine junge Frau das Zimmer betrat. In ihren Händen hielt sie etwas Langes und Goldenes. Einen Gürtel.

“Was genau glaubst du, was du damit anstellen kannst?”, schrie Eryn. “Du wirst mir keinesfalls meine Magie nehmen! Fort mit dir! Hinaus!” Das letzte Wort war ein heftiges Blaffen gewesen, das die junge Heilerin überraschenderweise unbeeindruckt ließ. Recht offensichtlich unbeeindruckt, wenn man von ihrer Miene ausging. Das war eindeutig nicht die erste launische Frau kurz vor einer Geburt, mit der sie es zu tun hatte.

“Valrad”, meinte die Frau sanft, “entweder ich überwältige sie, oder du legst ihn ihr an.”

“Das kannst du gern versuchen, meine Liebe”, erwiderte Eryn mit einem finsteren Blick, “aber sofern du nicht immun gegen Magie oder mir an Stärke überlegen bist, würde ich es nicht empfehlen. Die Chancen stehen gut, dass ich stärker bin als ihr beiden zusammen, also würde ich nicht einmal daran denken!”

“Aber nicht stärker als ich”, kam eine bedächtige Stimme von der Tür her. Ram’an trat ein und stellte die Tasche zur Seite, die er von der Aren Residenz für sie mitgebracht hatte.

“Das würdest du nicht!”, schnauzte sie ihn an.

Er nahm den Gürtel an sich, den ihm die Heilerin widerstandslos überließ und trat neben sie. “Eryn, es gibt einen sehr guten Grund dafür, weshalb die Kräfte einer Magierin beschränkt werden, wenn sie kurz vor der Geburt steht. Und nach dem, was gerade in der Senatshalle geschehen ist, würde ich meinen, dass er recht offensichtlich ist.”

“Ihr nehmt mir meine Kräfte weg, damit ich niemandem Schaden zufügen kann? Das werde ich nicht, ich verspreche es! Ich werde mich benehmen!”, flehte sie.

Er nahm ihre Hand in seine und drückte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. “Es tut mir leid, aber das lässt sich nicht vermeiden. Ich habe keinen Zweifel daran, dass du keinerlei Absicht hegst, jemanden zu verletzen oder etwas zu zerstören, doch die hattest du auch bei der Senatsversammlung nicht, wie ich annehme. Große Belastungen durch Gefühle oder Schmerzempfinden können dazu führen, dass Magier die Kontrolle verlieren. Und in deinem Fall, mein gutes Kind, mag das unversehens dazu führen, dass die gesamte Klinik über uns zusammenbricht”, erklärte er besorgt. “Und diesen Schmerz kannst du ohnehin nicht wegheilen. Deine Magie wäre nutzlos, und zusätzlich dazu würde sie für alle um dich herum eine enorme Gefahr darstellen.”

“Eryn”, beschwor Valrad sie, “sie werden dich nicht hierbehalten oder sich auch nur in deine Nähe wagen, solange du den Gürtel nicht trägst. Du bist stark genug, um sämtliche Heiler und Patienten hier zu gefährden. Und Ram’an hat Recht. Die Magie würde dir nicht einmal nützen. Das ist nicht die Art von Schmerz, die du einfach so fortheilen kannst – im nächsten Moment kehrt er erneut zurück, bis seine Ursache verschwindet. In deinem Fall das Kind.”

Eryns wütendes Starren wurde besorgt, als sie sich die Worte durch den Kopf gehen ließ. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass man sie ihrer Magie berauben würde. Das war eine grauenvolle Überraschung. Die Erinnerung daran, wie man sie in der Vergangenheit ihrer Kräfte beraubt hatte, war keine angenehme; sie hatte sich dabei stets entblößt und verwundbar gefühlt. Und doch waren die Argumente der beiden mehr als berechtigt, besonders, wenn man bedachte, dass sie vor wenig mehr als einer Stunde das Dach der Senatshalle zum Einsturz gebracht hatte…

Sie presste ihren Kopf in das Kissen, als eine weitere Wehe ihr den Atem raubte und sie zitternd und immens erleichtert zurückließ, nachdem die Flut an Schmerzen abgeebbt war.

Erschöpft hob sie den Kopf und bemerkte, dass sich Ram’an die momentane Ablenkung zunutze gemacht und den Gürtel um ihren Brustkorb befestigt hatte. Die innere Leere war gar nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen, dieses hohle Gefühl, das die Blockade ihrer Magie für gewöhnlich zurückließ. Offenbar war dieser Raum nun mit Schmerz gefüllt. Wie praktisch.

“Du!”, blitzte sie ihn an und wollte ihm ihren Ärger mit einem Hieb zu spüren geben, doch er wich aus. “Das war gemein! Du siehst besser zu, dass du in meiner Gegenwart nie hilflos bist, weil ich es verflucht noch einmal auf jeden Fall ausnutzen werde!”

“Du hast keine andere Wahl”, sagte er nur und zuckte mit den Schultern.

“Vielleicht nicht. Aber ich hätte es vorgezogen, selbst in ein oder zwei Minuten zu diesem Schluss zu gelangen”, schnappte sie.

“Machst du den Leuten das Leben schon wieder zur Qual?”, meinte Orrin, als er, Junar und Vern das Zimmer betraten. Hinter ihnen folgte Malhora, die eine friedlich schlafende Téa in ihren Armen hielt.

“Ach, halt einfach nur den Mund”, flüsterte sie ausgelaugt. Ihr blieb nicht einmal mehr genug Energie, um ihrer Frustration gehörig Ausdruck zu verleihen. Das verstimmte sie sogar noch mehr.

“Meine Güte”, ertönte eine weitere Stimme von der Türe her, “das ist aber eine beachtliche Versammlung hier drin.” Ein Heiler etwa in Valrads Alter bahnte sich seinen Weg zum Bett. “Ich grüße dich, Maltheá. Ich werde dir beim Entbinden deines Kindes zur Seite stehen. Ich sehe, dass du deinen Gürtel bereits angelegt hast. Gut.”

Sie blickte in sein viel zu heiteres Gesicht. Aber weshalb sollte er auch nicht guter Laune sein? Er war nicht derjenige, der die Krämpfe zu erdulden hatte, und soweit sie wusste, würde sich die Lage zuerst noch beträchtlich verschlimmern, bevor sie sich verbesserte.

Das Gesicht kam ihr bekannt vor – er war einer der vielen Heiler, die sie in der Mitarbeiterkantine gesehen hatte. Und falls ihre Erinnerung sie nicht trog, hatte dieser Mann eine fürstliche Summe für Verns Gemälde geboten.

“Noril”, nickte Valrad. “Ich wünsche dir einen guten Tag.”

“Und auch dir einen guten Tag, Valrad. Also, hier drin halten sich zu viele Leute auf. Das erhöht nur den Stress für Maltheá…”

“Eryn”, unterbrach sie ihn und warf ihm einen warnenden Blick zu. “Auf dieses für mich wichtige Detail solltest du achten, denn ich bin überzeugt, dass ich auch ohne Magie noch eine Menge Schaden anrichten kann.”

Noril nickte langsam. “Weißt du, ich bezweifle nicht, dass du das könntest. Die Drohung einer Aren zu ignorieren endet für gewöhnlich nicht gut für denjenigen, der sie missachtet. Dann also Eryn…”

“Sehr richtig”, lächelte Malhora, eindeutig zufrieden, dass ihr furchteinflößender Ruf sich scheinbar in alle Ecken erstreckte.

“Zurück zu dem, was vor uns liegt”, beharrte der Heiler. “Wer von euch wird an Stelle ihres Gefährten während der Geburt bei… ah… Eryn bleiben?”

Drei Variationen von “ich” kamen beinahe gleichzeitig von den drei Männern um sie herum.

Noril blinzelte. “Nun, das übersteigt die übliche Anzahl ein wenig”, erwiderte er, bedachtsam im Umgang mit zwei Oberhäuptern von Häusern und einem Krieger, der für seinen Mangel an Kontrolle bekannt war, wenn es um den Schutz seiner Lieben ging.

Sie drehten sich um, als sie ein entnervtes Seufzen vernahmen. Junar setzte ihre Ellbogen ein, um sich an Eryns Seite vorzukämpfen, dann zeigte sie auf Orrin.

“Unangemessen. Du bist der Gefährte einer anderen Frau, und auch wenn ich weiß, dass deine Gefühle für sie mehr väterlicher Natur sind, will ich nicht, dass es zwischen euch derart intim wird. Das ist mein Ernst.” Dann wandte sie sich an Valrad. “Ebenfalls unangemessen. Du bist ihr Vater, und das erst seit ein paar Monaten! Wie kommst du auf den Gedanken, ihr wäre wohl dabei, dich bei dieser Angelegenheit dabei zu haben?” Ihr düsterer Blick landete auf Ram’an.

“Unangemessen?”, wagte er sich vor, noch bevor sie den Mund öffnen konnte.

“Darauf kannst du wetten!”, nickte sie. “Du hast sie schonungslos verfolgt und wolltest sie dazu bringen, dass sie Enric für dich verlässt! Eine Geburt ist etwas sehr Intimes, wobei man sowohl innere als auch äußere Seiten von sich zeigen muss, die man normalerweise nur die Person sehen lässt, die einem am nächsten steht.” Sie sah den Heiler an. “Ich werde bei ihr bleiben. Den Rest kannst du rauswerfen.”

* * *

“Was meinst du damit, sie liegt in den Wehen?”, rief Vran’el aus. Er hatte Enric fort von der Straße unter einen Baum geschleift, wo er sich gegen den Stamm lehnen konnte. “Dafür ist es mehrere Wochen zu früh!”

“Danke, dass du mich auf diese Kleinigkeit hinweist”, keuchte Enric, froh darüber, dass der unmittelbare Schmerz für den Moment nachgelassen hatte.

“Bist du sicher?”

“Vran”, seufzte er und zuckte unter einem weiteren Angriff zusammen, “glaube mir – das sind Wehen. Darüber habe ich gelesen. Die Intervalle werden immer kürzer, der Schmerz ist fast unerträglich und ebbt nach ein paar Sekunden wieder ab, nur um dann ein wenig später wiederzukehren. Das ist recht eindeutig, würde ich meinen.”

“Schon gut, schon gut. Vorher sagtest du, sie war zornig, nicht wahr? Ich frage mich, ob das der Auslöser für die verfrühte Geburt sein könnte.”

Enric atmete schwer, während sich winzige Schweißperlen auf seiner Stirn formten. “Das werde ich herausfinden. Verlass dich darauf.”

“Warum errichtest du nicht einfach einen Schild? Sag mir nicht, dass dieses Teilhaben am Schmerz irgendein sentimentaler Liebesbeweis sein soll, den sie nicht einmal mitbekommt, oder eine romantische Idee, die Geburt gemeinsam mit ihr durchzustehen? Eines darfst du nämlich mir glauben – und zwar, dass dabei zu sein etwas vollkommen anderes ist als einfach nur von Wellen des Schmerzes in die Knie gezwungen zu werden”, bedrängte ihn Vran’el.

“Ich kann mich dagegen nicht abschirmen! Ich konnte nicht einmal ihren Ärger abblocken, als er auf seinem Höhepunkt war. Das ist zu intensiv, das übersteigt bei weitem, was die Barriere zurückhalten kann. Besonders, da sie keinen Schild errichtet hat und ihre Gefühle und Eindrücke mit voller Intensität ausschickt.”

Aufgebracht raufte sich der Jurist mit den Fingern beider Hände die Haare. “Du verdammter Narr! Siehst du nun, was dir dein Kontrollzwang eingebracht hat? Was soll ich denn jetzt mit dir tun?” Dann kam ihm ein Gedanke. “Ich kann dich ausschalten! Dann wirst du das alles verschlafen!”

“Du wirst nichts dergleichen tun”, keuchte Enric von Schmerzen gepeinigt und errichtete einen Schild zwischen ihnen. “Ich muss wissen, ob alles in Ordnung ist.”

“Du wirst das wirklich durchleben?” Hilflos rang Vran’el die Hände. “Idiot! Wirklich! Und ich sitze hier mit dir fest! Verdammt!”, fluchte er. Nach ein paar beruhigenden Atemzügen fügte er etwas entspannter hinzu: “In Ordnung, ich werde es nicht tun. Du kannst den Schild auflösen. Ich verspreche es!”, fügte er gereizt hinzu, als Enric ihm einen zweifelnden Blick zuwarf.

Der Rechtsgelehrte schüttelte den Kopf und beobachtete, wie der andere Mann unter einer weiteren Welle des Schmerzes aufstöhnte. “Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich eines Tages ohne die Anwesenheit einer Frau eine Geburt miterleben würde. Aber es ist auf jeden Fall eine saubere Angelegenheit.”

“Ich bin so froh, dass ich dir diesbezüglich entgegenkommen kann”, meinte Enric gequält. “Wie lange hat die Geburt deiner Tochter gedauert?”

“Sechs Stunden. Und das war rasch. Ich habe von Babys gehört, bei denen die Geburt einen ganzen Tag dauerte.”

“Das hilft mir jetzt gerade überhaupt nicht!”, rief der blonde Magier aus, während ihm der Horror ins Gesicht geschrieben stand. “Erzähl mir lieber, wie Intrea damals mit dieser ganzen Sache zurechtgekommen ist.”

“Bewundernswert. Sie ist der gelassene Typ; nichts kann sie aus der Bahn werfen. Sie war ungemein rücksichtsvoll und mehr um mich als um sich selbst besorgt, denke ich. Sie hat die Leute rundherum losgeschickt, um mir Wasser zu bringen, mir immer wieder gesagt, dass alles gut werden würde und dass ich mich wacker schlage.”

Einen Moment lang sahen sie einander an, dann meinte Enric langsam: “So wird Eryn mit den Leuten, die jetzt gerade in ihrer Nähe sind, ganz sicher nicht umgehen.”

Vran’el nickte. “Ich neige dazu, dir hier zuzustimmen.”

Als Enric tapfer die nächste Welle der Agonie ertrug, versuchte er sich vorzustellen, wer jetzt gerade bei ihr war. Er hätte das sein sollen. Er hoffte, Valrad, Junar oder Malhora würden ihr beistehen. Nicht Orrin. Und definitiv nicht Ram’an.

Ram’an mochte akzeptiert haben, dass er sie nicht haben konnte, doch wenn er sie ohne ihren Gefährten in seiner Stadt hatte und ihr durch so etwas Schmerzvolles und Intimes wie eine Geburt half, mochte ihn das auf Ideen bringen. Doch so etwas würden weder Valrad noch Orrin zulassen, hoffte er inständig.

Vran’el verbrachte die nächsten zehn Stunden damit, neben Enric im Gras zu sitzen und ihn mit Geschichten abzulenken – über seine Kindheit mit Pe’tala, die Jahre des Rechtsstudiums, dumme Streiche, die er als Junge gespielt hatte, und über den Tag, an dem er sich entschieden hatte, seiner Familie mitzuteilen, dass er Männer Frauen als Partner vorzog.

Enrics Haut war blass und klamm. Schweiß lief sein Gesicht und den Hals hinab. Vran’el drängte ihn dazu, Wasser zu trinken und vielleicht auch ein paar Bissen zu essen, um bei Kräften zu bleiben. Doch während Enric das Wasser dankbar annahm, lehnte er das Essen ab.

Als die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann, packte der Jurist ihre Habseligkeiten aus und bereitete einen Schlafplatz vor. Ursprünglich hatten sie geplant, diese Nacht bereits in der Stadt Kar zu verbringen, doch in Enrics aktuellem Zustand schafften sie es nicht mehr dorthin. Sie würden ihren Weg in die Stadt fortsetzen, sobald das hier überstanden und beide gut ausgeruht waren.

Gegen Mitternacht stieß Enric einen letzten gepeinigten Schrei aus, dann kippte er langsam nach vorne und zu Boden.

“Enric?”

“Es ist vorbei”, hauchte er, sein Gesicht beseelt von Erleichterung, Euphorie und Erschöpfung. Er konnte nicht einmal sagen, wie viel davon von Eryn ausging und wie viel von ihm selbst.

“Und? Wie fühlt sie sich?”

“Erleichtert. Und Glücklich. Also ist alles in Ordnung.” Damit ergab er sich der friedlichen Dunkelheit, die ihn wie eine warme, betäubende Umarmung umfing.

* * *

Eryn zwang sich, ihre bleiernen Augenlider zu öffnen, als jemand sachte an ihrer Schulter rüttelte. Es war Junar, die ein kleines Bündel in ihren Armen hielt. Es wimmerte leise.

“Dein Sohn ist hungrig”, lächelte sie. “Füttere ihn besser rasch. Bei seinem Duft und den Geräuschen, die er macht, haben meine eigenen Brüste schon auszulaufen begonnen.”

Unbeholfen versuchte sich Eryn das Hemd, das man ihr angelegt hatte, über den Kopf zu ziehen, doch ihre Freundin seufzte und schüttelte den Kopf. “Nein, Eryn, aus diesem Grund haben sie dir etwas zum Anziehen gegeben, das du nur auf einer Seite zu öffnen brauchst. Siehst du? Hier auf der Seite ist ein Knopf, und dann kannst du die Vorderseite aufklappen, ohne dich vollständig auszuziehen.”

Junar wartete geduldig, bis Eryn eine Brust ausgepackt und das Kissen in ihrem Rücken weiter nach oben gezogen hatte, damit sie sitzen konnte. Dann legte sie das Baby vorsichtig in die Arme seiner Mutter.

Eryn war plötzlich hellwach und starrte auf die winzige Kreatur hinab. Ihr Sohn. Nach der Geburt hatte sie ihn ein paar Augenblicke lang gesehen, doch zu diesem Zeitpunkt war er mit Blut und klebrigen Substanzen bedeckt gewesen. Als man ihn gewaschen hatte, war sie schon dabei, in den Schlaf abzudriften. Sie erinnerte sich noch an die letzten Eindrücke, bevor die Erschöpfung sie übermannte: ein warmes Bündel auf ihren Brustkorb und ein überwältigendes Gefühl von Erleichterung, Dankbarkeit und Zufriedenheit.

“Er hat mein dunkles Haar”, murmelte sie und ließ ihren Zeigefinger über die überraschend dichten, flaumigen Strähnen gleiten. Seine Augen waren blau, doch das besagte in den ersten paar Monaten nicht viel.

Sie veränderte ihren Griff, sodass der winzige Kopf in ihrer Armbeuge zum Liegen kam und sich somit in einer idealen Position für den Zugriff zu seiner Nahrungsquelle befand.

“Komm schon, Liebling, die Milchbar ist geöffnet.” Mit ihrer Brustwarze bog sie seine Lippen auf und sah zu, wie sie sich daraufhin um ihre Brustspitze legten. Als er nicht gleich zu saugen begann, runzelte sie die Stirn. “Die bequemen Tage, wo das Essen keinerlei Anstrengung von deiner Seite erfordert hat, sind jetzt vorbei, mein Junge. Mach schon.” Sie sah Junar an. “Und jetzt?”

“Versuch, einen oder zwei Tropfen herauszupressen und in seinen Mund fallen zu lassen. Ihm scheint noch nicht klar zu sein, dass es sich hierbei um sein Mahl und nicht nur um eine nette, bequeme Beruhigungsmethode handelt”, schlug Junar vor.

Eryn befolgte diesen Rat und beobachtete, wie der kleine Mund probierte und schluckte, als die neue Kost den Anforderungen zu genügen schien. Erst dann verspürte sie ein schwaches Saugen, das sich rasch zu etwas Entschlossenerem, Gierigerem wandelte.

Überrascht sah sie auf. “Auf jeden Fall lernt er schnell.” Dann kehrte ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihm zurück, und sie nahm sich Zeit, ihn zum ersten Mal eingehend zu betrachten. Ihn mittels Magie im Inneren ihres Bauches anzusehen war etwas anderes als es wahrhaftig mit ihren Augen zu tun.

Seine Augen waren geschlossen, während er saugte, offenbar zufrieden mit der Welt. Er hatte ihr Haar, doch der Rest von ihm erinnerte eindeutig an seinen Vater.

Sie schluckte bei dem Gedanken an Enric, der davongeeilt war, um Malriel zu retten und dabei seine schwangere Gefährtin auf sich allein gestellt hier zurückgelassen hatte. Komisch, wie begierig er darauf gewesen war, in das große Unbekannte aufzubrechen und sogar ihr Kommitmentband dritten Grades aufzulösen, wo er doch vor kaum mehr als einem Jahr so darauf gedrängt hatte, es mit ihr einzugehen.

Junar drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Mach dir seinetwegen keine Sorgen, Eryn. Er wird schon bald wieder zurückkehren. Dessen bin ich mir sicher.”

“Das kümmert mich nicht”, erwiderte die Magierin ruhig. “Ich brauche ihn nicht. Ich habe das ohne ihn durchgestanden, oder etwa nicht? Zuerst die Enthüllung von Sanafs üblen Machenschaften, und dann die Geburt. Und das werde ich auch weiterhin schaffen.”

“Das meinst du nicht wirklich!” Junar schluckte schwer und zog besorgt die Stirn in Falten.

Eryns Augen verweilten bei dem Gesicht an ihrer Haut, der kleinen Faust, die auf ihrer Brust ruhte. “Er hat seine Wahl getroffen. Und sich für Malriel zu entscheiden bedeutete, unseren Sohn aufzugeben. Und mich.”

“Das kannst du nicht so meinen!”, rief die Schneiderin mit weit aufgerissenen Augen aus. “Er hat deine Mutter nicht dir vorgezogen – er versucht einen Krieg zu verhindern!”

“So hat sich das für mich nicht angefühlt, als er das Band zwangsweise entfernte.”

“Ich werde deswegen nicht mit dir streiten, aber ich sage dir, dass du dich absolut unbedacht verhältst. Ich verstehe deinen Ärger darüber, dass er dich auf diese Weise zurückgelassen hat, aber du verkennst seine Motive dahinter vollkommen. Und ich kann mir seine Reaktion vorstellen, wenn du ihm vorwirfst, er verzehre sich nach Malriel. Also wirklich!”

“Zankt ihr beiden etwa bereits?”, kam Orrins Stimme von der Tür. Einen Arm hatte er um Verns Schultern gelegt, den anderen auf das Tuch, mit dem er seine Tochter um seinen Brustkorb geschlungen hatte.

“Sie denkt, dass Enric Malriel nachgereist ist, weil er Gefallen an ihr gefunden hat”, erklärte Junar vorwurfsvoll.

Beide Männer starrten sie an, dann lächelte Orrin, und Vern verdrehte die Augen.

“Das ist wohl das Lächerlichste, was ich jemals gehört habe”, schmunzelte der Krieger. “Ich freue mich schon darauf zu hören, was Enric darauf antworten wird.”

“Genau das habe ich auch gesagt”, schnaubte Junar.

Vern hob einen Zeichenblock samt Stift hoch. “Macht es dir etwas aus, wenn ich das hier zeichne? Immerhin ist es das erste Mal, dass du ihn fütterst.”

Eryn verzog das Gesicht. “Wenn es sein muss. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass ich im Moment kein allzu reizendes Bild abgebe.”

“Eitles Weibervolk”, seufzte der Junge in gespielter Verzweiflung und lehnte den Block gegen einen Stuhl, vor dem er sich dann hinkniete.

Orrin trat näher an das Bett und sah auf das Baby hinab. “Er ist über seinem Frühstück eingeschlafen. Ich schätze, du wirst dir beim nächsten Mal mehr Mühe geben müssen”, scherzte er.

“Ungemein amüsant”, erwiderte sie trocken und hob ihren Sohn hoch, um ihn Junar zu übergeben, damit sie sich wieder bedecken konnte. Ihre Finger berührten den goldenen Gürtel, der noch immer um ihren Oberkörper befestigt war. “Sie haben vergessen, das verflixte Ding zu entfernen. Orrin, sei so gut und nimm ihn mir ab, ja?”

“Ich fürchte, das kann ich nicht tun”, meinte er und verzog das Gesicht. “Mir wurde erklärt, dass du ihn für die nächsten sechs Wochen tragen musst.”

“Was?”, bellte sie ärgerlich und zuckte zusammen, als beide Babys zu weinen begannen.

“Großartig”, stöhnte Junar und rollte mit den Augen. Entschlossen drückte sie den Jungen in die Arme seiner Mutter und hob ihre Tochter aus dem um Orrins Brust geschlungenen Tuch, um sie sanft zu wiegen.

“Welch eine lautstarke Begrüßung”, bemerkte Valrad, als er den Raum betrat und auf sie zuging. “Wie ergeht es meinem Enkel? Abgesehen davon, dass er seine Lungenkapazität zum Einsatz bringt. Hat er schon etwas getrunken?”

“Es geht ihm fabelhaft. Und mir ebenfalls, danke der Nachfrage”, seufzte sie.

“Das weiß ich, mein Kind. Ich habe dich nach der Geburt selbst untersucht.”

“Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass du ohne meine Zustimmung keine Magie mehr bei mir einsetzt, nachdem du mich damals bei meiner ersten Reise hierher mit künstlicher Glückseligkeit überflutet hast? Wir müssen gewisse Grenzen setzen. Wieder einmal.”

Valrad zuckte unbekümmert mit den Schultern, als er das gurgelnde kleine Bündel aus ihrem Arm hob. “Deine Erlaubnis war aus meiner Sicht stillschweigend erteilt. Wenn du nicht untersucht werden möchtest, solltest du wohl besser von nun an nicht mehr in meiner Gegenwart ohnmächtig werden.”

“Was für ein netter Besuch”, grollte sie. “Und jetzt rede. Orrin erklärte mir gerade, ich müsste diesen Gürtel sechs Wochen lang tragen. Sag mir, dass er hier etwas missverstanden hat und dass wir hier eher von sechs Stunden reden?”

“Ich fürchte, er hat Recht. Das Problem, musst du wissen, liegt darin, dass Magier generell – und Heiler ganz besonders – einer gewissen Versuchung unterliegen, den Heilungsprozess ihres Körpers voranzutreiben, was nicht ratsam ist. Aber es mag auch schon früher vorbei sein. Manche Frauen benötigen nur vier Wochen, ganz wenige sogar nur zwei. Sechs Wochen ist die obere Grenze.”

“Aber dabei geht es doch bloß darum, die offenen inneren Wunden und anfälligen Punkte zu heilen! Ich wage zu behaupten, dass eine Beschleunigung dessen wohl kaum…”

Ihr Vater unterbrach sie. “Du weißt sehr genau, dass magische Heilung unabhängig davon, ob du sie selbst durchführst oder ob das jemand anderer tut, die Ressourcen deines Körpers erheblich rascher abbaut als du sie in deinem gegenwärtigen Zustand wiederaufbauen kannst – selbst wenn du den ganzen Tag mit nichts anderem als schlafen und essen verbrächtest. Was passiert, wenn der menschliche Körper innerhalb kurzer Zeit eine Menge Blut verliert?”

“Schwäche, Schwindel, Kältegefühl und in manchen Fällen sogar Bewusstlosigkeit”, listete Vern hinter seinem Zeichenblock munter auf.

“Warum wollen wir das speziell bei Frauen nach der Geburt vermeiden?”, fuhr Valrad fort.

Vern war erneut bereit. “Weil sie ihre Stärke benötigen, um sich von der Geburt zu erholen. Zusätzlich dazu unterliegt ihr Körper noch der Anstrengung, Milch zu produzieren. Hinzu kommt, dass sie sich aufgrund des Schlafmangels – ausgelöst durch die anfänglichen häufigen Stillzeiten – langsamer erholt. Das bedeutet, dass ihre Fähigkeit, sich um ihr Kind zu kümmern, darunter leiden könnte. Sollte diese Aufgabe daraufhin an eine andere Person übertragen werden, erschwert dies das Formen einer Bindung zwischen Mutter und Kind. Sollte sich die Mutter trotz ihrer verringerten körperlichen Kräfte um das Kind kümmern müssen, könnte dies zu Unfällen führen und somit das Wohlbefinden des Kindes aus medizinischer Sicht gefährden.”

Vier Augenpaare starrten auf ihn hinab. Zuerst bemerkte er es nicht, da er noch immer mit seiner Zeichnung beschäftigt war. Als sich die Stille in die Länge zog, blickte er auf und blinzelte.

“Was?”, fragte er verwirrt. “Das war doch richtig, oder? Wenn ich mich gerade zum Narren gemacht habe, dann gebe ich diesem Buch in der medizinischen Bibliothek die Schuld.”

Valrad, der noch immer seinen Enkel in den Armen wiegte, kam langsam näher, ohne seinen nachdenklichen Blick von Vern zu nehmen.

“Das war eine eindrucksvolle Demonstration von Wissen, besonders während du dich mit deinen Händen auf eine gänzlich andere Aufgabe konzentriert hast”, meinte der Heiler langsam. “Du wärst nicht etwa interessiert daran, hier bei uns zu bleiben und deine Ausbildung in Takhan zu vollenden, oder?”

“Einen Moment mal!”, knurrte Orrin ärgerlich, bevor Vern etwas erwidern konnte. “Er ist noch nicht einmal alt genug, um solch einer Sache zuzustimmen; und selbst wenn er es für eine gute Idee hielte, so tue ich das keineswegs! Du hast kein Recht, ihm so ein Angebot zu unterbreiten. Er ist nicht in der Lage, es anzunehmen, und ich werde es nicht erlauben.”

Eryn entließ einen Stoßseufzer ob des Dramas, das sich vor ihr abspielte. Verns Augen, zuerst groß vor Überraschung, wurden dann schmal vor Ärger und Verbitterung darüber, dass ihm diese Tür geöffnet und einen Moment später wieder vor der Nase zugeschlagen wurde.

“Ich denke”, sagte Junar mit missbilligender Miene und einem tadelnden Blick für beide Männer, “dass ihr diese Diskussion anderswo führen solltet. Das hier ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt oder Ort.”

“Ich entschuldige mich”, sprach Valrad steif. “Es stand mir nicht zu, es anzubieten, du hast Recht. Ich habe mich ein wenig hinreißen lassen. Ich habe vollstes Verständnis für dein Widerstreben, deinen Sohn für so lange Zeit in einem anderen Land zurückzulassen.”

Orrin nickte knapp, blieb aber stumm.

“Ich bin müde. Bitte seid nicht böse, doch ich würde jetzt gerne ein paar Stunden schlafen, wenn es euch nichts ausmacht”, meldete sich Eryn zu Wort. Sie hatte genug von dieser Anspannung und sehnte sich nach ein wenig Ruhe und Frieden.

“Natürlich nicht”, versicherte ihr Junar.

Sie warteten, bis Valrad seiner Tochter das Baby gereicht hatte, dann verabschiedeten sie sich. Orrins verkrampfte Haltung zeugte von seinem schwelenden Ärger, Vern wirkte elend und eingeschnappt, und Valrad erschien ein wenig verdrossen und enttäuscht.

Eryn atmete erleichtert aus, als sie fort waren und ließ sich in ihrem Bett zurücksinken. Das Baby platzierte sie so, dass es zwischen ihrem Arm und ihrem Körper lag. Nun war sie zum ersten Mal allein mit ihrem Sohn.

Ihr Sohn. Damit war sie endgültig und unumkehrbar eine Mutter. Sie hatte einige Monate Zeit gehabt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, doch erst jetzt, wo sie ihn berühren, riechen und sehen konnte, begann das Verständnis dieser ungeheuren Veränderung auf einer tieferen, elementareren Ebene als der oberflächlichen intellektuellen. Sie hatte ein neues Leben erschaffen. Er würde immer ein Teil von ihr sein, sein ganzes Leben lang. Und er war auf sie angewiesen. Wie er sich entwickelte, würde von den Werten abhängen, die sie ihm vermittelte, von dem Vorbild, das sie ihm war.

Welch eine enorme Verantwortung, eine gigantische Herausforderung. Aber Arens scheuten keine Herausforderung, und das war eines der Dinge, die er von ihr lernen würde.

Vedric von Haus Vel’kim, dachte sie. Willkommen in der anstrengenden Familie, in die du geboren wurdest.

 

Kapitel 2

Ankunft in Kar

Enric regte sich, als sein Unterbewusstsein auf den Duft von Essen reagierte. Helles Tageslicht fiel ihm in die Augen. Er öffnete sie und erspähte nicht weit entfernt Vran’el, der vor einer improvisierten Feuerstelle hockte.

“Fisch?”, murmelte er angenehm überrascht.

In den letzten beiden Tagen hatten sie ausschließlich von ihrem getrockneten Reiseproviant gelebt. Der mochte nahrhaft sein und sich unkompliziert aufbewahren lassen, doch aus kulinarischer Sicht war er alles andere als zufriedenstellend. Er war zum Überleben gedacht, und Überleben erforderte nicht, dass man sich für die Kost begeisterte, sondern nur das Wissen darum, dass die Alternative ein leerer Magen war.

“Sieh einer an. Willkommen zurück von deiner kleinen Auszeit. Wie fühlst du dich?”

Enric führte eine rasche Bestandsaufnahme durch, so wie Eryn es ihm gezeigt hatte. Der schwache Magieimpuls, den er durch seinen Körper sandte, informierte ihn über alles, was er wissen musste.

“Etwas ausgetrocknet, hungrig, mein Nacken und die Schultern schmerzen, aber abgesehen davon geht es mir gut.”

“Gegen die ersten beiden kann ich Abhilfe schaffen, und die anderen kannst du heilen. Somit gibt es aus meiner Sicht keine großen Probleme”, schmunzelte Vran’el und drehte vorsichtig den Fisch über dem Feuer. “Das Mittagessen ist in ein paar Minuten fertig, also hast du Zeit, dich zu waschen. In der Nähe ist ein Bach. Dort habe ich die Fische gefangen. Nun, wenn ich gefangen sage, dann meine ich, dass ich sie mit Magie betäubt und dann eingesammelt habe.”

Enric schloss die Augen, heilte den Schmerz weg und lächelte dann. “Davon bin ich ausgegangen. Ich würde meinen, das ist effizienter als sie mit einem Speer zu jagen oder ein Netz für einen einzigen Fang zu knüpfen.” Er kam auf die Beine und streckte sich mit einem lauten Gähnen. “Wie lange habe ich geschlafen?”

“Eine ganze Weile. Etwa zwölf Stunden. Aber eine Geburt ist auch eine ungeheure Anstrengung, könnte ich mir denken, selbst wenn man sie auf die Weise miterlebt, wie es bei dir der Fall war. Kein Wunder, dass du Ruhe gebraucht hast.”

Die Geburt seines Sohnes. Enric schluckte und versuchte, irgendetwas durch das Geistesband zu spüren. Aber da war nichts. Was einerseits gut war, da es bedeutete, dass sie nicht unter Schmerzen, Ängsten oder großen Sorgen litt. Und doch erinnerte er sich an seine letzten Eindrücke vor dem Abdriften. Die waren positiv und mächtig gewesen. Er hätte nichts dagegen gehabt, davon noch ein wenig mehr zu empfangen, um das Bedauern darüber fortzuspülen, dass er nicht bei seiner Gefährtin und ihrem neugeborenen Sohn sein konnte.

Doch der Grund für seinen Aufenthalt weit fort in einem anderen Land, rief er sich in Erinnerung, war der, es den nun zwei wichtigsten Menschen in seinem Leben zu ermöglichen, dass sie ihr Leben in Frieden und Freiheit leben konnten.

Enric fand den Bach ohne Probleme. Er war knietief und frei von Sedimenten und Schlamm, sodass er einen ungetrübten Blick auf die Steine im Bachbett und die Fische hatte, die in vorsichtigem Abstand an ihm vorbeiflitzten.

Er nahm sich Zeit zum Waschen und watete ein wenig im kalten Wasser herum. Die niedrigen Temperaturen regten seinen Kreislauf an, und er fühlte, wie seine Energie zurückkehrte.

Als er wieder zu Vran’el stieß, war der Großteil ihrer Habseligkeiten bereits sorgsam verpackt. Ihm wurde ein metallener Reiseteller mit zwei Fischen darauf, die zum rascheren Auskühlen aufgeschnitten waren, in die Hand gedrückt.

“Danke, Vran. Genau das brauche ich jetzt. Das getrocknete Zeug hätte im Moment einfach nicht gereicht.”

“Das dachte ich mir. Iss auf! Wir sollten bald aufbrechen; ich wage zu behaupten, dass du jetzt sogar noch eifriger darauf bedacht bist, diese Angelegenheit zu erledigen und zurückzukehren.” Der Jurist aß die letzten paar Bissen seines eigenen Mahls, dann stellte er den Teller beiseite. “Hast du schon darüber nachgedacht, wie wir die Sache mit Malriel in Angriff nehmen sollen? Ich weiß, dass Malhora denkt, man hat sie hereingelegt, aber sie würde auch kaum schlecht von ihrer eigenen Tochter denken wollen. Die Anschuldigungen könnten sich als gerechtfertigt erweisen.”

Enric schüttelte den Kopf. “Ich kenne Malriel noch nicht so lange wie du, doch sie scheint mir nicht der Typ, der Männer ins Bett zwingen muss. Soweit ich es beurteilen kann, hat sie es einfach nicht nötig. Oder gab es in all diesen Jahren in Takhan jemals irgendwelche Anschuldigungen dieser Art?”

“Nein, niemals”, gab Vran’el zu. “Doch ich bin lieber auf das Schlimmste vorbereitet. Und wenn sie unschuldig ist, hätte ein Lügenfilter das sehr rasch offenbart, würde ich meinen.”

“Das stimmt. Vorausgesetzt, sie wissen, wie man ihn anwendet. Du sagtest, dass Magier bei denen kein besonders hohes Ansehen genießen. Somit mag es sein, dass sie ihn nicht anwenden dürfen, selbst wenn sie wissen, wie es geht. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Magier die Verhandlungen aufhalten wollen. In diesem Fall wären sie nicht willens, Malriel zu helfen, da die Chance besteht, dass sie diejenigen sind, die sie hereinlegen wollen.”

“Somit wird man uns auch nicht glauben, wenn wir den Filter einsetzen und ihnen sagen, dass sie unschuldig ist. Sie werden uns Befangenheit vorwerfen. Und mit Recht”, fügte der Rechtsgelehrte mit einer Grimasse hinzu. “Worauf wir also grundsätzlich hoffen, ist, dass sie nicht wissen, wie der Filter funktioniert, aber zustimmen, dass wir ihnen zeigen, wie man ihn anwendet. Und natürlich, dass diejenigen, die ihn anwenden können – nämlich die Magier, oder Priester – nicht diejenigen sind, die sie sabotieren.”

“Genau.”

Vran’el runzelte die Stirn. “Was ist, wenn wir es schaffen, dass man sie freilässt? Werden wir sie mit uns zurück nach Takhan nehmen oder sie hierlassen, damit sie versucht, die Verhandlungen fortzusetzen?”

Enric hatte eine recht klare Vorstellung, was sein Ziel betraf – nämlich Malriel zurück nach Takhan zu bringen, damit sie ihr Haus wieder übernehmen konnte und es damit ihm und seiner Familie ermöglichte, nach Anyueel zurückzukehren.

Trotz seiner Motivation, seine Gefährtin vor den Zudringlichkeiten des Königs zu beschützen, zog es ihn doch zurück nach Hause und weckte eine gewisse Wehmut in ihm, wenn er an sein Heimatland dachte. Und sollte der Monarch es jemals wieder wagen, sich ihr erneut auf unangemessene Weise zu nähern, würde er nicht wie beim letzten Mal mit ein klein wenig Würgen davonkommen.

“Wir werden sehen”, meinte er unverbindlich. “Das kommt darauf an, ob man ihr nach dieser ganzen Misere hier noch immer genug Vertrauen oder Respekt entgegenbringt, um mit ihr zu verhandeln – selbst wenn sie freigesprochen werden sollte. Oder ob sie noch bleiben würde wollen.” Er stand auf, nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte. “Ich wasche nur rasch unsere Teller, dann können wir los.”

Enric spürte, wie sein ganzer Körper von einem Drang zum Handeln ergriffen wurde. Er wollte aufbrechen, weiterziehen, erledigen, was zur möglichst raschen Auflösung dieser Situation erforderlich war und dann nach Takhan zurückkehren.

Sie folgten der Straße, die zur Stadt führte und nutzten die zwei Stunden, um noch einmal durchzugehen, welche Informationen ihnen vorlagen, auf welches Vorgehen sie sich geeinigt hatten und zu üben, wie sie sich vorstellen würden. Außerdem kamen sie überein, eine Liste all der Leute anzulegen, denen sie begegneten – mit sämtlichen Namen und Titeln. Auf diese Art konnten sie diese am Abend in der Abgeschiedenheit ihrer Zimmer wiederholen. So wollten sie vermeiden, diese Leute, die solch großen Wert darauf zu legen schienen, dass man ihre Wichtigkeit anerkannte, durch eine achtlose inkorrekte Anrede vor den Kopf zu stoßen.

Sie hatten die Brücke beinahe erreicht, die es ihnen ermöglichen würde, den breiten Fluss zu überqueren und die Stadt zu betreten. Die in blaugraue Uniformen gekleideten Wachen – Soldaten oder was auch immer sonst sie waren – die zur Blockade des Weges stramm in einer Reihe standen, waren bereits erkennbar.

Man erwartete sie also. Mit einem bis an die Zähne bewaffneten Empfangskomitee. Wenn das kein Vertrauen erweckte.

* * *

Eryn blickte auf ihren friedlich schlafenden Sohn in seiner Wiege hinab. Er ruhte in dem Zimmer, das sie selbst als Kind bewohnt hatte. Das Tageslicht schwand langsam dahin, und der Raum wurde mit jeder Minute ein wenig dämmriger.

Heute hatte man sie aus der Klinik entlassen, und darüber war sie immens froh. Normalerweise ließ man neue Mütter nicht dermaßen früh nach Hause gehen, doch Valrad hatte ihnen versichert, dass er ihr und ihrem Sohn seine persönliche Betreuung angedeihen lassen würde. Üblicherweise riet man Heilern davon ab, ihre eigenen Familienmitglieder zu behandeln, wenn es sich vermeiden ließ; doch seine Kollegen in der Klinik hatten davon Abstand genommen, diese Tatsache zur Sprache zu bringen. Mit großer Entschiedenheit.

Valrad war zu einflussreich, als dass man sich ihm auf diese Weise entgegenstellte; und zusätzlich dazu war man dort womöglich erleichtert darüber, die anstrengende Aren in ihrer Mitte loszuwerden. Eryn war durchaus bewusst, dass weder Geduld noch das Leiden in Stille und Würde zu ihren Stärken zählten. Doch das kümmerte sie nicht im Mindesten.

Sie drehte sich um, als Malhora in der Tür erschien und ein gefaltetes Stück Papier für sie hochhielt. Es sah so aus, als wäre es Zeit, wieder zu ihrer Funktion als Oberhaupt des Hauses zurückzukehren. Mit einem letzten Blick auf das schlafende Baby wandte sie sich ab und folgte ihrer Großmutter in den Hauptraum.

“Das ist von der Triarchie. Ich schätze, dass man dich womöglich an das Dach erinnern möchte, für das du zahlen sollst”, grinste Malhora.

Eryn nahm die Nachricht entgegen und studierte die alte Frau. “Über diesen Vorfall hast du dich noch nicht geäußert. Aber wenn ich von deinem Lächeln damals und deiner Reaktion gerade eben ausgehe, bist du wohl zufrieden damit.”

“Ich sagte dir schon, dass ich es als nützliche Erinnerung für die Allgemeinheit betrachte, wie wohlverdient unser Ruf ist, wenn wir gelegentlich ein Gebäude einstürzen lassen. Das Dach der Senatshalle war eine interessante Wahl. Ein wenig theatralisch, aber auf jeden Fall effektiv. Darüber werden die Leute noch in Generationen reden. Das kannst du mir glauben.”

“Du weißt, dass ich das nicht vorsätzlich getan habe, um irgendein Familienansehen aufrecht zu erhalten, oder? Ich hatte an diesem Tag nicht die Absicht, irgendjemanden zu beeindrucken. Es ist einfach passiert. Ich habe wirklich die Kontrolle verloren. Und dabei eine Menge Leute in Gefahr gebracht”, schloss sie verdrießlich.

Malhora schnaubte. “Bei dermaßen vielen anwesenden Magiern, die die Leute vor fallenden Dachstücken beschützen konnten? Wohl kaum.”

Die jüngere Frau öffnete das Siegel und zog überrascht beide Augenbrauen nach oben. “So viel kostet die Reparatur dieser verdammten Konstruktion? Das soll wohl ein Scherz sein!”

Ihre Großmutter lehnte sich vor, um einen Blick auf den Betrag zu werfen, dann zuckte sie mit den Schultern. “Das war zu erwarten. Es war eine recht große Kuppel, die du einstürzen hast lassen. Nicht einfach zu reparieren. Und dann müssen auch noch die Malereien wiederhergestellt werden. Aber das ist kein Anlass zur Sorge, Mädchen. Haus Aren kann sich das spielend leisten. Betrachte es als nützliche Investition. Das wird unsere Verhandlungspartner und politischen Gegner gewiss dazu veranlassen, im Umgang mit uns mehr Vorsicht an den Tag zu legen, was bedeutet, dass es dem Haus langfristig gesehen nützt.”

“Dann sollte ich die Nachricht wohl beantworten und mich demütig bereiterklären, die Kosten zu übernehmen, so wie es korrekt und angemessen ist”, meinte Eryn und verzog das Gesicht.

“Keine Demut!”, beharrte Malhora. “Du sollst dich deswegen nicht zerknirscht zeigen, sondern die Begleichung des Schadens als Preis für deinen Stolz akzeptieren. Zeige keinerlei Bedauern; das würde die Wirkung abschwächen. Schreibe ihnen lediglich, dass du ihre Forderung anerkennst und die Rechnungen für sämtliche Reparaturen begleichen wirst.”

Von der Eingangstür kam ein Klopfen.

“Würdest du dich darum kümmern, Großmutter? Dann schreibe ich die Nachricht an die Triarchie.”

“Das wird ein Besucher für dich sein, Kind. Also bleibst du besser hier und kümmerst dich später um die Antwort. Du willst ohnehin nicht den Eindruck besonderer Beflissenheit erwecken.”

Malhora stieg die Treppe zum Eingang hinab und kehrte kurz darauf mit Ram’an zurück.

“Eryn, meine Liebe”, begrüßte er sie und küsste sie auf die Stirn. “Ich war in der Klinik, doch man sagte mir, dass du bereits entlassen wurdest.” Er grinste. “Ich gehe davon aus, dass dein Vater seinen Einfluss geltend gemacht hat.”

“Ja, ich gebe zu, das hat er. Seine Kollegen waren darüber nicht besonders glücklich, fanden es aber klüger, sich ihm nicht zu widersetzen. Und darüber bin ich froh – ich wäre irre geworden, hätte ich den ganzen Tag in diesem Bett herumliegen müssen. Das Einzige, was mir jetzt noch so richtig auf die Nerven geht, ist dieser verfluchte Gürtel. Ich schätze, es besteht keine Chance…?” Mit einem flehenden Gesichtsausdruck sah sie zu ihm auf.

“Nein, meine Liebe, überhaupt keine”, erwiderte er schlicht.

Malhora rollte mit den Augen. “Ständig versucht sie die Leute mit Bestechung oder Drohungen dazu zu bewegen, ihn ihr abzunehmen. Vor ein paar Stunden hat sie Orrin befohlen, es zu tun. Zum Glück ist seine Herangehensweise an Autorität recht vernünftig, und er hat sie einfach ignoriert.”

Eryn warf ihr einen frostigen Blick zu. “Ich wage zu behaupten, dass du es kaum als vernünftige Herangehensweise bezeichnen würdest, wenn die Leute auf deinem Anwesen deine Befehle ignorierten.”

“Nein, selbstverständlich nicht. Aber ich erteile auch keine törichten Befehle, die mir selbst zum Schaden gereichen würden.”

“Ich bin eine Heilerin! Ich würde mir nicht schaden! Ich weiß, was ich tue.”

“Eryn”, seufzte Ram’an und legte seine beiden Hände an ihre Wangen, “ohne Valrads Einverständnis wird dir niemand von uns den Gürtel abnehmen. Also hör auf damit, die Leute zu schikanieren, in Ordnung? Zeig mir lieber deinen Sohn.”

“Er schläft.”

“Dann sollten wir wohl besser leise sein”, lächelte er, offensichtlich nicht willens, auf den Hinweis zu reagieren, dass nun keine gute Zeit war, um sich das Baby anzusehen.

Besiegt seufzte Eryn und drückte Malhora den Brief der Triarchie in die Hand. “Warum bereitest du nicht die Antwort darauf vor? So kannst du zumindest sicherstellen, dass der Ton passt. Ich werde ihn später unterzeichnen.”

Ram’an folgte ihr und betrat das Zimmer nach ihr. Sie traten an die Wiege und sahen hinab.

Sie wandte sich ihm zu, als sie sein bedauerndes Seufzen vernahm. “Was?”, fragte sie leise murmelnd.

“Er sieht aus wie Enric.”

“Warum klingst du deswegen traurig?”

“Weil, Theá, ich daran denken muss, dass er unser Sohn – deiner und meiner – gewesen wäre, hätten sich die Dinge nur ein wenig anders entwickelt.

Sie schluckte und versuchte, sich einen Schritt von ihm zu entfernen, doch sie spürte, wie er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie bei sich behielt.

“Nein, bitte. Ich wollte dir kein Unbehagen bereiten. Von nun an werde ich solche Gedanken für mich behalten.”

Nun fühlte sie sich schuldig. “Es tut mir leid, dass dich diese Situation noch immer belastet. Und ich will nicht, dass du deine Gedanken zurückhältst. Auch wenn ich nicht immer glücklich mit ihnen bin.”

Seite an Seite standen sie dort und sahen eine Weile schweigend auf das schlafende Kind hinab.

“Theá, Enric bat mich darum, mich um dich zu kümmern, für den Fall, dass er nicht zurückkehrt.”

Langsam drehte Eryn ihren Kopf und sah ihn an. “Hat er das? Darf ich fragen, was dich um mich kümmern beinhaltet?”, fragte sie kühl und spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Hatte Enric ihn etwa zum Nachfolger in ihrem Lebensbund oder etwas in der Art ernannt?

“Er ersuchte mich darum, seinen Sohn wie meinen eigenen aufzuziehen.”

Mit schmalen Augen starrte sie ihn an. “Und was hat er dir im Bezug auf mich aufgetragen? Dass du mich zu deiner Gefährtin machen sollst?”

“Er sprach die Worte nicht aus, doch ich denke, dass er das meinte, ja”, antwortete er vorsichtig.

Eryn drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer, alles andere als erbaut darüber, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte. Sie hörte, wie Ram’an die Tür leise schloss und ihr dann durch den Hauptraum in den Garten hinaus folgte.

“Warum erzählst du mir das?”, schnappte sie. “Hast du eine Nachricht erhalten, dass er nicht zurückkehren wird? Dass er…”

“Nein!”, unterbrach er sie rasch und nahm sie bei den Schultern. “Nichts dergleichen, das verspreche ich. Damit wollte ich dir nur sagen, dass du niemals allein sein wirst, selbst wenn das Schlimmste eintritt. Ich werde für dich da sein. Du wirkst nicht glücklich, Theá, oder nicht so glücklich, wie du sein solltest. Und natürlich verstehe ich, weshalb. Ich möchte dir zumindest eine Last von den Schultern nehmen.”

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. “Du solltest das nicht tun, Ram’an. Dem hättest du nicht zustimmen dürfen. Was ist, wenn er wer weiß wie lange dort feststeckt? Das könnte dich davon abhalten, das alles hinter dir zu lassen und eine Frau zu finden, mit der du glücklich werden könntest, anstatt auf mich zu warten. Wieder einmal. Es war nicht fair von ihm, dich um so etwas zu bitten.”

Sie spürte, wie sich Ram’ans Arme um sie legten und er sie an sich zog.

“Auch wenn er mich nicht darum gebeten hätte, hätte ich dich nicht dir selbst überlassen.”

Kopfschüttelnd sah Eryn zu ihm auf. “Du würdest mich zu deiner Gefährtin nehmen und meinen Sohn mit mir aufziehen, trotz der Tatsache, dass ich einen anderen Mann dir vorgezogen habe? Und dass ich womöglich nur aus Angst vor dem Alleinsein zustimmen würde?”

“Ja, das würde ich.” Dann lächelte er. “Und ich würde dich bald schon zu der Einsicht bekehren, dass ich ohnehin die bessere Wahl bin. Meine Fertigkeiten im Kochen sind Enrics weit überlegen, und auch mein Wein ist besser als seiner.”

Sie lachte, erleichtert, dass dank seines Scherzes die Anspannung fort war. “Es fällt mir schwer, nicht beleidigt zu sein, weil du denkst, ich ließe mich dermaßen einfach herumkriegen.”

“Man sagte mir, dass Selbstvertrauen immer nützlich ist, wenn man es mit einer Aren zu tun hat.” Dann entließ er sie aus seiner Umarmung und ergriff stattdessen ihre Hand, um sie mit sich zu einer niedrigen Steinbank zu ziehen. “Bezüglich deiner kleinen… Demonstration von Ärger vor zwei Tagen im Senat.”

“Ja?” Sie zog eine Grimasse und fragte sich erst jetzt, wie das wohl ihre Pläne für die Eröffnung eines Waisenhauses beeinträchtigten mochte. Der Senat war wohl eher nicht geneigt, sie dabei zu unterstützen, nachdem sie das Dach über ihnen zum Einsturz gebracht hatte.

“Es hat auf jeden Fall einen Eindruck hinterlassen. Golir kam auf mich zu und bat mich, dir bei der Erstellung eines detaillierten Vorschlags mit einer Kostenschätzung, rechtlichen Erwägungen und einem Zeitplan für dein Projekt behilflich zu sein. Er meinte, er hätte keinerlei Zweifel, dass die Idee mit der Steuererleichterung, die du erwähntest, von mir käme, also ging er davon aus, dass ich der ganzen Sache wohlwollend gegenüberstehe.”

Eryn ließ den Atem entweichen. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. “Was ist mit den anderen Senatoren?”

“Ein paar sind verärgert und vielleicht auch ein wenig eingeschüchtert, aber die meisten haben den Wunsch geäußert, dein Vorhaben zu unterstützen. Vielleicht aus Angst davor, dass andernfalls ihre Residenzen über ihnen zusammenfallen könnten”, fügte er trocken hinzu.

“Diese letzte Bemerkung würde ich dir sehr gerne übelnehmen, aber ich habe keine Ahnung, ob es ein Scherz war oder nicht.”

Ram’an schürzte die Lippen. “Sagen wir, es war eine Übertreibung, aber sicher nicht allzu weit hergeholt.”

“Dann wirst du wirklich mit mir daran arbeiten?” Gerührt ergriff sie seine Hand und drückte sie. “Immer wieder gibst du mir das Gefühl, dass ich dich gar nicht verdiene. Wie kann ich mich jemals revanchieren?”

Er lächelte. “Wir werden einen Weg finden. Zum Beispiel in Form von Unterstützung im Senat und Kooperation mit Arbil-Unternehmen bei der Errichtung und beim Betrieb des Waisenhauses.”

Eryn lachte. “Es ist gut zu sehen, dass du nicht in einem Ausmaß Selbstaufopferung betreibst, die an Dummheit grenzt. Können wir morgen damit beginnen? Ich bin immer noch recht erschöpft von der Geburt, und sitzen ist nicht besonders angenehm. Außer, du wärst bereit, mir bei dieser Kleinigkeit zu helfen…”

Er seufzte, stand auf und zog sie ebenfalls auf die Beine. “Nein, ich werde deinen Gürtel nicht entfernen.” Er lauschte für einen Augenblick, dann nickte er zur Terrassentür. “Ich denke, dein Sohn ist soeben erwacht und möchte gestillt werden. Geh schon!”

Sie ging hinein und sah, wie Malhora mit Vedric auf dem Arm auf sie zukam.

Eryn zog die Stirn in Falten, als sie sah, wie Ram’an auf den Sitzkissen Platz nahm. “Du willst bleiben? Ich meine, das ist eher…” Ihre Worte verklangen, nicht wissend, wie sie fortfahren sollte. Sie hatte es schon zuvor getan, während andere zugesehen hatten; erst gestern, als Orrin, Valrad, Junar und Vern im gleichen Zimmer gewesen waren. Aber ihre Brüste vor Ram’an zu entblößen schien irgendwie… falsch. Seltsam. Unangemessen.

“Schüchtern, Theá?”, grinste er und klopfte auf den Platz neben sich. “Ich versichere dir, dass dazu kein Anlass besteht. Eine Mutter beim Stillen ihres Kindes zu beobachten ist ein sehr ansprechendes Bild, doch kaum eines, das unangemessene Gefühle in einem Mann erweckt. Tatsächlich ist es sogar umgekehrt. Es erinnert uns daran, dass eure Brüste sich ursprünglich nicht zu unserem Vergnügen entwickelten, sondern zur Versorgung unseres Nachwuchses gedacht sind.”

Eryn biss sich auf die Lippe, noch immer unsicher, ob sie darauf bestehen sollte, dass er ging oder nicht. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass Enric etwas Ähnliches von sich gab, als er vor einigen Wochen Junar beim Stillen ihrer Tochter zugesehen hatte. Dennoch…

“Setz dich, Eryn”, befahl Malhora. “Er hat Recht. Mit der Zeit wirst du ruhige Orte zum Stillen deines Kindes schätzen lernen, wenn du unterwegs bist. Den Luxus vollkommener Ungestörtheit wirst du dabei nicht allzu oft haben.”

Mit einem tiefen Atemzug nahm sie Platz. “Also gut, dann tun wir es.” Vor den Augen ihres ehemaligen Verehrers, der ihr gerade erklärt hatte, er würde sie zu seiner Gefährtin machen, falls Enric nicht wiederkehrte.

Vern spazierte herein und lächelte, als er sie sah. Er nahm seinen Zeichenblock und Stift, dieser Tage stets einsatzbereit, zur Hand und ließ sich ihr gegenüber nieder.

“Hast du so eine Szene nicht gestern schon gemalt? Wie viele davon brauchst du denn?” Sie kniff die Augen zusammen. “Die wirst du doch wohl nicht verkaufen? Wenn ich irgendwo eingeladen bin und mich dann dort halbnackt an einer Wand wiederfinde, werde ich dir den Kopf abreißen.”

Vern lachte nur und fuhr mit dem Zeichnen fort, zuversichtlich in dem Wissen, dass er in den nächsten Wochen der stärkere Magier war, solange sie den Gürtel trug.

* * *

Enric stieg ab. Nur noch ein paar Schritte trennten ihn von den Wachen. Er ging auf sie zu, in seiner Hand die Nachricht an die Triarchie, mit der sie eingeladen wurden, einen Repräsentanten zu schicken, der Malriel beistand.

Da stand eine Person, eine Frau in ihren späten Dreißigern, gekleidet in etwas, das entweder ein kurzes Kleid oder eine lange Tunika war und das ihr bis zu den Knien reichte, mit hellbraunem Haar, das sie in ihrem Nacken zu einem Knoten gedreht trug.

“Wir grüßen euch”, ergriff sie als Erste das Wort. Sie zeigte ebenfalls die Tendenz, Worte weitgehend mit ihren Zähnen und der Zungenspitze zu formen. Beim Reden schien sie den Mund kaum zu öffnen. “Mein Name ist Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten.”

Sie sah Enric an, den sie offensichtlich als höherrangig identifiziert hatte.

“Und auch wir grüßen dich, Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten. Mein Name ist Lord Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden und Senator in Takhan. Das hier”, er zeigte auf den anderen Mann, “ist Lam Vran’el, Reig von Haus Vel’kim, Jurist und Senator in Takhan.”

“Seid beide willkommen”, erwiderte Lam Ceiga höflich. “Es gibt ein paar Formalitäten, die es zu erledigen gilt, bevor wir euch Zugang zu der Gefangenen Malriel, Holm von Haus Aren, Senatorin in Takhan gewähren können. Wir werden eure Pferde in den Stallungen unterbringen, und eure Habe wird zu eurer Unterkunft gebracht. Wenn ihr mir nun folgen wollt.”

Sie drehte sich um und ging davon, ohne auf irgendeine Zustimmung zu warten. Rasch griffen sie nach den Taschen, in denen sie Dokumente und Gold aufbewahrten, übergaben die Zügel zwei uniformierten Männern, die vorgetreten waren, und eilten dann der Frau hinterher, die sich kein einziges Mal umgedreht hatte um zu sehen, ob die Männer Schritt hielten.

“Das ist nicht gerade ein recht herzlicher Empfang”, flüsterte Vran’el.

“Nicht wirklich, aber in Anbetracht der Umstände hätte ich auch keinen besonderen Enthusiasmus erwartet.”

Sie nahmen die großen, ungewöhnlich gleichmäßigen Pflastersteine auf den Straßen in sich auf, die Häuser mit ihren steil geneigten Dächern und farbenfrohen Fassaden, die sich aus Holz und Verputz zusammensetzten. Vor einigen Fenstern waren Kisten angebracht, in denen Blumen wie in einem winzigen Garten wuchsen. Die farbenfrohen Blüten verstärkten die seltsam heitere Wirkung von bunter Nüchternheit.

Die Leute auf den Straßen jedoch waren weit davon entfernt, solch einen Überfluss an Farben in ihrer Kleidung zur Schau zu stellen. Deren Schattierungen reichten von gebrochenem Weiß zu Braun und hellem Grau zu Schwarz. Nur gelegentliche Schals oder kleine Verzierungen wie Gürtel oder Hüte in fröhlichen Tönen lockerten den Gesamteindruck auf.

Vran’els Aufmachung zog einige Blicke auf sich, einige neugierig, andere kühl und sogar feindselig. Enric selbst war froh über seine eigene Vorliebe für Schwarz.

Interessanterweise schienen Haarfarben und Hauttöne hier ein breites Spektrum abzudecken, das sowohl Enrics blasseres Hautbild und blondes Haar, als auch Vran’els gebräunte Haut und dunkles Haar miteinschloss.

Es gab rothaarige Leute mit Sommersprossen, schwarzhaarige sowohl mit heller als auch dunkler Haut, blondes und braunes Haar in allen möglichen Schattierungen.

Im Allgemeinen schienen hier sowohl Männer als auch Frauen eine Tendenz zum Tragen von Hüten, Kappen oder Schals zu zeigen.

Enric störte es nicht besonders hervorzustechen; das war nun schon seit einigen Monaten Teil seines Alltags. Nach Vran’els angespannter Haltung und verkrampftem Kiefer zu urteilen, war er es allerdings nicht gewohnt, andersartig zu erscheinen.

Nach kaum mehr als ein paar Minuten hielt ihre Führerin vor einem hohen Haus mit mindestens vier Stockwerken. Ein breites steinernes Schild war an der Wand neben der ausladenden Eingangstür angebracht.

Enric betrachtete die Buchstaben, die nur teilweise vertraut erschienen. Er konnte ihre Bedeutung nicht entziffern. Dies mochte ebenso gut ein freundlich wirkendes Gefängnis als auch ein eher trist wirkendes Gästehaus sein. Alles war möglich.

“Hier werden wir eure Daten zwecks Registrierung und Archivierung aufnehmen. Hernach werde ich euch zu eurer Unterkunft geleiten. Sie ist nicht weit von hier, nur ein paar Minuten in Richtung des Stadtzentrums”, erklärte sie, ohne auch nur einen Anflug einer Emotion zu zeigen.

“Wann ist es uns möglich, Malriel, Holm von Haus Aren, Senatorin in Takhan zu besuchen?”, erkundigte sich Enric höflich.

“Sobald eure Pässe ausgestellt wurden. Das wird geschehen, sobald eure Informationen bezüglich Vollständigkeit überprüft und von den zuständigen Beamten genehmigt wurden.”

“Wie lange dauert das in der Regel?”

“Es kann bis zu einer Woche dauern, doch uns ist klar, dass in eurem Fall eine besonders rasche Durchführung angeraten ist”, gestand Lam Ceiga großzügig zu, bevor sie das Gebäude betrat, ohne vorher irgendeinen Hinweis dahingehend anzubieten, wie lange solch eine besonders rasche Handhabung dauern würde.

Enric wechselte einen unbehaglichen Blick mit Vran’el, dann folgte er der Frau durch die Doppeltür.

 

Kapitel 3

Besuch bei Malriel

Eryns Grinsen wuchs in die Breite, als Kilan den Aren Hauptraum betrat. “Ich traue meinen Augen kaum! Sieh an, wer es schließlich doch noch geschafft hat, mich nach all der Zeit zu besuchen! Und alles, was nötig war, um dich zu mir zu locken, war ein Baby zu bekommen!”

Er schmunzelte. “Ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich dich besuchte. Es endete damit, dass ich mich um deine Korrespondenz kümmern musste. Mir hat schlicht vor dem gegraut, was du mir sonst noch aufbürden könntest. Somit hielt ich es für weise, einen Sicherheitsabstand zu dir zu wahren.”

“Feigling”, lachte sie und massierte weiterhin Vedrics Bauch.

“Was machst du da?”

“Seinen Bauch zu reiben ist eine gute Stimulation für seine inneren Organe und soll ihm bei der Verdauung seiner Mahlzeiten helfen”, erklärte sie. “Übrigens trafen heute Morgen einige Kuriervögel aus Anyueel mit Gratulationen ein. Darunter auch vom König. Er schrieb etwas darüber, dass ich bei der Formulierung meiner Ablehnung etwas respektvoller vorgehen soll. Ich schätze, du solltest dich besser für das entschuldigen, von dem er denkt, ich hätte es beim letzten Mal geschrieben. Sieh bloß zu, dass du mir keinen Ärger einhandelst, hörst du?”

Kilan atmete aus und schloss die Augen. “Eryn, ich habe ihm nichts dergleichen in deinem Namen geschrieben. Zu keiner Zeit.”

Sie fluchte. “Das bedeutet, er hat herausgefunden, dass ich nicht diejenige bin, die diese verdammten Nachrichten schreibt.” Sie warf Kilan einen missbilligenden Blick zu. “Das bedeutet dann wohl, dass du viel zu freundlich, höflich und entgegenkommend warst. Womöglich hatte er keine andere Wahl, als entweder die Herkunft der Nachrichten oder meine Geistesverfassung anzuzweifeln.”

“Gut für dich, dass er sich für Ersteres entschieden hat, eh? Jetzt gib mir das Kind, ja? Ich muss sehen, wem er ähnlich sieht.” Er nahm Platz und ließ sich von Eryn sanft das Baby in die Arme legen. “Das ist Enrics Gesicht, daran lässt sich nicht rütteln. Sollten jemals Zweifel daran bestehen, wer seine Eltern sind, wird er wahrscheinlich nach seiner Mutter suchen. Wer sein Vater ist, steht bei dieser Ähnlichkeit außer Frage.”

“Sehr nett”, knurrte Eryn. “Genau das will eine Frau hören, nachdem sie ein menschliches Wesen aus sich herausgepresst hat: wie wenig ähnlich ihr das Kind sieht.”

“Seine Haarfarbe ist die gleiche wie deine, also sind da auch Spuren von dir vorhanden”, räumte er großmütig ein.

“Weißt du was? Ich beginne mich zu fragen, warum ich betrübt darüber war, dass ich dich nicht öfter sehe. Ich habe versäumt, es als den Segen zu betrachten, der es eigentlich ist”, schnaubte sie.

Er grinste und untersuchte eine winzige Hand. “Stets zu Diensten.”

* * *

Enric sah aus dem Fenster in Vran’els Zimmer und beobachtete die Pferdewägen auf der überfüllten Straße und die Menschen, die sich scheinbar ohne jegliche Sorge um ihre eigene Sicherheit zwischen den Gefährten hindurchdrängten.

Die Zimmer, die ihnen vor zwei Tagen kurz nach ihrer Ankunft zugewiesen worden waren, reichten nicht einmal annähernd an die Unterkünfte heran, die man ihm in Takhan bei seiner ersten Reise als Botschafter zur Verfügung stellte. Und zuhause in Anyueel hätte man niemals gewagt, Gäste mit dermaßen bescheidenen Quartiere zu beleidigen. Es war womöglich ein alles andere als subtiler Hinweis darauf, dass sie hier nicht gerade willkommen waren. Oder aber es spiegelte eine Kultur wider, die an einen etwas genügsameren Lebensstil gewohnt war.

Aber zumindest war die Unterkunft sauber und warm, wenn auch nicht besonders bequem. Oder geräumig. Oder hell.

Die letzten beiden Tage hatten sie mehr oder weniger wartend verbracht. Mit dem Warten darauf, dass ihre Dokumente und Informationen genehmigt, an eine Person weiter oben auf der Leiter der Macht zur weiteren Genehmigung übergeben und dann erneut weitergereicht wurden. Lam Ceiga hatte sie angewiesen, im Haus zu bleiben und nicht durch die Stadt zu wandern, da die Papiere, die ihnen diese Erlaubnis gewährten, noch nicht ausgestellt waren. Aber heute waren ihnen die Pässe zugestellt worden, die das Ende ihres rastlosen Hausarrests bedeuteten.

Enric wandte sich vom Fenster ab und sah Vran’el zu, der damit beschäftigt war, all die unterschiedlichen Papiere zusammenzusuchen, die sie benötigen würden, um Zutritt zu dem Gefängnis zu erhalten, in dem Malriel weilte. Dort würden sie sie nun zum ersten Mal sehen.

Sie mussten eine Anzahl an unterschiedlichen Formularen für weiß welchen Zweck ausfüllen und erhielten einen Tag darauf eine Notiz, die auf Verlangen vorgezeigt werden musste. Darauf waren Identität, Zweck der Anwesenheit in der Stadt, die Erlaubnis für den Aufenthalt in der Stadt und die Bereiche vermerkt, in denen es ihnen gestattet war, sich zu bewegen.

Vran’el war von der Menge an Papierkram genervt und hatte dieses ermüdende und seiner Ansicht nach lächerliche Maß an Bürokratie wiederholt verflucht. Doch Enric hatte die Formulare studiert und bewunderte den Grad an Organisation.

Zumindest, bis er bemerkte, dass er die gleiche Information in vier verschiedene Formulare eintrug. Das war nicht organisiert, sondern einfach nur überflüssig und eine Zeitverschwendung. Andererseits war es nicht so, als hätten sie außer zu warten sonst noch etwas zu tun.

Dann endlich, nach zwei Tagen des Herumschiebens von Papier und Wartens, wurde ihnen die Erlaubnis erteilt, Malriel zu besuchen und mit ihr zu reden.

Sobald Vran’el alle nötigen Papiere beisammen hatte, richtete er sich auf.

“In Ordnung – ich bin soweit. Lass uns gehen und Malriel in ihrem Gefängnis besuchen. Ich muss zusehen, dass ich mir jedes Detail einpräge. Es wird Eryn aufheitern, wenn ich ihr davon erzähle”, meinte der Jurist und lächelte. “Ich frage mich, ob wir sie mit dem Titel ansprechen sollen, den Eryn für sie verwendet? Königin der Dunkelheit klingt immerhin recht eindrucksvoll. Vielleicht findet man hier Gefallen daran?”

Enric verdrehte die Augen. “Ich hätte von Anfang an erkennen müssen, dass ihr beiden unmöglich nur Cousins sein könnt. Der gleiche verstörende Sinn für Humor, der so viel tiefer reicht als das, was bloße Erziehung verschulden könnte. Komm. Es wird Zeit, mit unserer Arbeit zu beginnen.”

* * *

Intrea grinste, als Eryn ihr das Baby in die Arme legte. “Sieh dir das an! Er sieht aus wie sein Vater!”

Eryn rollte mit den Augen. “Ja, vielen Dank für diese Anmerkung.”

Die andere Frau ignorierte sie und bedeutete ihrer Tochter näherzukommen. “Obal, ich darf dir deinen Cousin Vedric von Haus Vel’kim vorstellen.”

Das Mädchen kam näher, allerdings vorsichtig, als würde es irgendeine widerliche Attacke befürchten.

“Er beißt nicht, weißt du”, meinte Eryn sanft und fügte hinzu, “Noch nicht.”

Obal warf ihr einen dieser genervten Blicke zu, die ein fünfjähriges Mädchen noch nicht perfektioniert haben sollte, und inspizierte das Kind in den Armen ihrer Mutter eingehend.

“Er ist sehr klein. Mein anderer Cousin war größer”, bemerkte sie sachlich.

“Ja, er wurde um einiges zu früh geboren”, nickte Eryn.

Daraufhin wurde sie mit einem weiteren vernichtenden Blick bedacht.

“Es ist nicht so, als hätte ich das mit Absicht getan”, verteidigte sich Eryn und fragte sie, warum ihr dieses Kind dermaßen an die Nieren ging.

Obal erwiderte nichts darauf und starrte den Jungen noch eine weitere Minute lang an.

“Er macht überhaupt nichts. Langweilig. Wo ist Urban?”

“Im Garten”, informierte Eryn sie rasch, froh über die Aussicht, das Mädchen für eine Weile loszuwerden.

Intrea lächelte wissend. “Sie hat diese Wirkung auf Leute. Ich hoffe, dass sie diese generelle Geringschätzung für ihre Umwelt irgendwann hinter sich lassen wird. Bei den anderen Kindern ihres Alters macht sie sich damit nicht besonders beliebt. Und ebenso wenig bei den Erwachsenen. Mein Vater meint, ich wäre als Kind genauso gewesen, also gibt es noch immer Hoffnung. Das kleine Paket auf dem Tisch ist übrigens für dich. Es ist ein Badeöl, das seine Haut vor der trockenen Hitze schützt. Du kannst es auch verwenden, wenn du auf deiner Haut irgendwelche trockenen Stellen hast.”

Eryn bedankte sich und öffnete die Verpackung aus dünnem Stoff, bevor sie den Korken aus der Glasflasche zog und daran schnupperte. Die klare, gelbe Flüssigkeit roch nach irgendwelchen Blumen und Gewürzen.

Intrea lehnte sich vor um nachzusehen, wohin ihre Tochter entschwunden war und sah dann die frischgebackene Mutter an.

“Wie geht es dir, meine Liebe? Es tut mir leid, dass du die Geburt ohne Enric durchstehen musstest. Aber deine Freundin Junar war bei dir, wie ich hörte. Ich schätze, da sie selbst erst vor wenigen Monaten ein Kind zur Welt brachte, war sie dir eine große Hilfe.”

Eryn zwang sich zu einem Lächeln. “Mir geht es gut. Und ja, Junar war großartig. Obwohl ihre Hand hinterher geheilt werden musste. Es scheint, als hätte ich auch ohne Magie einen recht beachtlichen Griff.”

Intrea lachte. “Ich muss sagen, dass es jedenfalls von Nerven aus Stahl zeugt, einer Aren freiwillig bei einer Geburt beizustehen.” Sie wurde wieder ernst und sah auf das Baby in ihrem Arm hinab. “Ich bin sicher, dass es keinen Grund gibt, sich um die beiden zu sorgen, weißt du”, meinte sie leise. “Vran mag sorglos, immer zu Scherzen aufgelegt und leichtlebig wirken, doch er ist ein sehr guter Jurist. Seine scheinbar mühelose Wandlung hin zu seinem professionellen Selbst fand ich schon immer befremdlich, als wäre er eine gänzlich andere Person. Plötzlich ist er so ernst, fordernd und analytisch. Und Enric ist so eindrucksvoll, sowohl in seiner Erscheinung als auch in Bezug auf seinen Verstand. Wie könnten diese beiden nicht erfolgreich sein?”

Eryn antwortete nicht darauf, sondern fragte sich nur im Stillen, weshalb Intrea so besorgt klang, wenn es doch so wenig Grund dafür gab.

“Allerdings muss ich dir sagen, dass Neval recht beunruhigt ist”, fuhr sie mit einem Lächeln fort. “Er sagte mir, er sei keineswegs glücklich darüber, dass sein Liebhaber so lange Zeit mit einem Mann wie Enric allein verbringt. Offensichtlich befürchtet er, Vran könnte eine Vorliebe für den blonden, exotischen Typ entwickeln, wenn man kein Auge auf ihn hat.”

Die beiden Frauen sahen einander einen Moment lang an, dann begannen sie zu kichern, froh darüber, dass Obal zu weit weg war, um ihre Augen auf diese abschätzige Weise zu verdrehen, die so typisch für sie war.

* * *

Die beiden Männer folgten der breiten Straße, die sie von ihren Fenstern aus überblicken konnten, sorgsam darauf bedacht, Zusammenstöße mit sich bewegenden Pferdewägen zu vermeiden.

“Ich fühle mich in meiner Aufmachung hier etwas fehl am Platz”, murmelte Vran’el und ließ seinen Blick über die einfärbigen, schnörkellosen Kleidungsstücke der Leute um sie herum wandern.

“Ich hoffe, dass wir nicht lange genug hier sind, damit sich der Besuch eines Schneiders für uns lohnt”, bemerkte Enric und sah sich um. “Siehst du, wie sauber hier alles ist?”

Der Jurist nickte. “Das ist mir aufgefallen, ja. Ich frage mich, wie oft die Straßen hier gekehrt werden. Wahrscheinlich jede Nacht.”

Enric beobachtete die Menschen, die an ihnen vorbeigingen und staunte einmal mehr darüber, dass weder sein eigenes helles, noch Vran’els dunkles Haar hier einzigartig waren. Weder sein derzeitiger Hautton, der aufgrund der allgegenwärtigen Sonne in den Westlichen Territorien dunkler war als sonst, noch sein üblicher blasser Teint fielen hier auf.

Er dachte an Orrins Tochter und deren braunes Haar. Würde Anyueel in ein paar Jahrzehnten so ähnlich aussehen, sobald die Rückkehr der Magie bei Frauen zu mehr Abwechslung im Erscheinungsbild der Leute führte?

“Wie lautete der Name dieser anmutslosen Frau doch gleich noch einmal?”, fragte Vran’el.

Enric zog sein kleines Notizbuch aus einer Innentasche und öffnete die erste Seite. “Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, las er vor.

Sie würden die Frau gleich vor dem Gefängnis treffen, das laut der Erklärung, die man ihnen gegeben hatte, am Ende dieser Straße lag. Es konnte freilich nicht schaden, wenn sie es möglichst vermieden, die einzige Person, der sie bislang offiziell vorgestellt worden waren, mit einer gedankenlosen Anrede zu verärgern.

Ihr Weg führte sie an Geschäften mit großflächigen Schaufenstern vorbei, in denen Waren präsentiert wurden. Die Schilder der Geschäfte konnten sie nicht verstehen, doch wenn man die ausgestellten Güter betrachtete, musste es sich um unterschiedliche Arten von Handwerksleuten handeln. Schneider, Schmuckhändler, Glashersteller, Töpfer, Papierhersteller und so fort.

Enric hielt vor einem Fenster und starrte auf das kleine Spielzeug hinab, das irgendeinem vierbeinigen Tier nachempfunden war und sich aus eigenem Antrieb fortzubewegen schien.

“Wie ist das möglich?”, murmelte er, während er die ruckartigen Bewegungen des bunt bemalten Holzgegenstandes beobachtete.

“Magie?”, schlug Vran’el gleichermaßen fasziniert vor.

“Das bezweifle ich doch sehr, wenn die Informationen darüber, wie gering Magie hier geachtet wird, zutreffen.” Er fragte sich, ob die Möglichkeit bestand, dieses Stück zu erwerben. Würden sie ihm, dem Ausländer aus einem Land, mit dem man vielleicht bald im Krieg lag, etwas verkaufen? Würde man seine Goldstreifen hier überhaupt annehmen?

Ein Mann trat durch die Tür des Geschäfts nach draußen und brachte damit eine kleine Glocke über ihm zum Klingeln, als die Tür daran streifte. In seinem Gesicht prangte ein enormer, gekrümmter Schnurrbart, dessen helles Braun von gelegentlichem Grau durchsetzt war, genau wie seine Schläfen. Um seine recht imposante Leibesmitte trug er eine Schürze mit zwei großen Taschen, und die aufgerollten Ärmel seines Hemds entblößten stämmige, haarige Unterarme.

Ein unverständlicher Strom der einheimischen Sprache mit ihren vielen Zischlauten wurde auf sie losgelassen. Es klang nicht unfreundlich, doch bei dieser Sprache und den betont ausdruckslosen Mienen, die die Leute hier in der Öffentlichkeit aufsetzten, ließ sich das schwer einschätzen.

“Ich fürchte, wir verstehen dich nicht”, sagte Enric langsam.

Der Mann schürzte die Lippen und kniff die Augen zusammen, eindeutig unsicher, wie er mit ihnen verfahren sollte.

Enric wartete geduldig und hegte die Hoffnung, dass ihre unmittelbare Zukunft nicht davon geprägt war, dass der Mann sie davonjagte, sondern sie stattdessen in sein Geschäft einlud.

“Kommt”, forderte er sie schließlich auf, als würde er ihnen ein Privileg gewähren, und führte sie hinein.

Enric fügte sich mit Freude, neugierig darauf, mehr zu sehen. Vran’el war weniger angetan davon, einem Fremden, der nicht allzu enthusiastisch auf ihre Anwesenheit reagiert hatte, in ein Gebäude zu folgen.

Der Mann nahm ein weiteres Spielzeug von der gleichen Machart, das jedoch einem anderen Tier nachempfunden war, von einem Regal und drehte mit einem seltsamen metallischen Schnurren ein kleines Rad, das aus dem hinteren Teil herausragte. Als er das Rädchen losließ und das Spielzeug auf seinem hölzernen Tresen abstellte, begann es sich mit den gleichen abgehackten Bewegungen wie sein Gegenpart im Schaufenster zu bewegen.

Enric betrachtete die fremdartige Vorrichtung wie gebannt. Er verspürte das Verlangen, sie aufzuheben, herumzudrehen und ihre Geheimnisse aufzudecken.

“Wie viel?”

Der Mann deutete auf eine kleine Schiefertafel auf dem Regal, die offenbar den Preis anzeigte. Enric konnte sie nicht lesen und hob fragend eine Braue.

Seufzend hob der Mann drei Finger.

“Hilf mir, Vran”, murmelte Enric. “Wie viele eurer Goldstreifen ergeben eine Einheit der lokalen Währung hier?”

“Etwa zweieinhalb.”

Das bedeutete ungefähr siebeneinhalb Goldstreifen oder beinahe vier Goldstücke aus Anyueel. Das erschien ihm recht kostspielig. Andererseits hatte er keine Ahnung, wie teuer oder aufwändig die Herstellung dieses Spielzeugs war. Er zog in Betracht, einen niedrigeren Preis auszuhandeln, entschied sich dann aber dagegen. Das mochte ihnen mehr schaden als nutzen. Stattdessen griff er in seinen Beutel und zog acht Goldstreifen hervor, die er dem Mann zeigte.

Das löste nicht die Reaktion aus, auf die er gehofft hatte. Mit einem verächtlichen Blick, als würde er etwas ungemein Ekelerregendes betrachten, begann der Ladenbesitzer mit seinen Händen zu wedeln, womit er ihnen signalisierte, dass sie sich entfernen sollten.

Wieder draußen auf der Straße, schüttelte Vran’el verwundert den Kopf. “Meine Güte, das war aber eine recht heftige Reaktion.”

“Soweit ich das gesehen habe, ist man hier sehr auf Regeln bedacht. Nach allem, was wir wissen, könnte es ihm Ärger einbringen, wenn er Geld annimmt, das nicht zugelassen ist. Wir sollten herausfinden, wie wir unser Geld in die hiesige Währung umtauschen können”, sinnierte Enric.

Sie setzten ihren Weg fort in Richtung des mächtigen, grauen Gebäudes am Ende der Straße, das sehr wahrscheinlich ihr Ziel war.

“Du hast noch nicht einmal versucht zu feilschen”, meinte Vran’el mit einem missbilligenden Kopfschütteln.

“Das liegt daran, dass wir nicht wissen, wie man hier auf so etwas reagieren würde. Wenn du den veranschlagten Preis nicht bezahlen willst, solltest du nach Ansicht meiner eigenen Landsleute besser den Leuten aus dem Weg gehen, die dazu bereit sind”, erklärte Enric. “Mich daran anzupassen war zu Beginn eine beträchtliche Herausforderung für mich. Ich kann hier gewisse Parallelen zu meinem Land erkennen. Nun, bis zu einem gewissen Grad. Wir mögen unsere Listen und Berichte ebenfalls recht gern, doch hier hat man das offensichtlich zu einer Kunstform erhoben. Auch, was das Essen betrifft. Es ist weniger stark gewürzt, besteht aber aus mehr Fleisch und Gemüsesorten, die einen für längere Zeit sättigen und warm halten.”

“Also gut, kein Feilschen hier”, seufzte Vran’el.

“Genau. Es ist besser, wenn man uns für ein wenig naiv und leicht auszutricksen hält als dass wir gierig und verschlagen erscheinen. Das verleitet die Leute dazu, uns zu unterschätzen.”

Mittlerweile waren sie nahe genug, um eine vertraute Gestalt zu erkennen. Der Knoten im Nacken war der gleiche, ebenso wie auch der Stil ihrer Aufmachung.

“Grüße, Lord Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden und Senator in Takhan, und Lam Vran’el, Reig von Haus Vel’kim, Jurist und Senator in Takhan”, sprach sie und ließ dabei den Buchstaben S wie ein Zischen und jedes T wie einen rasanten Hammerschlag klingen.

“Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, rezitierten Enric und Vran’el gemeinsam und wechselten einen erleichterten Blick, als die Frau zufrieden nickte und sich dann umdrehte um vorauszugehen. Es war, als wären sie vor einer besonders strengen Lehrerin zum Appell angetreten.

Ihr Weg führte sie durch hohe Korridore mit einer Anzahl an großen, halbkreisförmigen Fenstern, die einen Blick über die Straße gewährten, von der sie gerade gekommen waren.

Sie näherten sich einer Doppeltür, die von vier Männern in dunkelgrauen Uniformen bewacht wurde.

Mit einem Nicken nahmen sie wortlos den Ausweis der Frau entgegen, lasen ihn gewissenhaft durch und reichten ihn wieder zurück. Dann hielten sie den beiden Männern in ihrer Begleitung die Hände entgegen.

Vran’el übergab ihre Dokumente, die daraufhin eingehend geprüft, gegen das Licht gehalten und schließlich nach mehreren Minuten wieder freigegeben wurden. Die Wachen waren in der Tat gründlich.

Man winkte sie durch die Tür, und sie setzten ihren Weg fort, nur um nach kaum einer Minute wieder aufgehalten zu werden. Vier weitere Wachen, die gleiche Vorgangsweise.

Im Weitergehen unterdrückte Enric ein Seufzen. Vor sich erblickte er noch eine Tür mit vier Männern in Dunkelgrau. Er fragte sich, wie viele Türen dieser Art sie noch zu passieren hatten und ob sie Malriel wohl noch vor dem Sonnenuntergang in ein paar Stunden zu Gesicht bekommen würden. Vran’els Miene verriet ihm, dass er ebenso wenig angetan war von dem Ausmaß an Sicherheit, das man hier für erforderlich hielt.

Nachdem man sie schließlich durch die vierte entsprechende Tür treten hatte lassen, wurden sie in einen weiteren Gang geführt, von dem vier wesentlich kleinere Türen ausgingen. Die wirkten massiv und hatten kleine, vergitterte Fenster in Augenhöhe. Es schien sich dabei um die Gefängniszellen zu handeln. Verglichen mit den Kerkern und Gefängnissen in Anyueel wirkte die Umgebung hier wesentlich freundlicher, heller und sauberer.

Eine der Wachen ging an ihnen vorbei, um eine der Türen aufzusperren und nickte daraufhin Lam Ceiga zu, die wiederum den zwei Besuchern bedeutete, sie sollten vorangehen.

Enric betrat etwas, das nach einem kleinen, jedoch sehr ordentlich und keineswegs spärlich eingerichteten Zimmer aussah. Eine Ecke war für persönliche Hygiene gedacht, dann gab es ein Bett mit zwei Decken und zwei Kissen darauf, einen großen Ohrensessel und einen kleinen Tisch mit vier hölzernen Stühlen.

“Enric!”, rief eine vertraute weibliche Stimme überrascht aus. Einen Moment später fand er sich in einer ungestümen Umarmung, noch bevor er Gelegenheit hatte, einen näheren Blick auf Malriel zu werfen. “Ich kann dir nicht sagen, wie immens gut es tut, dich zu sehen! Sie sagten mir, dass jemand eingetroffen wäre, teilten mir aber keine Namen mit.”

Es musste eine volle Minute vergangen sein, in der sie sich an Enric klammerte, bevor sie ihn wieder freigab und dann Vran’el an sich zog, um seine Wangen zu küssen.

“Vran, mein Lieber”, lachte sie, und Enric sah, wie ihre Augenwinkel einen Hauch von Feuchtigkeit zeigten, “mit euch beiden auf meiner Seite weiß ich, dass dieser Fehler bald aufgeklärt sein wird.”

“Ich werde euch nun vorerst allein lassen. Klopft an die Tür, wenn ihr aufzubrechen wünscht”, verkündete Lam Ceiga vom Türrahmen aus, wo sie stehengeblieben war und das herzliche Willkommen ausdruckslos beobachtete.

Enric nickte. “Ich danke dir, Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten.”

Dann ließ er seinen Blick an Malriel hinauf und hinunter wandern, nahm ihr Erscheinungsbild und generell ihren Zustand in sich auf. Sie hatte sich an den hiesigen Kleidungsstil angepasst, und das Fehlen von kräftigen Farben fand er besonders deprimierend, ebenso wie ihr Haar, das sie nicht länger in dunklen, welligen Kaskaden ihren Rücken hinabhängen ließ, sondern zu einem Knoten gebunden hatte. Sie wirkte weder abgezehrt noch ausgelaugt, dennoch vermisste er ein gewisses Strahlen an ihr. Das war nicht ganz unerwartet, wenn man bedachte, dass sie hier im Gefängnis festsaß. Sie wirkte gesund, wenn auch nach den Monaten ohne Wüstensonne etwas blasser als gewohnt.

Sie ergriff die Hände beider Männer und zog sie mit sich zu dem kleinen Tisch, damit sie sich hinsetzen konnten. Sie unterbrach den Kontakt auch nicht, nachdem sie sich so bequem niedergelassen hatten, wie es die harten Holzstühle erlaubten.

“Bevor wir in diese ganze Misere hier eintauchen, möchte ich wissen, wie es meiner Tochter geht”, verlangte sie.

“Es fiel ihr recht schwer, Valrad als ihren Vater zu akzeptieren, doch nach einer Weile hat sie es fertiggebracht. In der Zwischenzeit hat sie ihr Abzeichen erlangt und ist nun eine voll ausgebildete und anerkannte Heilerin”, erklärte Enric in so wenigen Sätzen, wie er es vermochte. Es ließ sich nicht sagen, wie viel Zeit man ihnen hier drin zugestehen würde.

“Was ist mit ihrer Schwangerschaft, verläuft soweit alles gut?”

“Unser Sohn kam gestern zur Welt.”

Malriel blinzelte, dann schüttelte sie den Kopf. “Aber… das ist zu früh!” Sie hielt kurz inne, offensichtlich, um kurz im Kopf nachzurechnen. “Es hätte erst in sechs oder sieben Wochen soweit sein sollen!”

Enric drückte ihre Hand. “Ja. Aber soweit ich das sagen kann, scheint alles in Ordnung zu sein.”

Einen Augenblick lang sah Malriel ihn mit gerunzelter Stirn an, dann wurden ihre Augen groß. “Das Geistesband! Sag mir nicht, dass du das Kommitmentband intakt gelassen hast, obwohl du Maltheá für so lange Zeit allein lässt?” Aufgebracht stand sie auf und starrte wütend auf ihn hinab. “Wie konntest du sie dem aussetzen? Sie wird unter deiner Abwesenheit wesentlich stärker leiden, als es nötig wäre, und jetzt muss sie sich auch noch um ein Kind kümmern! Solch eine Rücksichtslosigkeit hätte ich nicht von dir erwartet!”

“Beruhige dich, Malriel. Ich habe nur meine Seite des Bandes intakt gelassen. Eryns Band wurde entfernt.”

Malriel atmete erleichtert aus und sank wieder auf ihren Stuhl. “Oh, ich verstehe. Verzeih mir. Ich hätte wissen sollen, dass du sie keiner unnötigen Qual aussetzen würdest. Allerdings scheint es, als würdest du dir selbst nicht die gleiche Rücksichtnahme angedeihen lassen.” Sie schnappte nach Luft, als ihr ein Gedanke kam. “Bedeutet das etwa, dass du den Schmerz der Geburt miterlebt hast?”

“Ja, das habe ich”, bestätigte er gelassen, während die Erinnerung daran ihn innerlich erschaudern ließ.

“Somit hast du also deine schwangere Gefährtin zurückgelassen, um herzukommen und mir aus meinen Schwierigkeiten herauszuhelfen, weshalb du nun auch noch die Geburt deines Sohnes versäumt hast”, seufzte sie und schloss einen Moment lang die Augen. “Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals vergelten kann, Enric.” Dann kam ihr noch ein Gedanke. “Wem untersteht Haus Aren derzeit?”

“Eryn ist momentan das Oberhaupt von Haus Aren.”

Malriel sog den Atem ein und wirkte besorgt. “Maltheá trägt die Verantwortung für Haus Aren?”

“Damit wird sie bestimmt fertig. Malhora ist bei ihr und wird ihr bei der Erfüllung dieser Pflicht unter die Arme greifen.”

Erleichtert ließ sie die Anspannung von sich abfallen. “Meine Mutter ist in der Stadt?”

“Ja, Malhora ist in Takhan. Allerdings weigerte sie sich, das Haus in meiner Abwesenheit zu übernehmen und zieht es vor, eine beratende anstatt einer aktiven Rolle auszuüben.”

“Ich war nicht sicher, ob sie kommen würde”, murmelte Malriel. “Es ist die Pflicht einer Mutter, ihrer Tochter beizustehen, wenn sie ihre Kinder bekommt, und nachdem sie einander unter solch ungünstigen Umständen kennenlernten, wusste ich nicht, ob meine Mutter für mich einspringen würde.” Sie atmete zittrig aus. “Ich bin so erleichtert. Und dankbar. Euch allen.”

Interessiert betrachtete Enric seine Adoptivmutter. Das war nicht die starke, unbesiegbare, gnadenlose Malriel, sondern eine Frau, die einige Zeit allein in einem fremden Land verbracht und in ihrer Einsamkeit begonnen hatte, gütige Taten zu schätzen. Ihre Hände lagen noch immer auf seiner eigenen und Vran’els, um den Körperkontakt mit Menschen aufrechtzuhalten, die sie kannte und mit denen sie vertraut war. Die ersten Menschen, die sie nach längerer Zeit traf, bei denen sie sich nicht darum zu sorgen brauchte, was ihre Absichten waren, sondern denen sie bedingungslos vertrauen konnte.

“Vran, wie ergeht es Valrad? Hatte er es sehr schwer damit, Maltheá dazu zu bewegen, dass sie ihn als ihren Vater annimmt?”

Lächelnd nickte er. “Ja, durchaus. Mit dem starrköpfigen Trotz einer wahren Aren ist sie jedem seiner Versuche mit Widerstand begegnet und hat ihn dazu gezwungen, all seinen Einfallsreichtum und seine Geduld aufzuwenden, derer er fähig ist.” Er drückte ihre Hand. “Doch er war unnachgiebig, und sie hatte niemals wirklich eine realistische Chance gegen ihn. Nicht solange sie als Heilerin an einem Ort arbeiten wollte, den die Leute noch immer als seine Klinik betrachten.”

“Und deine eigene Tochter, wie geht es der kleinen Obal?”

“Sie wächst wie Unkraut und hat, wie so viele Kinder, einen unbeirrbaren Instinkt dafür, genau das falsche Wort auszuwählen, um es dann in Situationen zu wiederholen, die ihren armen Eltern ein möglichst großes Maß an Peinlichkeit bescheren.”

Enric lächelte, als Malriel lachte. Es klang ein wenig eingerostet, als hätte sie es schon seit einer Weile nicht mehr benutzt.

Liebend gerne hätte er sie noch weiter aufgeheitert, doch das konnte er sich nicht leisten. Sie wussten nicht, wie lange man ihnen zu bleiben gestattete oder wann man ihnen einen weiteren Besuch ermöglichte.

Er griff in sein Hemd und zog sein Notizbuch hervor. “Malriel, wir müssen dich hier rasch herausholen. Also gehen wir nun besser durch, was genau bisher vorgefallen ist.”

“Ich weiß. Und ich danke euch, dass ihr mir für eine kurze Weile Nachsicht gezeigt habt. Das hat Wunder für meine Seele bewirkt, soviel dürft ihr mir glauben.” Sie straffte ihre Schultern und ließ die Hände der beiden Männer los, bevor sie mit ihrem Bericht begann.

* * *

Eine halbe Stunde später spitzte Vran’el die Lippen und sah auf das kleine Buch hinab, das er Enric vor einer Weile weggenommen hatte, um darin seine eigenen Notizen und Anmerkungen für später festzuhalten.

“Gut, Malriel – nun lass mich das in meinen eigenen Worten wiederholen, damit wir sehen, ob ich alles richtig verstanden habe.” Er räusperte sich. “In Ordnung. Kurz nachdem du es geschafft hast, dass sie mit Gesprächen über vorteilhaftere Handelsvereinbarungen im Austausch für eine Verzichtserklärung für einen Großteil der Schürfrechte beginnen, hast du auf einem dieser gesellschaftlichen Anlässe, zu dem du eingeladen warst, einen jungen Mann kennengelernt. Im Laufe der darauffolgenden zwei Wochen bist du mehrmals mit ihm zusammengetroffen, scheinbar zufällig. Zum Beispiel, als du in ein Restaurant gingst, um dort zu essen, bei anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen oder sogar, als du einfach nur durch die Straßen spaziertest. Habe ich das soweit korrekt wiedergegeben?”

“Ja”, bestätigte sie und wartete darauf, dass er fortfuhr.

“Sein Name ist…” Vran’el blätterte eine Seite um und überflog sie, bevor er fortsetzte, “…Geloin Urnen, Legen der Nords, Aspirant dritter Ebene des Inneren Zirkels. Geloin ist der niedrigere der beiden religiösen Titel, die es hier gibt, und der Innere Zirkel ist die mächtigste der fünf existierenden religiösen Vereinigungen oder Glaubensgruppen. Bei jeder Gelegenheit hat er sich zu dir gesellt und nach und nach Informationen mit dir geteilt. Er erzählte dir von der Diskriminierung, die Magier hier zu erdulden hätten, und wie sehr er dich um die Freiheit beneidete, alles tun zu können, was du willst und sogar eine Position ziviler Macht auszuüben.” Er sah zu Malriel hin, damit sie seine Ausführungen bestätigte. “Noch immer richtig?”

“Ja, Vran”, seufzte sie. “Sprich einfach weiter, und ich unterbreche dich, falls du etwas falsch verstanden hast.”

“Wie du wünschst.” Er blätterte eine Seite um und sprach weiter. “Nach einer weiteren geselligen Zusammenkunft, zu der ihr beide geladen wart, unternahm er einen Spaziergang mit dir und bot dann an, dir den Ausblick über die Stadt von der Spitze des Tempels zu zeigen, in dem er lebte. Du hast ihm gestattet, dich dort hinzubringen. Nachdem du dich von ihm auf der Plattform hast küssen lassen, erklärtest du dich dazu bereit, die Nacht mit ihm in seinem Zimmer im Tempel zu verbringen. Du nahmst ein Getränk zu dir, woraufhin laut deiner Aussage deine Erinnerung verschwimmt. Du erinnerst dich daran, dass du seine Hand genommen und zu seinem Bett gegangen bist. Dann hast du dich hingelegt und kannst dich von da an kaum noch an etwas erinnern. Als du deine Augen wieder aufschlugst, schrie jemand. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um deinen jungen Mann handelte. Er war mit goldenen Ketten an das Bettgestell gefesselt worden und rief um Hilfe. Später behauptete er, dass er von dir ins Bett gezwungen wurde und du über ihn hergefallen wärst, was dazu führte, dass du der Vergewaltigung angeklagt wurdest.”

Sie nickte.

“Du vermutest, dass er dir etwas in das Getränk mischte, dass er dir gab, damit du das Bewusstsein verlierst, wenn ich das richtig verstanden habe. Und des Weiteren folgerst du, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, der den erfolgreichen Abschluss der Handelsgespräche verhindern sollte. Du denkst, dass es eine Gruppierung geben mag, die einen Krieg zwischen unserem Land und Pirinkar ausbrechen sehen oder zumindest den derzeitigen Annäherungsprozess aufhalten möchte.”

“Wie weit ist der Prozess bislang fortgeschritten?”, erkundigte sich Enric, nachdem sie die grundlegenden Fakten im Zusammenhang mit der Anschuldigung dargelegt hatten.

“Sie hörten sich seine Vorwürfe an, schrieben sie nieder und präsentierten Leute, die seinen guten Charakter und sein beispielhaftes Gebaren bei der Ausübung seiner Tempelpflichten bezeugten”, schnaubte sie verärgert. “Dann befragten sie mich. Bedauerlicherweise hatte ich keine ernst wirkenden, aufrechten, grauhaarigen Mitglieder der Gesellschaft zur Verfügung, die darauf schworen, dass mein untadeliger Charakter solch eine Tat vollkommen unmöglich macht.”

Die Andeutung eines Lächelns umspielte Enrics Lippen, als er dachte, dass es wohl weniger ihr untadeliger Charakter war, der ihr solch eine Tat unmöglich machte, sondern eher ihr immenser Stolz.

“Nun zu einer sehr wichtigen Frage, Malriel.” Er beugte sich vor. “Ist man hier mit dem Konzept eines Lügenfilters vertraut?”

“Nein. Ich habe versucht, es ihnen zu zeigen, doch sie weigerten sich schlichtweg aus Angst, ich könnte irgendeinen fremdländischen Gedankenkontrollzauber oder was auch immer auf sie anwenden, um sie dahingehend zu beeinflussen, dass sie mich gehen lassen.” Sie verdrehte die Augen. “Idioten. Wollte ich von hier fort, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen, hätte ich das schon vor mehr als einer Woche getan.” Sie nickte zu dem vergitterten Fenster. “Das ist ein Witz. Jeder Magier könnte hier problemlos hinausspazieren.”

“Was ihnen entweder nicht klar ist”, warf Vran’el ein, “oder sie hoffen, dass du darauf zurückgreifst und ihnen damit sozusagen ein Schuldeingeständnis lieferst.”

“Ich weiß. Aus diesem Grund habe ich mehr oder weniger geduldig auf die Verstärkung gewartet, von der ich wusste, dass die Triarchie sie schicken würde.” Sie lehnte sich vor und legte jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter. “Und wen sie mir schickten übertraf meine kühnsten Erwartungen.”

Enric ergriff ihre Hand und hielt sie zwischen seinen beiden. “Malriel, da gibt es noch etwas, das ich tun muss und das dir womöglich überhaupt nicht gefallen wird.”

Sie lächelte verständnisvoll. “Mach nur, Enric. Selbstverständlich musst du sichergehen. Ich bin bereit, wenn du es bist.”

Er drückte ihre Hand, dann ließ er Magie von seiner Hand in ihre fließen.

“Malriel von Haus Aren, hast du einen Priester gezwungen, mit dir ins Bett zu gehen?”

“Nein, das habe ich nicht.”

“Hast du ihm auf irgendeine andere Weise deinen Willen aufgezwungen?”

“Nein.”

“Gibt es irgendeinen Aspekt dieser Geschichte, die du uns erzählt hast, der sich nicht so zugetragen hat, wie du behauptet hast?”

“Nein.”

Er nickte und gab ihre Hand frei. Ein anderes Ergebnis hatte er nicht wirklich erwartet, doch es war wichtig, es ohne jeden Zweifel bestätigt zu haben.

Sie sahen auf, als die Tür geöffnet wurde und sich Lam Ceiga demonstrativ räusperte.

Malriel erhob sich mit den zwei Männern und umarmte beide. Mit einem Gesichtsausdruck, der unschwer erkennen ließ, wie ungern sie sich von ihnen trennte, der aber auch von vorsichtigem Optimismus zeugte, sah sie ihnen nach.

»Ende der Leseprobe«

 

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„Risse“ – Der Orden: Buch 4

Kapitel 1

Eine unangenehme Ankunft

Enric stand an Deck, versunken in die Betrachtung des Sonnenuntergangs. Staunend ließ er die farbenprächtigen Schichten aus Rot, Orange und Gelb, die Eindrücke von Licht und Schatten zwischen den Wolken und die Spiegelungen auf der ruhigen Meeresoberfläche auf sich wirken. Solche Sonnenuntergänge kannte er nicht von zuhause; er überlegte, weshalb sie hier wohl um so vieles spektakulärer erschienen. Vielleicht ließ sich zu diesem Thema irgendwo ein Buch auftreiben.

Es war schon eine Weile her, seit er sich das letzte Mal die Zeit genommen hatte, einen Sonnenuntergang zu beobachten. Sonnenaufgänge, ja. Er war Frühaufsteher, und seine Schlafzimmerfenster waren jahrelang in die entsprechende Richtung ausgerichtet. Aber er hatte kaum jemals Sonnenuntergänge beobachtet. Es gab immer Arbeit zu erledigen, auch wenn er, seit er mit Eryn zusammenlebte, weitgehend aufgehört hatte, bis spät in die Nacht zu arbeiten. Sie war ein besonderer Anreiz für ihn, seine Arbeit pünktlich niederzulegen, ein Grund, nach Hause zu kommen.

Jetzt gerade schlief sie in ihrer Kabine. Pe’tala hatte mehrmals dabei zugesehen, wie sie sich übergeben musste, und sie dann mit ein wenig Magie schlafen geschickt – und ihre Proteste dabei mitten im Satz zum Verstummen gebracht. Eryn war zu überrascht gewesen, um sich rechtzeitig zur Wehr zu setzen, und einfach schlaff in sich zusammengesunken. Zumindest würde er nicht derjenige sein, der später dafür bezahlen musste.

Die Aussicht darauf, zwei schwangere Frauen auf die lange Reise nach Takhan mitzunehmen, hatte ihm Sorgen bereitet, auch wenn bislang alles gut gelaufen war.

Das war eine Erleichterung, da die Reise nicht besonders vielversprechend begonnen hatte. Während Junar froh gewesen war, in der bereitgestellten Kutsche Platz nehmen zu können, hatte sich Eryn wenig erbaut darüber gezeigt, dass man von ihr erwartete, ebenfalls darin zu reisen. Sie hatte zu argumentieren versucht, dass die frische Luft gut für sie und das Kind sei, doch Pe’tala hatte erklärt, dass ein mehrstündiger Ritt durch eine fremde Umgebung auf einem Pferd, mit dem sie nicht vertraut war, in ihrem derzeitigen Zustand keine besonders schlaue Idee war. Ein unkonzentrierter Augenblick konnte zu einem kleinen Fehler führen oder das Pferd mochte aufschrecken – realistische Möglichkeiten, wenn eine Bergkatze daneben herlief – und einen Sturz und eine Verletzung zur Folge haben. Ein paar Minuten lang hatte er sich die Diskussion angehört, dann entschied er einzugreifen. Keine von den zwei Möglichkeiten, die er Eryn für ihre Reise nach Bonhet angeboten hatte, beinhaltete die Option von ihr auf einem Pferderücken: entweder wach oder schlafend.

Mit einem bösen Blick war sie schließlich wenig erfreut in die Kutsche gestiegen. Junar hatte sich irritiert gezeigt, weil Eryn nicht mit ihr in der Kutsche fahren wollte, und so hatte die Reise dann also begonnen: mit drei beunruhigten Männern, einer genervten Heilerin und zwei mürrischen schwangeren Frauen.

Vern hatte ursprünglich ebenfalls geplant, in der Kutsche zu reisen und die Zeit zum Lesen zu nutzen, hatte sich jedoch eines Besseren besonnen, als das Gezanke der beiden Frauen begann. Enric konnte ihm das kaum zum Vorwurf machen. Er selbst hätte sich dem ebenfalls nicht zwei Tage lang freiwillig ausgesetzt.

Irgendwann hatte Junar zu weinen begonnen, wozu sie in letzter Zeit verstärkt neigte, und Orrin hatte darum gebeten, die Abreise um ein paar Minuten zu verschieben, damit er sie trösten konnte. Eryn bedachte er währenddessen mit verärgerten Blicken.

Es war auch nicht eben hilfreich, dass Eryn es für nötig befand, den anderen zu erklären, genau dies sei der Grund, weshalb sie nicht zwei Tage lang mit dieser Frau auf begrenztem Raum festsitzen wollte.

An diesem Punkt hatte Vern Enric einen flehenden Blick zugeworfen und sich erkundigt, ob es noch zur Diskussion stand, Eryn schlafen zu schicken. Enric hatte ihm erklärt, dass er dies gerne jederzeit versuchen könnte. Er selbst war absolut nicht willens, nach ihrem Erwachen ihren Zorn zu erdulden.

Daraufhin war Eryn natürlich wütend auf Vern. Somit war die Gruppe recht verstimmt aus der Stadt abgereist.

Mehrere Male mussten sie anhalten, damit Junar sich immer wieder ihres Frühstücks entledigen konnte. Dies hatte ihre geplante Ankunft an ihrem Ziel am Abend um etwa eine Stunde verzögert.

Der zweite Tag war unkomplizierter verlaufen. Junar hatte entschieden, sich tagsüber mit ein paar Scheiben Brot zufriedenzugeben, um ihren Magen vom Rebellieren abzuhalten. Am Abend hatte sie dann drei Portionen des Eintopfs, den der Wirt in Bonhet serviert hatte, verschlungen, um die magere Kost während des Tages wieder wettzumachen.

Eryn hatte sich immens überrascht gezeigt, wie sehr sich Bonhet seit ihrem letzten Zwischenstopp während ihrer ersten Reise nach Takhan vor etwa neun Monaten verändert hatte. Mehr Menschen, mehr Gebäude und eine allgemeine Geschäftigkeit, die es vor einigen Monaten noch nicht gegeben hatte.

Enric hatte sie mit auf einen Spaziergang durch das Dorf genommen, ihr die Gebäude gezeigt, die er errichten hatte lassen, und war mit ihr zum Zählhaus sowie den Anlegestegen spaziert.

Sie war erfreut, wie die Arbeiter mit ihm umgegangen waren: mit Respekt, aber ohne die automatische Ehrerbietung und Bewunderung, die sein Rang bei den meisten Menschen zuhause in der Stadt Anyueel auszulösen pflegte. Dass sie nicht ständig an die Wichtigkeit und den Reichtum von Magiern erinnert wurden, hatte zur Folge, dass die Leute auf dem Land einen etwas nüchterneren Umgang mit ihnen pflegten. Es half womöglich auch, dass ihre Reisekleidung nicht so elegant und prächtig war wie ihre übliche Aufmachung. Das, was sie derzeit trugen, wirkte praktisch und war staubig nach einem langen Tag auf der Straße. Sie waren also nicht auf den ersten Blick als reiche Magier zu erkennen.

Nach dem Abendessen bestiegen sie das Schiff, da es wenig Sinn ergab, im Wirtshaus zu übernachten. Das würde sie nur eine ganze Nacht an Reisezeit kosten. Sie konnten sich ebenso gut in den Kabinen an Bord zur Ruhe begeben.

Eryn hatte bereits vor dem Betreten des Schiffes etwas blass gewirkt. Offensichtlich war ihr der letzte Aufenthalt auf einem Schiff noch gut in Erinnerung. Enric hatte ihr erklärt, dass es sich diesmal um ein größeres Exemplar handelte als beim letzten Mal. Das bedeutete, dass es nicht ganz so anfällig für leichten Wellengang war und somit weniger schaukeln würde.

Es dauerte weniger als eine Stunde, bis Eryn ihr Abendessen wieder hervorgewürgt hatte.

Junar schien erstaunlicherweise nicht einmal ansatzweise unter Seekrankheit zu leiden – eine eher unerwartete Entwicklung, da sich ihr Magen in den letzten paar Monaten nicht eben kooperativ gezeigt hatte. Vern schien ebenfalls immun zu sein gegen das Schaukeln und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, Bilder anzufertigen von allem, was er sah, die Besatzungsmitglieder zu ersuchen, ihm Dinge zu zeigen und zu erklären, und zu lesen.

Ganz anders war es um Orrin bestellt. Seine Haut hatte eine leicht grüne Färbung angenommen. Doch da weder Enric, Pe’tala, Vern, noch Junar irgendwelche Anzeichen von Unwohlsein ob des ständigen Auf und Ab des Schiffes zeigten, war er fest entschlossen, nicht als Einziger – abgesehen von Eryn – Schwäche zu zeigen. Wenn man ihn darauf ansprach, erwiderte er, alles sei prima. Pe’tala und Vern hatten beide angeboten, ihn bis zur Ankunft in Takhan schlafen zu schicken, doch davon wollte er nichts hören und bestand weiterhin darauf, dass alles in Ordnung sei.

Der Wind war günstig, also sollten sie die Stadt am nächsten Tag in den frühen Morgenstunden erreichen.

Enric drehte sich um, als er bemerkte, wie Pe’tala an Deck kletterte. Sie nickte ihm zu, als sie ihn erblickte und trat neben ihn, um sich an die Reling zu lehnen.

“Eryn schläft noch. Ich werde sie bis zum Morgen in diesem Zustand halten, dann haben wir das Meer hinter uns gelassen und sind auf dem Fluss.”

Er nickte. “Danke. Ich gebe zu, dass ich froh bin, dass du diejenige bist, die es tut. Sonst wäre ich derjenige, der ihren Ärger abbekommt.”

Sie lächelte. “Heiler sind daran gewöhnt, sich um solche unbeliebten Dinge zu kümmern. Anderen zu helfen ist nichts, das uns immer nur Dankbarkeit einbringt.”

“Nicht einmal von anderen Heilern?”

Sie schnaubte. “Besonders nicht von anderen Heilern. Heiler sind die schlimmsten Patienten, die du dir vorstellen kannst. Sie denken, sie wüssten alles besser und bräuchten keine Hilfe. Und wenn sie doch bereit sind zuzugeben, dass ein wenig Hilfe eine gute Idee wäre, versuchen sie dir zu erklären, was die richtige Herangehensweise ist.”

Er lachte leise. “Dann ist es ja gut, dass Heiler nicht so oft Hilfe benötigen.”

Sie nickte. “Das ist in der Tat ein Glück. Andernfalls müssten wir den Preis für ihre Behandlung erhöhen, da sie besonders anstrengend sind.”

“Gilt das auch für dich, oder bist du dir dieser Sache besser bewusst?”

Pe’tala grinste. “Natürlich gilt das auch für mich. Ich bin schlimmer als die meisten. Kannst du dir vorstellen, ich müsste zugeben, dass ich auf Hilfe in einem Bereich angewiesen bin, in dem ich als sehr fähig gelte? Ich habe Mitleid mit jedem Heiler, der mich behandeln muss.”

Enric betrachtete sie nachdenklich. “Es ist gut, dich lächeln zu sehen, Tala”, sagte er sanft. “Das ist schon seit einer Weile nicht mehr vorgekommen. Ich werde den Eindruck nicht los, dass du besorgt und rastlos bist. Das ist aber nicht deine übliche Ungeduld mit der Welt im Allgemeinen, sondern etwas anderes. Und du hältst Abstand zu Eryn, obwohl du sie beobachtest, wenn du denkst, niemand bemerkt es. Was ist los?”

Sie biss sich auf die Lippe und ließ den Kopf hängen. “Es scheint, als müsste ich in deiner Nähe etwas vorsichtiger sein. Ich bin nicht daran gewöhnt, dass Menschen ihrem Umfeld so viel Aufmerksamkeit schenken.”

“Rede mit mir”, beharrte er. “Es hat mit Eryn zu tun, dessen bin ich mir fast sicher. Ist mit ihr und dem Kind alles in Ordnung?” Seine Stimme klang leicht besorgt.

Mit einem Kopfschütteln streckte sie ihre Hand aus und drückte seine, als er sie ergriff. “Nein, Enric, ich verspreche dir, dass mit den beiden alles in Ordnung ist. Und lass mich dir sagen, wie sehr es mich berührt, dass du und Lord Orrin so besorgt seid um das Wohlergehen eurer Gefährtinnen. Von Kriegern hätte ich das nicht wirklich erwartet. Es scheint, als wäre ich dem gängigen Vorurteil zum Opfer gefallen, dass Kämpfer nichts als unsensible Barbaren sind. Ich hätte es besser wissen müssen.”

Erleichtert atmete er aus. “Gut. Worum sorgst du dich denn nun?”

Pe’tala zog ihre Hand zurück und wandte sich von ihm ab, um ihren Blick in die Dunkelheit zu richten. “Es gibt da etwas, das Eryn nach unserer Ankunft in Takhan erfahren wird. Es wird eine Überraschung werden, aber keine angenehme, wie ich vermute. Bereite dich darauf vor, dass ihr diese Neuigkeiten, die sie erfahren wird, beträchtlichen Kummer bereiten werden.”

“Welche Neuigkeiten?”, verlangte er stirnrunzelnd zu wissen.

“Es steht mir nicht zu, dir das zu sagen. Ich kann sehen, dass du dich sorgst, aber bitte bedränge mich nicht. Du wirst es in weniger als einem Tag erfahren. Das verspreche ich.”

Enric nickte langsam. “In Ordnung, ich werde deinen Wunsch respektieren. Nur noch eine Frage, dann werde ich damit aufhören: Hat es etwas mit ihrem Vater zu tun?”

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. “Du bist gefährlich scharfsinnig, Enric. Es wäre wirklich beruhigend, wenn du hin und wieder einmal Unrecht hättest, weißt du.”

Er lächelte freudlos. “Das ist zuweilen eine Bürde. Aber ich danke dir für die Warnung. Und auch dafür, dass du dich um sie kümmerst. Ich werde nun versuchen, etwas zu schlafen; anscheinend sollte ich morgen gut ausgeruht und wachsam sein.”

“Gute Nacht, Enric. Schlaf gut.”

Er kletterte die Stufen hinab und öffnete die erste Tür rechts, hinter der Eryn friedlich, wenn auch nicht ganz freiwillig, schlummerte. Neuigkeiten über ihren Vater. Und keine, die sie schätzen würde. Wie bedauerlich, dass ihre zweite Ankunft in Takhan wohl nicht viel angenehmer verlaufen würde als ihre erste.

* * *

Langsam öffnete Eryn die Augen und starrte in zwei Gesichter, die auf sie hinabblickten. Enric und Pe’tala. Beide traten einen Schritt zurück, als sie sich langsam aufsetzte. Die Erinnerung kehrte zurück, und sie warf Pe’tala einen erzürnten Blick zu.

“Du hast mich schlafen geschickt, einfach so!”

Mit einem Schulterzucken lehnte sich die andere Frau gegen die Tür. “Ja, das habe ich. Du warst zu stolz, um dem zuzustimmen, und ich hatte nicht die Absicht, mir die ganze Nacht hindurch von deinem Würgen den Schlaf rauben zu lassen. Somit habe ich uns beiden einen Gefallen getan. Du brauchst mir nicht zu danken.”

“Ja, sicher. Dir zu danken war genau das, was mir durch den Kopf ging…”, murmelte sie und stand vorsichtig von der Pritsche auf, um sich zu strecken.

“Sieh zu, dass du dich anziehst und wäschst, Liebste”, warf Enric ein. “Wir sollten in kaum mehr als zwei Stunden in Takhan eintreffen, also möchtest du zuvor vielleicht noch etwas essen.”

“Zwei Stunden? Das bedeutet, dass wir nicht länger auf dem Meer sind”, sagte sie erleichtert.

Er nickte. “So ist es. Der letzte Teil der Reise sollte recht entspannt verlaufen.”

“Wie geht es den anderen?”

“Gut soweit. Orrin weigert sich noch immer zuzugeben, dass er seekrank war. Junar geht es nicht schlimmer als sonst, und ich glaube, Vern hat mittlerweile so ziemlich alles gezeichnet, was er an Bord gefunden hat.”

Eryn nickte und sah die beiden dann abwechselnd an. “Warum geht ihr nicht schon rauf an Deck? Hier drin ist es ein wenig eng, wenn ich mich waschen und anziehen soll, während ihr zwei mir im Weg steht. Hinaus mit euch.”

Sie sahen einander an, dann öffnete Enric die Tür und ließ Pe’tala als Erste hinausgehen.

Sobald sie allein war, setzte sich Eryn wieder auf das Bett und atmete langsam aus. Nur noch zwei Stunden, bis sie wieder zurück in Takhan war. Zwei Stunden, bis sie Malriel gegenübertreten musste. Der Frau, die dafür gesorgt hatte, dass Eryn gegen ihren Willen schwanger wurde. Der Frau, die vor neunundzwanzig Jahren ihren Gefährten betrogen hatte und unvorsichtig genug gewesen war, sich von einem anderen Mann schwängern zu lassen. Von einem Mann, wo Eryn nicht einmal wusste, ob sie mehr über ihn wissen wollte. Es zählte nur, dass sie ihr etwas genommen hatte, das für Eryn immens kostbar gewesen war: die Familie, die sie in Haus Vel’kim gefunden hatte. Rechtlich gesprochen war sie noch immer ein Mitglied des Hauses. Aber da Ved’al nun nicht ihr Vater war, entstammte sie nicht deren Linie und hatte damit nicht mehr das Recht, zur Familie zu gehören.

Der Gedanke an Malriel ließ ihr Herz schneller schlagen. Um sich wieder zu beruhigen, zwang sie sich, die Augen zu schließen und gleichmäßig zu atmen. Stress war nicht gut, weder für sie noch für das Kind.

Als sie wenige Minuten später an Deck ging, gekleidet in die dünnere Kleidung, die sie hier während ihres ersten Besuchs erstanden hatte, fand sie Vern vor, wie er auf den Stufen saß und etwas zeichnete.

“Laut Enric hat du bereits alles gezeichnet, was es auf dem Schiff gibt. Fängst du jetzt wieder von vorne an?”, scherzte sie.

Er blickte auf und grinste sie an. “Glücklicherweise muss ich das nicht. Anders als auf See, gibt es hier Landschaft, also bin ich nicht länger auf die Gegenstände an Bord beschränkt.”

“Hast du schon gefrühstückt?”

Er nickte. “Ja. Vor zwei Stunden. Nicht jeder verschläft den halben Tag.”

“Ich wurde von einer Magierin schlafen geschickt! Das war nicht meine Schuld!”, protestierte sie.

“Oh, ich verstehe – unter normalen Umständen stehst du ja so früh wie nur möglich auf”, schnaubte er und setzte seine Arbeit fort.

“Warum rede ich überhaupt mit dir?”, murmelte sie und ging weiter zu Enric und Orrin, die im Stehen die weiten, felsigen Kämme betrachteten. Das waren die Ausläufer der Berge, die sie vor kurzem passiert hatten. Es gab kaum Vegetation, da der langsame Übergang in die Wüste bereits begonnen hatte.

Orrin drehte sich um und nickte ihr zu, als sie neben ihn trat. Er hatte ebenfalls leichtere Gewänder angelegt. Junar hatte ihnen allen ein paar Garnituren angefertigt, damit sie etwas für die ersten Tage in Takhan hatten, bevor sie einen hiesigen Schneider aufsuchen konnten. Den Stil der Kleidung hatte sie nicht angepasst, nur die Dicke des Stoffs. Somit würde er also noch immer fremdartig erscheinen, selbst wenn man die blonden Haare außer Acht ließ.

“Wo ist Junar?”, fragte sie und sah sich um.

“Unter Deck”, antwortete der Krieger. “Sie ist erst vor ein paar Minuten aufgewacht und macht sich fertig.” Er betrachtete sie. “Du wirkst angespannt.”

Ihr Gesicht verdüsterte sich. “Ich bin nicht besonders angetan von der Aussicht, schon so bald wieder auf die Königin der Dunkelheit zu treffen.”

Orrin zog die Stirn in Falten. “Die was?”

“Königin der Dunkelheit. Malriel”, erklärte sie.

“Charmant”, murmelte er und schüttelte den Kopf über sie.

“Warum sollte ich auch? Sie ist es auch nicht. Ich hoffe nur, sie taucht nicht am Hafen auf”, knurrte sie.

Enric dachte, dass die Chancen dafür eher schlecht standen, sprach es aber nicht aus. Sie war sich dessen wahrscheinlich ohnehin ebenso bewusst wie er.

Vern trat neben sie. “Können wir die Sache mit der Begrüßung noch einmal durchgehen? Ich verwechsle das ständig.”

Enric nickte und streckte seine Hand aus, um es vorzuzeigen. “Zwei Männer, die einander formell grüßen, verschränken ihre Finger. Das gilt auch für Frauen.”

Vern verschränkte seine Finger wie angeleitet mit Enrics und nickte dann. “In Ordnung. Und dann gibt es da noch die informellen Begrüßungen. Männer haben keine spezielle Begrüßung vertrauter Art, sondern drücken ihre Zuneigung mit irgendwelchen Gesten aus, nach denen ihnen gerade der Sinn steht. Das kann ein Schulterdrücken, ein Schlag auf den Rücken oder was auch immer sein. Mit gemischten Geschlechtern ist es aber anders, nicht wahr?”

Enric stimmte zu. “Ja. Wenn Männer und Frauen einander formell grüßen, küsst der Mann die Hand der Frau, und zwar so.” Er ergriff Eryns linke Hand und drückte seine Lippen auf ihre Knöchel. “Pass aber auf, dass es nicht zu lange dauert, oder es könnte als zudringlich aufgefasst werden. Die informelle Begrüßung zwischen Männern und Frauen besteht in einem Kuss auf beide Wangen. Bei zwei Frauen wird es ebenso gemacht.”

Vern nickte. “Danke, Lord Enric.”

Er hob beide Augenbrauen. “Wie war das?”

Der Junge schloss für einen Moment die Augen, dann seufzte er. “Danke… Enric.”

Eryn grinste. “Ah ja, es scheint, als hättest du die Zeit, die ich mehr oder weniger im Winterschlaf verbracht habe, darauf verwendet, dich an den Umgang ohne Titel anzupassen.”

Enric seufzte. “Ja, allerdings scheint unser junger Freund hier das als beträchtliche Bürde zu empfinden. Er zuckt jedes Mal zusammen, wenn ich ihn auffordere, mich ohne den Titel anzusprechen.”

Sie sah den Jungen an. “Denk einfach daran, dass er nicht länger ein Mitglied des Ordens ist und es ihm somit nicht mehr zusteht, so angesprochen zu werden. Er ist nicht mehr dein Vorgesetzter, bloß ein Magier, den du zufällig kennst.”

Er schnaubte. “Ja, sicher. Ein Magier, in dessen Fall mir beigebracht wurde, ich solle ihm aus dem Weg gehen, ihm nicht direkt in die Augen sehen, ihn nicht ohne Aufforderung ansprechen und besonders darauf achten, ihm stets mit dem Respekt zu begegnen, der ihm zusteht.”

Enric wirkte bestürzt. “Das hat man dir beigebracht?” Er wandte sich zu Orrin um und zog eine Augenbraue hoch.

“Mich brauchst du nicht anzusehen”, meinte der Krieger und zuckte die Schultern. “Ich sage den Leuten nicht, sie sollen dir nicht in die Augen sehen oder ihren Mund halten, wenn sie etwas Sinnvolles zu sagen haben, egal, wie wichtig du bist. Das muss er wohl von seinen Lehrern haben.”

“Kindern wird beigebracht, sie sollen mir aus dem Weg gehen und den Augenkontakt mit mir vermeiden?”, fragte er mit einem verstörten Gesichtsausdruck. Das war wahrlich eine unangenehme Enthüllung. Verwirrt schüttelte er den Kopf. “Warum?”

Orrin dachte kurz nach, dann sagte er vorsichtig: “Es gibt Geschichten darüber, wie du deine Schulkollegen verprügelt und ihnen recht grausame Streiche gespielt hast.”

“Damals war ich jünger als Vern!”, protestierte er verärgert. “Die Kinder, denen man jetzt beibringt, sie sollen gefügig vor mir kauern, waren damals noch nicht einmal geboren!”

“Diese Art von Junge warst du? Wirklich?” Eryn runzelte die Stirn. “Warum habe ich von all den Geschichten, die ich bisher gehört habe, einen ganz anderen Eindruck gewonnen? Darin geht es um einen faulen, respektlosen, missverstandenen Jungen mit einer Tendenz, seine Frustration durch Poesie zum Ausdruck zu bringen, nicht mit seinen Fäusten. Wie ist es möglich, dass dieser zerstörerische Aspekt, dass du andere Kinder verprügelt hast, dabei verlorengegangen ist?”

Er sah sie verlegen an. “Das ist alles eine Frage der Präsentation, Liebste. Ich musste schon hart genug daran arbeiten, dass du mich magst und akzeptierst, auch ohne dass du über meine dunkle Vergangenheit Bescheid weißt.”

Orrin grinste. “Keine Sorge, Eryn, das war nur während der ersten ein oder zwei Jahre, nachdem er zum Orden kam. Lass es uns als Anpassungsprobleme betrachten.”

“Ja”, schnaubte Enric. “Nachdem du mich zwischen die Finger bekommen hast, hatte ich kaum noch Kraft übrig, um sie an meine Kollegen zu verschwenden. Du hast mich nach dem Unterricht so viele zusätzliche Trainingsstunden absolvieren lassen, dass ich am Ende des Tages mehr oder weniger ins Bett gefallen bin.”

“Das hat doch gut funktioniert, oder etwa nicht? Aus dir ist ein außerordentlich guter Kämpfer geworden, und du hast gelernt, deine Frustration mit Worten anstatt Gewalt auszudrücken”, grinste der Krieger.

Enric sah Vern an. “Wer hat dir gesagt, du sollst den Blick abwenden?”

Der Junge dachte einen Augenblick nach, bevor er sagte: “Mein Lehrer in Politischer Strategie, Avlin.”

“Avlin…” Enric überlegte, weshalb ihm dieser Name vertraut vorkam, dann verzog er das Gesicht. “Ah…”

Orrin nickte. “Ja, er. Als ihr Kinder wart, hast du ihn mehrere Stunden lang in einer Truhe eingeschlossen. Zweimal.”

Eryn schüttelte den Kopf über ihren Gefährten. “Während ich also im Alter von… was? – dreizehn? – zur Heilerin ausgebildet wurde, warst du die Geißel deiner Kollegen? Und die sinnvollste Idee, damit umzugehen, war, dir noch mehr Kampffertigkeiten beizubringen?” Sie seufzte und sah ihren vormaligen Kampftrainer an. “Warum hast du ihn nicht ein paar Stunden lang in eine Truhe gesperrt, um ihm eine Lektion zu erteilen?”

“Ich sehe, dass wir sehr unterschiedliche Ansätze bei der Kindererziehung verfolgen”, erwiderte der Krieger vorwurfsvoll. “Es einem Kind mit gleicher Münze heimzuzahlen, bringt nicht viel. Ihn auf diese Weise zu bestrafen hätte ihn nur noch mehr verärgert und außerdem das Problem mit seiner überschüssigen Energie nicht gelöst. Kämpfen erfordert Disziplin, also diente es mehr als einem Zweck, dass er viel Zeit dafür aufwenden musste. Damit blieb ihm kaum noch Zeit oder Energie, um andere zu quälen, und er war gezwungen, Kontrolle und Zurückhaltung zu erlernen.”

Eryn nickte und grinste Vern an. “Nun, du siehst, es ist also heutzutage sicher genug, ihm in die Augen zu sehen und ihn ohne Titel anzusprechen. Es scheint, dein Vater hat ihn für uns gezähmt.”

“Ich schätze es nicht, wie du das ausdrückst”, seufzte ihr Gefährte. “Sagen wir eher, er hat mir dabei geholfen, weniger destruktive Ventile für meine Energie und Frustration zu finden.”

Sie nickte. “Wenn dich diese Formulierung glücklicher macht, wer bin ich, um sie dir zu verwehren?”

“Schade nur, dass dieser Ansatz bei dir nicht funktioniert hat”, bemerkte Orrin. “Dich zum Kämpfen zu veranlassen hat deine Frustration nur verstärkt.”

“Ja”, knurrte sie. “Und es musste mir ein Kind einpflanzt werden, damit man mir gestattet, diese Zeitverschwendung zumindest für eine Weile zu unterbrechen.”

“Wir könnten hinterher immer noch ein weiteres bekommen. Daraufhin würde man dich sogar noch länger verschonen”, warf Enric beiläufig ein.

“Kaum”, schnappte sie. “Mir ein paar Monate ohne Kampftraining zu erkaufen würde mir ein paar weitere Jahre einer anderen Art von Belastung einbringen. Stell dir vor, wir stehen mit einem Unruhestifter wie Vern da, der Gefangenen magische Kampfkunst beibringt und antike Stadtpläne mit Zeichnungen von nackten Frauen verunstaltet!”

“Ich dachte, ich sei harmlos?”, lachte besagter Unruhestifter.

“Ich habe meine Meinung geändert. Du bist nun offiziell ein schlechter Einfluss. Sieh einfach nur zu, dass du nichts anstellst, für das ich als höchstrangige Ordensmagierin verantwortlich gemacht werde, solange wir in Takhan sind. Und du gewöhnst dich besser daran, Enric ohne seinen Titel anzusprechen. Das würde sonst wirklich seltsam wirken”, warnte sie ihn.

Pe’tala trat neben sie und deutete zum Horizont. “Seht, das dort ist meine Heimatstadt”, sagte sie mit einem Anflug von Stolz in der Stimme.

Vern warf einen kurzen Blick auf die Aussicht vor ihm, bevor er zurück zu den Stufen rannte, wo er seinen Zeichenblock samt Stift liegen hatte. Hektisch begann er zu zeichnen, während die anderen einfach nur in die Betrachtung der Silhouette der fernen Stadt versunken waren.

Enric bemerkte Pe’talas angespannte Haltung. Der bevorstehenden Ankunft blickte sie eindeutig nicht mit Freude entgegen.

* * *

Sie standen nebeneinander an der Reling und sahen zu, wie die Landungsstege vorbeidrifteten. Dieses Mal war ihnen aufgrund der Größe ihres Schiffs ein anderer Platz zugewiesen worden.

Ein langsames Lächeln breitete sich auf Eryns Gesicht aus, als sie die kleine Gruppe von Leuten an der Anlegestelle warten sah. Valrad, Vran’el und Kilan. Erleichtert sah sie, dass Malriel nicht unter ihnen weilte. Sie war erfreut, dass keine größere Menge an Menschen versammelt war, die zu begrüßen eine Ewigkeit gedauert hätte. Und doch verspürte sie einen kleinen Stich der Enttäuschung darüber, dass sich Ram’an nicht unter den Anwesenden befand.

Sie beobachtete ihre Reisegefährten und lächelte über deren Erstaunen, als sie die fremde Stadt zum ersten Mal erblickten, die ungewöhnlichen Eindrücke rundherum in sich aufnahmen.

Als das Schiff endlich vorn und achtern mit schweren Tauen gesichert war, wurde die Landungsbrücke angelegt, damit die Passagiere von Bord gehen konnten. Beinahe im Laufschritt ging sie voraus und zog beide Vel’kim-Männer gleichzeitig in eine stürmische Umarmung. Für einige Augenblicke hielt sie sie fest an sich gedrückt, bevor sie zur Seite trat. Sie war nicht die Einzige, die es eilig hatte, sie zu begrüßen.

Pe’tala näherte sich gemäßigteren Schrittes und lächelte ihre Familie an. Zuerst umarmte sie ihren Vater, dann ihren Bruder.

“Tala, mein Kind”, sagte Valrad zärtlich und strich ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. “Es ist gut, dich wieder hierzuhaben, wenn auch nur für kurze Zeit.”

“Es ist gut, zurück zu sein”, lächelte sie und lehnte sich in die Berührung. “Du würdest nicht glauben, wie kalt es dort ist.”

“Das kann ich durchaus, wenn ich mir ansehe, wie blass du geworden bist”, erwiderte ihr Vater mit einem Nicken. “Ganz eindeutig gibt es dort nicht genug Sonnenschein.”

“Die Vel’kim-Mädchen sind zurück in der Stadt”, grinste Vran’el und zwinkerte Eryn zu. “Die Leute sollten sich besser gut verstecken.”

Eryn wandte sich sodann Kilan zu und lachte, als er sie an sich zog, um ihre Wangen zu küssen. “Wie ich sehe, passt du dich den hiesigen Gebräuchen an, Botschafter.”

“Das sollte ich auch; man erwartet immerhin von mir, auf diese Weise meinen Respekt für mein Gastgeberland zu zeigen”, grinste er.

Enric, Orrin, Junar und Vern waren in der Zwischenzeit ebenfalls dazugestoßen, und nachdem Enric die drei Männer begrüßt hatte, stellte er ihre Reisegefährten vor.

“Orrin”, sinnierte Valrad und musterte den Kämpfer von oben bis unten. “Der Mann, der Eryn zum Kämpfen gezwungen hat – trotz ihrer Abneigung dagegen.”

Der Krieger, dem der kühle Ton eindeutig nicht entgangen war, nickte. “Ja, das wäre dann wohl ich”, antwortete er langsam. “Aber ich hoffe, dass du mich nicht allein darauf reduzieren wirst.”

Eryn schluckte und trat neben Orrin, um seinen Arm zu ergreifen und beschwichtigend zu drücken, während sie den Mann ansah, den sie bis vor kurzem für ihren Onkel gehalten hatte.

“Er ist seitdem zu einem engen Freund geworden, Valrad. Jemand, der mich nie im Stich gelassen hat, wenn ich einen Rückzugsort oder eine Stimme der Vernunft brauchte.” Sie grinste und gab ihm einen freundlichen Schubs. “Sozusagen der Vater, den ich nie wollte.”

Sie sah, wie sich Valrads Augen bei ihrer letzten Bemerkung verengten und fragte sich, weshalb diese Begrüßung so unerwartet angespannt verlief. Eilig konzentrierte sie sich nun anstatt auf Orrin auf seine Gefährtin und stellte Junar vor, die daraufhin mit mehr Wärme willkommen geheißen wurde.

Als Vern vortrat, grinste Valrad breit.

“Und das muss Vern sein, der junge Mann mit diesem unglaublichen Talent in Kombination mit einer Neigung zum Heilen. Ich habe das Buch gesehen, das du illustriert hast, und ich kann es kaum erwarten, dich meinen Kollegen vorzustellen. Sie waren begeistert, als sie erfuhren, dass du ebenfalls herkommen würdest.”

Vern war offensichtlich überwältigt von der herzlichen Begrüßung, die sich so maßgeblich von der unterschied, die seinem Vater gerade zuteilgeworden war. Er benötigte ein paar Augenblicke, um seine Stimme wiederzufinden.

“Danke, ich bin sehr froh, dass ich die Chance zu diesem Besuch habe. Und ich freue mich, dich kennenzulernen. Ich habe viel von dir gehört”, sagte er schließlich und hob seine Hand für die formelle Begrüßung.

Enric legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Man wartet üblicherweise darauf, dass die andere Person ihre Hand zuerst anbietet, sofern er oder sie älter ist als du oder einen höheren Status bekleidet.”

Der Junge schluckte und lächelte den älteren Mann nervös an. “Es tut mir leid, es scheint, dass es noch einiges gibt, was ich zu lernen habe.”

Valrad lachte und verschränkte ihre Finger. “Keine Sorge, mein junger Freund. An Kleinigkeiten wie diesen stoße ich mich nicht.”

Eryn zog die Stirn in Falten, als sie sah, wie Vran’el einen Blick über ihre Schulter warf und plötzlich angespannt wirkte. Langsam drehte sie sich um und hielt an der unwirklichen Hoffnung fest, dass sie sich nicht gleich Malriel gegenüberfinden würde.

Das Glück war ihr nicht hold.

Das Oberhaupt von Haus Aren kam näher. Ihr Gesicht wirkte selbstsicher, obgleich ihre Bewegungen einen Hauch von Vorsicht verrieten. Enric war der Erste, den sie erreichte, und sie zog ihn an sich, um ihn mit einem Kuss auf jede Wange zu begrüßen.

“Enric, mein Lieber. Ich bin so froh, dass du hier bist. Ich schätze es wirklich sehr, was du tust”, lächelte sie.

Er nickte ihr kurz zu. “Das glaube ich gerne. Und doch sollst du wissen, dass ich mit deinen Methoden keineswegs einverstanden bin”, sagte er milde. “Aber das ist ein Gespräch für einen anderen Zeitpunkt.”

Malriels Gesichtsausdruck wirkte leicht angestrengt, und sie begrüßte nun Orrin, Junar und Vern. Schließlich wandte sie sich Eryn zu, die sich vollkommen versteift hatte.

“Theá”, sagte die ältere Frau sachte. “Willkommen zurück in Takhan.”

Eryn spürte, wie Zorn sie gleich einem heißen Speer durchzuckte. Das Lächeln, der Name, mit dem sie nicht angesprochen werden wollte, diese Beiläufigkeit trotz der Dinge, die sie getan hatte.

Als Malriel nähertrat, um ihre Wangen zu küssen, reagierte Eryn reflexartig auf diesen Annäherungsversuch. Ihre Faust schoss hervor und traf mit einem dumpfen Geräusch auf dem Kinn der älteren Frau auf. Malriels Kopf wurde von dem Aufprall gewaltsam zur Seite geschleudert. Sie stolperte mehrere Schritte rückwärts, und der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.

“Du niederträchtige, hinterlistige, böswillige Kreatur!”, schrie sie.

Um sie herum war es still geworden. Alle Leute in Sichtweite schienen mitten in ihrer Tätigkeit innezuhalten, um zu der unglaublichen Szene hinzustarren, in der das mächtige Oberhaupt von Haus Aren von einer Frau geschlagen wurde, die wie eine etwas jüngere Version ihrer selbst aussah.

Eryn verspürte eine Welle aus Vergnügen, Erleichterung und Schwindel darüber, Malriel einmal ihrer Überlegenheit beraubt zu sehen. Diese Situation hatte sie nicht unter Kontrolle.

“Meine Güte”, seufzte Vran’el und sah zu Enric auf. “Du solltest wohl besser eingreifen, würde ich sagen.”

Der blonde Magier schüttelte langsam den Kopf und murmelte: “Nein. Malriel hat das herausgefordert. Ich habe keinerlei Absicht, ihr zu helfen. Sie hat das durchaus verdient.” Und es war eine prima Gelegenheit für Eryn, ihren Ärger herauszulassen anstatt ihn in ihrem Inneren einzusperren. Dass sie dabei auch ihre neu erworbenen Fertigkeiten in unbewaffnetem Kampf zum Einsatz bringen konnte, war ein willkommener Nebeneffekt.

Sie sahen zu, wie sich Eryn ihrer Mutter erneut näherte. Malriel hob abwehrend die Hände.

“Maltheá, das ist nicht die richtige Art und Weise, mit unseren Problemen umzugehen!”

“Für mich funktioniert das momentan ganz fantastisch”, zischte Eryn und verpasste ihr einen harten Tritt in den Magen, der sie über den Rand des Stegs und mit einem lauten Platschen in den Fluss beförderte.

Sie beobachtete, wie sich das Wasser über Malriels Kopf schloss und sie verschluckte. Dann atmete sie aus und kehrte zu ihrem hingerissenen Publikum zurück, ohne sich umzublicken.

“Ich gehe davon aus, dass sie schwimmen kann? Nicht, dass ich die Absicht hätte, sie zu retten, falls sie es nicht kann”, kommentierte sie trocken.

Valrad schloss seine Augen und schüttelte langsam den Kopf. “Kein guter Start”, murmelte er.

Vran’el nickte. “Nein, aber nicht gänzlich unerwartet, würde ich sagen. Wenngleich ich diesen… körperlichen Aspekt nicht kommen sah, muss ich zugeben.” Dann wandte er sich an Kilan. “Würdest du wohl Orrin, Junar und den jungen Vern zu deiner Residenz begleiten, Kilan?”

“Was ist mit Eryn und Enric?”, fragte Junar und legte ihrer Freundin schützend den Arm um die Schultern.

“Sie werden mit uns nach Hause kommen. Es gibt da etwas, das wir besprechen müssen”, antwortete Valrad anstelle seines Sohnes. “Ich möchte euch alle gerne einladen, euren ersten Abend in Takhan mit uns zu verbringen und mit meiner Familie und mir zu Abend zu essen. Ich bin sicher, ich muss euch nicht sagen, dass ihr bis dahin bei Kilan in fähigen Händen seid”, schloss er mit einem unbehaglichen Lächeln.

Sie sahen zu, wie sich Malriel aus dem Wasser zog. Als sie stromabwärts des Schiffes eine eiserne Leiter emporkletterte, klebten ihre nassen Kleider an ihrem schlanken Körper, und ihr langes, dunkles Haar war an ihren Kopf geklatscht. Zurück an Land, schloss sie die Augen, und einen Moment später begann Dampf aufzusteigen, als sie sich mit Magie trocknete. Eine Minute später war kein Anzeichen mehr von ihrem Sturz in den Fluss sichtbar, und sie kehrte zurück, ihr warnender Blick auf ihrer Tochter.

Orrin ergriff Eryns Oberarm und knurrte: “Das ist kein verantwortungsbewusster Einsatz der Dinge, die ich dir beigebracht habe. Jemanden zu attackieren, der aufgrund deines Zustands Skrupel hat, zurückzuschlagen, ist keine besonders noble Herangehensweise an die Kunst des Kämpfens.”

Sie fletschte die Zähne, als sie zurückfauchte: “Dazu kann ich dir nur sagen, dass mir das vollkommen gleichgültig ist. So richtig gleichgültig.”

Sie sah, wie Valrad ob dieses Austauschs die Stirn runzelte und befreite ihren Arm aus Orrins Griff.

“Warum sollen wir mit euch kommen? Ich würde lieber ein kühles Bad nehmen und mich dann irgendwo hinsetzen und für eine Weile entspannen”, meinte sie dann, während sie Malriel im Blickfeld behielt, falls sich eine weitere Gelegenheit für einen gut gezielten Tritt ergab.

“Das werde ich euch sagen, wenn wir zuhause sind”, sprach Valrad ruhig und griff nach ihrer Hand. “Das ist nichts, was ich in der Öffentlichkeit besprechen möchte.”

“Wird diese scheußliche Person auch kommen? Falls ja, brauchst du mit mir nicht zu rechnen”, knurrte sie.

Er seufzte. “Ja, Malriel wird uns begleiten. Und nein, du kannst dich nicht weigern mitzukommen.” In seinem Ton schwang unmissverständlich eine Warnung mit. “Enric, ich würde deine Unterstützung schätzen.”

Enric nickte langsam. Es schien, als hätten sie nun gerade einmal den harmlosen Teil hinter sich und würden sich nun dem stellen müssen, wovor Pe’tala gegraut hatte.

* * *

Eryn wartete, bis Malriel auf einem der Kissen im Vel’kim Hauptraum Platz genommen hatte und ließ sich dann dort nieder, wo sie am weitesten davon entfernt war, während sie ihr giftige Blick zuwarf. Enric glitt auf den Sitz neben ihr, und Valrad setzte sich auf das Kissen auf ihrer anderen Seite. Vran’el stellte auf dem niedrigen Tisch vor ihnen ein Tablett mit Gläsern, Wasser und Saft ab, dann ließ er sich zwischen seinem Vater und Malriel nieder. Pe’tala hatte sich dagegen entschieden, sich der Gruppe anzuschließen und lehnte stattdessen an einer Wand in der Nähe des Ausgangs.

Enric hob fragend eine Augenbraue, während er sie ansah. Fluchtgedanken? Sie warf ihm ein müdes Lächeln zu.

Valrad ergriff Eryns Hände und nahm sie zwischen seine eigenen, größeren. Er wartete, bis sie ihren Blick von Malriel abwandte und ihn ansah, bevor er das Wort an sie richtete.

“Eryn, mein Mädchen, Pe’tala hat mich informiert, dass du dir mittlerweile im Klaren bist über die Bedeutung der Krankheit, die dein Sohn geerbt hat.”

“Ja.” Sie schluckte hart und warf der Frau ihr gegenüber einen weiteren hasserfüllten Blick zu. “Es bedeutet, dass Malriel von Haus Aren in ihrem Lebensbund kaum mehr Rücksicht gezeigt hat als bei allem sonst, was sie tut. Sie war nicht nur untreu, sondern auch noch leichtsinnig genug, sich im Zuge dieser Affäre, betrunkenen Begegnung oder was immer es sonst war, schwängern zu lassen.”

Malriel öffnete ihren Mund, um etwas darauf zu entgegen, schloss ihn aber wieder, als Valrads Blick sie zum Umdenken veranlasste.

Eryn runzelte die Stirn. “Ich sehe nicht wirklich, warum du derjenige bist, der mit mir über ihren Fehltritt redet. Das an den Bruder des Mannes zu delegieren, dem sie das angetan hat, ist wirklich ein Tiefpunkt, sogar für sie. Aber ich schätze, das was sie tut, sollte mich nicht länger überraschen.”

“Eryn”, sagte Valrad eindringlich, “bitte hör mir einen Augenblick zu! Das ist wichtig. Du hast Recht. Es war nicht richtig, dass sie dies hinter Ved’als Rücken getan hat, aber sie war nicht die Einzige, die Schuld daran trägt.”

Sie versuchte ihre Hand zurückzuziehen, doch der ältere Mann hielt sie fest. “Wenn du mir jetzt den Namen ihres Bettpartners sagen willst, damit ich meinen Ärger gleichmäßiger verteile anstatt ihr allein die Schuld zu geben, dann bin ich sehr enttäuscht von dir. Es kümmert mich nicht, mit wem sie ins Bett gegangen ist. Er hat keinerlei Bedeutung für mich.”

Valrad schloss die Augen und drehte seinen Kopf für einen Moment zur Seite.

Der Gedanke traf Enric wie eine Faust in den Magen, und mit einem scharfen Atemzug sog er die Luft ein. Sein Blick sprang zu Pe’tala, die ihm einmal zunickte; sie hatte erraten, dass es ihm klargeworden war.

Eryn drehte sich zu ihm, als sie seinen Schock durch das Geistesband wahrnahm. “Was?”

Er schüttelte nur den Kopf und errichtete rasch eine Barriere, damit er sie nicht länger ablenkte und beunruhigte.

“Eryn”, sagte Valrad sodann, sein Gesicht ernst, seine Kiefer aufeinandergepresst. “Das ist von erheblicher Bedeutung für dich. Für uns alle. Ich war der Mann, mit dem sie ins Bett ging, als du gezeugt wurdest.”

Sie erstarrte, ihr Blick verständnislos auf ihn gerichtet. Da waren… Worte. Sie verstand die Bedeutung jedes einzelnen davon, aber zusammen ergaben sie keinerlei Sinn.

“Verzeihung?”, fragte sie höflich.

“Diese Knochenkrankheit, die dein Sohn geerbt hat”, erklärte er mit bekümmerter Miene, “wurde innerhalb unserer Familie schon seit vielen Generationen weitergegeben. Sie wird allerdings nicht an alle Männer vererbt – nur an einen von vier. Nicht an Ved’al. Aber an mich. Und ebenso an deinen Sohn.” Er suchte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, dass sie begriffen hatte, nach irgendeiner Gefühlsregung. “Eryn? Verstehst du, was ich dir sage? Ich bin dein Vater, und zwar nicht nur rechtlich gesprochen. Du bist von meinem Blut, meine Tochter.”

Ihr Kopf sank vorwärts, bis ihr Kinn auf ihrer Brust ruhte. Ihr Atem beschleunigte sich. “Nein. Das bist du nicht. Ich weigere mich zu glauben, dass du deinem eigenen Bruder so etwas angetan hättest. Nicht du. Du bist anständig. Das würdest du nicht tun.”

Sie sah auf seinem Gesicht den Schmerz, den ihre Worte ausgelöst hatten, und erst da wurde ihr eindeutig klar, dass er die Wahrheit gesprochen hatte. Die Pein, die diese Erkenntnis mit sich brachte, raubte ihr beinahe den Atem, und einen Moment lang bekam sie keine Luft. Enrics Arm um ihre Schultern presste sie an ihn, und sie spürte seine Lippen auf ihrer Schläfe. Sie benötigte einige Sekunden, um zu erkennen, dass seine Stimme Worte formulierte.

“Es tut mir so leid, Liebste.”

Sie schluchzte leise und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

Nach mehr als einer Minute flüsterte sie: “Ausgerechnet! Mir ist klar, wie sie so etwas tun konnte, aber du?” Ihre Stimme wurde schriller. “Er war dein Bruder, verdammt! Wie konntest du nur? Dabei hast du die Rolle des freundlichen Onkels so gut gespielt, als ich zum ersten Mal herkam”, rief sie aus, während eine Träne ihre Wange hinabrollte. “Ein Pech für dich, dass Malriel mir diesen Fruchtbarkeitstrank verabreicht hat, oder ich hätte das niemals erfahren!”

Valrads Kopf zuckte zu Malriel, und er starrte sie an. Seine Stimme donnerte durch das Haus, als er wütend knurrte: “Du hast was getan?”

Malriel zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden und presste ihre Lippen aufeinander. Weder bestätigte, noch bestritt sie es.

Enric sah Pe’tala überrascht an. “Du hast ihm nichts davon erzählt?”

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. Das ist nichts, was man mit einem Vogel schickt. Man weiß nie, wer diese Nachrichten abfängt und liest.”

“Ich schwöre dir, Eryn, dass ich davon nichts wusste. Und auch, dass ich keinen Verdacht hegte, ich könnte dein Vater sein. Es wurde mir erst klar, als Pe’tala mir die Ergebnisse ihrer Untersuchung übermittelte.”

Eryn schüttelte den Kopf und stand auf. “Ich muss hier raus”, murmelte sie und stolperte beinahe, als sie hastig über die großen Kissen kletterte, hin zu den Stufen, die zum Ausgang führten. Valrad versuchte ihr Halt zu geben, aber sie wich vor ihm zurück. “Fass mich nicht an!”, schnauzte sie ihn an und rannte auf die Treppe zu.

Enric sprang auf und versuchte ihr zu folgen, doch Pe’tala versperrte ihm den Weg und schüttelte den Kopf.

“Nein. Lass mich.”

Widerstreitende Gefühle huschten über sein Gesicht. Als sie hörten, wie die Tür unten geöffnet und kurz darauf zugeschlagen wurde, umfasste Pe’tala seinen Arm und fügte eindringlich hinzu, “Bitte?”

Schließlich nickte er und zwang sich dazu, zu bleiben wo er war.

“Vran’el?”, rief sie. “Bels Teehaus in einer halben Stunde.”

Als ihr Bruder wortlos nickte, rannte sie los, um Eryn einzuholen.

* * *

Plötzlich geblendet vom hellen Sonnenlicht taumelte sie kurz, bevor sie ihre Augen mit ihrer Hand beschattete und den Weg hinunterzulaufen begann, der von der Straße zum Gebäude hin anstieg.

Sie hielt kurz inne, als sie die Straße erreichte, die entlang des Vel’kim-Anwesens verlief. Dann entschied sie, sich keine Sorgen darüber zu machen, wohin sie ging, solange es nur weit genug fort war.

Eine Hand auf ihrer Schulter ließ sie aufschreien und herumwirbeln, bereit, einen weiteren Schlag auszuteilen, falls es sich um Malriel oder Valrad handelte. Aber es war Pe’tala, die vor ihr stand, ihr Gesicht grimmig und entschlossen.

“Komm”, befahl sie nur und umfasste Eryns Oberarm, um sie in eine Richtung zu drängen, die gemäß Eryns vager Erinnerung ins Stadtzentrum führte.

“Lass mich los”, befahl sie und versuchte ihren Arm zu befreien, doch die jüngere Frau hielt daran fest und zog sie mit sich.

“Nein. Du hörst jetzt damit auf und kommst mit mir. Ich kann dich wohl kaum allein, ohne einen einzigen Goldstreifen und mit kaum mehr als lückenhaftem Wissen über die Stadt herumlaufen lassen. Wer weiß, wo du landen würdest.”

Eryn lachte etwas zu laut, ihre Stimme bitter, als sie sagte: “Meine besorgte kleine Schwester, wie immens rücksichtsvoll von dir, dass du dich um mich sorgst.”

Pe’tala hielt an und drehte sich zu ihr, starrte ihr in die Augen und trat so nahe an sie heran, dass sich ihre Nasen beinahe berührten.

“Da hast du verdammt Recht, du Idiotin! Ein Monat war eine lange Zeit, um die Bürde dieses Wissens allein zu tragen. Ich sorge mich sehr wohl, und das habe ich getan, seit ich diese Erkrankung bei deinem Kind gefunden habe. Oder dachtest du, es wäre ein Zufall, dass ich gerade eben beim Ausgang Stellung bezogen habe, als du davon erfahren hast?” sagte sie streng. “Jetzt hör auf, Schwierigkeiten zu machen. Zumindest bis ich dich an einen Ort gebracht habe, wo wir reden können. Da du beträchtlich stärker bist als ich, bin ich auf deine Kooperation angewiesen. Hörst du?”

“Reden – mit dir?”

“Ja, mit mir. Glaub mir, jetzt gerade bin ich genau die Person, mit der du reden willst. Wie ich Vran’el kenne, ist er mit den jüngsten Entwicklungen sehr wahrscheinlich zufrieden, also würdest du ihn nur erwürgen wollen, wäre er hier. Dabei zählt es nicht, dass du ihn im Allgemeinen lieber magst als mich. Und Enric würde dich nur im Arm halten und sich dein Gejammer anhören, bevor er dir erklärt, wie sich die Situation auf eine Weise analysieren lässt, damit alles vorteilhaft erscheint.”

Eryn blinzelte und starrte sie nur an.

“Kommst du nun?”

Pe’tala wartete einen Moment lang, und als keine Antwort kam, setzte sie ihren Weg flotten Schrittes fort, ohne den Arm der anderen Frau loszulassen.

Eryn wusste nicht, wie lange sie so marschiert waren, bevor Pe’tala neben einem Teehaus anhielt, dessen weiße Zelte die Kissen auf dem Boden vor der Sonne schützten.

“Hinsetzen”, befahl sie und hob eine Hand, um einen Servierer herbeizurufen. Sie wies ihn an, die Tische um sie herum zwecks Privatsphäre freizuhalten und bestellte eine Kanne Tee mit dem Hinweis, sie so lange aufzufüllen, bis er das Gegenteil gesagt bekam. Dann sank sie neben Eryn nieder, streckte ihre Beine aus und seufzte erschöpft. “Es sieht so aus, als wäre deine Ankunft in Takhan nie eine erfreuliche Angelegenheit, was?”

Eryn atmete aus, lehnte sich zurück und schloss die Augen. “Nein, ich will mich nur irgendwo im Dunkeln verkriechen…” Ihre Stimme verstummte. Sie öffnete die Augen wieder, als sie Pe’talas Hand auf ihrer spürte.

“Deine Hand ist kalt, und dein Herz schlägt schneller als es unser kurzer Weg hierher rechtfertigen würde. Du stehst unter Schock. Ich werde etwas dagegen tun, da dies sonst für dich und das Kind gefährlich werden könnte. Hörst du?” Ihre Stimme klang ruhig, doch dahinter war Entschlossenheit.

“Warum fragst du mich das immer wieder?”

“Weil Verwirrung ein Schocksymptom ist. Entspann dich jetzt. Und errichte bloß keinen Schild oder etwas in der Art, oder ich werde den nächsten Magier, den ich des Weges kommen sehe, packen und ihn dazu veranlassen, dass er mir hilft, dich zu überwältigen, einfach nur, damit ich dir eins überbraten kann.”

Langsam schüttelte Eryn den Kopf und spürte, wie angenehme Wärme ihre Haut durchdrang, als Pe’tala Magie durch ihre Handfläche sandte. “Du hast wirklich ein Händchen für Patienten. Kein Wunder, dass sie sich ständig über dich beschweren.”

Pe’tala öffnete ihre Augen wieder und lächelte müde. “Unsinn. Sie beschweren sich zwar, doch in Wahrheit sind sie insgeheim entzückt. Wenn sie einander treffen, tauschen sie Schauergeschichten über meine Behandlungen aus. Ich leiste praktisch einen zusätzlichen Dienst an der Gemeinschaft, indem ich für Gesprächsthemen sorge.”

Eryn atmete aus und bemerkte, dass ihr das Denken nun wesentlich leichter fiel. “Was nun? Rede ich mir nun all meinen Gram und Kummer über meinen letzten Schicksalsschlag von der Seele, damit du meinen Schmerz mit dem Balsam schwesterlichen Mitgefühls lindern kannst, oder wie läuft das?”

“Ein interessantes Bild”, meinte die jüngere Frau mit einem schwachen Lächeln, “aber keines, das wirklich mit unseren Vorlieben übereinstimmt, nicht wahr? Lass uns stattdessen versuchen, gemeinsam verärgert zu sein.”

Eryn seufzte und nickte. “Sicher, warum nicht? Ich verstehe wohl, weshalb du verärgert bist.”

“Nein”, erwiderte Pe’tala scharf. “Das kannst du nicht. Noch nicht. Aber das wirst du vielleicht, wenn du einmal für eine Minute den Mund hältst und mich dir ein wenig über mich erzählen lässt.” Sie hielt inne, als der Diener eine Kanne aus Metall mit dampfend heißem Tee und zwei Gläsern brachte. Die Griffe wirkten so zerbrechlich, als würden sie jeden Moment abfallen, wenn man sie nur falsch ansah. Als er sich wieder zurückgezogen hatte, lehnte sie sich vor, um ihnen beiden Tee einzugießen und lehnte sich dann mit dem Glas in einer Hand wieder zurück, um fortzusetzen. “Ich war sehr jung, als meine Mutter mit einem Händler davonlief. Vier Jahre alt, um genau zu sein. Ich weiß, dass der Lebensbund zwischen ihr und meinem Vater kein besonders liebevoller war, aber ich habe ihr dennoch niemals verziehen, dass sie mich auf diese Weise zurückließ. Es gibt Möglichkeiten für eine Frau, sich von einem Mann zu trennen, ohne daraufhin jeglichen Kontakt zu ihren Kindern abzubrechen. Jedenfalls scheint es, als waren wir nichts anderes als eine Bürde für sie – es gab für uns keinen Platz in ihrem neuen Leben.” Sie legte eine kurze Pause ein und starrte in ihr Glas, bevor sie fortfuhr. “Im vergangenen Monat habe ich zu überlegen begonnen. Ich hätte meinen Vater niemals für den Typ Mann gehalten, der eine Affäre mit einer Frau beginnt, die mit einem anderen Mann verbunden ist. Besonders nicht mit der Gefährtin seines Bruders, und nicht während er selbst an eine Frau gebunden war. Aber nachdem ich hiervon erfahren habe… Ich habe begonnen, mich zu fragen, ob meine Mutter ebenfalls davon wusste und daraufhin beschloss, ihn zu verlassen.”

Eryn schluckte. Das also waren die Gedanken gewesen, die Pe’tala im letzten Monat beschäftigt hatten, während sie in einem fremden Land weit weg von ihrer Familie und ihren Freunden festgesessen hatte, ohne mit jemandem reden zu können.

“Ich wünschte, du hättest mir davon erzählt. Das war eine lange Zeit, in der du damit allein warst.”

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. Es stand mir nicht zu, das mit dir zu teilen. Und ich war verärgert mit Vater und wollte, dass er mit eigenen Augen sieht, welchen Schmerz dir seine Taten vor so vielen Jahren bereiten würden.” Sie sah auf und in Eryns Augen. “Es war seine Strafe. Und Malriels. Obwohl ich erwähnen sollte, dass er mich darum gebeten hat, dir nichts davon zu sagen. Er hat niemals von mir erwartet, dass ich seine Drecksarbeit erledige.”

“Sag für den Augenblick besser nichts Nettes über ihn”, meinte Eryn und zog eine Grimasse.

Pe’tala lächelte. “Also gut, ich werde das für den Moment vermeiden. Es gibt noch ein paar andere Gründe für mich, um böse auf ihn zu sein, also lass uns zuerst darüber sprechen. Eine Sache ist die Wahl seiner Liebhaberin. Ich meine, wie konnte er sich jemals zu so einer Frau hingezogen fühlen?” Ihr Gesicht verzog sich missbilligend. “Sie ist selbstsüchtig, rücksichtslos und nicht gerade zimperlich, wenn es um die Methoden geht, derer sie sich bedient. Welche Art von Mann findet solche Qualitäten anziehend? Ich gebe zu, dass sie sehr hübsch ist. Aber ich hätte niemals gedacht, dass mein Vater oberflächliche Reize ansprechend genug fände, um über das hinwegzusehen, was darunterliegt. Ich möchte ihm gerne zugutehalten, dass er jung war, aber das fällt mir sehr schwer. Dann frage ich mich immer wieder, wie gut ich meinen Vater wirklich kenne. Wie du bereits sagtest, ist es kalt und herzlos, seinem Bruder so etwas anzutun. Niemals hätte ich ihn als diese Art von Mensch eingeschätzt. Und schlussendlich ist da der absolut lächerliche Gedanke, dass ein vollständig ausgebildeter Heiler es nicht zuwege bringt, einem ungeplanten Kind vorzubeugen. Also bitte. Wie dumm kann man sein? Das passiert Halbwüchsigen, die entweder zu sehr im Moment gefangen sind, um einen klaren Gedanken zu fassen, oder die nicht verstanden haben, wie man eine Schwangerschaft vermeidet. Aber doch keinem erwachsenen Mann. Immerhin hatte er sich zu dieser Zeit bereits einen Namen als Heiler gemacht!”

Eryn wartete auf einen weiteren Grund, den sie als maßgeblich betrachtet hätte, aber er war nicht unter den angeführten gewesen.

“Und dann bin da noch ich”, wagte sie sich vor.

Pe’tala rieb sich über das Gesicht und schüttelte den Kopf. “Nein, Eryn. Du wirst das womöglich nicht glauben, aber du warst keiner der Gründe für meinen Ärger. Du hast das ebenso wenig verschuldet wie ich. Und weißt du, nachdem ich dich besser kennenlernen und diesen Schlamassel mit Ram’an hinter mir lassen konnte, habe ich mich entschieden, dass du keine dermaßen große Plage bist. Ich war überrascht von der Arbeit, die du in deinem Königreich geleistet hast. Und wie du dem Orden weiterhin entgegentrittst und ihn drangsalierst anstatt einfach das zu tun, was sie wollen, dich zurücklehnst und an der Seite deines mächtigen und reichen Gefährten ein Leben ohne Sorgen führst. Und ich gebe zu, dass deine Probleme mit Malriel es mir wesentlich erleichtert haben, dir zu verzeihen, dass du wie sie aussiehst.”

“Wie ungemein großzügig von dir”, murmelte Eryn.

“Was soll ich sagen? Für diesen Charakterzug bin ich bekannt”, sagte sie, bevor sie wieder ernst wurde. “Es macht mir nichts aus, dich als meine Schwester zu haben. Ich hatte Spaß in Anyueel, und du hast dafür gesorgt, dass ich problemlos akzeptiert wurde. Obwohl es einiges an Entschlossenheit von meiner Seite erforderte, dass Rolan nicht mehr vor mir zurückscheute aufgrund meiner mächtigen Familienbande, nämlich du und Enric.” Sie lachte vor sich hin, als sie sich daran erinnerte. “Ich schwöre dir, er hat Blut geschwitzt, als wir zum ersten Mal bei euch zuhause zum Abendessen eingeladen waren.”

Eryn lächelte leicht bei der Erinnerung an den Abend. “Ja, er wirkte, als wäre ihm unbehaglich zumute.”

Beide leerten ihre Gläser, und Pe’tala füllte sie wieder auf.

“Die Zeit, die du mit Ved’al verbracht hast, deine Erinnerungen an ihn, das ist etwas, das dir keine unangenehme Enthüllung wegnehmen kann, weißt du”, sagte sie dann. “Er war ebenso sehr dein Vater wie… nun, wie es unser Vater nun ist. Er hat dich großgezogen und dich zu der Person gemacht, die du heute bist.”

“Ich weiß”, seufzte Eryn. “Aber der Gedanke, dass all das eine Lüge war… Das mag recht grausam klingen, aber ich bin froh, dass er all das nie herausgefunden hat, dass er diesen Tag nicht erleben musste. Wie soll ein Mann darauf reagieren, wenn er erfährt, dass sein einziges Kind nicht von ihm, sondern von seinem Bruder ist?” Ausdruckslos starrte sie in ihre Tasse.

Sie sahen auf, als eine Gestalt neben ihrem Tisch stehenblieb. Eryns Augen wurden schmal, als sie ihn nach ein paar Augenblicken erkannte. Ram’an. Er wirkte überrascht, sie zu sehen, fing sich aber rasch wieder.

“Eryn. Pe’tala”, sagte er langsam. “Das kommt… unerwartet.”

Eryn antwortete nicht, sondern starrte ihn nur an. Er sah verändert aus. Dünner, mit mehr Linien um seinen Mund und auf seiner Stirn. Es schien, als bliebe ihm in seiner Position als Oberhaupt eines Hauses nicht viel Zeit für sich selbst. Oder zum Schlafen.

“Ram’an”, antwortete Pe’tala höflich, ohne aufzustehen. “Auf die Gefahr hin, unfreundlich zu wirken – würde es dir etwas ausmachen, uns für den Moment alleinzulassen? Wir führen hier ein sehr persönliches Gespräch und würden etwas Ungestörtheit schätzen. Ich bin sicher, wir werden einander bald wiedersehen. Entweder Malriel oder mein Vater werden sehr wahrscheinlich ein Willkommensessen veranstalten.”

Er blinzelte, dann nickte er. “Aber natürlich. Und ja, die Einladungen wurden bereits verschickt. Dann sehe ich euch also in zwei Tagen.” Eryn bemerkte seinen raschen Blick auf ihren Bauch, bevor er sich abwandte und auf eine Gruppe aus Kissen am anderen Ende des Teehauses zuging. Also hatte er offensichtlich von ihrer Schwangerschaft gehört. Gut so.

“Und ich dachte schon, dieser Tag könnte nicht noch unangenehmer werden”, murmelte sie und versuchte zu ignorieren, dass er noch immer nahe genug war, dass eine Drehung ihres Kopfes reichte, um ihn zu sehen.

Pe’tala blickte gezielt auf das Armkettchen an ihrem Handgelenk. “Ich hatte den Eindruck, dass ihr als Freunde voneinander geschieden seid?”

Eryn nickte und spielte mit dem Schmuckstück. “Das hatte ich auch gedacht. Aber unsere Korrespondenz war am Anfang frostig und ist nach einer Weile vollkommen abgebrochen.” Sie zuckte mit den Schultern. “Allerdings bereitet mir das nach dem, was ich heute erfahren habe, keine großen Sorgen mehr.”

“Ladies”, erklang Vran’els Stimme hinter ihnen.

Pe’tala seufzte und drehte sich um. “Das war keine halbe Stunde, Vran.”

Er zuckte die Achseln und quetschte sich zwischen sie. “Das macht nichts. Ich dachte mir, dass es besser wäre, euch durch mein verfrühtes Auftauchen zu verstimmen als voller Sorge zuhause zu warten.” Er hob einen Finger, um dem Servierer zu signalisieren, er möge eine weitere Tasse bringen. Dann sah er sie beide abwechselnd an. “So. Tala, mein Schatz, ich weiß, dass du schon eine Weile davon gewusst haben musst. Und Eryn, meine Liebe, ich verstehe, weshalb das für dich nicht eben ein tröstlicher Beginn für deinen Aufenthalt hier war. Aber ich muss sagen, dass ich sehr erfreut bin, dass ihr beide es offenkundig geschafft habt, gut genug miteinander auszukommen, um füreinander da zu sein, wenn es Probleme gibt.” Er griff nach Pe’talas Glas und leerte es. “Und wenngleich diese Sache im Moment wie schlechte Nachrichten und ein Schock erscheinen mögen, so…”

“Vran?”, unterbrach ihn Pe’tala, “Halt einfach die Klappe, ja?”

Eryn verdrehte die Augen. “Du hattest Recht. Viel zu heiter. Entsetzlich.”

“Was?”, fragte er verdutzt.

“Wir sind noch immer beim schmerzhaften Teil, wo wir unsere Gedanken austauschen, weshalb wir über Valrad verärgert sind”, erklärte Eryn.

“Verärgert?” Seine Verwirrung verstärkte sich. “Weshalb solltet ihr verärgert über ihn sein? Was würde das ändern?”

“Meine Güte”, seufzte Pe’tala. “Kannst du nicht einfach wieder gehen? Dieses Gespräch verlief wesentlich sinnvoller vor deiner Ankunft.”

Vran’el nahm ein Glas vom Servierer entgegen und schüttelte den Kopf. “Sicher nicht! Mir scheint, als benötigt ihr hier dringend ein wenig positiven Einfluss.”

“Versuch jetzt bloß nicht, mir gegenüber positiv zu sein”, knurrte Eryn. “Wenn du mir etwas Nettes mitteilen willst, dann sag mir, dass niemand außer uns jemals von diesem jüngsten Familiendrama erfahren wird.” Sie beobachtete, wie Vran’els Miene plötzlich betont ausdruckslos wurde. “Vran’el? Warum habe ich das Gefühl, dass du mir gleich etwas sagst, das mir überhaupt nicht gefallen wird?”

Er räusperte sich, dann füllte er mit übertriebener Sorgfalt sein Glas aus der Kanne auf dem Tisch nach, eindeutig, um Zeit zu schinden.

“Vran’el!”, bellte sie. “Hör auf herumzuspielen und sprich mit mir! Wer außer uns weiß sonst noch davon?”

“Bislang niemand”, sagte er langsam. “Aber du erinnerst dich sicherlich, dass Männer, die in Haus Vel’kim hineingeboren werden, für ihre Hingabe und Zuneigung, was ihre Nachkommen betrifft, bekannt sind?”

Sie nickte und bedeutete ihm fortzufahren.

“Vater plant, dich bei der nächsten Senatsversammlung als seine leibliche Tochter anzuerkennen, zusätzlich zu seinem Status als dein rechtlicher Elternteil.”

“Was?” Eryn starrte ihn an, ihr Mund sperrangelweit offen. “Du musst ihn aufhalten! Das wird für keinen von uns gut aussehen!”

Vran’el bedachte sie mit einer Miene, die sie als sein Juristengesicht kennengelernt hatte: geringfügig nachsichtig mit einem Hauch von ehrwürdiger Überlegenheit. “Ich fürchte, ich kann deinem Wunsch in dieser Angelegenheit nicht entsprechen. Er nähme es nicht gut auf, würde ich mich in dieser Sache ungebeten einmischen. Und er hat Recht, es ist nur korrekt und angemessen, dass er für seine Taten öffentlich Verantwortung übernimmt.”

“Ihr seid beide irre geworden!”, rief sie aus. “Ich bin dagegen!”

“Siehst du, er ist das Oberhaupt deines Hauses. Wenn er also entschlossen ist, das zu tun, sind deine Einwände eher nutzlos, fürchte ich”, meinte er schulterzuckend.

“Was ist mit Malriel? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so einer Sache zustimmt”, wandte Eryn eindringlich ein. “Sie kann und wird ihn aufhalten, oder etwa nicht?”

“Nein, Herzblatt, sie wird es nicht einmal versuchen”, seufzte er. “Aren Frauen sind ein streitsüchtiger Haufen, aber sie sind nicht dumm und vermeiden es, sich auf einen Kampf einzulassen, wenn sie wissen, dass sie ihn nicht gewinnen können. Lehn dich also wieder zurück und trink noch ein Glas Tee; du kannst nicht verhindern, was in zwei Tagen passieren wird. Du kannst dir das Ganze allerdings ansehen. Senatsversammlungen sind die meiste Zeit über öffentlich zugänglich, wie du dich sicher erinnerst.”

“Ich will nicht, dass irgendjemand davon erfährt! Warum ist er so begierig darauf, seine Schande mit der Welt zu teilen? Welcher Mann tut so etwas?”, stöhnte sie.

“Einer, der es nicht als Schande, sondern als Privileg betrachtet, mit einer weiteren Tochter beschenkt zu werden, würde ich meinen”, erwiderte er milde. “Eine Haltung, die ich teile.” Er ergriff Pe’talas Hand und drückte sie. “Eine Schwester war bisher ein Segen, und eine zweite ist nun sogar ein noch größerer.” Er setzte dazu an, auch ihre Hand zu ergreifen, aber sie wich ihm aus.

“Nicht”, zischte sie, “hör auf! Du verstehst wirklich nicht, weshalb mich das aufregt, oder? Für dich sind wir einfach nur eine große, glückliche Familie, wo sich nichts verändert hat, da ich ohnehin in euer Haus adoptiert wurde?”

“Eryn”, beschwor er sie, “wir haben dich geliebt, bevor wir davon erfuhren, und das tun wir noch immer. Du hast einen Vater verloren, als du noch ein Kind warst – warum siehst du nicht, welch ein Wunder es ist, dass du einen anderen gefunden hast und akzeptierst es einfach?”

“Weil diese Situation das Ergebnis aus Untreue, Lügen und Betrug ist! Wie würdest du reagieren, wenn du herausfändest, dass Obal nicht deine Tochter ist? Sag mir bloß nicht, du würdest das für gut befinden, weil deine Tochter mit einem weiteren Vater gesegnet wäre!”

Er zog eine Braue hoch. “Das ist wohl kaum ein angemessener Vergleich. Ich bin immerhin noch am Leben. Natürlich wäre ich darüber nicht erfreut. Aber Ved’al ist bereits seit langer Zeit tot, und somit ist niemand mehr da, der darunter leiden könnte.”

“Ich leide darunter, verdammt!”, fauchte sie. “Ich will einfach nur etwas Zeit, um mich an diesen Alptraum zu gewöhnen, bevor jeder darüber redet.” Sie zwang sich, ruhig zu atmen und sich wieder zurückzulehnen. “Ich habe mich darauf gefreut, dich und deinen Vater wiederzusehen, das habe ich wirklich. Die Aussicht darauf war mehr oder weniger das einzig Positive daran, dass ich schon so bald wieder hierher herkommen musste. Und jetzt würde ich dich am liebsten erwürgen, weil du dermaßen starrköpfig in deinen Ansichten bist. Ich wünschte, ich könnte mich einen Monat lang vor Valrad verstecken! Beim bloßen Gedanken an das Abendessen, zu dem er uns heute Abend eingeladen hat, dreht sich mir der Magen um!”

“Eryn, bitte”, versuchte er es erneut, “das soll keine Bürde für dich sein. Alles, was er sich wünscht, ist die Chance, auch dir ein Vater zu sein.”

“Ich brauche keinen Vater”, schnappte sie. “Ist das so schwer zu verstehen? Ich hatte einen Vater, und der ist tot! Was ich brauche und was ich letztes Mal, als ich hier war, sehr geschätzt habe, ist ein Freund, ein Onkel, jemand, dem ich vertrauen kann! Aber das ist er nicht länger! Wie kann ich ihm jemals wieder vertrauen, nachdem ich herausgefunden habe, wie er nicht nur seinen Bruder, sondern auch seine eigene Gefährtin behandelt hat?” Sie stand auf und warf ihm einen finsteren Blick zu. “Ich habe nicht die Absicht, ihm als seine große Chance zur Wiedergutmachung seiner Taten von damals zu dienen. Ich brauche ihn nicht – ich will einfach nur meine Ruhe.”

Ihr Blick landete auf Ram’an, der sie von seiner entfernten Ecke des großen Zelts aus interessiert beobachtete. Ihre Augen verengten sich. Diese Gelegenheit war so gut wie jede andere. Sie nestelte an ihrem Armband herum, bis sie es geöffnet hatte, marschierte auf ihn zu und schleuderte es in seinen Schoß.

“Hier. Ich will es nicht mehr. Es sieht so aus, als hätten du und ich sehr unterschiedliche Vorstellungen von Freundschaft. Du hast deine Seite nicht erfüllt, und ich habe es satt, darauf zu warten, dass du zur Besinnung kommst. Hören wir doch damit auf, uns zu verstellen. Enric ist bestrebt, deinem Haus wieder auf die Beine zu helfen; du brauchst mich nicht dafür, um öffentlich zu demonstrieren, welch dicke Freunde unsere Häuser sind.”

Er blinzelte und schickte sich an aufzustehen, hielt aber inne, als sie herumwirbelte und davonstapfte.

Vran’el setzte ebenfalls dazu an, sich zu erheben und ihr zu folgen, aber Pe’tala seufzte und hielt seinen Ärmel fest, um ihn zurückzuziehen. “Lass sie gehen. Du hast gerade all meine Bemühungen zunichtegemacht, und zwar so richtig. Überdies muss ich sagen, dass ich manchen Dingen, die du von dir gegeben hast, nicht zustimme. Das ist kein Anlass zur Freude, sondern ein mächtiger Schock. Und anders als wir beide hatte sie noch keine Zeit, sich daran zu gewöhnen. Versuch beim nächsten Mal, etwas rücksichtsvoller zu sein.”

Er starrte seine Schwester an. Von ihr anlässlich eines Mangels an Mitgefühls gescholten zu werden passierte nicht oft. Üblicherweise war es umgekehrt. Er hob seine Hände und ließ sie dann hilflos wieder sinken.

“Ich wollte ihr nur zeigen, dass sie willkommen ist, dass sie bei uns ein Zuhause hat. Dass sie eine von uns ist”, sagte er, seine Miene verblüfft. “Es scheint, als hätte ich das ziemlich vermasselt.”

“Wenn man bedenkt, dass sie gerade aufgesprungen und davongelaufen ist, dann kann man das wohl behaupten, ja”, bemerkte sie mit scharfer Zunge.

“Wo bleibt die Rücksichtnahme, wegen der du mich gerade gemaßregelt hast?”, knurrte er.

Sie wollte soeben darauf antworten, schloss aber ihren Mund wieder, als sie sah, dass Ram’an langsam auf sie zukam. Sein Blick war auf das silberne Armband in seiner Hand, das Eryn ihm gerade entgegengeworfen hatte, gerichtet. Mit gerunzelter Stirn blieb er vor ihnen stehen.

“Was ist los?”, fragte er schlicht.

“Ich hatte nicht den Eindruck, dass ihr derzeit miteinander redet, also bin ich nicht der Ansicht, dass dir eine Antwort zusteht”, antwortete Pe’tala kühl, seufzte aber, als sie die Sorge auf seinem Gesicht sah. “Sieh einfach nur zu, dass du die nächste Senatsversammlung nicht versäumst. Das sollte deine Frage ausreichend beantworten.” Sie ließ ihren Blick an ihm auf- und abwandern. “Und du solltest hin und wieder auch einmal schlafen und deine Ernährungsgewohnheiten überdenken. Du siehst furchtbar aus. Das war ein professioneller, kostenloser Rat von deiner freundlichen Heilerin aus der Nachbarschaft.” Dann erhob sie sich und ließ einen halben Goldstreifen auf den Tisch fallen, um den Tee zu bezahlen. “Wenn ihr mich nun entschuldigt, ich muss sicherstellen, dass Eryn unbeschadet bei der Botschafterresidenz ankommt, oder Enric wird mir das Fell über die Ohren ziehen. Dass er nicht länger an die Einschränkungen gebunden ist, die der Orden seinen Magiern auferlegt, macht ihn nicht gerade weniger gefährlich.”

Ram’an blickte ihr nach, als sie davonging, dann sah er auf Vran’el hinab, der ebenfalls nicht besonders glücklich wirkte.

“Weißt du”, sagte er langsam, “die beiden friedlich beieinander sitzen zu sehen war kein Anblick, den ich in naher Zukunft erwartet hätte. Dass deine Ankunft zu irgendeiner Art von Eskalation führen könnte, war der nächste Schock. Aber dass Eryn wütend auf mich ist, während Pe’tala mich wie ein menschliches Wesen behandelt, wirft mich komplett aus der Bahn. Ich weiß nicht, was in Haus Vel’kim vor sich geht, aber ich bin fest entschlossen, die Senatsversammlung in zwei Tagen zu besuchen. Außer du verspürst den Wunsch, dich mir mitzuteilen?”, fügte er beiläufig hinzu.

Vran’el schüttelte den Kopf. “Nein. Ich kann nicht. Du wirst warten müssen, so wie auch alle anderen.”

Ram’an nickte langsam. “Also gut – das respektiere ich selbstverständlich. Solltest du deine Meinung ändern, wartet bei mir zuhause stets eine Flasche Wein.”

Vran’el lächelte dünn. “Du bist schamlos.”

“Und du bist besorgt, und das ist etwas, das ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Lass mir eine Nachricht zukommen, wenn ich etwas tun kann.”

“Danke. Ich schätze das Angebot, auch wenn ich es derzeit nicht annehmen kann.” Er stand auf. “Schönen Tag noch, Ram’an.”

Ram’an sah zu, wie der Erbe von Haus Vel’kim in Richtung seiner Residenz davonging. Das war interessant. Pe’tala war Eryn gefolgt, er aber nicht. In welchen Schwierigkeiten sie auch immer steckten, es schien sich dabei um etwas Gröberes zu handeln.

 

Kapitel 2

Konfrontation mit Valrad

Enric kämpfte gegen den Drang an, im Hauptraum der Botschafterresidenz auf und ab zu schreiten. Stattdessen stand er vor einem der großen Fenster und sah hinaus. Unglücklicherweise gewährte es ihm keinen Ausblick auf die Straße, sondern auf den begrünten Innenhof mit seinen Obstbäumen und dekorativen Sträuchern. Der Anblick war erheblich angenehmer als die staubigen Straßen, besonders während des Tages, doch seine Bedenken waren im Augenblick kaum ästhetischer Natur.

Er wusste, dass Eryn bei Pe’tala und Vran’el war, also gab es keinen Grund zur Sorge. Theoretisch. Sie würde sich wohl kaum irgendwelchen Ärger einhandeln. Doch der Gedanke, sie so unglücklich ganz ohne ihn irgendwo dort draußen zu wissen, beunruhigte ihn.

Kilan und Orrin saßen beide auf den Kissen auf dem Boden in der Mitte des Raumes und beobachteten ihn. Er hatte ihnen allen die Nachricht nach seiner Ankunft vor weniger als einer halben Stunde mitgeteilt. Junar hatte sich sofort zu sorgen begonnen und war drauf und dran gewesen, sich auf die Suche nach Eryn zu machen, ungeachtet dessen, dass sie die Stadt nicht kannte und es die heißeste Zeit des Tages war. Vern hatte es geschafft, sie zu überzeugen, dass Eryn in guten Händen war und sie dann in ihr Schlafzimmer begleitet, damit sie sich ausruhen konnte. Womöglich mit einem sanften Magieschub, um ihre Anspannung zu lösen.

Enric sah auf sein Handgelenk hinab und bemerkte erleichtert, dass sich die Symbole darauf zu verdunkeln begannen. Das bedeutete, dass sie sich der Residenz näherte. Endlich.

Nur Minuten später hörte er, wie die Tür im unteren Stockwerk geöffnet. Er eilte zu den Stufen und sah Eryn und Pe’tala eintreten. Er ermahnte sich, dass es wenig hilfreich wäre, wenn er nervös und besorgt wirkte. Daher wartete er oben an der Treppe auf sie anstatt ihnen einem ersten Impuls folgend entgegenzustürmen.

Als beide Frauen bei ihm angekommen waren, zog er seine Gefährtin in eine zärtliche Umarmung, küsste sie auf die Schläfe und hielt sie fest, bis sie sich kurz darauf befreite.

“Wein”, murmelte sie. Enric sah Pe’tala fragend an, und sie nickte.

“Ein Glas. Nicht mehr”, stimmte sie zu, bevor sie sich zu den beiden Männern setzte. “Und etwas Gehaltvolleres für mich, wenn du so gut wärst.”

Kilan setzte dazu an aufzustehen, aber sie rollte mit den Augen. “Bleib sitzen, Kilan. Der große und mächtige Lord wird es sicher hinbekommen, mir ohne deine Hilfe etwas zu trinken zu servieren. Ich habe ihn schon dabei beobachtet. Er ist recht gut darin, wenn man bedenkt, dass er ein reicher Barbar ist, der es nicht einmal vermochte, sich selbst zu verköstigen, als er das erste Mal hierherkam.”

Enric schenkte ihr ein Glas ein und lächelte in sich hinein. Diese Frau hatte ein Talent dafür, angespannte Situationen aufzulockern, indem sie sich über jemanden lustig machte. Oder solche Situationen auszulösen, indem sie genau das tat – wie auch immer man es betrachten wollte.

Er drückte Eryn ein Glas süßen Weins in eine Hand und ergriff ihre andere, um sie mit sich zu den Sitzkissen zu ziehen. Jetzt, wo sie wieder an seiner Seite war, war ihm wesentlich wohler zumute.

“Hat er euch schon über das neueste Drama informiert?”, fragte Pe’tala die Männer, während sie das Glas von Enric entgegennahm.

Orrin nickte und klopfte auf den Platz neben sich, damit Eryn sich zu ihm setzte. Er legte ihr einen starken Arm um die Schultern und zog sie an sich, um ihr einen Kuss auf die Schläfe zu drücken, genau wie ihr Gefährte es davor getan hatte.

Pe’tala seufzte. “Weißt du, ich vermute stark, dass dies der Grund ist, weshalb mein Vater vorher etwas gefühllos mit dir umgegangen ist, Orrin.”

Der Krieger runzelte die Stirn. “Verzeihung?”

“Diese unkomplizierte Wärme zwischen euch, die mehr nach väterlicher Zuneigung als nach normaler Freundschaft aussieht. Du musst wissen, dass Gastfreundschaft in meiner Kultur ein ungeschriebenes Gesetz ist, eine Lebensweise. Die Art und Weise, wie er dich heute behandelt hat, war ein Bruch damit, und ich möchte dir verständlich machen, weshalb er sich so verhalten hat.”

“Das ist nicht nötig”, versicherte ihr Orrin.

Sie nahm einen großzügigen Schluck von der klaren Flüssigkeit und verzog einen Moment lang das Gesicht, während sich der Alkohol seinen Weg den Hals entlang brannte. “Oh, glaube mir, das ist es doch. Von einem Mann in seiner Stellung wird erwartet, dass er als Vorbild dient. Wenn diejenigen mit den entsprechenden Mitteln zu ihrer Verfügung keine Gastfreundlichkeit zeigen, von wem können wir es dann erwarten?”

“Was genau willst du mir damit sagen?”, erkundigte sich der Krieger mit missmutiger Miene. “Dass er eifersüchtig auf mich ist?”

“So etwas in der Art vermute ich, ja”, stimmte sie zu. “Siehst du, Kinder werden in meinem Haus als etwas ungemein Wertvolles erachtet. Vel’kim Männer sind gefragt als Väter, weil sie ihren Kindern sehr ergeben sind, auch wenn das nicht immer unbedingt auch für ihre Gefährtinnen gilt”, fügte sie düster hinzu. “Der Gedanke an eine Tochter, die ihm nicht nahe steht – die sich sogar weigert, ihn als ihren Vater anzunehmen – ist zweifellos eine immense Bürde für ihn. Und dann dich mit ihr zu sehen, wie du sie maßregelst, als ob es das Natürlichste der Welt wäre, und zu beobachten, wie sie genau wie eine starrköpfige Tochter darauf reagiert, war wahrscheinlich ein wenig zu viel für ihn.”

“Dann ersuchst du mich also darum, Abstand zu Eryn zu halten, solange dein Vater in der Nähe ist?”, fragte er ruhig, sein Blick ausdruckslos.

“Nein, das ist es nicht, worum ich dich ersuche. Ich würde es nicht wagen, so etwas Dämliches vorzuschlagen. Ich sehe nicht, weshalb auch nur einer von euch vorgeben sollte, dass ihr einander weniger wichtig seid als es der Fall ist. Und das nur, weil mein Vater eine unrealistische Vorstellung davon hat, dass seine lang verschollene Tochter sich ihm einfach so in seine Arme werfen würde.”

Orrin entspannte sich sichtlich. “Gut. Das hätte ich nämlich nicht gut aufgenommen.”

Pe’tala lachte leise. “Ja, den Eindruck hatte ich auch. Ich bin nicht in den Kampfkünsten ausgebildet, und ich denke, dass du mir an Stärke erheblich überlegen bist. Ich versuche möglichst, dich nicht zu verärgern, wenn es sich vermeiden lässt.”

Kilan grinste. “Kluges Mädchen.”

“Ich weiß”, grinste sie zurück.

“Solche Überlegungen haben dich aber nicht davon abgehalten, Lord Tyront zu provozieren”, betonte Orrin.

“Wie ich schon sagte, ich tue es nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. An diesem Tag bei der Ratsversammlung gab es keine Möglichkeit, es zu vermeiden. Ich bin ein Verfechter des Ansatzes, Dummheit mit Missbilligung zu begegnen. Wie sonst sollen sie von ihren Fehlern lernen?”, meinte sie achselzuckend.

Enric beobachtete Eryn, wie sie in ihr Glas starrte. Abgesehen von der Bestellung ihres Getränks hatte sie kein einziges Wort geäußert. Pe’tala folgte seinem Blick, dann räusperte sie sich.

“Nun, Eryn, ich schätze, du und ich werden uns nun daran gewöhnen müssen, einander als Schwestern zu bezeichnen, ohne es wie eine Farce oder eine Beleidigung klingen zu lassen. Obwohl ich natürlich sehen kann, warum dir das schwerfallen wird. Ich bin die Jüngere, Hübschere und sehr wahrscheinlich auch die Talentiertere von uns beiden.”

Eryn blinzelte und sah auf. “Eines von drei. Nicht schlecht für den Anfang”, murmelte sie. “Aber zumindest hast du jetzt ein weibliches Vorbild, zu dem du aufblicken kannst. Womöglich schaffen wir es sogar, gemeinsam an ein paar deiner charakterlichen Defizite zu arbeiten, die hängengeblieben sind.”

Enric bedachte Pe’tala mit einem dankbaren Blick dafür, dass sie Eryn neckte, um sie aus ihrer Lethargie herauszuholen. Sie zwinkerte ihm zu.

Vern betrat den Raum, in seinen Armen seine Katze.

“Ram’an ist aufgewacht”, presste er zwischen zusammengebissenen Lippen hervor. Sein Gesicht war eine Maske des Schmerzes dank der Katzenkrallen, die sich in seine Schulter gruben. “Er ist nicht glücklich.”

Kilan schüttelte den Kopf. “Noch eine Katze. Zumindest ist die von der Größe her etwas kompakter, obwohl sie nicht gerade von der anschmiegsamen Sorte zu sein scheint.”

“Ram’an ist normalerweise sehr wohlerzogen und manierlich”, betonte Vern empört und sog scharf den Atem ein, als die Katze ihren schmerzhaften Griff verstärkte. “Jetzt gerade ist er einfach nur desorientiert und verängstigt.”

“Er ist nicht desorientiert oder verängstigt, wenn er auf meine Schuhe pinkelt”, knurrte Orrin.

“Das hat er schon seit Wochen nicht mehr getan!”, protestierte Vern. Erst jetzt schien er die beiden Frauen zu bemerken. “Oh, ihr seid zurück.” Sein Blick fiel auf das Weinglas in Eryns Hand. Entschlossen setzte er die protestierende Katze ab und ging zu ihr, um es ihrem Griff zu entziehen.

“Bist du verrückt geworden? Das ist nicht gut für dein Kind!” Er wandte sich Pe’tala zu. “Und du siehst einfach nur zu anstatt einzugreifen!”, rief er vorwurfsvoll aus.

Eryns Blick wurde streng. “Gib das zurück! Und zwar auf der Stelle! Pe’tala hat mir ein Glas gestattet, und das brauche ich wirklich dringend. Bring mich nicht dazu, es mir zurückzuholen. Das würde dir nicht gefallen.”

Wortlos griff Vern nach einem Wasserkrug vom Tisch und verdünnte den Wein, bevor er ihn zurückreichte.

“Nervensäge”, murmelte sie, nahm das Glas aber entgegen.

Vern nahm neben Pe’tala Platz. “So, dann seid ihr zwei also wirklich Schwestern. Das ist keine besonders große Überraschung, wenn ihr mich fragt. Fieses Temperament, sarkastisch…” Er schwieg, als ihm beide Frauen böse Blicke zuwarfen.

Sie wandten sich um, als sie das plötzliche Fauchen der Katze vernahmen.

“Ah ja”, seufzte Enric und erhob sich. “Urban ist endlich erwacht. Jetzt werden wir also sehen, wie sich die beiden vertragen. “Versucht euch nicht zu viel zu bewegen, das könnte sie erschrecken. Ich werde Urban lähmen, falls sie zu dem Schluss gelangt, dass Ram’an gerade die richtige Größe für ein Häppchen zwischendurch hat.”

Die Bergkatze schlich in den Hauptraum, beschwerte sich lauthals und ignorierte den kleinen roten Kater vollständig, obwohl er weiterhin fauchte und knurrte.

“Deine Katze ist nicht besonders angetan davon, wieder zurück in Takhan zu sein, was?”, kommentierte Kilan.

Enric schüttelte den Kopf. “So scheint es wohl. Wahrscheinlich erinnert sie sich daran, wie heiß es hier ist. Ihr üblicher Lebensraum besteht immerhin aus schattigen Wäldern. Aber zumindest zeigt sie soweit keinerlei räuberische Absichten gegenüber Verns kleinem Freund. Noch nicht.”

Laut maulend zog Urban zwei Kreise um die Kissen, bevor sie hinter Pe’tala stehenblieb, um an ihren Haaren zu schnuppern.

“Ja, mein Mädchen”, gurrte die Frau und kraulte die haarige Wange, die sich ihr entgegenstreckte. “Ja, ich bin auch hier. Keine Sorge, Kätzchen, heute Abend kannst du durch die Gärten der Vel’kim-Residenz streichen. Und in einer Woche wirst du über die der Aren Residenz herrschen.”

“Kätzchen”, murmelte Kilan mit einem Seitenblick. “Ihre Schultern sind so hoch wie meine Knie, und sie sagt Kätzchen.”

“Du bist so schlimm wie mein Bruder Vran’el”, kicherte sie. “Seine vierjährige Tochter zeigt keinerlei Angst, während er auf Zehenspitzen herumgeht, solange die Katze in der Nähe ist.

“Das Abendessen heute”, sagte Eryn ruhig. “Ich würde lieber nicht hingehen.”

“Aber natürlich wirst du hingehen”, warf Pe’tala ein, bevor Enric antworten konnte. “Eine Aren zeigt keine Angst, und eine Vel’kim weicht keiner unangenehmen Pflicht aus. Dazwischen bleibt nicht viel Raum zum Verstecken. Besonders nicht vor meinem… unserem Vater. Er mag meist nicht danach aussehen, weil er so freundlich und harmlos wirkt, aber behalte im Hinterkopf, dass er immer noch zu den fünfzehn wichtigsten Männern in diesem Land gehört. Sollte er zu dem Schluss gelangen, dass die einzige Möglichkeit, dich zu sehen, darin besteht, dass du aus der Botschafterresidenz aus- und in sein Haus einziehst, dann liegt das durchaus in seiner Macht.”

Eryn starrte sie an. “Das würde er nicht tun!”

“Darauf würde ich mich nicht verlassen. Er ist bekannt dafür, dass er auf gewisse Maßnahmen zurückgreift, wenn er sie als angemessen erachtet. Einmal bestrafte er mich für Ungehorsam, indem er dafür sorgte, dass einen ganzen Monat lang jedes einzelne kränkliche Kind jünger als zwei Jahre, das einen Heiler benötigte, zu mir geschickt wurde. Hinterher wollte ich meinen Kopf nur noch in einem Loch im Boden vergraben und nie wieder herausziehen. Zu diesem Zeitpunkt war ich fünfzehn, und damals war es mit meiner Geduld noch nicht so weit her wie heute.”

“Ja, genau”, murmelte Vern. “Geduld ist auf jeden Fall deine am stärksten ausgeprägte Tugend…” Er zuckte zusammen, als sie ihn am Ohrläppchen zog.

“Keine Achtung für ältere Leute, mein Junge. Und das, obwohl du in diesem spießigen Orden aufgewachsen bist.”

Er hob die Schultern. “Das sei Eryns schlechter Einfluss, wurde mir gesagt.”

“Unsinn. Für diese Ausrede bist du etwas zu alt. Du bist dabei, ein Mann zu werden, also stehst du besser dazu, dass du frech und schwierig bist. Das ist besser als zu sagen, dass dein Charakter aus dem Einfluss einer älteren Frau resultiert. Zumindest, soweit es Mädchen betrifft.” Sie sah ihn nachdenklich an. “Du bist doch an Mädchen interessiert, oder?”

Schockiert starrte er sie an. “Was? Aber natürlich bin ich an Mädchen interessiert! Ich fühle mich definitiv nicht zu Jungs hingezogen!”, rief er entsetzt aus.

Ihre Augenbraue wanderte nach oben. “Du kannst dich wieder beruhigen. Ich wollte nichts in dieser Richtung andeuten, ich habe nur gefragt. Und mit deiner Reaktion auf diese Frage solltest du etwas sorgsamer sein. Mein Bruder fühlt sich zu Männern hingezogen, und im Gegensatz zu deinem Heimatland akzeptieren wir hier diese Art der persönlichen Vorliebe.”

Vern erstarrte. “Vran’el? Zu Männern?”

Enric atmete hörbar aus. “Ich sehe schon, dass wir uns mit dieser Sache etwas früher befassen hätten sollen, um dir Gelegenheit zu geben, dich an den Gedanken zu gewöhnen. Vern?” Er wartete, bis der Junge sich ihm zuwandte. “Ich betrachte Vran’el mittlerweile als Freund. Er war eine große Hilfe, als wir ihn brauchten und ist ein intelligenter und warmherziger Mann. Ich würde es nicht gut aufnehmen, wenn ich sähe, dass du ihn aufgrund seiner persönlichen Neigungen bezüglich seiner Partnerwahl respektlos behandelst. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?”

Vern nickte langsam und schluckte. “Ja, L…Enric.”

“Lenric?”, gluckste Kilan. “Es scheint, als hättest du Schwierigkeiten damit, seinen Titel wegzulassen, junger Mann.”

“Das scheinen nicht die einzigen Schwierigkeiten zu sein, in denen ich derzeit stecke”, seufzte er und beobachtete, wie seine Katze dem größeren Tier nachstellte, eindeutig verdrossen darüber, ignoriert zu werden.

* * *

Eryn atmete tief ein, als Enric an die Tür der Vel’kim Residenz klopfte. Die Sonne war am Untergehen und badete die helle Fassade in warmes, oranges Licht. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis Valrad die Tür öffnete.

Seine Augen wanderten über die Gruppe, und seine Schultern schienen sich zu entspannen, sobald er Eryn erblickte. Offensichtlich hatte er befürchtet, sie würde nicht kommen.

Sein Lächeln wuchs in die Breite, und er trat beiseite, um seine Gäste eintreten zu lassen. Fröhlich bot er ihnen eine große Schüssel mit kühlen, feuchten Handtüchern an und erkundigte sich, ob Kilan ihnen den Brauch erklärt hatte, nachdem sie in der Botschafterresidenz eingetroffen waren. Junar bestätigte es und nahm das feuchte Tuch dankbar entgegen, um sich damit über Stirn und Hals zu wischen.

Als Valrad sich Eryn zuwandte, um ihr das nächste anzubieten, wurde seine Miene besorgt.

“Guten Abend, Kind”, sagte er sanft. “Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest. Trotz des aufreibenden Tages, den du hattest.”

“Ja, sicher”, sagte sie ruhig und rieb über ihr eigenes Gesicht, ohne ihn anzusehen. Sie hielt inne, als sie seine Finger an ihrem Kinn spürte, die ihr Gesicht zu ihm anhoben.

“Du siehst blass aus, mein Mädchen”, sagte er, nachdem seine Augen über ihr Gesicht gewandert waren. “Pe’tala sagte mir, dass sie heute eine Schockreaktion bei dir heilen musste. Du wirkst noch immer nicht, als hättest du dich vollständig erholt. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich einen Blick auf dich werfe?”

Eryn zwang sich dazu, nicht vor seiner Berührung zurückzuweichen. “Ja, um ehrlich zu sein, würde es das. Da du der Grund für meine derzeitige Stimmung bist, wäre es mir lieber, wenn du nichts tätest, dass irgendeine körperliche Nähe erfordert, wenn es dir nichts ausmacht.”

Valrad presste die Lippen aufeinander und ließ seine Hand von ihrem Gesicht sinken. “Ich verstehe, dass du kaum Zeit hattest, um mit dieser neuen Situation zurechtzukommen. Ich kann warten.”

Er bot Enric, Orrin und Vern jeweils ein Handtuch und sah dann auf Urban hinab, die begonnen hatte, seine Beine zu beschnuppern.

“Sieh an, sieh an, euer Biest ist noch beträchtlich gewachsen, seit ich sie das letzte Mal sah”, bemerkte er. “Vran’el wird darüber nicht besonders erfreut sein.”

Als sich alle erfrischt hatten, erklomm er ihnen voran die Treppe und begann eine zwanglose Unterhaltung. “Das ist die typische Anordnung einer Residenz in Takhan”, erklärte er den Neuankömmlingen. “Der Eingangsbereich und die Lagerräume sind alle unten, da es dort während des Tages kühler ist. Wir sind sehr darauf bedacht, unsere Wände zu isolieren, um so viel Hitze wie nur möglich abzuhalten. Der Hauptraum befindet sich im ersten Stock, ein großes, mittig gelegenes Zimmer, das als Zentrum des Familienlebens und für soziale Zusammenkünfte dient. Die Anzahl der Korridore und Zimmer hängt vom Reichtum und den Vorlieben des Hauses ab. Unsere sind etwas weitläufiger als die meisten, da mein Großvater vor zwei Generationen einen ganzen Flügel hinzugefügt hat. Zu dieser Zeit war es noch immer üblich, dass der Großteil der Familie unter einem Dach lebt. Vom Hauptraum aus kann man die Terrasse betreten. Aufgrund der Lage im ersten Stock ist sie üblicherweise höher ausgerichtet, sodass man über Stufen in die Gärten gelangt.”

Sie erreichten die oberste Stufe, und Vern bemerkte: “Dieser kleine Tisch zwischen den Kissen ist der einzige?”

Valrad nickte. “Das ist er in der Tat. Der in Kilans Gebäude wurde speziell angefertigt gemäß Ram’ans Anweisungen, als Eryn und Enric das erste Mal hier waren. Allerdings wurde mir gesagt, dass der aktuelle Botschafter ihn heutzutage kaum noch nutzt.”

Enric nickte. “Das sagte er mir ebenfalls. Er überlegt sogar, ihn irgendwo einlagern zu lassen.”

Vran’el kam aus der Küche, in seinen Händen eine große, dampfende Schüssel. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, als er sie erblickte, verwandelte sich aber rasch zu einem schockierten Ausdruck.

“Eure Katze! Bitte sag mir, dass sie jetzt vollständig ausgewachsen ist?” Seine Stimme war am Rande der Panik. Urban stellte die Ohren auf und trottete auf ihn zu, woraufhin er einen Schritt nach hinten wich.

“Bleib, wo du bist, du Monster!”, befahl er und schloss die Augen, als sie seine Anweisung ignorierte und ihn stattdessen zweimal umrundete, um zuerst an seinen Beinen zu schnüffeln und dann liebevoll ihre Seite an ihm zu reiben.

Pe’tala lachte, als sie das Zimmer von der angrenzenden Küche her betrat und nahm ihm die Schüssel aus den Händen. “Gib mir das, du armseliges Exemplar von einem Mann, bevor du unser Essen auf den Boden fallen lässt und wir uns mit kalter Verpflegung zufriedengeben müssen. Geh besser und hol Eryns Gericht.”

Eryn blinzelte bei dieser Szene, die so viele vertraute Elemente enthielt, die aber in der aktuellen Kombination so seltsam erschienen. Vran’el, der sich vor Urban fürchtete, Vern, der Fragen stellte, Valrad, der die Rolle des gutmütigen Führers übernahm, Pe’talas amüsante Sticheleien. Pe’tala und Vran’el hatte sie in der Vergangenheit nicht oft gemeinsam gesehen, besonders nicht in solch entspannter Stimmung. Solange Eryn hier war, hatte sich Pe’tala von ihrem Heim ferngehalten. Sie erkannte, dass die beiden miteinander auf die gleiche Weise umgingen, wie jeder von ihnen mit ihr selbst. Wie mit Geschwistern. Sie schob den Gedanken zur Seite und sah in Valrads Richtung. Es schien, als hätte er sie gerade angesprochen.

“Ich habe gefragt, ob ich dir etwas zu trinken bringen kann, Eryn.”

“Saft, danke”, antwortete sie und folgte Enric zu den Kissen, um sich hinzusetzen.

Orrin half Junar, sich neben ihr niederzulassen.

“Also, das ist ja alles recht gemütlich und so”, seufzte Junar, “aber das Hinsetzen und Aufstehen ist mit meinem Umfang doch eine Herausforderung.”

Eryn lächelte, fest entschlossen, den anderen den Abend nicht zu verderben. “Aber zumindest sieht es drollig aus, falls dich das tröstet.”

“Das tut es nicht, und ich freue mich schon darauf, dich in ein paar Monaten auszulachen”, erwiderte ihre Freundin.

Vran’el kehrte mit einer kleineren Schüssel aus der Küche zurück und platzierte sie in der Mitte des Tisches neben der größeren. Dann bedeutete er Enric, zur Seite zu rutschen, damit er neben Eryn sitzen konnte.

“Herzblatt, ich möchte mich für heute entschuldigen. Ich scheine es fertiggebracht zu haben, dir eine schwierige Situation noch weiter zu verschlimmern. Es tut mir leid. Wirst du einem Narren verzeihen, der zu sehr in seiner eigenen Welt gefangen war, um Rücksicht auf deine Gefühle zu nehmen?”

Sie lächelte, als er seine Stirn gegen ihre lehnte. “Das werde ich. Vorausgesetzt, dass du uns ein halbwegs anständiges Mal bereitet hast, versteht sich. Essen ist bei mir in letzter Zeit ein großes Thema.”

Er lachte. “Dann habe ich nichts zu befürchten. Du weißt, wie selbstbewusst ich bin, wenn es um das Kochen geht. Ich war besonders vorsichtig beim Würzen der Gerichte. Ich erinnere mich noch von Intreas Schwangerschaft her, dass ihr Magen empfindlicher war als vorher.”

Als sich Vran’el wieder zurücklehnte, um ihre Schüssel zu füllen, bemerkte sie, wie Vern sie mit einem ungehaltenen Stirnrunzeln betrachtete. Fragend zog sie eine Augenbraue hoch und seufzte, als er rasch wegsah. Sie war nicht in der Stimmung, sich mit irgendwelchen anderen Sorgen als ihren eigenen zu befassen. Das musste bis später warten.

Sie lehnte sich vor, um die Wasserschüssel zum Händewaschen zu benutzen, dann schob sie sie weiter zu Junar.

Sobald alle bereit waren, ihr Mal zu beginnen, beobachtete Vran’el, wie sie ihre Schüsseln aufhoben und wartete, bis der letzte von ihnen den ersten Bissen geschluckt hatte, so wie es von einem guten Gastgeber erwartet wurde. Dann begann er ebenfalls zu essen.

“Was sagst du, kleine Schwester? Habe ich zu viel versprochen?”, erkundigte er sich dann und seufzte, als sie bei der Anrede zusammenzuckte. “Daran solltest du dich besser rasch gewöhnen, Eryn. Ich habe die Absicht, dich regelmäßig so anzusprechen.”

Ihr Lächeln wirkte etwas angestrengt, als sie antwortete: “Ich würde Pe’tala nicht ihres Kosenamens berauben wollen, also warum benutzt du nicht einfach meinen Namen?”

Pe’tala schnaubte. “Keine Sorge meinetwegen. Er hat damit begonnen, mich Baby-Schwester zu nennen. Ist das zu fassen? Ich musste fünfundzwanzig Jahre alt werden um herauszufinden, dass ich nicht nur die Jüngere von zwei, sondern die Jüngste von drei bin, und das erste, was diesem Unmenschen von einem Bruder einfällt, ist, mich als Baby zu bezeichnen.”

“Weshalb beschwerst du dich?”, grinste Vran’el. “Immerhin passt es endlich zu deinem Benehmen.”

“Großartig”, seufzte Eryn und verspürte Unbehagen ob dieser natürlichen Akzeptanz der Tatsache, dass sie einfach so ein weiteres Familienmitglied dazubekommen hatten. “Wie nett von euch, euren Gästen eine Vorstellung der Vel’kim Geschwister des Verderbens angedeihen zu lassen.”

Die Bezeichnung brachte Pe’tala zum Lachen, und Vran’el grinste. “Vel’kim Geschwister des Verderbens. Gefällt mir. Du weißt aber, dass dich das ebenfalls miteinschließt?”

“Kinder”, schalt Valrad, “versucht euch zu benehmen. Wir haben Gäste, und ich fürchte, ihr vermittelt ihnen keinen besonders guten Eindruck.”

Enric lächelte. “Keine Sorge, sie kennen Eryn nun schon seit einer Weile und sind einiges gewohnt.”

Orrin nickte. “Ja. Vor nicht allzu langer Zeit verspeiste sie ihr Frühstück in meinem Bett und verteilte überall Krümel.”

Enric sah, wie sich Valrads Lippen leicht verspannten. Das war das einzige äußerliche Anzeichen seiner Betroffenheit über dieses weitere Beispiel darüber, wie nahe dieser Mann seiner Tochter stand.

“Nun, dann iss doch einfach als Gegenleistung dein Frühstück in ihrem Bett”, meinte Pe’tala mit einem Schulterzucken.

“Das gestaltet sich etwas schwierig”, scherzte er. “Ihr Bett ist immerhin auch das Bett meines Vorgesetzten.”

Eryn lächelte. “So ein Pech aber auch, was, Orrin?”

“Du warte nur. Wenn deine Schonzeit in ein paar Monaten vorbei ist, bist du mir wieder für dein Kampftraining ausgeliefert”, erwiderte er.

Pe’tala kaute nachdenklich, dann sagte sie: “Ich habe überlegt, ebenfalls Kampfstunden zu nehmen.”

Mehrere erstaunte Augenpaare konzentrierten sich auf sie.

“Was ist? An einem Ort, wo jeder sonst mit dem Schwert umgehen kann, bin ich die einzige Magierin, die es nicht kann”, erklärte sie und grinste, als sie hinzufügte: “Und mir hat sehr gut gefallen, wie Eryn heute mit der Königin der Dunkelheit verfahren ist. Ich habe es genossen, als sie in den Fluss getreten wurde. Das war sozusagen ein künstlerischer Akt. Das hat mich sehr beeindruckt.”

“Ein künstlerischer Akt?”, meinte Valrad mit einem missbilligenden Stirnrunzeln. “Ich denke nicht, dass eine derartige Glorifizierung von Gewalt eine angemessene Haltung für eine Heilerin ist, Tala. Und ich bin nicht damit einverstanden, dass du dies erlernen möchtest.” Sein Blick ruhte kurz auf Eryn, um eindeutig zu vermitteln, dass er alles andere als glücklich damit war, dass ihr dies aufgebürdet wurde und sie ihr Training fortsetzen würde müssen.

Orrin wechselte einen wissenden Blick mit Enric und setzte sein Mahl fort.

Pe’tala stellte ihre leere Schüssel sorgsam auf dem Tisch ab und sagte sanft: “Ich bin eine erwachsene Frau, Vater. Wenn ich mich entschließe, mir eine Fertigkeit anzueignen, die mir ermöglicht, mich besser an die Gebräuche des Ortes anzupassen, an dem ich mich eine Zeit lang aufhalte, dann werde ich genau das tun. Unabhängig davon, ob du zustimmst. Ich würde Orrin fragen, ob er willens wäre, mich zu unterrichten, doch da du ihn bislang nicht besonders freundlich behandelt hast, werde ich das wohl nicht in deiner Gegenwart tun.” Zum Ende hin war ihre Stimme merklich abgekühlt.

Valrad schloss einen Moment lang die Augen. Als er sie wieder öffnete, war seine Miene zu der üblichen Ruhe und Gelassenheit zurückgekehrt.

“Lass uns dies zu einem anderen Zeitpunkt besprechen, Tala”, sagte er milde. Er wandte sich Vern zu. “Möchtest du mich morgen in die Klinik begleiten, junger Mann? Es gibt da ein paar Leute, denen ich dich gerne vorstellen würde, darunter auch der Mann, der dich ersucht hat, die Illustrationen für sein Buch anzufertigen.”

Vern lächelte und nickte eifrig. “Das wäre fabelhaft, gerne!”

Dann sah er Eryn an. “Und du, Eryn? Wirst du uns begleiten? Iklan und Sarol fragen mich immer wieder, wann du vorbeikommen wirst”, fragte er vorsichtig.

Eryn schüttelte den Kopf. “Nicht morgen, nein. Es gibt da die eine oder andere Sache, um die ich mich morgen kümmern möchte.” Sich zum Beispiel an einem ruhigen Ort einzuschließen, ohne irgendjemanden von ihnen sehen zu müssen. “Ich werde später vorbeikommen. Ich kenne mich dort ja aus. Aber danke der Nachfrage”, fügte sie höflich hinzu. In seinen Augen konnte sie sehen, dass dies den Stich nicht linderte, dass sie ihm gesagt hatte, sie würde die Klinik bald genug aufsuchen, aber nicht mit ihm.

Vern stellte seine Schüssel sorgsam auf dem Tisch ab, sein Gebaren seltsam unbeholfen.

Enric sah ihn an und musste ein Grinsen unterdrücken. Er wartete darauf, dass man ihn fragte, ob er noch einen Nachschlag wollte, bestrebt allerdings, genau diesen Eindruck zu vermeiden.

Glücklicherweise war Vran’el ein rücksichtsvoller Gastgeber. “Darf ich dir noch eine Portion anbieten, Vern?”

Der Junge gab vor, über die Frage nachzudenken, bevor er langsam nickte. “Danke, das wäre nett.”

Vran’el füllte die Schüssel erneut und reichte sie Vern. Leichte Falten bildeten sich zwischen seinen Augen, als der Junge den Blickkontakt mit ihm vermied.

Als Vern fertig war, richtete sich Eryn auf. Jetzt, wo das Essen vorbei war, konnte sie weniger angenehme Angelegenheiten zur Sprache bringen. Nun, noch weniger angenehme. Der Abend war schon bislang nicht eben glatt verlaufen.

“Ich habe von deiner Absicht erfahren, in zwei Tagen vor dem Senat eine offizielle Erklärung abzugeben”, wandte sie sich an Valrad.

Er wappnete sich sichtlich und nickte. “Ja?”

Sie ermahnte sich zur Achtsamkeit. Es wie eine Forderung zu formulieren würde ihn kaum dazu bewegen, in ihrem Sinne zu reagieren. Es musste eine Bitte sein.

“Ich fühle mich damit nicht wohl. Ich würde dich ersuchen, diese Sache vorläufig für dich zu behalten.”

Valrads Augen wanderten über ihr Gesicht, dann schüttelte er langsam den Kopf. “Nein, Eryn. Ich fürchte, das kann ich nicht tun. Ich werde diese Angelegenheit bei der nächsten Senatsversammlung öffentlich bekannt machen. Von da an wirst du nicht nur im rechtlichen Sinn, sondern auch als meine leibliche Tochter anerkannt werden. Das ist die richtige Vorgehensweise.”

Eryn atmete aus. Sie hatte wirklich gehofft, dass er ihrer Bitte Folge leisten würde, also lösten seine Worte Ärger und Frustration in ihr aus. Sie fing Enrics warnenden Blick auf. Offenbar spürte er dies durch das Geistesband.

“Valrad”, sprach sie in ihrem vernünftigsten Tonfall. “Ich schätze deine sehr verantwortungsbewusste und ehrliche Herangehensweise im Umgang mit dem, was sich ergeben hat, doch es gibt ein paar Erwägungen, die Haus Vel’kim zum Schaden gereichen könnten.”

“Und welche wären das?”, fragte er sanft.

“Das würde ein schlechtes Licht auf dich als gegenwärtiges Oberhaupt des Hauses werfen, auf deinen Bruder, der damit als nichtsahnender, betrogener Gefährte dasteht, und schlussendlich auch auf mich als meines eigenen Onkels…” Sie brach rechtzeitig ab, bevor sie etwas von sich gegeben hätte, das auf jeden Fall als Beleidigung aufgefasst worden wäre.

“Deines eigenen Onkels was?”, fragte Valrad leise, aber sein Blick war stechend geworden.

Sie starrte in seine braunen Augen. Braun. Wie die von Ved’al. Der Bruder, den er so kaltherzig betrogen hatte, indem er sich einer körperlichen Beziehung mit seiner Gefährtin hingegeben hatte.

“Bastard”, sagte sie langsam und verspürte dunkle Genugtuung über den aufflackernden Schmerz in seinen Augen. “Meines eigenen Onkels Bastard. Ist es das, was du der Welt mitteilen willst, Valrad? Dass du nicht nur ein fürchterlicher Bruder und untreuer Gefährte warst, sondern auch ein nachlässiger Heiler, der es nicht geschafft hat, eine ungeplante Schwangerschaft zu verhindern?” Sie sah, wie Pe’tala kurz ihre Augen schloss und sie dann wieder öffnete, um ihr einen finsteren Blick zuzuwerfen. Ganz eindeutig schätzte sie es überhaupt nicht, dass ihre eigenen Worte dazu verwendet wurden, ihrem Vater auf diese Weise Schmerz zuzufügen.

“Achte auf deine Worte, mein Mädchen”, knurrte Valrad.

Eryn sprang von ihrem Platz auf, ihre Hände zu Fäusten geballt. “Ich bin nicht dein Mädchen! Von dir brauche ich mir nichts vorschreiben zu lassen!”

Valrad stand ebenfalls auf. “Damit liegst du falsch”, erwiderte er streng. “Ich bin das Oberhaupt deines Hauses, das allein verpflichtet dich, auf mich zu hören. Und ich bin dein Vater, ganz egal, wie ungehalten du darüber momentan sein magst.”

“Du bist nicht mein Vater”, zischte sie. “Ved’al war mein Vater! Dein Abenteuer zwischen den Laken mit Malriel macht keinerlei Unterschied für mich! Deine Schuldgefühle und fehlgeleiteten Wiedergutmachungsversuche kümmern mich nicht! Wenn du etwas Gutes tun willst, behalte diese ganze Sache für dich, anstatt uns alle der Lächerlichkeit preiszugeben!”

“Wenn das Bekanntwerden der Tatsache, dass du meine Tochter bist, für dich eine Frage der Lächerlichkeit ist, dann fürchte ich, wirst du lernen müssen, damit zu leben”, entgegnete Valrad verärgert. Seine Stimme war ruhig, doch das pulsierende Blutgefäß an seinem Hals zeugte von dem Aufruhr in seinem Inneren.

Pe’tala und Enric sprangen gleichzeitig auf.

“Eryn und ich werden einen Spaziergang im Garten unternehmen”, verkündete Enric und zog sie mit sich, zerrte sie halb zur Terrassentür hinaus und weit genug fort, damit sie außer Hörweite waren.

Er wollte sie zurechtweisen, doch als sie schwer atmend vor ihm stand und aussah, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, seufzte er einfach nur resigniert und zog sie an sich.

Ihr Gesicht in seiner Schulter vergraben, atmete sie seinen Duft ein, spürte, wie die Nähe zu ihm sie tröstete und beruhigte.

“Ich will nach Hause”, flüsterte sie.

“Ich weiß”, antwortete er, während er Malriel und den König im Stillen verfluchte, weil er ihrem Wunsch nicht nachkommen konnte.

“Ich will dort nicht wieder hinein”, sagte sie daraufhin und sah zu ihm auf.

Er seufzte. “Ich fürchte, wir müssen. Wir können jetzt schlecht gehen. Das alles ist schon unangenehm genug für Junar, Orrin und Vern. Wir sollten sie an ihrem ersten Abend in einem fremden Land nicht einfach sitzenlassen.”

Müde nickte sie. “Also gut. Dann bringen wir das hinter uns. Lass uns nicht länger als nötig bleiben, in Ordnung?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, nur noch eine Stunde, dann können wir uns verabschieden, ohne Anlass zur Verärgerung zu geben.”

Sie lachte, ihr Ton leicht hysterisch, als sie erwiderte: “Ja, verärgern wollen wir definitiv niemanden, nicht wahr?”

Als sie zum Hauptraum zurückkehrten, waren Valrad und Vern verschwunden.

“Vater zeigt Vern gerade seine Bibliothek”, erklärte Vran’el.

“Ja”, fügte Pe’tala hinzu, “um euch beiden Gelegenheit zu geben, euch zu beruhigen.”

“Ich bin ruhig”, sagte Eryn kalt.

“Sicher, das kann ich sehen”, bemerkte ihre Schwester säuerlich. “Ruhe geht in sanften, beruhigenden Wogen von dir aus.”

“Ach, halt die Klappe.”

Enric drängte sie dazu, sich wieder hinzusetzen und ein paar Schlucke von ihrem Saft zu nehmen.

“Vran’el?”, fragte sie dann.

“Ja, Herzblatt?”, fragte er vorsichtig.

“Ich habe eine Frage bezüglich einer rechtlichen Angelegenheit.”

“In Ordnung. Heraus damit. Aber ich muss dich warnen: Falls du meine Hilfe in Anspruch zu nehmen gedenkst, um Vater einsperren zu lassen, muss ich ablehnen”, lächelte er nur halb im Scherz.

“Jemandem einen Schwangerschafts- oder Fruchtbarkeitstrank, oder wie auch immer sonst sich das nennt, zu verabreichen, ist illegal, nehme ich an?”

Er nickte langsam. “Ja, das ist es.”

“Welche Bestrafung zieht das im Allgemeinen nach sich?”

Zweifelnd sah er sie an, während er langsam den Atem entweichen ließ. “Zum einen müssen die Kosten ersetzt werden, die das Aufziehen des Kindes mit sich bringt, sofern es jemand anderer als dein Gefährte war, der diese ohnehin tragen müsste. Dann muss üblicherweise noch eine zusätzliche Schadenersatzzahlung an die Mutter des ungeplanten Kindes geleistet werden.”

“Nur monetäre Strafen?” Eryn zog die Stirn in Falten. “Das kann sie sich problemlos leisten. Und Enric ist reich genug, somit würde es keinerlei Unterschied für uns machen, egal, wie viel sie zahlen müsste. Wie sieht es mit persönlichen Einschränkungen wie Arrest, Ausgangssperre oder Blockade ihrer Magie für eine gewisse Zeit aus?”

“Eryn”, seufzte Vran’el, “du hast so gut wie keine Chance, dass sie verurteilt wird. Du würdest beweisen müssen, dass sie es getan hat. Nach all der Zeit, die vergangen ist, ist das unmöglich.”

Sie schüttelte den Kopf. “Na gut, dann wird die Anschuldigung einfach nur dazu dienen, ihren Ruf zu schädigen. Auch wenn ich es nicht fertigbringe, dass sie verurteilt wird, werden die Leute doch sehr wohl wissen, dass sie es getan hat. Sie werden in Zukunft wahrscheinlich zweimal überlegen, ob sie mit ihr irgendwelche Geschäfte abschließen. Mein Entschluss, keine Kinder zu haben, war immerhin bekannt. Und dass ich so kurz nach ihrer Abreise aus Takhan schwanger geworden bin, ist ein recht offensichtlicher Hinweis auf ihre Schuld.”

Sie drehte ihren Kopf, als sie Enrics Stimme vernahm.

“Nein.”

“Nein? Es ist nicht offensichtlich?”, fragte sie nach, ihre Brauen verwirrt zusammengezogen.

“Nein, du wirst das nicht tun. Du wirst Malriel nicht beschuldigen, dass sie dir ein Kind eingepflanzt hat”, stellte er klar.

Sie blinzelte. “Warum nicht?” Dann verfinsterte sich ihr Blick. “Sag mir nicht, dass du dein Haus beschützt?”

“Das nicht.” Seine Miene war ernst. “Nicht mein Haus, sondern meinen Sohn. Ich will nicht, dass er mit dem Eindruck heranwächst, dass er uns von seiner Großmutter aufgezwungen wurde.” Er sah ihr in die Augen, und sie konnte die Entschlossenheit dahinter erkennen. “Du magst noch immer nicht besonders glücklich darüber sein, aber ich bin es schon. Und ich werde nicht zulassen, dass er glaubt, er wäre für uns irgendetwas anderes als ein Geschenk, ein Segen. Das steht nicht zur Diskussion.”

“Ich stimme zu, Herzblatt”, fügte Vran’el leise hinzu. “Er hat Recht. Deinen Sohn damit aufwachsen zu lassen, ist die Rache an Malriel nicht wert. Nicht auf diese Weise. Finde einen anderen Weg, es ihr heimzuzahlen.”

Sie sah zu Junar hin, die schützend eine Hand auf ihren Bauch gelegt hatte. Ihr Gesichtsausdruck war besorgt und eindringlich. Somit stand sie also ebenfalls auf Enrics Seite.

Orrin seufzte. “Das Kind kommt zuerst, Eryn. Das muss es. Wirklich, du würdest das bereuen.”

Eryn rieb sich mit beiden Handflächen über ihr Gesicht und ließ sich besiegt in die Kissen sinken. “Irgendwelche anderen Vorschläge, wie ich mich an ihr rächen kann?”

Junar lächelte. “Wie wäre es, wenn du sie noch einmal in den Fluss beförderst? Oder in etwas, wo sie nicht nur nass, sondern auch schmutzig wird? Wie einen Misthaufen oder so etwas in der Art?”

Eryn starrte sie kurz an, dann grinste sie. “Netter Anfang, aber nicht widerwärtig genug. Allerdings könnte ich mich mit einer Grube voll mit giftigen, stechenden Kreaturen anfreunden.” Dann wurde sie wieder ernst und sah Pe’tala an.

“Wie halte ich mir Valrad vom Leib?”

Pe’tala betrachtete sie nachsichtig. “Gar nicht. Er wird dich mürbe machen. Ein Grund, weshalb Vel’kim Männer gute Väter sind, ist ihre Entschlossenheit in Kombination mit ihrer Geduld. Er wird dir ein wenig Zeit gewähren, um dich an die neue Situation zu gewöhnen und dir die Chance geben, zu ihm zu kommen. Solltest du das nicht tun, wird er an dich herantreten.”

Eryn starrte sie an. “Dann sitze ich also in der Falle? Willst du mir damit etwa sagen, es gibt keinen Ausweg?”

“Doch, Schwester, den gibt es: Gib auf und lass zu, dass er dir ein Vater ist. Nichts weniger als das wird er akzeptieren.”

Sie schluckte hart und schüttelte den Kopf. “Es kümmert mich nicht, was er akzeptiert. Ich werde mich von ihm zu nichts drängen lassen.” Sie warf Pe’tala und Vran’el einen skeptischen Blick zu. “Warum akzeptiert ihr all das einfach so? Warum seid ihr nicht verärgert? Warum seid ihr nicht auf meiner Seite?”

“Das sind wir, Herzblatt”, sagte Vran’el traurig. “Bedauerlicherweise bist du es nicht.”

Eryn knirschte mit den Zähnen und sah Pe’tala an. “Also gut, er ist sentimental und nicht ganz klar im Kopf. Was ist mit dir? Warum diese Bereitwilligkeit, mich als deine Schwester zu akzeptieren? Du warst immerhin kurz davor, dieses Haus dem Erdboden gleichzumachen, als mich dein Vater damals adoptiert hat. Und damals dachtest du noch, ich wäre bloß deine Cousine.”

Pe’tala zuckte mit den Schultern. “Nun, was kann ich sagen? Vielleicht wollte ich ja tief in meinem Inneren immer eine Schwester, wer weiß? Und vielleicht, aber nur vielleicht, denke ich, dass du nach deinem Ärger mit der Königin der Dunkelheit einen richtigen Elternteil verdienst, einen, dem du wichtiger bist als seine eigenen Interessen. Habe ich erwähnt, dass ich die Bezeichnung wirklich toll finde? Es ist eine so zielgenaue Beschreibung.”

Eryn schüttelte den Kopf. “Es ist also kein Einziger von euch bereit, in dieser Sache meine Wünsche zu respektieren? Wirklich?”

Vran’els Augen wurden eng. “Du wirst dich doch jetzt nicht von uns ebenfalls zurückziehen?”

Sie sah ihn an. Hier sprach der Jurist, bemerkte sie, nicht der Cousin oder Bruder.

“Nein, selbstverständlich nicht”, lächelte sie und spürte, wie ihr Herz ein wenig brach bei dem Gedanken, dass sie zu ihm von nun an ebenfalls eine gewisse Distanz würde aufrechterhalten müssen.

Er studierte sie. “Tu das nicht, Eryn”, beschwor er sie, sein Blick stechend. “Das ist keine Fehde.”

Sie wandte den Blick ab. Nein, das war es nicht. Aber es würde Diplomatie daraus werden, die Kunst, Dinge anders erscheinen zu lassen, um alle Beteiligten ausreichend hinters Licht zu führen, damit ein Krieg verhindert werden konnte.

“Natürlich nicht, Vran”, murmelte sie, “Was für ein Gedanke.”

Ihr Blick fiel auf Junar, und das stille Verständnis in den Augen ihrer Freundin veranlasste sie, wieder wegzusehen. Das erschwerte ihr sonst nur, sich zu verstellen.

 

Kapitel 3

Schulden begleichen

Enric überprüfte ein weiteres Mal die Transportpapiere für die Güter, die mit ihnen auf dem Schiff eingetroffen waren, um sicherzugehen, dass die Listen alles enthielten, was er bestellt hatte. Ein Ballen violetter Seide war bislang das Einzige, was verlorengegangen war.

Kilan hatte ihm für den Morgen sein Arbeitszimmer angeboten, da es eine Sache gab, um die sich Enric kümmern wollte. Eine, die aufgrund ihrer eher delikaten Natur etwas Ungestörtheit erforderte.

Er hatte von dem kurzen Zusammentreffen am Vortag zwischen Eryn, Pe’tala und Ram’an im Teehaus erfahren, und auch von Eryns spontaner Entscheidung, ihm sein Armband zurückzuwerfen. Eine harsche Geste, und wohl keine, über die er besonders erfreut war, sinnierte Enric.

Ram’an war der Besucher, den er nun jeden Moment erwartete. Enric hatte ihm gestern Nachmittag eine kurze Nachricht zukommen lassen und kurz darauf eine Bestätigung für das Treffen heute erhalten. Die Residenz war im Moment still, wenn man bedachte, wie viele Menschen derzeit darin wohnten. Junar und Orrin waren bei einem Schneider, Vern war mit Valrad in der Klinik, und Kilan war mit jemandem in einem Teehaus verabredet. Außer ihm selbst befand sich nur Eryn in der Residenz.

Nach dem aufreibenden Tag, den sie hinter sich hatte, war Eryns Nacht ebenfalls nicht gerade friedvoll verlaufen. Stundenlang hatte sie wachgelegen, und die kurze Zeit, in der sie in einen unruhigen Schlaf abgedriftet war, hatte sie sich hin und her gewälzt. Erst in den frühen Morgenstunden, als sich der Tag bereits ankündigte, war sie schließlich von etwas übermannt worden, das eher einer Ohnmacht als Schlaf nahekam.

Er vernahm das Klopfen und bewegte sich rasch in Richtung der Eingangstür, um Ram’an Zutritt zu gewähren. Er wollte nicht, dass Eryn aufwachte und sich nur wenige Augenblicke nach dem Aufstehen unvermutet seinem Besucher gegenüberfand. Kurz hatte er überlegt, das Treffen in die Arbil Residenz zu verlegen, die Idee dann aber wieder verworfen, da er Eryn derzeit nicht alleinlassen wollte.

Nach dem Öffnen der Tür benötigte er einen Augenblick, um den Mann wiederzuerkennen, den er eingeladen hatte. Ram’an sah verändert aus, und nicht zu seinem Vorteil. Er hatte an Gewicht verloren, und in seinem Gesicht zeigten sich Furchen, die vor ein paar Monaten noch nicht vorhanden gewesen waren. Es schien, als hätten der Tod seines Vaters und die Anstrengung, die die Übernahme seines Hauses mit sich brachte, ihren Tribut gefordert.

“Ram’an”, nickte er und streckte seine Hand für die formelle Begrüßung aus. “Danke, dass du gekommen bist. Bitte tritt ein.”

“Enric”, nickte der andere Mann. “Deine Nachricht war ziemlich kurz gefasst, aber ich gehe davon aus, dass du mich nicht so kurz nach eurer Ankunft hier treffen würdest wollen, wenn es nicht wichtig wäre.”

Enric reichte seinem Gast ein feuchtes Handtuch und wartete, bis er Gesicht und Hände abgewischt hatte, bevor er ihm voran die Stufen emporstieg.

Nachdem Ram’an das Arbeitszimmer betreten hatte, schloss er die Tür und bedeutete ihm, sich zu setzen.

“Was kann ich dir zu trinken anbieten, Ram’an?”

“Wasser wäre angenehm, danke.”

Enric schenkte ihnen beiden ein Glas ein und stellte eines davon vor seinem Besucher ab, bevor er hinter Kilans Schreibtisch Platz nahm.

“Bevor wir zu dem kommen, weswegen du mich sehen wolltest, lass mich dir zu dem Kind gratulieren, dass ihr erwartet. Ich gebe zu, dass ich etwas überrascht war, dass du es fertiggebracht hast, ihre Meinung über das Kinderkriegen so rasch zu ändern.” Sein Blick enthielt eine Spur von Argwohn. “Zumindest gehe ich davon aus, dass du in der Lage warst, ihre Meinung zu ändern?”

“Der Gegensatz dazu wäre, dass ich sie gezwungen habe, schwanger zu werden?”, fragte Enric geradeheraus.

“Ich gebe zu, dass mir dieser Gedanke kam, ja”, gab Ram’an ruhig zu.

“Ich bin nicht so tief gesunken, nein.”

“Bedeutet das, sie wollte Kinder haben?”, erkundigte sich der Rechtsgelehrte erneut.

Enric spitzte die Lippen. Ein Mann des Gesetzes war also offenkundig nicht willens, sich mit ausweichenden Antworten zufriedenzugeben. Zumindest dieser hier nicht.

“Diese Behauptung ginge wohl ein wenig zu weit”, sagte er achtsam.

“Ach ja?” Ram’an verengte seine Augen. “Sagst du mir damit, dass sie dieses Kind nicht wollte, aber dass du nicht derjenige bist, der für seine Empfängnis verantwortlich ist?” Er dachte kurz nach, dann versteifte er sich und atmete tief ein. “Malriel.”

“Ich würde gerne betonen, dass ich keinerlei Anschuldigung dieser Art ausgesprochen habe”, stellte Enric teilnahmslos klar.

“Aber natürlich nicht. Sag mir, weshalb ich hier bin.”

Enric schob die Transportpapiere in seine Richtung.

Ram’an sah darauf hinab und runzelte die Stirn über die Liste, die verschiedene Arten von Wein, Stoffen, Gewürzen, Kräutern, Holz und Erz beinhaltete.

“Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.”

“Eine Schuld zwischen uns, die noch nicht beglichen wurde. Das erledige ich hiermit.”

Er beobachtete, wie sich auf dem Gesicht des anderen Mannes zuerst Verständnis und dann Schock ausbreiteten. “Eine Schiffsladung von Gütern… Oh nein. Das ist doch wohl nicht dein Ernst?”

“Doch. Eine Ladung meiner Güter im Austausch für eine Umarmung”, bestätigte Enric und zog seine Brauen hoch, als die Liste zu ihm zurückgeschoben wurde.

“Ich sagte dir schon, dass ich nicht erwarte, dass du diese Bedingung erfüllst. Ich wollte nur sehen, wie verzweifelt du damals wirklich warst und hoffte, dich als knauserig hinzustellen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du diese Bedingung tatsächlich ehrst.” Er kam auf die Beine und wandte sich zur Tür. “Und ich werde diese Waren nicht von dir annehmen. Ich verlange von einem Mann keine unanständig hohe Summe, damit er der Frau, die er liebt, beistehen kann. Guten Tag, Enric. Ich gehe davon aus, dass ich dich morgen im Senat sehen werde”, sagte er kühl.

“Ram’an, warte bitte”, seufzte Enric.

Der dunkelhaarige Mann atmete geduldig aus und drehte sich sichtlich widerwillig um.

“Wir wissen beide, dass du derzeit nicht in einer Position bist, wo du dir leisten kannst, eine Warenladung Güter von dir zu weisen, die einen sehr guten Preis erzielen wird. Mir wurde gestattet, sie zusätzlich zu dem bereits ausgeschöpften Handelskontingent zwischen unseren Ländern herzubringen, da die Waren nicht dafür gedacht sind, Gewinn für mich zu lukrieren. Ich könnte sie hier nicht einmal verkaufen, selbst wenn ich wollte. Damit würde ich die Bedingungen verletzen, unter denen ich sie hergebracht habe. Du nimmst sie also entweder an, oder ich kann sie ebenso gut auf der Straße verschenken.”

“Ich kann sie nicht annehmen. Deine Geste mag nobel sein, aber es wäre eine Schmach für mich, sie zu akzeptieren”, sagte Ram’an leise. “Du hast Recht, momentan bleibt mir nicht viel, mein Haus steht am Rande des Ruins. Aber ich habe immer noch meinen Stolz. Ich werde einen anderen Weg finden, um mein Haus wieder auf Kurs zu bringen.”

Enric seufzte. Stolz. Natürlich. Das war kaum eine große Überraschung. Er selbst hätte sehr wahrscheinlich ähnlich reagiert.

“Dann lass mich dir stattdessen ein Angebot unterbreiten. Du wirst die Waren von mir annehmen und sie als Darlehen betrachten, das dir ermöglichen wird, deinen derzeitigen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen.” Mit einem dünnen Lächeln fuhr er dann fort mit etwas, wovon er wusste, dass er dem Mann ihm gegenüber damit ermöglichte zuzustimmen. “Ich tue das nicht aus reiner Herzensgüte. Ich werde Haus Aren für einige Zeit übernehmen, und Haus Vel’kim ist im Moment der einzige Verbündete, bei dem ich sicher sein kann, dass er mir erhalten bleibt. Deinem Haus dabei zu helfen, dass es sich wieder erholt, wird mir deine Gunst einbringen. Und für Haus Aren ist ein starker Verbündeter wesentlich nützlicher als ein schwacher. Sehen wir zu, dass du zu beiderseitigem Nutzen wieder auf die Beine kommst.”

Ram’an starrte ihn an, eindeutig hin- und hergerissen. Enric wartete geduldig, bis er zustimmend nickte.

“Gut. Dann wirst du die Rückzahlung in Angriff nehmen, sobald du es dir leisten kannst. Lass dir damit ruhig Zeit. Wie ich schon sagte, meine Interessen sind in deinem Fall nicht finanzieller Natur.”

“Ich werde eine formelle Vereinbarung vorbereiten, damit wir die Bedingungen unserer Abmachung in schriftlicher Form haben”, seufzte das Oberhaupt von Haus Arbil. “Ich werde einen Boten schicken, sobald ich fertig bin, damit du den Inhalt genehmigen kannst.”

“Nicht nötig. Da ich willens war, dir die Waren unentgeltlich zu überlassen, werde ich mit jeglichen Bedingungen zufrieden sein, die du als angemessen erachtest.”

“Dann schätze ich, dass alles, was für mich noch zu tun bleibt, ist, dir zu danken.”

Enric schüttelte den Kopf. “Dazu besteht kein Anlass. Ich denke, ich habe klargestellt, dass ich es nicht aus reiner Wohltätigkeit tue.”

Ram’an brachte schließlich ein Lächeln zustande. “Natürlich nicht. Einen Moment lang entfiel mir, dass du ein harter, nüchterner Geschäftsmann bist, auf nichts anderes als seinen eigenen Vorteil bedacht.”

“Gib dich nicht dem Irrtum hin, ich wäre nachgiebig, weil ich dich nicht trete, während du auf dem Boden liegst”, erwiderte Enric milde. “Auch ich habe meinen Stolz.”

“Diesen Fehler würde ich nicht machen. Eryn hätte keinen schwachen Mann akzeptiert.”

Gut, dachte Enric. Er hatte schon überlegt, wie er dieses Thema zur Sprache bringen konnte.

“Wegen Eryn. Ich gehe davon aus, dass du keine Hoffnungen mehr hegst, sie für dich zu gewinnen, jetzt wo wir nicht nur in ein Band dritten Grades eingetreten sind, sondern auch ein gemeinsames Kind haben werden.”

Ram’an funkelte ihn an. “Nein, Ich bin kein Narr. Ich weiß, wann ich besiegt bin.”

“Vortrefflich. Dann kann ich dich ja bedenkenlos darum ersuchen, die Dinge zwischen euch wieder in Ordnung zu bringen. Nach dem gestrigen Tag könnte sie einen weiteren Freund hier gut gebrauchen.”

“Gestern, ja…” Ram’an nickte langsam. “Ein ziemliches Chaos, wie es scheint. Ein heikles Thema für Haus Vel’kim, das ihnen erhebliche Sorgen bereitet. Ich kann mir vorstellen, dass Eryn mit dieser ganzen Sache alles andere als glücklich ist. Besonders, da die gesamte Angelegenheit morgen im Senat enthüllt werden wird.”

Enric kniff die Augen zusammen. “Du weißt darüber Bescheid?”

“Aber natürlich. Diese Art von Neuigkeit lässt sich in einer Stadt wie dieser kaum geheim halten.”

Beide Männer betrachteten einander einige Augenblicke lang, bevor Enric langsam den Kopf schüttelte. “Moment mal; ich denke, du versuchst mich dahingehend auszutricksen, dass ich dir davon erzähle! Pe’tala sagte mir, dass sie gestern im Teehaus auf dich getroffen sind. Clever.”

“Nicht clever genug, wie es aussieht”, seufzte Ram’an. “Dann werde ich wohl doch bis morgen warten müssen. Kannst du mir zumindest sagen, ob es schlechte Neuigkeiten sind? Die drei erschienen gestern im Teehaus reichlich aufgewühlt.”

Enric verzog das Gesicht. “Die Schwierigkeit dabei ist, dass es davon abhängt, wen du fragst, ob die Antwort darauf ja oder nein lautet.”

Ram’an öffnete die Tür des Arbeitszimmers und trat hinaus in den Korridor, der zum Hauptraum führte. “Nun gut, dann werde ich bis zur Senatsversammlung warten.”

Enric verspürte eine Welle von Verdruss und Panik durch das Geistesband. Das konnte nur bedeuten, dass Eryn aufgestanden war und Ram’ans Stimme vernommen hatte. Sie wusste nichts davon, dass er das Oberhaupt von Haus Arbil gebeten hatte, heute herzukommen. Und soweit er das beurteilen konnte, war sie nicht eben angetan davon.

Langsam ging er auf den Hauptraum zu und gab ihr so genug Zeit, dass sie sich zurückziehen konnte, falls das ihr Wunsch war.

Im Hauptraum angekommen, war er überrascht, sie ruhig auf den Kissen sitzen zu sehen, in ihrer Hand ein Glas mit Tee. Ihre äußere Erscheinung verriet nichts von dem Aufruhr, den er in ihrem Inneren wahrnahm. Er war beeindruckt.

Sie gab vor, die beiden erst jetzt zu bemerken und stellte ihren Tee auf dem niedrigen Tisch ab, bevor sie sich mit einem höflichen Lächeln erhob. Enric kam nicht umhin zu bemerken, um wie vieles eleganter die Aufwärtsbewegung von den Kissen nun aussah verglichen mit vor ein paar Monaten. Er fragte sich, ob sie heimlich geübt hatte.

“Ram’an”, nickte sie und ging auf ihn zu, während sie ihm ihre Hand für die formelle Begrüßung entgegenstreckte.

Sein Gast wirkte etwas verwirrt, erholte sich aber rasch, lächelte sie an und ergriff ihre Hand, um einen Kuss darauf zu drücken.

“Eryn. Es freut mich zu sehen, dass deine Stimmung heute besser ist”, sagte er mit einem beiläufigen Lächeln.

Sie nickte. “Das ist die Schwangerschaft, weißt du. Ich bin deswegen noch anfälliger für extreme Stimmungsschwankungen als zuvor. Zumindest wurde mir das gesagt”, erwiderte sie leichthin.

Enric beobachtete sie eingehend. Sie hielt Ram’an mit kühler Höflichkeit und belanglosem Geschwätz auf Distanz. Ungewöhnlich. Das war nicht ihre bevorzugte Vorgehensweise, um ihr Missfallen zum Ausdruck zu bringen, wenngleich kaum weniger effektiv, wenn man nach Ram’ans unbehaglichem Stirnrunzeln urteilte.

“Dann wird es ein noch größeres Abenteuer als bisher werden, dich um mich zu haben, meine Liebe”, lächelte er und zwinkerte ihr zu.

Sie ignorierte die vertrauliche Geste vollkommen und wirkte einen Moment lang nachdenklich, bevor sie antwortete: “Das hoffe ich wohl nicht. Ich versuche, die Leute um mich herum dem so wenig wie möglich auszusetzen. Wenn du mich jetzt entschuldigst, Ram’an, ich muss mich für eine Verabredung fertigmachen. Es war nett, dich zu sehen.”

“Ja”, sagte er, leicht verdutzt, “das war es. Ich freue mich darauf, dich morgen zu treffen. Ich bin sicher, dass wir uns vor dem Dinner noch im Senat sehen.”

Ihr Lächeln war kühl. “Natürlich.” Damit drehte sich sie um und ging zurück zum Tisch, um ihre Teetasse aufzuheben, bevor sie sich in den Korridor zurückzog, der zu ihrem Schlafzimmer führte.

Ram’an starrte ihr nach, dann wandte er sich langsam zu Enric um. “Entweder ist sie wesentlich geschickter im Täuschen geworden, oder sie hat es irgendwie geschafft, ihren gestrigen Ärger auf mich innerhalb eines einzigen Tages in Gleichgültigkeit umzuwandeln.” Er schüttelte den Kopf. “Ich hoffe sehr, dass ersteres zutrifft. Die andere Möglichkeit würde mich wahrhaft verstören.”

Enric nickte. Er wusste sehr wohl, dass sie alles andere als ungerührt war. Aber vielleicht würde dieser Eindruck Ram’an dazu bewegen, sich mehr Mühe zu geben, die Dinge mit ihr wieder ins Lot zu bringen. Er begleitete seinen Gast nach unten zur Tür, um ihn zu verabschieden und kehrte dann ins Schlafzimmer zurück.

Er lehnte sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme. Sie stand mit ihrem Tee vor dem Fenster und starrte blicklos in den kleinen Garten hinaus.

“Das war interessant. Deine kleine Darbietung hat Ram’an ziemlich beeindruckt und verunsichert. Ohne das Geistesband wäre womöglich sogar ich darauf hereingefallen”, kommentierte er.

Sie drehte sich um und seufzte, als die kühle Fassade von ihr abfiel. “Ich habe beschlossen, dass ich nicht mehr länger ständig all die Leute anschnauzen und mit Gift bespucken kann, auf die ich gerade schlecht zu sprechen bin. Davon gibt es hier einfach zu viele, und alle von ihnen sind zufällig Oberhäupter von Häusern.”

Er lachte vor sich hin. “Ja, du tendierst dazu, eine Abneigung gegen wichtige Leute zu hegen. Deine neue Herangehensweise besteht also in kühler und unnahbarer Höflichkeit? Ich gebe zu, dass dies gerade eben recht wirksam war, doch ich frage mich, ob das für dich der richtige Weg ist. Es erscheint mir nicht charakteristisch.” Und zwar auf verstörende Weise, fügte er in Gedanken hinzu. Es fühlte sich falsch an, und er überlegte, wie verletzt sie wohl sein musste, um die Impulse, die die Interaktionen mit ihr so stimulierend, wenn auch nicht ganz gefahrlos machten, in ihrem Inneren einzuschließen.

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Glas und setzte sich auf die niedrige Fensterbank. “Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Malriel am Abend vor ihrer Abreise, als sie mir den Trank eingeflößt haben muss. Ich sagte ihr, dass ich keine Absicht mehr hätte, sie weiterhin zu hassen, weil ich mir damit nur selbst Schmerzen zufüge, und dass ich daran arbeiten würde, ihr gegenüber gleichgültig zu werden. Sie sagte, das sei sogar noch schlimmer als Hass, und ich beginne zu glauben, dass sie Recht hat. Nicht schlimmer, wohlgemerkt, das ist nur ihr Standpunkt. Ich denke, es ist endgültiger, mächtiger. Und es wird mir Frieden bringen.”

Er schluckte. “Und diese Strategie beabsichtigst du nun sowohl bei Valrad und Ram’an, als auch bei ihr zu verfolgen?”

“Ja, das tue ich”, bestätigte sie. “Vielleicht wird es Zeit, sich von dem legendären Aren Temperament zu verabschieden. Es ist nichts weiter als eine Bürde, eine Charakterschwäche.” Sie ging auf ihn zu und lehnte ihre Stirn gegen seine Schulter. Als seine Arme sie umfingen, lächelte sie. “Es wird Zeit, erwachsen zu werden.”

Seinen beunruhigten Gesichtsausdruck sah sie nicht. Das fühlte sich falsch an – als hätte sie sich entschieden, nicht länger sie selbst zu sein.

“Schade”, murmelte er, “das war es, was mich zuerst an dir fasziniert hat. Ich würde es sehr vermissen.”

Sie lachte leise. “Dann werde ich dir hin und wieder eine private Vorführung angedeihen lassen, wenn du den Eindruck hast, dass dein Leben sonst zu eintönig oder zu friedlich wird.”

“Darauf werde ich zurückkommen”, bemerkte er leichthin und fragte sich, wie gut es ihr wohl gelingen mochte, ihren Vorsatz umzusetzen. Nicht in dem Ausmaß, wie sie es erst vor wenigen Minuten demonstriert hatte, hoffte er.

* * *

Vern stürmte in den Hauptraum und ließ sich direkt neben Eryn auf die Kissen fallen. Er war gerade von seinem Besuch in der Klinik zurückgekehrt. Einem ausgedehnten Besuch; er war am Morgen aufgebrochen, und nun war die Sonne gerade am Untergehen.

“Du scheinst auf Wolken zu schweben”, kommentierte sie und konnte nicht anders als zu lächeln, als er sie mit einem breiten Grinsen bedachte. “Ich gehe davon aus, dass du einen zufriedenstellenden Tag hattest?”

“Es war unglaublich”, seufzte er, eindeutig müde, aber selig. “Das Gebäude ist so riesig! So viele Heiler! Und sie waren erfreut, ausgerechnet mich kennenzulernen! Kannst du dir das vorstellen? Sie alle haben das Buch gesehen, das ich Ram’an damals gab, und betonten, was für eine außergewöhnliche Arbeit es sei. Dann haben sie mir Fragen über das Heilen zuhause in Anyueel gestellt und mir eine Führung durch die gesamte Klinik gegeben! Sie haben dort so viele verschiedene Fachbereiche, dass ich mich gar nicht an alle erinnern kann! Ich habe sogar den Leiter der Klinik getroffen, habe aber seinen Namen vergessen. Er sagte, es wäre ihm ein Vergnügen, mich für die Dauer meines Aufenthalts hier dort arbeiten und lernen zu lassen! Ist das zu glauben? Ich werde dort arbeiten!”

Eryn lächelte ihn zustimmend an.

“Was ist das für ein Tumult hier draußen?” fragte Orrin, als er den Raum betrat. “Junar hat sich hingelegt, also seht besser zu, dass ihr etwas leiser seid.”

“Entschuldige, Vater”, meinte Vern mit einer Grimasse. “Ich habe mich wohl etwas hinreißen lassen.”

Der Krieger lächelte und kam näher, um sich zu ihnen zu gesellen. “Ich schätze, du hattest einen erfolgreichen Tag mit Valrad?”

Das Gesicht des Jungen leuchtete erneut auf, und er setzte seine Schwärmerei fort. “Absolut! Ich schwöre dir, sie haben mich wie einen König behandelt! Dort gibt es eine enorme Bibliothek, und sie sagten, ich könne dort hingehen und sie nutzen, so oft ich will. Und sie haben dort ein Gasthaus, direkt in der Klinik, wo alle Leute, die in der Klinik arbeiten, kostenlos essen können, wenn sie dieses kleine, silberne Abzeichen haben. Sie nennen das Kantine, glaube ich. Das Gasthaus, nicht das Abzeichen. Und sie haben nach dir gefragt, Eryn”, fuhr er fort. “Besonders ein recht unfreundlicher Heiler, dieser eine ohne Magie.”

“Sarol”, ergänzte sie mit einem Grinsen.

“Ja, genau, der. Und noch einer, eher jung, aber recht bedeutend. Ein Experte für Kopf-Sachen, glaube ich.”

“Iklan womöglich?”

Er dachte kurz nach, dann nickte er. “Ja, das klingt vertraut. Sie wollten wissen, wann du vorbeikommst und warum du heute nicht dabei warst und was du gerade machst und…”

“Vern? Vergiss nicht, hin und wieder auch mal zu atmen”, lachte sie.

“Pe’tala war auch dort”, redete er weiter, nachdem er nach Luft geschnappt hatte. “Der unfreundliche Heiler war erfreut, sie zu sehen, glaube ich, wollte es aber nicht zugeben. Ram’ans Cousin, der Heiler, der die Zeichnungen wollte, war auch dort. Ich habe ihm meine Bilder gezeigt, und ich schwöre euch, er war beinahe eine ganze Minute lang sprachlos! Dann hat er die Bilder herumgezeigt, und alle waren mächtig beeindruckt und sagten immer wieder, sie hätten noch nie etwas Vergleichbares gesehen!”

Eryn lachte. “Gut, dass du Ohren hast, mein Junge, oder dein Grinsen würde rund um deinen ganzen Kopf verlaufen und die obere Hälfte einfach abfallen lassen.” Seine gute Laune war ansteckend.

“Sie denken, ich sei brillant und ein Genie!”, kicherte er, schwindelig vor Freude.

Sie zerzauste sein Haar. “Das bist du, Vern. Und es scheint, als wärst du genau an den richtigen Ort gekommen, wo die Leute das schätzen.”

“Das haben sie! Und dein Vat… Valrad”, korrigierte er sich hastig, “musste die Leute fortschicken und ihnen versprechen, dass er mich ein anderes Mal zu ihnen bringt, weil sie alle mit mir reden wollten! Wusstest du, dass er dort wirklich wichtig ist? Er hat den Laden früher geführt, ist aber freiwillig zurückgetreten, damit er sich mehr auf die Führung seines Hauses und die Arbeit mit Patienten konzentrieren konnte.”

“Ja, davon habe ich gehört”, erwiderte Eryn trocken. “Ich war schon einmal hier, wenn du dich erinnerst.”

“Ja, genau. Natürlich”, nickte er und schüttelte den Kopf über sich selbst. “Weißt du was? Sie haben mir einen Platz im Unterricht mit den Heilerlehrlingen angeboten!” Er fummelte ein Blatt Papier hervor. “Das ist eine Liste der Themen, die die Studenten im zweiten Jahr in den nächsten zehn Tagen durchnehmen, und ich kann einfach hingehen und mir anhören, was ihnen beigebracht wird! Wie erstaunlich ist das denn bitte?”

“Ziemlich erstaunlich”, nickte sie. “Ich schwöre dir, wenn du es schaffst, hier vor mir als Heiler zertifiziert zu werden, werde ich dich erwürgen. Und du kannst dich nicht einmal verteidigen, weil die schwangere Lady nicht geschlagen werden darf”, seufzte sie.

Er sprang auf. “Das erinnert mich an etwas!” Er rannte nach unten und kehrte kurz darauf mit einem schweren Buch unter dem Arm zurück. “Dieser Sarol-Typ hat das für dich mitgeschickt. Er sagte, da du jetzt ja zurück bist und Zeit hast, kannst du genauso gut etwas Nützliches damit anfangen. Er will, dass du das hier liest. Es geht um nicht-magische Diagnosen, glaube ich.”

Eryn griff eifrig nach dem Buch. “Danke! Das ist großartig; es bedeutet, er will, dass ich mit den Vorbereitungen für die letzte fehlende Prüfung beginne!” Das würde ihr eine Beschäftigung verschaffen, endlich!

“Er ist wirklich unfreundlich, weißt du”, kommentierte der Junge. “Ich frage mich, warum sich das alle gefallen lassen, sogar dein… Valrad.”

Sie schluckte ihre Verärgerung über seinen erneuten Versprecher hinunter. “Weil er wirklich, wirklich, wirklich gut in dem ist, was er tut. Er hat nicht-magisches Heilen revolutioniert, hat es hier in eine echte Disziplin verwandelt, die mittlerweile so weit anerkannt ist, dass sogar Magier-Heiler darüber lernen müssen”, erklärte sie. “Er ist auch ein Genie.” Sie sah von ihrem Buch auf in sein skeptisches Gesicht. “Und genau wie dir werden deshalb auch ihm gewisse Eigenheiten zugestanden. Wenn er unfreundlich zu dir ist, bedeutet das, dass er dich mag. Wenn er dich nicht mag, macht er sich nicht einmal die Mühe, dich zu beachten.”

Das brachte ihn zum Nachdenken. “Ich verstehe.” Dann grinste er. “Das bedeutet dann womöglich, dass er mich mag. Er hat mich zweimal angeschnauzt!”

Sie kicherte. “Ein untrügliches Zeichen.”

“Du siehst staubig, verschwitzt und erschöpft aus”, meldete sich Orrin zu Wort. “Ich denke, du solltest ein Bad nehmen und dich dann für das Abendessen umziehen. Enric ist gerade in der Küche und bereitet es zu, also wird es bald fertig sein. Fort mit dir.”

Vern gehorchte widerwillig und schlurfte davon.

“Wie geht es dir, mein Mädchen?”, fragte er, als sie allein waren. “Du siehst noch immer nicht wie du selbst aus, obwohl ich sehen kann, dass dich Verns Enthusiasmus gerade eben aufleben hat lassen.”

“Mir geht es soweit gut, Orrin. Danke der Nachfrage”, lächelte sie. “Ich bin nur müde. Ich habe letzte Nacht weder besonders gut noch lange geschlafen. Vielleicht bitte ich Vern, dass er mir dieses Mal einen kleinen magischen Schubs gibt. Ich will morgen gut ausgeruht sein für diese verdammte Senatsversammlung.” Ihre Miene verdüsterte sich.

“Bist du sicher, dass du dort hingehen willst? Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich von dir davon abhalten lassen wird, dem Senat seine Neuigkeiten mitzuteilen.”

Sie schüttelte den Kopf. “Nein, das wird er nicht. Dessen bin ich mir bewusst. Aber es gibt das eine oder andere, das ich dort sagen möchte.”

“Ach ja?”, meinte er stirnrunzelnd.

“Ja.” Erleichtert blickte sie auf, als Kilan den Hauptraum betrat. “Wo warst du den ganzen Tag über? Ich dachte, du wolltest nur jemanden zum Tee treffen?”

“Ursprünglich wollte ich das. Aber dann bin ich bei ihm zuhause gelandet und habe jede Menge Fragen beantwortet über die Neuankömmlinge, die bei mir wohnen.”

Sie grinste. “Das hast du davon, wenn du Gäste aufnimmst. Nächstes Mal überlegst du besser zweimal, bevor du einwilligst.”

“Ich konnte euch armen, gestrandeten Reisenden doch wohl kaum zumuten, auf der Straße zu schlafen, oder?”, grinste er. “Stell dir nur die politischen Konsequenzen vor, hätte eines eurer beiden Monster einen Bürger aus Takhan als Imbiss verspeist.”

“Dann lass mich dir zu deiner weisen Voraussicht gratulieren. Ich hätte gedacht, dass deine Gastfreundschaft eher etwas mit der Tatsache zu tun hat, dass Orrin und ich zufällig deine Vorgesetzten sind und du aus diesem Grund nicht gewagt hättest, unsere Anfrage abzulehnen. Aber offensichtlich lag ich damit falsch.”

Kilan griff nach einem sauberen Glas und schenkte sich dunklen Fruchtsaft ein. “Zumindest bist du dir deines Fehlers bewusst. Enric kocht das Abendessen, nehme ich an?”

“Ja, das tut er”, bestätigte sie. “Wie sieht es mit deinen eigenen Kochkünsten aus? Hast du die in den letzten Monaten verbessert?”

Er nickte. “Ich hatte keine andere Wahl. Erwachsene, die kein ordentliches Mahl bereiten können, werden hier ausgelacht. Frag mich, wie viel Spaß es macht, ganz allein ein formelles Dinner für dreißig oder vierzig Leute zuzubereiten. Ich habe beinahe den ganzen Tag in der Küche verbracht. Zusätzlich dazu, dass ich vorher jagen gehen musste, versteht sich.” Dann lächelte er. “Aber zumindest wird das morgen kein Problem sein, da ich eine Anzahl an Helfern hier habe.”

“Morgen?” Sie zog die Stirn in Falten. “Aber morgen ist doch das Willkommens… Oh nein. Nein! Bitte nicht.”

“Nein was?”, erkundigte sich Orrin.

“Das verfluchte Willkommensdinner”, seufzte sie. “Es wird hier in der Botschafterresidenz stattfinden, so ist es doch?”

Der Botschafter nickte. “Ja. Sowohl Malriel als auch Valrad haben darum gebeten.” Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. “Sehr wahrscheinlich, weil sie sichergehen wollten, dass du keine andere Möglichkeit hast, als daran teilzunehmen, weil es an dem Ort stattfindet, an dem du wohnst.”

Sie stöhnte. “Aber das bedeutet, dass ich bis zum Ende dabeibleiben muss! Komm schon, warum hast du dich nicht geweigert?”

Er sah sie nachsichtig an. “Eine höfliche Anfrage von den mächtigen Oberhäuptern zweier Häuser verweigern? Ist das eine ernstgemeinte Frage?”

“Ich werde dir nicht beim Kochen helfen!”

“Das geht schon in Ordnung. Nach deiner Reaktion gerade eben hätte ich eher Angst, dass du den ganzen Haufen vergiftest”, schnaubte er. “Aber da ich hier immer noch drei Männer zur Verfügung habe, zusätzlich zu Vran’el, der seine Hilfe angeboten hat, werden wir es irgendwie ohne dich schaffen.”

Ihre Miene wurde bitter, und sie seufzte. All diese Leute hier an diesem Ort, ohne dass sie die Möglichkeit hatte, früh zu gehen. Es war ihr nicht einmal möglich, eine Unpässlichkeit als Anlass für einen frühen Rückzug vorzuschieben. Es waren einfach zu viele Heiler hier, die sich um alles kümmern würden, was auch immer sie als Vorwand benutzte. Und die würden natürlich sehr rasch herausfinden, dass es eine Ausrede war und sie vor den anderen bloßstellen. Wer hätte jemals gedacht, dass sich der Aufenthalt an einem Ort mit so vielen gut ausgebildeten, sachkundigen Heilern als dermaßen lästig erweisen würde?

»Ende der Leseprobe«

 

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„Intrigen“ – Der Orden: Buch 3

Kapitel 1

Rückkehr nach Hause

Enric starrte grimmig auf das Meer hinaus. Nichts unterbrach die endlose, gerade Linie des Horizonts, der das hellere Blau des Himmels vom dunkleren des Wassers trennte. Es war keine Abwechslung in Sicht, die baldige Erleichterung in Form von Land versprach.

Bei seiner letzten Überquerung des Meers hatte er keine der Auswirkungen verspürt, unter denen die meisten anderen in seiner Gruppe, Eryn eingeschlossen, gelitten hatten. Seekrankheit wurde es genannt, erinnerte er sich. Aber es schien, als wäre sein Magen dieses Mal nicht immun gegen das ständige Schaukeln des Schiffes. Man hatte ihm mitgeteilt, dass der Körper sich nach ein paar Tagen daran gewöhnte, also erschien es ihm seltsam, dass er jetzt darunter litt, wo es ihm zuvor keinerlei Unannehmlichkeiten bereitet hatte.

Seine eigenen Beschwerden waren allerdings wesentlich weniger stark ausgeprägt als Eryns. Sie lag bewegungslos auf der Pritsche in ihrer Kabine, ihr Magen von allem befreit, was sich darin befunden hatte. Es war Pech, dass es keine Erleichterung brachte, die Symptome wegzuheilen. Solange sie auf See waren, würden sie immer wiederkehren.

Aber zumindest hatten sie bereits die Hälfte der Schiffsreise hinter sich; es dauerte nur noch einen weiteren Tag, bis sie das kleine Dorf Bonhet erreichten. Dort hatten sie damals das Schiff bestiegen, das sie in die Westlichen Territorien gebracht hatte. Das schien nun schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Er hatte große Pläne bezüglich des Dorfes und fragte sich, wie die Leute wohl darauf reagieren würden. In einer Hinsicht hatte Eryn vollkommen Recht: Die Bereitwilligkeit, sich Neuerungen zu öffnen, wurde nicht eben als Tugend erachtet – nicht in der Stadt Anyueel, und noch weniger an abgeschiedenen Orten wie diesem Fischerdorf.

Er spürte, wie sich die Spannung in seinem Magen legte und entschloss sich, nach Eryn zu sehen. Vielleicht konnte er sie überreden, sich von ihm für ein paar Stunden schlafen schicken zu lassen. Jetzt, wo Kilan und Grend nicht hier waren, die sie damit aufziehen konnten, dass sie den einfacheren Weg wählte. Der Unwille, sich den Sticheleien ihrer Mitreisenden auszusetzen, war der Grund, weshalb sie sein Angebot beim letzten Mal, als sie auf dem Weg nach Takhan gewesen waren, abgelehnt hatte.

Nachdem er allerdings die Tür zu ihrer kleinen Kabine geöffnet hatte, sah er, dass sie bereits, einen Arm schlaff nach unten hängend, eingenickt war. Sie konnte noch nicht lange schlafen. Der Tee, den er für sie zubereitet hatte, war noch immer warm. Vielleicht nicht länger als eine Minute oder zwei, in etwa so lange, wie es her war, dass sein Magen aufgehört hatte, sich zu beschweren.

Ein Gedanke durchzuckte ihn, und er sah mit gerunzelter Stirn auf sie hinab. Nein, das konnte nicht sein. Das wäre höchst unwahrscheinlich, sinnierte er. Und sicherlich war es nicht mehr als Zufall, nichts, das es rechtfertigte, irgendwelche voreiligen Schlüsse zu ziehen, ermahnte er sich. Aber er würde die Augen offenhalten, entschied er. Es war womöglich nicht mehr als ein Verdacht, aber es lohnte sich zweifellos, auf Nummer sicher zu gehen.

Er drehte sich um, verließ die Kabine und schloss die Tür vorsichtig hinter sich. Bald mussten sie die Barriere erreichen, und man hatte ihm gesagt, der Kapitän würde ihm zeigen, wie man sie überquerte. Damit wäre ein für alle Mal das Hindernis überwunden, welches das Königreich davon abhielt, zur See zu fahren.

* * *

Eryn erwachte, als eine warme Hand an ihrer Schulter rüttelte.

“Sind wir noch immer auf dem verdammten Schiff?”, murmelte sie mit geschlossenen Augen. “Falls ja, hast du hoffentlich eine gute Erklärung dafür, warum du mich geweckt hast.”

Enric lächelte zu ihr hinab. “Das Dorf ist bereits in Sicht, also liegt noch eine Stunde der Qual vor dir.” Eine Stunde, die ihm sicherlich ein paar interessante Einsichten bescheren würde.

“Das ist eine Stunde, die du mir ersparen hättest können!”, stöhnte sie. “Das machst du mit Absicht! Habe ich dir in letzter Zeit irgendetwas getan, das es rechtfertigen würde, dass du mich dermaßen quälst?”

Er gab vor, kurz nachzudenken. “Nein, nicht dass ich mich erinnern könnte. Aber es ist immerhin allgemein bekannt, dass ich eine Vorliebe dafür habe, hilflosen Frauen Agonien zu bereiten. Und jetzt steh auf, komm an Deck und schnappe ein wenig frische Luft. Das wird dir guttun.”

“Das soll wohl ein Scherz sein? Du weißt ganz genau, was passiert, wenn ich an Deck gehe! Warum tust du mir das an?”, klagte sie und spürte, wie sie auf die Füße gezogen und mehr oder weniger die Stufen hinauf und nach draußen gezerrt wurde. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit des Sonnenlichts, hob sie rasch eine Hand, um ihre Augen zu beschatten. Die steife Brise ließ sie frösteln, aber Enrics Arm um ihre Schultern zog sie an seinen warmen Körper.

“Wir müssen uns umziehen. Diese Kleidung ist für das Klima zuhause nicht wirklich geeignet”, murmelte er und beobachtete, wie sie die Wellen anstarrte, auf denen das Schiff auf und nieder schaukelte.

Sie schloss ihre Augen, und erneut wich ihr die Farbe aus dem Gesicht. Auch er spürte, wie das Gefühl von zuvor zurückkehrte und in ihm den Drang auslöste, sich an irgendetwas Festem anzuhalten, um seinen Magen davon zu überzeugen, dass diese Empfindung, nach oben und unten geschleudert zu werden, nichts anderes als eine ungerechtfertigte Überreaktion war.

Trotz der unangenehmen Empfindung lächelte er. Es schien, als stünde Eryn eine kleine Überraschung bevor, wenn auch keine, von der sie besonders angetan sein würde. Er war gespannt, wie lange es dauerte, bis sie es selbst herausfand.

* * *

“Da ist sie! Ich kann sie sehen!”, rief sie begeistert aus. “Niemals hätte ich gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem ich mich freue, sie zu erblicken!”

Enric blickte ebenfalls auf, als die verschwommenen Umrisse der Stadt Anyueel am Horizont auftauchten. “Es wärmt mein Herz, dass du so glücklich darüber bist, zurückzukehren, meine Liebste”, lächelte er und ergriff ihre Hand, um einen Kuss darauf zu drücken. Und das tat es tatsächlich. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie kein einziges Mal davon gesprochen, dass sie ihr kleines Haus in dem Dorf, in dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte, vermisste. Das musste bedeuten, dass sie ihr gemeinsames Haus hier in der Stadt als ihr Heim betrachtete. Zumindest hoffte er das.

Urban trottete neben den Pferden her und hob ihren Kopf, um zu Eryn aufzusehen, nachdem sie ihrer Freude darüber, Anyueel in der Ferne zu erkennen, Ausdruck verliehen hatte.

“Der Innenhof für sie sollte mittlerweile fertig sein”, bemerkte Enric mit einem kurzen Blick auf die Katze. “Bäume, Felsen, alles. Mit ein wenig Glück sind die Arbeiten am Durchgang zwischen den Gebäuden ebenfalls beendet. Andernfalls werden die Diener wohl ein wenig… nervös sein.”

Eryn zuckte mit den Schultern. “Warum sollten sie? Bislang hat sie noch nie jemandem etwas getan.”

“Trotzdem. Wir sprechen hier über ein wildes Tier. Und wenn sie auch noch nicht ganz ausgewachsen ist, so hat sie dennoch einen erheblichen Vorteil eingebüßt: Sie ist mittlerweile eher furchterregend als niedlich.”

“Wenn ein vierjähriges Mädchen keine Angst vor ihr hat, sollte man meinen, dass auch Erwachsene irgendwie mit Urban zurechtkommen werden”, strich sie hervor.

“Kinder in diesem Alter haben noch kein angemessenes Verständnis für Gefahr, Eryn. Obal hätte wohl ebenfalls versucht, ein komplett wildes Tier zu streicheln, wenn eines in der Nähe gewesen wäre. Vran’els Reaktion war wesentlich natürlicher. Und du musst auch bedenken, dass ein Teil meines Rufs in Takhan darauf basiert, dass ich die Straßen der Stadt mit einem recht imposant wirkenden wilden Tier durchstreift habe”, erklärte er.

Sie seufzte. “Na gut, ich beuge mich deiner überlegenen Weisheit. Wieder einmal. Hoffen wir also, dass der Durchgang fertig ist, oder wir werden uns für eine Weile selbst um das Kochen und Putzen kümmern müssen. Nicht, dass mich das allzu sehr stören würde – ich musste es immerhin für lange Zeit selbst tun, als ich noch allein lebte. Aber ich fürchte, dass uns dafür nicht allzu viel Zeit bleibt. Ich frage mich, wie es im Heilergebäude aussieht. Vollkommenes Chaos? Oder ist überhaupt niemandem aufgefallen, dass ich weg war? Ich weiß nicht, was schlimmer wäre.”

“Für dich? Letzteres wahrscheinlich”, lächelte er. “Ich werde langsam hungrig. Wir sollten die Stadt in ungefähr eineinhalb Stunden erreichen. Also am frühen Abend. Dann haben wir noch Zeit, heimzugehen, eine Kleinigkeit zu essen, uns zu waschen und in saubere Kleidung zu schlüpfen, aber mehr nicht.”

Sie zog die Stirn in Falten. “Dann besteht also überhaupt keine Chance, dass wir dem König morgen anstatt heute Abend unsere Aufwartung machen?”

“Nein. Er hat bereits länger als geplant auf uns gewartet – etwa zwei Wochen länger. Er will sichergehen, dass wir tatsächlich zurückgekehrt sind. Und so schnell wie möglich von den neuesten Ereignissen erfahren. Die letzte Nachricht, die er von mir erhalten hat, ist bereits einige Tage alt. Danach müssen wir noch zu Tyront. Er wird alles erfahren wollen, was ihm der König nicht mitgeteilt hat. Kilan war immerhin nur dazu angewiesen, den König zu informieren. Die Informationen, über die Tyront verfügt, sind also gefiltert.”

“Das wird also noch ein sehr langer Tag”, stöhnte sie. “Und ich wollte einfach nur in mein Bett fallen und den Schlaf nachholen, den ich in den letzten Nächten versäumt habe.”

“Ich bedaure, meine Liebste. Dafür stehen die Chancen in den nächsten paar Stunden eher schlecht.”

* * *

Die vier Wachen am Westtor verbeugten sich, als die zwei hochrangigen Magier an ihnen vorbeiritten. Seltsam, dachte Eryn, wie befremdlich dieses formelle Verhalten nach nur wenigen Wochen in Takhan nun auf sie wirkte.

Sie ritten durch die Stadt zu ihrem Haus, und Enric pfiff durch die Zähne, als er die Leute sah, die sich davor versammelt hatten.

“Sieh an. Es scheint, als hätte sich die Kunde unserer Ankunft verbreitet, nachdem man uns erspäht hat”, murmelte er.

Eryn trieb ihr Pferd an, bis sie nahe genug war, um abzusteigen. Sobald ihre Füße den Boden berührten, fand sie sich auch schon in einer festen Umarmung mit einem gewissen sechzehnjährigen Jungen.

“Endlich!”, flüsterte er. “Ich hatte solche Angst, dass sie dich nicht wieder fortlassen!”

Sie drückte ihn ebenfalls und bemerkte, dass seine Wangen nicht länger auf gleicher Höhe mit ihren eigenen waren. War es möglich, dass er in dieser kurzen Zeit ihrer Abwesenheit so in die Höhe geschossen war?

“Mir ging es genauso”, erwiderte sie. “Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, wieder hier zu sein.”

“Lass sie los, Vern”, tadelte Orrin milde, als er keinerlei Anstalten machte, sie wieder freizugeben. “Ein paar andere wollen sie auch gerne begrüßen.”

Mit offenkundigem Widerwillen löste Vern seine Arme von ihr, und kurz darauf presste ihr Orrin mit einer wesentlich festeren Umarmung die Luft aus den Lungen. Sie lächelte über diese für ihn ungewohnte körperliche Zurschaustellung von Zuneigung.

“Sieh dich an, du alter Weichling! In meiner Abwesenheit bist du ganz sanft geworden, weil du niemanden mehr zum Foltern und Antreiben hattest! Oder ist das Junars Einfluss?”, lachte sie und drückte ihn ebenfalls.

“Halt die Klappe”, knurrte er. “Wir waren krank vor Sorge um dich, nachdem wir erfuhren, dass man dich dort drüben irgendeines Verbrechens bezichtigt hatte. Das nächste Mal, wenn du dorthin gehst, werde ich dich ebenfalls begleiten. Ein Mann allein reicht eindeutig nicht aus, um dich im Auge zu behalten.”

“Das reicht, jetzt bin ich dran”, beschwerte sich Junar hinter ihnen, und Orrin trat zur Seite, damit sich die beiden Frauen als nächstes umarmen konnten.

Enric beobachtete die Szene, verblüfft von diesem Gefühl von Bedauern und Verlust, das er verspürte. Anders als in Takhan, wo er von einigen Leuten – sowohl Männern als auch Frauen – gedrückt und geküsst worden war, wagte es hier niemand, ihn zu umarmen. Zum ersten Mal in mehr als zehn Jahren fragte er sich, ob dieser Ruf, den er sich so sorgsam erarbeitet hatte, die Einsamkeit wert war, die damit einherging. Sein Aufenthalt in den Westlichen Territorien hatte ihn mit einer ganz anderen Art von sozialen Beziehungen vertraut gemacht. Einerseits gab es diejenigen, die mit Ehrfurcht zu ihm aufblickten – vorwiegend Leute, die er bei Verhandlungen kennengelernt hatte – und solche, die zwar angemessen beeindruckt von ihm waren, aber eher in privater Funktion mit ihm zu tun hatten und somit hinter diese offizielle Maske blicken konnten. Hier in Anyueel gab es kaum jemanden, der das wagte. Abgesehen von Tyront und dem König. Die beiden taten es allerdings nicht aus bloßer Geselligkeit, sondern weil er, genau wie die beiden, ein Teilnehmer an dem politischen Spiel war; und seine Mitspieler zu kennen war maßgeblich, um sowohl Überleben als auch Erfolg sicherzustellen.

Er blickte überrascht auf, als ihm jemand einen herzhaften Schlag auf die Schulter verpasste. Orrin nickte ihm zu.

“Es ist gut, euch beide wieder hier zu haben”, war alles, was er sagte, aber es klang aufrichtig.

“Es ist gut, wieder zurück zu sein. Endlich”, erwiderte Enric und lächelte dem Krieger zu. Wer hätte gedacht, dass Orrin der Einzige sein würde, der ihm zumindest ein wenig das Gefühl von Willkommensein vermittelte?

Im Hinterkopf überlegte er, ob er Anstrengungen unternehmen wollte, etwas daran zu ändern, ob er daran arbeiten wollte, hier in Anyueel Freundschaften zu etablieren. Konnte das überhaupt funktionieren? Die Leute hier waren weniger aufgeschlossen, weniger zwanglos, leichter eingeschüchtert von Rang und Macht. Er stellte sich vor, dass Eryn den Kontrast, hier wieder mit Lady angesprochen zu werden, jetzt noch stärker wahrnehmen würde. Aber sie hatte immerhin einige Menschen um sich, die davon ohnehin Abstand nahmen, da sie diese Leute nahe genug an sich herangelassen hatte, damit sie den Titel beiseite ließen.

In der gesamten Stadt gab es nicht mehr als vier Menschen, die davon absahen, Enric mit Lord anzusprechen. Tyront, dessen Gefährtin Vyril, Kilan und Eryn. Vor Eryn waren es nur zwei gewesen, da er in den letzten zehn Jahren keinen Kontakt mit Kilan gepflegt hatte.

Er bemerkte, wie Eryn verwirrt die Stirn runzelte, während sie mit Plia sprach und fragte sich, ob sie etwas von seinen Gefühlen aufgefangen hatte und sich nun wunderte, woher diese Melancholie kam, wenn sie selbst doch Freude und Erleichterung über ihre Rückkehr verspürte.

“Ist alles in Ordnung, Liebste?”, erkundigte er sich und legte einen Arm um ihre Schultern.

Sie nickte und pflasterte ein Lächeln auf ihr Gesicht, um ihre Verwirrung zu verbergen. “Ja, ich bin nur ein wenig erschöpft, das ist alles.”

Enric fiel auf, wie Junar, Vern und Plia um sie herum bei seinem Näherkommen einen kleinen Schritt zurücktraten.

Junars Augen wurden groß, als sich Urban einen Weg bahnte und ihren Kopf an Enrics Beinen rieb. “Seht euch die Katze an! In den letzten Wochen ist sie ordentlich gewachsen. Wenn sie noch größer wird, könnt ihr das nächste Mal auf ihr anstatt einem Pferd reiten.”

“Sie wird in den nächsten zwei oder drei Monaten womöglich noch ein wenig wachsen, aber das sollte es dann gewesen sein”, erklärte Enric und bückte sich, um die Wangen der Katze zu kraulen.

“Sieh mal einer an! Ihr habt es also geschafft, den Klauen des fremden Senats zu entkommen!”, rief eine amüsierte Stimme hinter ihnen.

Sie sahen, wie Kilan sich näherte. Die wenigen Leute um sie herum drehten ihre Köpfe, und Münder standen vor Staunen offen, als sich die beiden Männer herzlich umarmten. Lord Enric jemanden umarmen zu sen, war nicht gerade ein alltäglicher Anblick.

Kilan wandte sich daraufhin an Eryn. “Man warnte mich, dass du Ärger bedeutest. Aber ich wollte es nicht glauben. Das war wohl ein Fehler.”

Sie verdrehte die Augen. “Das sagt mir der Mann, der in meiner Stunde der Not auf das nächste Schiff gesprungen und davongesegelt ist.”

Seine Miene wurde ernst. “Glaub mir, das war eines der schwersten Dinge, die ich jemals in meinem Leben zu tun hatte. Ich hoffe, dass ich mich nicht so schnell wieder in so einer Situation finde. Aber ich hatte meine Befehle.”

“Das war nicht so gemeint, Kilan”, seufzte sie. “Dass du zurückgekehrt bist, war die einzig sinnvolle Option. Besonders, da der König über diese ganze Misere natürlich Informationen aus erster Hand benötigte.”

Er lächelte erleichtert und drückte ihre Hand. “Das ist wohl wahr. Aber beim nächsten Mal werden wir es einfach anstreben, dass dich niemand anklagt, was meinst du?”

“Ich tue mein Bestes, nur damit du glücklich bist”, grinste sie. “Aber ich hoffe, dass es so bald keine weitere Gelegenheit für uns geben wird, gemeinsam nach Takhan zu reisen, also musst du dich deswegen nicht sorgen.”

“Darauf würde ich nicht wetten, Eryn”, meinte er kopfschüttelnd.

“Warum nicht?”, fragte sie, dann runzelte sie die Stirn. “Du sagst mir doch nicht etwa, dass sie dich dorthin zurückschicken?”

“Nun, da gibt es eine offene Stelle als ständiger Botschafter in Takhan, da der Mann, der sich ursprünglich für den Posten beworben hat, sich anders entschied, nachdem seine Gefährtin aus dem Gewahrsam entlassen wurde”, lächelte er.

Das führte zu Erstaunen bei den Leuten um sie herum, und Eryn erinnerte sich daran, dass sie wahrscheinlich über die wichtigen Dinge, die vorgefallen waren, nicht Bescheid wussten. Da gab es einiges zu erklären, dachte sie und seufzte innerlich. Und das bedeutete, dass sie die Geschichte vom Tod ihres Vaters erneut würde erzählen müssen. Aber nicht heute.

“Was sind die Pläne für die nächsten paar Tage?”, warf Vern ein. “Auspacken? Geschenke unter deinen engsten Freunden verteilen?”, fügte er mit einem hoffnungsvollen Schimmer in den Augen hinzu.

Das brachte sie zum Lachen. “Nun, letzteres offensichtlich.” Ihre Miene wurde wieder ernst. “Heute Abend müssen wir an die oberen Ränge berichten, und morgen will ich mir ansehen, wie die Dinge im Heilergebäude stehen.”

“Der Rat der Magier will dich morgen womöglich ebenfalls sehen”, rief Enric ihr ins Gedächtnis.

“Ich habe darauf gezählt, dass du sie mit all den pikanten Details versorgst. Ich möchte wirklich, wirklich gerne zu meiner Arbeit zurückkehren”, sagte sie und hoffte, dass er ihr in dieser Sache entgegenkommen würde. Als er zustimmend nickte, lächelte sie.

“Ich werde versuchen, sie zu überzeugen, dass sie dich morgen nicht unbedingt zu sehen brauchen. Aber früher oder später wirst du dort auftauchen müssen.”

Sie nickte. “Fein, solange es nicht in den nächsten ein oder zwei Tagen ist. Da habe ich Wichtigeres zu tun.”

Orrin schnaubte. “Der Rat der Magier wird immens erfreut sein, wenn er erfährt, dass du ihn nicht als wichtig genug erachtest, um ihm eine oder zwei Stunden deiner wertvollen Zeit zu opfern.”

“Nun, von mir werden sie es nicht erfahren”, meinte sie schulterzuckend.

“Dir ist schon klar, dass ich selbst und Lord Orrin Mitglieder des Rats sind?”, fragte Enric. “Streng genommen hat der Rat somit also bereits davon erfahren.”

Sie lachte. “Aber ich vertraue darauf, dass meine zwei Lieblingsmitglieder mir deswegen keinen Ärger verursachen werden.”

Orrin grinste breit und legte einen Arm um ihre Schultern. “Vertrauen, mein Mädchen, ist ein Luxus, der dich verwundbar macht.”

Eryns Gesicht verfinsterte sich. “Ja, diese Lektion habe ich in der Fremde verinnerlicht”, sagte sie leise.

Orrin zog die Stirn in Falten. “Hm, es scheint, als hätte ich genau das Falsche gesagt. Es tut mir leid. Du wirst mir davon erzählen müssen. Bald.” Es war nicht direkt ein Befehl, aber auf jeden Fall mehr als eine höfliche Anfrage. Sie lächelte ihm zu und nickte. Es tat gut zu sehen, dass sich manche Dinge wohl niemals ändern würden. Ganz egal, wie weit ihr Rang sie emporhob, bei diesem Mann konnte sie sich stets darauf verlassen, dass er ihr sagte, was sie zu tun hatte.

“So, und jetzt gehen wir besser aus dem Weg und lassen sie nach ihrer Reise zu ihrem Heim zurückkehren. Sie haben noch Arbeit vor sich”, rief Orrin aus, woraufhin die beiden endlich die letzten paar Schritte zu ihrem Haus zurücklegen konnten.

* * *

Eryn runzelte verwirrt die Stirn, als eine der Palastwachen vor den Türen des Thronsaals ihnen bedeutete, ihm zu folgen, anstatt sie eintreten zu lassen.

“Nach der Richtung zu urteilen, wird uns der König in seinem Arbeitszimmer empfangen”, murmelte Enric. “Womöglich ein Zugeständnis daran, dass wir den ganzen Tag auf Reisen waren. Vorausgesetzt, er bietet uns einen Sitzplatz an”, fügte er trocken hinzu.

Sie nickte langsam. In einem Arbeitszimmer zu sitzen war definitiv ein ansprechenderer Gedanke als auf müden Beinen vor ihm stehen zu müssen. Sie war noch nie zuvor in seinem Arbeitszimmer gewesen und fragte sich, ob es aufgrund der Wichtigkeit des Mannes irgendwie besonders aussehen würde.

Die Wache verbeugte sich vor ihnen und entfernte sich, nachdem sie eine unauffällig aussehende Tür erreicht hatten.

“Das ist die richtige Tür? Bist du sicher? Sie wirkt unerwartet bescheiden”, kommentierte sie.

“Das ist schon der richtige Ort”, nickte Enric und klopfte an die Tür.

“Herein”, rief eine dumpfe Stimme dahinter. Sie traten ein und sahen sich Marrin gegenüber, der von seinem Platz hinter seinem Schreibtisch aufstand und zu Enrics Überraschung bei ihrem Anblick wahrlich erfreut wirkte.

“Lady Eryn, Lord Enric. Welch eine Erleichterung, Euch sicher zurück zu haben. Seine Majestät erwartet Euch”, lächelte er und zeigte auf eine Tür zu seiner Rechten.

“Danke, Marrin”, erwiderte Enric. “Wir sind froh, zurück zu sein.” Dann öffnete er die Tür und ließ Eryn zuerst eintreten. Marrin folgte ihnen in den Raum und schloss die Tür hinter sich, bevor er wie üblich zur Seite trat und mehr oder weniger mit seiner Umgebung zu verschmelzen schien – wie ein unauffälliges Möbelstück.

Eryn sah sich um und war beinahe ein wenig enttäuscht darüber, wie durchschnittlich das Zimmer wirkte mit seinen Büchern, Papieren und Schreibutensilien. Elegant, aber nicht aufwändiger als ihr eigenes Arbeitszimmer. Anders als der Thronsaal war das hier ein Arbeitszimmer und kein Ort für kühne Machtdemonstrationen.

Der König stand hinter seinem Schreibtisch und blickte, seinen Rücken ihnen zugewandt, zum Fenster hinaus. Er drehte sich um, als sie eintraten und sich verbeugten.

Eine Weile sah er sie an, bevor er nickte, offenkundig zufrieden mit dem, was er erblickte. “Die Delegation ist schlussendlich doch vollständig zurückgekehrt. Wir hatten schon begonnen, uns etwas zu sorgen.”

Eryn unterdrückte ein Schnauben. Er hatte sich gesorgt? Nicht halb so viel wie sie selbst, als sie sich mit der Bedrohung konfrontiert sah, zwei Jahre lang an diesem Ort festgehalten zu werden, dachte sie.

“Ich bedaure zu hören, dass meine Schwierigkeiten Euch Sorge bereitet haben, Eure Majestät”, erwiderte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ich versichere Euch, dass es nicht mit Absicht geschah.”

Der Monarch zog eine Braue hoch. “Ich sehe, dass Euer Aufenthalt in Takhan Eure Einstellung Autorität gegenüber kein bisschen verändert hat, Lady Eryn. Ich denke, wir können uns glücklich schätzen, dass Euer Gefährte an Eurer Seite war, oder das Ergebnis der Verhandlung wäre wohl weniger günstig ausgefallen.”

Der warnende Unterton in seiner Stimme ließ sie die Weisheit überdenken, ohne ausdrückliche Aufforderung zu sprechen. Also gut, dann also zurück zu dem, was sie vor ihrer Abreise praktiziert hatten: Enric würde das Reden übernehmen.

Sie wunderte sich über dieses leichte Gefühl von Missfallen, das sie verspürte und sah Enric an. Bildete sie sich das nur ein? Sie suchte in seinem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen, aber fand nichts – nur die übliche Gelassenheit und Kontrolle, die er in der Öffentlichkeit an den Tag legte. Also hatte wohl ihre Vorstellungskraft dieses Gefühl heraufbeschworen. Immerhin hatte sie ihn mittlerweile ziemlich gut kennengelernt. Natürlich würde er nicht gutheißen, wie sie gerade mit dem König gesprochen hatte. Interessant war allerdings, dass sie offenbar dazu übergegangen war, seine Gefühle nicht nur zu erahnen, sondern sich auch einredete, ein Echo davon zu verspüren.

“Ist alles in Ordnung, Lady Eryn? Ihr wirkt ein klein wenig abgelenkt”, bemerkte der König.

“Verzeiht, ich bin nur ein wenig müde. Es war eine lange Reise.”

“Dann darf ich Euch beide ersuchen, Platz zu nehmen und Eure müden Glieder auszuruhen”, lächelte er. “Ich muss sagen, dass Euer Anblick, ebenso wie Kilans nach seiner Rückkehr, etwas exotisch anmutet mit Eurer gebräunten Haut und Lord Enrics ausgebleichten Haaren. Wie seid Ihr mit dem Klima zurechtgekommen?”

Eryn lächelte höflich und wartete darauf, dass Enric antwortete. Er wollte jetzt tatsächlich über das Wetter reden? Wirklich?

“Für unsere Verhältnisse war es ungewöhnlich warm, aber nachdem wir unsere Garderobe den Bedingungen vor Ort anpassten, war es weitgehend angenehm. Die Einheimischen haben ihren Tagesablauf an das Klima angepasst und vermeiden es, zur heißesten Tageszeit draußen unterwegs zu sein. Das bedeutet, dass sie am Abend im Allgemeinen später zu Bett gehen”, erklärte Enric.

Oh, dachte sie. Die Wetter-Frage war also offensichtlich eine Einladung gewesen, über die Gebräuche zu sprechen anstatt nur bedeutungsloses Gerede von sich zu geben. Andeutungen, dachte sie müde. Warum konnten die Leute nicht einfach sagen, was sie wollten anstatt darauf zu bauen, dass ihr Gegenüber es erriet?

Sie spürte, wie Enrics Hand ihre ergriff und drückte. Ihr drängte sich der Gedanke auf, dass es als Warnung gemeint war. Aber weshalb? Sie zeigte keinerlei äußere Anzeichen ihrer Ungeduld, dessen war sie sich vollkommen sicher.

“Über die allgemeinen Entwicklungen bin ich mir natürlich dank Kilans Bericht nach seiner Rückkehr und auch der Nachricht, die Ihr mir nach der Entscheidung des Senats zukommen habt lassen, informiert. Aber da gibt es sicher noch einiges mehr. Eure Nachricht, die uns darüber in Kenntnis setzte, dass die Verhandlung zu Euren Gunsten endete und dass Ihr erst ein paar Tage später zurückkehren würdet, war recht knapp gehalten”, hörte sie ihn sagen, in seiner Stimme ein Anflug eines Tadels erkennbar.

Enric nickte. “Ihr vermutet richtig, Eure Majestät. Erlaubt mir, Euch detaillierter über die Vorkommnisse zu informieren. Ihr wisst über die Situation zwischen Ram’an und Lady Eryn Bescheid, nehme ich an?”

Der König nickte. “Falls Ihr seinen Anspruch auf sie aufgrund einer Vereinbarung zwischen ihren beiden Familien, als beide noch Kinder waren, meint, dann ja. Soweit ich das verstehe, wurde Lady Eryn für die Dauer des Verfahrens seiner Aufsicht unterstellt.”

Gut, dachte Eryn mürrisch, zumindest mussten sie hier nicht mehr in die Tiefe gehen, als absolut nötig war. Kilan hatte offensichtlich einen gründlichen Bericht abgeliefert.

“Ja”, bestätigte Enric. “Wenngleich der Senat so rücksichtsvoll war, dieses Arrangement in die Residenz der Familie von Lady Eryns Vater anstatt die von Ram’an zu verlegen.”

“Dies aufgrund einer recht eindrucksvollen Demonstration Eures Missfallens, sofern meine Informationen der Realität entsprechen?”, wollte der König mit einer hochgezogenen Augenbraue wissen.

“Das wurde wohl in die Überlegungen miteinbezogen, ja”, gab Enric unumwunden zu. “Ich selbst wurde beim stärksten der drei Triarchen untergebracht. Es scheint, als läge meine Stärke in den Westlichen Territorien ebenfalls ein wenig über dem Durchschnitt. Daher erachtete man es als weise, mich für die Dauer meines freiwilligen Aufenthalts ebenfalls unter Beobachtung zu stellen.”

“Man hätte Euch jederzeit abreisen lassen, wenn das Euer Wunsch gewesen wäre?”, erkundigte sich der König.

“Ich vertraue darauf, dass das der Fall gewesen wäre, ja”, nickte der Magier. “Schlussendlich denke ich, dass man es womöglich sogar vorgezogen hätte, wenn ich abgereist wäre. Man wusste nicht so recht, was man von mir zu erwarten hatte.”

“Soweit ich das verstanden habe, war es Lady Eryns eigene Mutter, die die Anschuldigungen vorbrachte. Ich gehe davon aus, dass dies die politische Landschaft maßgeblich verändert hat. Nach meinen Informationen hat sich Lady Eryn als die alleinige Erbin einer mächtigen Familie herausgestellt. Eine unbequeme Entwicklung, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt.”

Eryn lächelte grimmig. “Keine, die Euch irgendwelche weiteren Sorgen bereiten wird, Eure Majestät. Ich habe diesen Umstand nach der Verhandlung korrigiert, indem ich mich von Haus Aren lossagte und damit sämtliche Bande durchtrennte.” Sie warf ihrem Gefährten einen verärgerten Blick zu. “Oder zumindest dachte ich das zu diesem Zeitpunkt.”

Sie bewunderte die eiserne Kontrolle, mit der der König seine Gesichtszüge im Zaum hielt. Der einzige Hinweis auf seine Überraschung waren gespitzte Lippen.

“Ihr habt Euch also von einem mächtigen Haus losgesagt? Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr damit einen beträchtlichen persönlichen Vorteil aufgegeben habt, wenn ich mich nicht irre. Der Status der Zugehörigkeit zu einem Haus reflektiert auch den sozialen Status einer Person, wie man mir zu verstehen gab. Besonders wenn es sich um einen Magier in den Westlichen Territorien handelt.”

“Das ist tatsächlich der Fall. Allerdings habe ich diesen Vorteil nicht wirklich aufgegeben, da ich anschließend in ein anderes Haus adoptiert wurde”, erklärte sie. So viel dazu, Enric das Reden zu überlassen.

Der König schwieg einige Augenblicke lang, dann lächelte er kaum wahrnehmbar. “Haus… Vel’kim, vermute ich? Die Familie Eures Vaters?”

“Ja”, bestätigte sie, etwas verdrossen über seine schnelle Auffassungsgabe. Warum war es nur dermaßen schwierig, ihn unvorbereitet zu erwischen? Nun, es blieb abzuwarten, wie sehr ihm Enrics kleines Spiel zusagen würde.

“Ich hätte gedacht, dass Ihr weniger willig sein würdet, Euch an eine andere Familie zu binden, wenn man bedenkt, was zwischen Euch und Eurer Mutter vorgefallen ist. Liege ich richtig, wenn ich davon ausgehe, dass es einen Grund für diesen raschen Anschluss an ein anderes Haus gab?”, fragte er.

Verdammt sollte er sein, dachte sie. Wie machte er das nur? Gab es da kein einziges Detail, das sie für sich behalten konnte? Diese Sache war zu eng verknüpft mit ihrer eigenen, persönlichen Geschichte mit Ram’an. Zu privat, als dass er es wissen sollte. Aber es ihm zu verschweigen, wenn er sie direkt danach fragte, kam einer Befehlsverweigerung gleich.

Sie atmete gleichmäßig aus. “Den gab es tatsächlich. Mein Cousin ist ein Rechtsgelehrter und vermutete, dass Ram’an plante, mich aufgrund eines altertümlichen aber noch immer rechtskräftigen Gesetzes als Mitglied seines Hauses zu beanspruchen. Die noch immer gültige Kommitment-Vereinbarung, die unsere Mütter abgeschlossen hatten, hätte ihm das ermöglicht.”

“Aber nur, sofern Ihr nicht bereits ein Mitglied eines anderen Hauses seid?”, fragte der König.

“So ist es”, nickte sie.

“Ihr erwähntet, dass Ihr dachtet, Eure Bindung an das Haus Eurer Mutter sei beendet. Dies vermittelt mir den Eindruck, dass dem nicht so ist?”

“Mit Eurer Erlaubnis würde ich vorschlagen, dass mein Gefährte dies näher ausführt. Ich denke, dass er die dahinterliegenden Motive… überzeugender darlegen kann als ich es vermag.”

Der fragende Blick des Königs wanderte zu Enric.

“Lady Eryn bezieht sich auf meine Zustimmung zu Malriels Begehren, mich als ihren Sohn in Haus Aren zu adoptieren”, sagte er langsam.

Eryn verspürte Triumph in sich aufwallen, als sich die Augen des Königs weiteten. “Wie bitte?”

Endlich! Es war also doch möglich, sogar diesen scheinbar kaltblütigen Kerl zu überraschen.

Der Monarch bedeckte einen Moment lang seine Augen mit einer Hand, bevor er seine Kontrolle wiedererlangt hatte. “Was Ihr mir also sagt, Lord Enric, ist, dass Ihr Euch in ein mächtiges Haus adoptieren habt lassen, um Lady Eryns Platz als Erbe auf den Titel des Oberhaupts einzunehmen? Dies bedeutet natürlich, dass Ihr Euch in der Folge freiwillig der dortigen Rechtsprechung unterworfen habt.”

“In der Tat”, bestätigte Enric. Eryn warf ihm einen kurzen Blick zu. Er wirkte vollkommen entspannt, weder seine Gesichtszüge, noch seine Haltung zeugten von irgendetwas anderem als Gelassenheit. Warum hatte sie dann den Eindruck, dass er angespannt war und sogar scheute, was auf ihn zukam?

“Lord Enric”, sagte der König langsam und sorgfältig, während er seine Finger miteinander verschränkte. “Das bedeutet, dass Ihr Euch nun sozusagen zum Diener zweier Herren gemacht habt. Soweit ich das verstehe, sind die Häuser in Takhan auch ein integraler Bestandteil des lokalen politischen Systems. Ihr seid hier bereits politisch involviert und werdet dies früher oder später nun auch in den Westlichen Territorien sein. Das bringt uns hier in eine sehr schwierige Situation, da wir wohl irgendwann zu einem Punkt gelangen werden, wo wir uns fragen müssen, wo Eure wahre Loyalität liegt.”

Oh nein, dachte Eryn, das klang, als wäre Enric in Schwierigkeiten. Das war kein gutes Vorzeichen.

“Wie steht es um Eure Absicht, die Position des Oberhaupts von Haus Aren zu übernehmen, Lord Enric? Habt Ihr irgendwelche Ambitionen in diese Richtung? Ich würde annehmen, dass dies eine maßgebliche Überlegung bei Eurer Adoption gewesen sein muss. Ich kann verstehen, weshalb Ihr für Malriel eine wünschenswerte Wahl wart. Ihr seid sowohl ein erfahrener Anführer mit beträchtlichem Einfluss und auch der Gefährte ihrer abtrünnigen Tochter. Damit wart Ihr für diese Position der offensichtliche Kandidat. Dennoch komme ich nicht umhin, mir die Frage nach Euren eigenen Beweggründen für diesen Schritt zu stellen.”

Enric tat einen tiefen Atemzug, bevor er antwortete: “Lasst mich Euch versichern, Eure Majestät, dass meine Loyalität beim Königreich und dem Orden liegt, genau wie zuvor. Mein Hauptgrund dafür, Malriels Bitte bezüglich der Adoption nachzukommen, war der, Lady Eryns neues Haus vor Schaden zu bewahren. Wie Ihr Euch aufgrund der Geschichte der beiden Häuser sicher vorstellen könnt, war Malriel recht ungehalten über die anstehende Adoption ihrer Tochter in das Haus des Mannes, der sie ihr vor so vielen Jahren gestohlen hatte. Malriels Bedingung dafür, ihnen nicht erheblichen Schaden zuzufügen, war meine Zustimmung, als eine Art… Entschädigung für ihren Verlust zu dienen.”

Der König betrachtete ihn einige Sekunden lang eingehend, bevor er lächelte. “Das scheint mir eine noble, selbstlose Geste, die der starken Bindung zu Eurer Gefährtin entspringt. Und dennoch drängt sich mir der Verdacht auf, dass Ihr selbst davon ebenfalls profitieren werdet.”

“Nicht nur ich selbst, Eure Majestät”, erwiderte er milde, “sondern wir alle. Der ständige Kontakt mit jemandem, der nicht nur ein hochrangiges Mitglied der Gesellschaft in Takhan, sondern auch des Senates ist, wird unsere politischen Verbindungen erheblich stärken.”

König Folrin nickte. “Richtig. Und dennoch hätte ich es vorgezogen, wenn Ihr diese Entscheidung nicht ohne meine Zustimmung getroffen hättet.”

“Ich verstehe, Eure Majestät”, nickte Enric.

Der Monarch hob eine Braue. “Keine Entschuldigungen, dass die Zeit drängte, Lord Enric?”

Enric lächelte schwach. “Ich hatte den Eindruck, dass Ihr das nicht besonders schätzen würdet, Eure Majestät.”

Der König lehnte sich zurück und seufzte ausgiebig. “Das würde ich nicht, nein. Allerdings hält das die Leute im Allgemeinen nicht davon ab, mich damit zu ermüden. Gibt es sonst noch etwas, über das Ihr mich zu informieren wünscht? Vielleicht weshalb Eure Abreise um einige Tage verschoben wurde, nachdem das Verfahren zu Euren Gunsten ausging?”

“Der Grund dafür, Eure Majestät, war, dass Lady Eryn und ich in etwas eingetreten sind, das in den Westlichen Territorien als Kommitmentband dritten Grades bekannt ist”, erklärte Enric.

“Ihr seid heute voll von erstaunlichen Neuigkeiten”, kommentierte der König mit scharfer Zunge. “Ich bin über deren Natur informiert. Eine magische Bindung, die nur denen empfohlen wird, die einander wahrlich in großer Hingebung zugetan sind.” Sein Blick ruhte auf Eryn. “Ein Band, das freiwillig eingegangen werden muss, soweit ich das verstanden habe.”

Sie lächelte. “Ich versichere Euch, Eure Majestät, dass Lord Enrics Entscheidung, das Band auf meinen Antrag hin mit mir einzugehen, vollkommen freiwillig war. Ich habe auf keinerlei Nötigung zurückgegriffen.”

Der König betrachtete sie eindringlich, während er langsam nickte. “Ihr wart also diejenige, die den Wunsch äußerte, eine magische Bindung einzugehen?” Er bemerkte das kurze Aufflackern in ihren Augen und lächelte. “Dennoch komme ich nicht umhin zu denken, dass an der Sache mehr dran ist, habe ich Recht? Ihr wart es, die letztlich die Frage stellte, aber nicht diejenige, die zuerst fragte, nicht wahr?”

Sein Lächeln wuchs in die Breite, als sie verstimmt die Lippen zusammenpresste. “Ihr braucht darauf nicht zu antworten, Lady Eryn. Eure Reaktion ist aufschlussreich genug. Ich gebe zu, dass ich erfreut darüber bin, dass aus diesem Kommitment, in das ich Euch so eilig drängte, in nur wenigen Monaten so etwas Bedeutendes erwachsen ist. Auf beiden Seiten.” Er erhob sich von seinem Stuhl, woraufhin beide seinem Beispiel folgten. “Ich erwarte einen detaillierten Bericht von Euch, Lord Enric. Ich habe wenig Hoffnung, einen von Lady Eryn zu erhalten, nachdem ich von ihrer Abneigung gegen schriftliche Meldungen an ihre Vorgesetzten gehört habe”, fügte er spitz hinzu. “Fügt auch Informationen über die rechtliche Lage der neuen Familiensituationen von Euch beiden sowie über das magische Kommitment hinzu. Ich gehe davon aus, dass Ihr Euch damit vertraut gemacht habt, anstatt Euch einfach blind darauf einzulassen. Und nun dürft Ihr Euch zurückziehen. Lord Tyront ist zweifellos begierig darauf, von diesen höchst interessanten Entwicklungen zu erfahren.”

Eryn verbeugte sich, froh darüber, das erste der beiden Treffen hinter sich zu haben. Allerdings hatte sie wenig Hoffnung, dass die Zusammenkunft mit Lord Tyront sich als angenehmer erweisen würde.

* * *

König Folrin presste Daumen und Zeigefinger einer Hand auf seine Augen.

“Ich bin ratlos, ob ich Lord Enric bewundern oder verfluchen soll. Öffentlich muss ich ihn natürlich für seine Verdienste loben. Wir können unseren neuen Freunden jenseits des Meeres nicht den Eindruck vermitteln, ich würde seine Verbindung mit ihrer Gesellschaft nicht gutheißen, nicht wahr?”, seufzte er müde. “Ich brauche Informationen, Marrin. Wir haben die formelle Einladung erhalten, einen ständigen Botschafter in Takhan zu stationieren, und ich empfehle, dass dein Sohn so bald wie möglich von hier abreist und seine neue Position übernimmt. Wenngleich ich fürchte, dass die Art von Information, die ich von ihm brauche, seine eigene Loyalität auf die Probe stellen wird.”

Marrin hob fragend eine Augenbraue.

“Die Kommitmentbindungen. Dir ist natürlich klar, dass das Band, das wir unseren eigenen Magiern nach Beendigung ihres Trainings auferlegen, das ist, was dort als sogenanntes Kommitmentband zweiten Grades betrachtet wird. Ich könnte mir denken, dass man auch herausgefunden hat, wie sich dieser bindende Effekt aufheben lässt. Früher oder später wird das auch hier öffentlich bekannt werden und die Art der Bindung zwischen der Krone und dem Orden verändern. Bislang haben wir die Magier mehr oder weniger dazu gezwungen, sich an uns zu binden. Sollte sich die Bindung mühelos auflösen lassen, würde sich das zu einem freiwilligen Band wandeln”, erklärte der König mit einem düsteren Gesichtsausdruck.

“Ihr geht also davon aus, dass der Orden selbst nicht darüber im Bilde ist, wie sich die Bindung an die Krone aufheben lässt?”, erkundigte sich Marrin.

Der König lächelte seinen Berater an. “Du kennst mich zu gut, Marrin. Du hast natürlich Recht. Ich bin sicher, dass zumindest Lord Tyront in der Lage wäre, die Wirkung des Eids jederzeit aufzulösen. Womöglich sogar Lord Enric, besonders nach seiner Reise nach Takhan.”

“Falls Eure Annahmen also zutreffen, Eure Majestät, dann hätte der Orden das Band in der Vergangenheit ohnehin freiwillig aufrechterhalten”, strich der ältere Mann hervor.

“Das stimmt. Aber dessen wären sich nur die Anführer des Ordens bewusst, nicht aber die anderen Magier. Es scheint, als ob ein ausführliches Gespräch mit Lord Tyront längst überfällig ist. Aber zuvor werde ich ihm noch einen Tag oder auch zwei gönnen, um sich von den Neuigkeiten zu erholen, die er gleich von unseren beiden Reisenden erhalten wird”, meinte der König mit einem resignierten Lächeln.

* * *

Eryn ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett fallen und gab etwas nur gedämpft Vernehmbares von sich, das von der Matratze verschluckt wurde.

“Das war nicht unbedingt eine verständliche Aussage, meine Liebste. Versuch es noch einmal, ohne dass dein Mund in Stoffe eingegraben ist”, riet ihr Enric.

Sie hob den Kopf. “Ich sagte, dass diese zwei Vorladungen meine Freude über unsere Rückkehr beträchtlich vermindert haben. Ich fühle mich matt und erschöpft. Entkräftet. Wir hätten vorgeben sollen, dass wir erst morgen ankommen und den Abend stattdessen im Geheimen mit Orrin, Junar, Vern und Plia verbringen.”

Die Belustigung, die sie unerwartet überkam, ließ sie die Stirn runzeln, und sie hob ihren Blick zu seinem schiefen Grinsen.

“Weißt du”, sagte sie bedächtig, “irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.”

Sie bemerkte, wie der Ausdruck in seinen Augen aufmerksamer wurde.

“Tatsächlich?”

Ihre Augen verengten sich. “Ja, tatsächlich. Und ich habe den Verdacht, dass du dir dessen sehr wohl bewusst bist. Was ist das hier? Ein kleines Spielchen, um zu sehen, wie lange ich brauche, um es herauszufinden?”

“Was denkst du denn, das nicht stimmen könnte, mein Schatz?”, fragte er sanft und lehnte sich mit verschränkten Armen an eine Kommode in seinem Rücken. “Was hast du denn herausgefunden?”

“Dass sich offenbar meine Wahrnehmung etwas verschärft hat, wenn es darum geht, deine Stimmungen einzuschätzen, denke ich”, sagte sie vorsichtig. “Ich frage mich, ob das daran liegen kann, dass ich mir endlich das ganze Ausmaß meiner Zuneigung zu dir eingestanden habe, oder ob das ein Nebeneffekt unseres Bandes ist.”

“Dann lass mich meine Eindrücke deinen hinzufügen”, bot Enric an. Das würde den Abend wohl noch weniger erfreulich machen für sie, dachte er. “Ich denke nicht, dass deine erste Vermutung der wahre Grund ist. Ich bin mir meiner Gefühle für dich schon seit einer Weile bewusst, habe aber erst kürzlich zum ersten Mal erlebt, was du gerade beschrieben hast.”

Sie nickte. “Dann ist es also das Band. Eine engere Verbindung als zuvor, das Bedürfnis, mehr miteinander zu teilen. Das könnte eine erhöhte Sensibilität für die Stimmungen des anderen mit sich bringen, vermute ich.”

Er seufzte. “Eryn, ich denke, es ist etwas mehr als das. Dieses Mal habe ich unter der Seekrankheit gelitten.”

“Ach ja?”, fragte sie.

“Nur solange du wach warst. Sobald du geschlafen hast, war sie weg”, fügte er leise hinzu.

“Nun, das ist bedauerlich für dich, aber ich sehe nicht…” Ihre Worte verstummten, als ihr die volle Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, klar wurde. Sie sprang vom Bett auf und schüttelte vehement den Kopf. “Nein! Sag mir, dass das nicht wahr ist!”

Er atmete langsam aus. “Wenn ich von dem Ausmaß an Panik in mir ausgehe, die ganz klar nicht meine eigene ist, würde ich sagen, dass es wenig Sinn macht, es abzustreiten.”

Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. “Aber Vran’el sagte, dass das kaum jemals vorkäme! Dass ich mir deswegen keine Sorgen machen müsste!”, klagte sie. “Warum? Warum ist da immer irgendetwas, das mir eine Ohrfeige verpasst, wenn ich mich entschließe, mich jemandem zu öffnen?” Die Flut an Ärger, die sie wie ein heißer Speer durchdrang, ließ sie nach Luft schnappen. Sie starrte zu Enric, der abgesehen von zusammengekniffenen Augen keinerlei Anzeichen von Aufruhr zeigte, während er noch immer vermeintlich gelassen an die Kommode gelehnt stand.

“Wie kannst du das in dir drin halten, ohne dass man etwas sehen kann?”, stöhnte sie und griff auf das zurück, was in der Vergangenheit halbwegs gut funktioniert hatte, wenn sie mit starken Gefühlen umgehen musste: Atmen.

Ein dünnes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. “Gut. Ein sehr effektiver und direkter Weg, um dir meine Ansichten mitzuteilen. Du hast gerade einen kleinen Eindruck davon erhalten, was in mir vorgeht, wenn du davon sprichst, dass du es bedauerst, dich an mich gebunden zu haben.”

“Das wollte ich damit nicht sagen! Ich bedaure es nicht, ich verspreche es!”, rief sie aus, erleichtert, als der Ärger, den er aussandte, merklich abflaute.

“Wir brauchen Hilfe in dieser Sache”, sagte er. “Wenn wir streiten, hat keiner von uns eine Chance, ruhig und vernünftig zu bleiben, wenn wir zusätzlich zu unseren eigenen Gefühlen auch noch die des anderen erfahren. Ich werde Valrad morgen eine Nachricht schicken und ihn ersuchen, uns sämtliche Information zukommen zu lassen, die er über diese geistige Bindung hat. Erwarte aber nicht zu viel. Du hast Vran’el gehört; da es nicht oft vorkommt, wurde auf diesem Gebiet nicht besonders viel geforscht.”

Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck entlockte ihm ein Seufzen, und er stieß sich von der Kommode ab, um sich zu ihr aufs Bett zu setzen. “Das muss nicht unbedingt eine Bürde sein, Liebste. Wir können Dinge auf eine Art und Weise miteinander teilen, die andere Menschen so nie erleben können. Die Schwierigkeit liegt einfach darin, dass wir erst lernen müssen, wie wir damit umgehen. Der Vorteil ist allerdings, dass es scheint, als würden nur starke Gefühle übertragen werden. Das ist eine ziemliche Erleichterung. Wir werden herausfinden müssen, ob Entfernung irgendeine Auswirkung auf die Stärke der Empfindungen hat. Vielleicht gibt es sogar eine Möglichkeit, ihre Wirkung zu reduzieren.”

Sie hob ihr Gesicht und nickte unglücklich. “Das wäre gut, ja. Dein Ärger gerade eben hätte mich beinahe in die Knie gezwungen. Meine Güte, ich hoffe, dass das auch mit positiven Gefühlen funktioniert.”

“Das tut es”, nickte er. “Ich habe deine Schadenfreue über die Überraschung des Königs gespürt, als ich ihm von meiner Adoption durch Haus Aren erzählte.”

Sie lachte zittrig. “Wenn man das als positives Gefühl bezeichnen möchte…”

Er lächelte. “Ich habe auch deine Freude darüber wahrgenommen, als deine Freunde bei unserer Rückkehr auf dich gewartet haben.”

Als sie zurückdachte, weiteten sich ihre Augen. “Dieses Gefühl von Bedauern, das ich nicht so richtig einordnen konnte… das warst du, nicht wahr? Warum?”

Es schien also, als würde das Band ihn ebenfalls dazu bringen, mehr von sich preiszugeben, als er es sonst getan hätte, sinnierte er. “Als ich sah, wie du empfangen wurdest, und das nachdem wir von einem Ort zurückkehrten, wo ich zum ersten Mal seit langer Zeit freundschaftlichen Umgang mit anderen Menschen gepflegt habe, wurde mir klar, dass ich hier nicht gerade als besonders gesellig bekannt bin.”

Sie blinzelte und dachte kurz nach. “Die Menschen hier sind zum Großteil entweder eingeschüchtert oder haben Angst vor dir. Genau wie ich selbst vor nicht allzu langer Zeit. Ich schätze, dass es hier nicht gerade einfach für dich sein kann, Kontakte zu pflegen”, räumte sie ein. “Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass dich dieser Umstand besonders kümmert.”

Er schüttelte den Kopf. “Interessanterweise dachte ich das auch nicht.” Er ergriff ihre Hand und drückte sie. “Siehst du? Der intime Aspekt des Bandes funktioniert bereits.”

“Ja”, lächelte sie, “und ich bin froh zu sehen, dass es zur Abwechslung einmal nicht nur mich allein betrifft. Unsere üblichen Diskussionen über persönliche Dinge sind in der Regel eher einseitig und enden damit, dass du mich analysierst. Vielleicht wird es eine Erleichterung für mich sein, dass das von nun an in beide Richtungen geht.” Dann fügte sie zögernd hinzu: “Es wird also ab jetzt wirklich unmöglich sein, Geheimnisse vor dir zu bewahren, nicht wahr? Wenn ich mich schuldig fühle, weil ich dir etwas verheimliche, dann wirst du das sofort bemerken.”

“Darauf zähle ich”, sagte er mit einer hochgezogenen Braue. “Das ist eine Sache, die ich dir nun schon seit einiger Zeit abzugewöhnen versuche. Obwohl ich zugeben muss, dass du in Takhan bereits erste Anzeichen der Besserung gezeigt hast.”

“Welch hohes Lob”, murmelte sie. Dann kam ihr ein Gedanke, und sie kniff die Augen zusammen. “Du hast mich auf dem Schiff eine Stunde zu früh geweckt, um damit zu experimentieren, habe ich Recht? Du hast mich absichtlich leiden lassen, damit du deinen Verdacht bestätigen konntest! Du wusstest es zu diesem Zeitpunkt bereits!”

Er lächelte entschuldigend. “Würde es dich trösten, wenn ich dir sage, dass ich mit dir leiden musste?”

“Nein”, knurrte sie, dann zuckte sie die Achseln. “Nun, ein wenig. Wie sehr musstest du leiden?”

“Schrecklich”, erwiderte er aufrichtig. “Als ob mein leerer Magen drauf und dran war, sich ständig zu übergeben, ohne dass etwas anderes als bittere Flüssigkeiten da waren, die in meinem Hals brannten.”

Nachdenklich betrachtete sie ihn, dann nickte sie. “In Ordnung, das ist angemessen. Wie gehen wir mit diesem Geistesband nun um? Starke Gefühle zu vermeiden wird sich wohl etwas schwierig gestalten.”

“Ich bin es gewohnt, damit umzugehen, aber wie ich gesehen habe, musst du dich daran erst gewöhnen. Du hast schon Schwierigkeiten damit, deine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten, also könnte es sich als große Belastung für dich erweisen, dass du nun auch meine wahrnimmst.”

Sie schluckte. “Was ist, wenn es keine hilfreichen Bücher darüber gibt, wie man damit umgeht?”

“Dann, meine Liebste”, meinte er und küsste ihre Hand, “wird sich deine enorme Begabung in der Kategorie der Entdecker zweifellos als nützlich erweisen. Du wirst die einzigartige Gelegenheit haben, zu experimentieren und damit Fachwissen zu einem Gebiet zu schaffen, das dir in beiden Ländern zu Ruhm und Ehre verhelfen wird.”

Er lächelte, als er einen Funken Interesse in ihren Augen aufblitzen sah.

 

Kapitel 2

Zurück an die Arbeit

Enric hielt ihre Hand in seiner, während sie auf ihrem Weg zum Heilergebäude durch die Straßen von Anyueel spazierten. Er war erleichtert, dass sie die für sie zweifellos erschütternden Neuigkeiten verhältnismäßig gut aufgenommen hatte. Er hatte über seinen eigenen Standpunkt zu dieser unerwarteten Entwicklung nachgedacht und war etwas besorgt, wie sie beide damit umgehen konnten, ohne sich mit unzumutbaren Nachteilen herumplagen zu müssen. Aber alles in allem betrachtete er es keinesfalls als den Fluch, für den Eryn es zu halten schien.

“Müssen wir Lord Tyront davon erzählen?”, unterbrach sie mit ihrer Frage seinen Gedankengang. Ihr Verstand befasste sich also ebenfalls mit dieser Angelegenheit. “Er war über deine Adoption ebenso unerfreut wie der König. Und anders als der König, hat ihm die Sache mit dem Kommitmentband überhaupt nicht gefallen. Wie nannte er es? Mit Magie herumspielen, für die uns das Verständnis fehlt?” Bei der Erinnerung an die üble Laune ihres Vorgesetzten verzog sie das Gesicht. Sie beneidete Enric nicht um die Pflicht, ihm heute bei der Ratsversammlung erneut zu begegnen.

“Damit sollten wir wohl noch eine Weile warten”, seufzte er. “Er muss erst einmal mit den Neuigkeiten klarkommen, die wir ihm bisher offenbart haben. Wir vermeiden es im Moment wohl besser, seine angeschlagenen Nerven zu überfordern.”

“Gut. Ich glaube nicht, dass ich in nächster Zeit noch einmal mit ihm zu tun haben will.”

“Gib ihm etwas Zeit, um sich mit der neuen Situation abzufinden. Obwohl er kein großer Freund von Überraschungen ist, braucht er nicht lange, um sich an sie anzupassen. Seine schlechte Laune dauert in der Regel nur kurz an.” Er hielt an, als sie das Heilergebäude erreichten. “Wir sind da. Willst du schon voller Ungeduld zurückkehren und deinen Kollegen zeigen, welche erstaunlichen neuen Dinge du gelernt hast?”, lächelte er und küsste sie auf die Stirn.

“Das wäre fabelhaft”, nickte sie. “Aber ich befürchte, dass es vorher noch einiges an Arbeit zu erledigen geben wird. Zum Glück ist heute kein Behandlungstag. Nicht, dass ich mit besonders viel Ruhe und Frieden rechne. Ich sorge mich ein wenig wegen der Dinge, die Plia gestern angedeutet hat, bevor wir zum Treffen mit dem König aufgebrochen sind.”

“Wie schlimm kann es sein? Das Gebäude steht immerhin noch. Kein verärgerter Mob hat es geplündert oder niedergebrannt.

“Sehr witzig”, knurrte sie und wollte gerade einen der beiden großen Türflügel aufziehen, als sie sich sanft zurück und in eine warme Umarmung gezogen fühlte.

“Sieh zu, dass du heute nicht zu lange arbeitest. Du sollst fit genug sein, um an einem Experiment teilzunehmen.”

Sie hob beide Augenbrauen. “Welches Experiment?”

“Mit dem Geistesband. Es geht darum, wie intensivere positive Gefühle übertragen werden.”

Ihre Augen verengten sich. “Drückst du dich so kunstvoll aus, um die Tatsache zu verbergen, dass es hier um Sex geht?”

Mit einem leisen Lachen schüttelte er den Kopf. “Ich wundere mich, dass du überhaupt fragen musst. Natürlich geht es darum.” Er beugte sich zu ihr hinab, um ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen zu drücken und wandte sich dann ab, um seinen Weg zum Palast fortzusetzen. Nach ein paar Schritten drehte er sich halb um und hob einen Finger. “Komm zu einer zivilisierten Zeit nach Hause, hörst du?”

Sie verdrehte die Augen und sah dann auf die Symbole auf ihrem Handgelenk hinab, die alle paar Schritte, die er sich von ihr entfernte, immer weiter verblassten. Als er um die nächste Ecke bog, verschwanden sie vollkommen.

Als sie ihre Hand hob, um die Tür aufzuschieben, wurde sie von innen geöffnet, und sie sah ein vertrautes Gesicht vor sich. Rolan.

“Lady Eryn”, seufzte er, und sie blinzelte bei der Erleichterung in seiner Stimme. “Ich bin so froh, dass Ihr zurück seid. Wirklich froh.”

“Rolan”, meinte sie mit einem unsicheren Lächeln. “Es ist gut, zurück zu sein.” Rolan war glücklich darüber, sie zu sehen? Das war ziemlich sicher kein gutes Zeichen. “Möchtest du mir sagen, was das Problem ist oder sollte ich mich dafür hinsetzen?”, sagte sie mit einem leicht ironischen Lächeln.

Er errötete. “Hinsetzen wäre wohl besser. Mit einem netten, warmen Getränk.”

“So schlimm?”, seufzte sie.

Darüber schien er ein paar Augenblicke lang nachzudenken, bevor er mit den Schultern zuckte. “Wisst Ihr, jetzt wo Ihr zurück seid, bin ich mir da nicht mehr so sicher.” Seine Stimme klang überrascht. “Interessant.”

In der Tat, dachte sie, sagte es aber nicht laut. Es schien als ob seine Zuversicht, dass sie eine Lösung parat hatte für welche Katastrophen auch immer eingetreten waren, für ihn ebenso überraschend kam wie für sie. Das musste ein Zeichen für Vertrauen sein, nicht wahr? Oder vielleicht einfach nur Verzweiflung. Nun, das würde sie bald genug herausfinden.

Sie sah sich unauffällig um, während sie Rolan zu der kleinen Küche folgte, um sich ein Getränk zu holen. Alles wirkte sauber, unbeschädigt und so, wie es sein sollte. Ihr Assistent wartete, bis sie eine Tasse mit Wasser gefüllt, einen Löffel mit fein gemahlenen Kräutern eingerührt und die Mischung mit einer Berührung ihres Fingers und ein wenig Magie erhitzt hatte, bevor er ihr voran die Treppen hinauf und zu ihrem Arbeitszimmer ging, um ihr die Tür aufzuhalten.

Wiedersehensfreude in Kombination mit beinahe erdrückender Zuvorkommenheit? Jetzt wurde es langsam so richtig schaurig, dachte sie.

Ihr Arbeitszimmer sah nicht besonders chaotisch aus, entschied sie. Nach einer Abwesenheit von mehr als sechs Wochen war es etwas unaufgeräumter – mit Papieren, die herumlagen – als sie es hinterlassen hatte, aber nichts, das ihr einen Schock versetzte oder sie zurückschrecken ließ.

Sie ging zu ihrem Tisch und stellte die Tasse darauf ab, bevor sie sich in den Sessel sinken ließ, ausatmete und zufrieden lächelte.

“Jetzt bin ich zurück. So richtig.” Sie bedeutete Rolan, sich ebenfalls zu setzen. “Also gut – schockiere mich. Was ist alles schiefgelaufen?”

“Vern”, sagte ihr Assistent bedächtig.

“Vern ist schiefgelaufen?”, fragte sie sanft nach.

Rolan dachte kurz nach, dann kam er offenkundig zu dem Schluss, dass der Ausdruck passend war. “Ja, ich denke, so könnten wir es nennen.”

“Also gut”, sagte sie langsam, “könntest du hierzu ein wenig mehr sagen? Ein paar mehr Details wären hilfreich.”

“Er kam mit den anderen Heilern nicht besonders gut zurecht”, erklärte ihr Assistent.

“Was meinst du damit? Heraus damit, Rolan! Das ist richtig mühsam!”, rief sie ungeduldig aus.

Unglücklich verzog er das Gesicht. “Vern scheint gewisse tyrannische Qualitäten entwickelt zu haben. Die Heiler waren kurz davor, offen gegen ihn aufzubegehren. Ich hatte schon Angst, dass ich hier bald allein mit einem Haus voller Patienten dastehen würde und die Heiler die Arbeit verweigern.”

Ein Tyrann? Vern? Nun, sinnierte sie, wenn sie davon ausging, wie er sich bei den Verhandlungen verhalten hatte, war das womöglich nicht so unwahrscheinlich. Da gab es definitiv eine diesbezügliche Neigung diese Richtung.

“Ich verstehe. Was war deiner Ansicht nach der Grund für solch ein Verhalten?”

“Jugend. Mangel an Erfahrung. Idiotie.” Rolan rang die Hände. “Ich weiß es nicht!”

“Denk nach”, sagte sie sanft. “Ich brauche einen neutralen Standpunkt. Sag mir, was du denkst.”

“Eine Stimme der Vernunft”, murmelte er und schüttelte den Kopf. “Das scheint mir Luxus bei all dem Durcheinander, das wir hier in den letzten Wochen hatten.” Er räusperte sich und blickte wieder auf. Mit Erleichterung sah sie, dass in seinen Augen nun weniger Verzweiflung und mehr Fokus erkennbar waren.

“Er war mit der Doppelbelastung überfordert, einerseits eine Gruppe mit Leuten anzuführen, die wesentlich älter waren als er selbst und bei denen er darum kämpfen musste, ernstgenommen zu werden, und andererseits in seiner anderen Funktion noch zu heilen und zu unterrichten. Er hat lange Nächte hier verbracht und sich um den Papierkram gekümmert, ist zuweilen darüber verzweifelt”, erklärte er, das Mitgefühl in seiner Stimme klar erkennbar.

“Wie bist du mit ihm zurechtgekommen?”

“Gut genug. Ich habe versucht, ihm so viel abzunehmen, wie ich konnte, aber meine eigene Erfahrung, wenn es darum geht, Leute anzuführen oder zu heilen und unterrichten, ist nicht eben erwähnenswert. Das Einzige, womit ich ihn unterschützen konnte, waren die Schreibarbeiten.” Er seufzte. “Und auch damit, ihn aus dem Schutzraum herauszulassen, als sie Tür blockierten, während er noch drin war.”

“Sie?”, fragte sie. “Die Heiler?”

Rolan nickte.

“Was haben sie sonst noch getan?” Sie spürte Ärger in sich aufsteigen über die Dämlichkeit Erwachsener, die einen jungen Mann, dem sie einige Jahre voraus waren, piesackten, anstatt ihm ihre Unterstützung angedeihen zu lassen.

“Absichtlich falsch verstandene Anweisungen, soweit ich das mitbekommen habe. Versteckte Kleider. Verschlossene Arbeitszimmertür. Zweimal.”

Eryn schloss die Augen und dämpfte den Drang nieder, jemandem wehzutun. Als sie sie wieder öffnete, war der Ausdruck darin stählern. “In Ordnung. Sag mir, was er getan hat, um diese Dinge zu provozieren. Normalerweise sind sie nicht dermaßen dumm.”

“Er schrie sie häufig an. Ließ sie länger bleiben, gab ihnen mehr zu lernen, als sie bewältigen konnten. Es scheint, dass er einen etwas zügigeren Lernfortschritt gewohnt ist.”

Ja, dachte sie, und sie hatte es stets den Vorteil genutzt, dass er klug, interessiert und ein sehr schneller Lerner war. Hatte sie ihn unabsichtlich dazu ermutigt, dass er dachte, das sei die Art und Weise, wie auch jeder sonst unterrichtet werden sollte? So schien es wohl.

“Zuerst versuchten sie, mit ihm zu reden”, setzte Rolan fort. “Aber sie stellten Forderungen, worauf er nicht besonders gut reagierte.”

Sie dachte zurück an Verns Umarmung. Die Panik in seiner Stimme, als er ihr sagte, dass er Angst gehabt hatte, dass man sie nicht mehr aus Takhan abreisen lassen würde. Offensichtlich steckte da etwas mehr dahinter, als dass er sie einfach nur als Freundin vermisst hatte.

“Meine Güte”, seufzte sie. “Es sieht also so aus, als würde ich damit anfangen müssen, diese Kluft zu reparieren. Sie müssen in der Lage sein, wieder professionell miteinander zu arbeiten. Und Vern ist ihnen noch immer weit genug voraus, um sie gelegentlich zu unterrichten oder zumindest ihre Arbeit zu überwachen. Ich muss sie dazu bringen, dass sie einander wieder respektieren. Irgendwelche Vorschläge?”

Rolan setzte sich etwas aufrechter hin. Ihr entging nicht, dass er es sehr schätzte, nach seiner Meinung gefragt zu werden. Sie versuchte sich zu erinnern. Hatte sie sich niemals zuvor die Mühe gemacht, ihn zu fragen? Es schien, als ob Verns Führungsansatz nicht der einzige war, der eine Kurskorrektur erforderte, dachte sie.

“Ich denke, was beiden Seiten in den letzten Wochen gefehlt hat, ist Wertschätzung”, wagte er sich vor und wartete auf ihre Reaktion.

“Wertschätzung? Ihnen also sagen, dass sie gute Arbeit geleistet haben?”

Er nickte. “So in der Art, ja.”

“Gut, das bekomme ich hin.” Sie trank die Tasse aus. “Hast du irgendwelche Informationen betreffend Trainingsfortschritt, Inventar und Behandlungen für mich?”

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sah sie ihn lächeln und konnte nicht anders, als den Anblick genießen. Nicht ein einziges Mal hatte er es in der Zeit ihrer Zusammenarbeit bisher versäumt, ein Blatt Papier mit Listen, Zahlen oder was auch immer sonst darauf vorzulegen. Das war es, worin er gut war. Nun würden sie sich seinem Fachgebiet zuwenden.

* * *

Eryn war gerade damit fertig, den Bericht über die Art und Mengen der Medizin, die den Patienten während ihrer Abwesenheit verabreicht worden war, durchzulesen, als es an ihrer Tür klopfte. Auf ihre Einladung hin trat eine Palastwache in Livree ein.

Oh nein, dachte sie. Bloß keine Vorladung vom König oder dem Rat. Nicht jetzt, wo es so vieles gab, um das sie sich zu kümmern hatte. Jedoch schien er keine schriftliche Nachricht bei sich zu tragen, also war er zweifellos hier, um sie anzuweisen, mit ihm zu kommen.

Bevor er sprechen konnte, seufzte sie: “König oder Rat?”

Der Bote blinzelte. “Der Rat der Magier, Lady Eryn.”

“Jetzt gleich oder habe ich noch Zeit, vorher ein paar Dinge zum Abschluss zu bringen?”

Er verzog mitfühlend das Gesicht. “Jetzt sofort, befürchte ich.”

Sie schob ihren Stuhl zurück. “Aber natürlich. Was denn sonst? Dann geh voraus. Ich schätze, dir wurde aufgetragen, nicht ohne mich von hier wegzugehen.”

Er nickte und wartete, bis sie ihre Robe übergezogen und zurechtgerückt hatte, bevor er vor ihr die Stufen hinabstieg.

Enric hatte sie gewarnt, dass man sie bald sehen würde wollen, aber sie hatte gehofft, dass er sich für den Moment allein um das, was auch immer sie brauchten oder wissen wollten, kümmern konnte. Bei allem, was Handel oder Politik betraf, wäre er auf jeden Fall der Richtige, um ihre Neugier zu befriedigen. Sie hielt an und atmete aus. Aber einen Bereich gab es, wo sie die Ansprechpartnerin war. Heilung und alles in Verbindung damit. Natürlich. Sie wollten über die Barriere in ihren Köpfen sprechen. Das war die wahrscheinlichste Erklärung.

Der Bote drehte sich zu ihr um und wartete geduldig, bis sie weiterging. Als sie die Türen der großen Ratshalle erreicht hatten, verbeugte er sich vor ihr und verschwand. Sie klopfte dreimal, woraufhin die Tür augenblicklich geöffnet wurde. Sie trat ein und stand sofort im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sowohl der zwölf Ratsmitglieder als auch eines exaltierten Besuchers in diesen Hallen: des Königs.

Der Rat saß um den weitläufigen Tisch herum, der Stuhl des Anführers des Ordens ein wenig aufwändiger gearbeitet als die der anderen. Der Thron des Königs stand abseits, als ob er in diesen Hallen nur die Rolle eines Beobachters einnahm.

Zwölf Mitglieder, sinnierte sie. Genau die gleiche Anzahl wie die der Häuser in Takhan. Es war das erste Mal, dass ihr dieser Zufall auffiel. Seltsam, mit welchen Dingen der Verstand aufwartete, wenn er der unmittelbaren Realität entfliehen wollte. Sie wusste, dass sie nicht in Schwierigkeiten war, und doch war es nicht besonders angenehm, vor dem Rat und dem König zu stehen.

“Meine Herren”, sprach sie, bevor jemand die Chance hatte, sie anzusprechen, “hier bin ich. Halten wir das hier kurz, in Ordnung? Wie Ihr Euch zweifellos denken könnt, gibt es da jede Menge Arbeit, um die ich mich nach meiner Rückkehr kümmern muss.”

Sie sah, wie ein paar von ihnen belustigte oder verärgerte Blicke austauschten. Orrin hob eine Braue, eventuell eine Warnung, während Enric leicht amüsiert wirkte und Lord Tyront ihr einen Blick zuwarf, der zwar nicht gerade feindselig, aber definitiv wenig herzlich war. Die Miene des Königs war so unergründlich wie auch sonst in der Regel.

Vielleicht war es nicht besonders ratsam gewesen, den Gruß so zu formulieren, überlegte sie. Andererseits war es auch nicht gerade rücksichtsvoll gewesen, sie so kurzfristig herzubeordern. Soweit es sie betraf, waren sie nun quitt.

“Lady Eryn”, sagte Tyront pointiert, “erlaubt mir, Euch im Namen des Rats wieder unter uns willkommen zu heißen, selbst wenn unsere Aufforderung, zu uns zu kommen, Euch im Augenblick eher ungelegen zu kommen scheint.”

Sie zuckte mit den Schultern. “Ich danke Euch. Solange das hier nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt, werden sich die Unannehmlichkeiten in Grenzen halten, würde ich sagen.” Bescheuert, schalt sie sich. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass sie ihn ständig provozieren wollte? Sie dachte zurück an die Worte des Königs vom Vorabend darüber, dass ihr Aufenthalt in der Fremde ihre Einstellung Autorität gegenüber nicht verändert hatte.

Tyront nahm einen tiefen Atemzug und lächelte sie kühl an. “Dann wird der Rat sein Bestes tun, um Eure wertvolle Zeit nicht ungebührlich zu verschwenden, Lady Eryn.”

Darauf antwortete sie nicht, sondern wartete nur, dass er fortfuhr. Die Aussage mochte harmlos scheinen, aber sein Tonfall zeigte eindeutig, dass er alles andere als glücklich war, also war es wohl weiser, ihre Zunge für den Moment im Zaum zu halten und sich darauf zu beschränken, nur dann zu sprechen, wenn sie angesprochen wurde. Eine Strategie, deren Vorteile Enric ihr nun schon seit einer Weile ans Herz zu legen versuchte.

“Ihr könnt Euch womöglich denken, weshalb wir Euch rufen ließen”, setzte er fort. Sie bemerkte, dass er ihr keinen Sitzplatz anbot. Kleine Vergeltungsmaßnahmen. Also musste sie dort stehen, als wäre sie eines Vergehens angeklagt. Es erinnerte sie an den Tag, als sie und Vern in seinem Arbeitszimmer gestanden hatten, nachdem ihre ungenehmigten Unterrichtsstunden in magischem Kampf aufgeflogen waren. Und an den Senat in Takhan, wo sie während des Verfahrens vor den Repräsentanten der Häuser stehen hatte müssen. Sie schob die Bilder zur Seite und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

“Ich gehe davon aus, dass Ihr mit mir über die Barriere in Euren Köpfen reden wollt”, wagte sie sich vor. Sie sah, wie Tyront leicht überrascht nickte. Also hatte er nicht damit gerechnet, dass sie den Grund tatsächlich vermutete und wollte sie als Bestrafung für ihr Verhalten schlecht aussehen lassen. Charmant. Enrics zustimmendes Grinsen war kaum mehr als eine Andeutung, aber für das geschulte Auge klar erkennbar.

“In der Tat. Soweit ich das verstehe, wurde Euch das Wissen gewährt, wie sich die Barriere aufspüren und entfernen lässt. Euch wurde zudem gezeigt, wie es gemacht wird von…” Er hielt inne, offensichtlich nicht sicher, wie er die Familiensituation bezeichnen sollte, in der sie sich nach ihrer Adoption befand.

“Von Valrad”, vervollständigte sie seinen Satz. “Ja. Er war so freundlich, mir zu zeigen, wie es geht, indem er mich bei der Entfernung von Enrics Barriere instruierte.”

Sie sah, wie sich ein breites Lächeln auf Lord Woldarns Gesicht ausbreitete. “Dann haben wir nun zwei Magier, die in der Lage sind, magisch begabte Töchter zu zeugen. Und wie günstig, dass sie auch noch Gefährten sind.”

Eryn starrte ihn kühl an. “Euer Eifer, diese neue Entwicklung mit offenen Armen zu begrüßen, ist verständlich, mein Lord, aber ich versichere Euch, dass ich nicht die Absicht habe, eine Großfamilie zu starten, um in dieser Angelegenheit den Wünschen anderer entgegenzukommen.”

“Verzeiht”, sagte er beschwichtigend und hob beide Hände, “das wollte ich damit nicht sagen, Lady Eryn, seid versichert. Ich meinte nur, dass, egal wie viele Kinder Ihr und Lord Enric zu haben beabsichtigt, wir uns alle darauf freuen, ihre Entwicklung zu verfolgen – besonders, falls es darunter Mädchen gibt.”

Enric schloss für einen Moment die Augen. Darauf würde es ebenfalls keine besonders wohlwollende Antwort geben, und er bezweifelte, dass Tyront in der Laune war, im Moment noch weitere Unverschämtheiten von ihrer Seite in Kauf zu nehmen. Deshalb erhob er seine Stimme, bevor Eryn darauf antworten konnte.

“Lord Woldarn, ich schätze Euer Interesse an unseren Fortpflanzungsplänen sehr, würde aber meinen, dass dies hier kaum das richtige Umfeld für solch eine Diskussion ist”, kommentierte er trocken und ließ keinen Zweifel daran, dass er es keineswegs schätzte.

Das brachte ihm ein paar Lacher ein, und Lord Woldarn lehnte sich mit verschränkten Armen und einem missmutigen Gesichtsausdruck zurück.

“Lady Eryn”, kehrte Lord Tyront wieder zum ursprünglichen Thema zurück, “wir haben Euch rufen lassen, um Euch über unsere Entscheidung zu informieren, dass Ihr die Barriere in den Köpfen sowohl von Magiern als auch Nichtmagiern entfernen sollt, sobald es Euch möglich ist.”

Sie schluckte. “Bei allen?”

“Vorzugsweise, ja. Ich stelle mir vor, dass dies einige Zeit in Anspruch nehmen wird, die Ihr lieber auf andere Angelegenheiten verwenden würdet, aber Ihr werdet sicher verstehen, dass dies bald erledigt werden sollte”, zeigt er auf.

Eryn atmete aus und nickte. “Das tue ich, ja. Allerdings weiß ich nicht, wie lange ich dafür brauchen werde, jede einzelne Barriere zu entfernen. Ich habe das bisher erst einmal gemacht, und dabei hatte ich Hilfe. Wie soll das funktionieren? Soll ich an jede Tür klopfen und den Leuten sagen, sie sollen mich einen Blick in ihren Kopf werfen lassen? Was ist, wenn sich jemand weigert? Nicht jeder fühlt sich damit wohl, jemand Fremden Dinge in seinem eigenen Kopf tun zu lassen, die er nicht versteht”, wies sie hin.

“Es wird einen königlichen Befehl geben, dem sich die Leute fügen werden”, steuerte ein weiteres Ratsmitglied bei.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. “Wirklich? Wir zwingen sie dazu? Oder Ihr wollt mich dazu bringen, sie zu zwingen? Was soll ich denn machen, wenn sie sich rundheraus weigern? Ihnen eins überziehen und dann ohne ihre Zustimmung fortfahren?” Sie verschränkte die Arme. “Das widerspricht den Prinzipien des Heilerberufs. Ich habe nicht die Absicht, diesen Befehl irgendjemandem aufzuzwingen, der nicht zustimmt. Weiters werde ich meinen Heilern nicht zeigen, wie es gemacht wird, falls Ihr beabsichtigt, sie an meiner statt unter Druck zu setzen.” Mit trotzig erhobenem Kinn blitzte sie die Ratsmitglieder an.

Enric sah, wie Tyront bei der unverfrorenen Verweigerung eines königlichen Befehls erblasste, besonders da derjenige, der ihn erlassen hatte, anwesend war. Sie waren noch nicht einmal einen ganzen Tag lang zurück, und schon war sie wieder dabei, sich Ärger einzuhandeln. Diese Frau hatte wirklich ein Talent dafür. Es war allerdings ein Pech für den Orden und den König, dass sie einen erheblichen Vorteil auf ihrer Seite hatte. Wenn sie sich weigerte, die Barriere zu entfernen, hatten sie niemanden sonst, der es tun würde oder konnte. Und einen Heiler aus den Westlichen Territorien anzufordern, der sich darum kümmern sollte, weil Eryn es ablehnte, würde gar nicht gut aussehen. Dann war da auch noch die Frage, ob man sich dort unter diesen Umständen ebenfalls weigern würde. Es konnte sehr gut sein, dass man dort beim Heilen die gleichen Prinzipien zur Anwendung brachte, denen Eryn folgte.

Alle sahen auf, als sie die ruhige Stimme des Königs vernahmen.

“Lady Eryn. Ich darf Euch versichern, dass niemand beabsichtigt, die strengen ethischen Grundsätze zu verletzen, die Ihr für Eure Arbeit als notwendig erachtet. Ich bin sicher, dass wir uns gerade deswegen alle sicherer dabei fühlen, uns in Eure fähigen Hände zu begeben. Welche Herangehensweise würdet Ihr in dieser Angelegenheit als angemessen erachten, meine Lady?”

Gut, überlegte Enric, es schien, als wäre der König zum gleichen Schluss gelangt. Aber das war keine große Überraschung. Er hatte eine gewisse Begabung dafür, schnell zu reagieren.

Enric beobachte Eryn, wie sie einen Moment lang die Möglichkeiten abwog, bevor sie sich an den König wandte. “Ich schlage vor, die Entfernung der Barriere freiwillig zu machen, Eure Majestät. Wenn wir bekannt machen, dass die dies vollkommen gefahrlos erfolgt und wir den wahrscheinlichen Vorteil betonen, dass weibliche Magier geboren werden könnten, könnte das den Großteil der Menschen dazu veranlassen, zuzustimmen. Die Leute könnten zur Klinik kommen, um die Entfernung vornehmen zu lassen. Es könnte auch sein, dass ein Steuererlass für dieses Jahr helfen könnte, sie zu überzeugen…”

Der König zog eine Braue hoch. “Ein faszinierender Vorschlag, den ich auf jeden Fall in Betracht ziehen werde. Ihr habt Euch also entschieden, die Stätte Klinik zu nennen?”

Hatte sie das? Sie dachte kurz nach und erkannte dann, dass es stimmte. “Ja, es scheint, als hätte ich das”, sagte sie langsam.

“Allerdings nicht ganz bewusst, wie es scheint”, bemerkte der König. “Ein Begriff, den ihr zweifelsohne von unseren neuen Freunden im Westen übernommen habt.” Er sah die Ratsmitglieder an. “Ich gehe davon aus, dass der Rat der Magier keinen Einwand dagegen hat, die Barriere seiner Mitglieder so bald wie möglich entfernen zu lassen?”

Köpfe wurden geschüttelt.

“Wie Ihr seht, Lady Eryn, müssen die anwesenden Magier nicht genötigt werden. Darf ich es Euch somit auferlegen, dies gleich hier und jetzt zu erledigen? Lasst mich der Erste sein, bei dem Ihr es durchführt, um als gutes Beispiel voranzugehen.”

Sie schluckte und nickte, nicht sicher, wie sie fortfahren sollte. Sollte sie sich dem Thron nähern? Benötigte sie dafür eine Einladung? War das gerade eben eine gewesen?

König Folrin erhob sich und bedeutete ihr näherzutreten. “Wo müsst Ihr mich dafür berühren, Lady Eryn?”

“Irgendwo an Eurem Kopf wäre gut. Die Stirn beispielsweise”, antwortete sie und ging die paar Schritte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand.

“Zieht Ihr es vor, dabei zu sitzen oder zu stehen?”, erkundigte er sich weiter.

“Da ich nicht sicher bin, wie lange es dauern wird, wäre es mir lieber, dabei zu sitzen, wenn das in Ordnung ginge.”

“Aber natürlich”, nickte der König höflich und ergriff ihre Hand, um sie zu einer kleinen Bank vor einem der vielen Fenster zu führen. Die war kaum breit genug, um zwei Leuten Platz zu bieten, bemerkte sie mit leichtem Unbehagen. Sie waren also wieder zurück bei seinen Spielchen, wie es schien. Allerdings bezweifelte sie, dass es besonders klug von ihm war, ihr Unbehagen zu vermitteln, während sie im Inneren seines Kopfes arbeiten sollte, ohne dort irgendwelchen Schaden anzurichten.

Er wartete darauf, dass sie Platz nahm und setzte sich dann ein wenig näher zu ihr, als nötig gewesen wäre, bevor er ihre Hand nahm und sie auf seine Stirn legte.

“Ich bin bereit, wenn Ihr es seid, meine Lady.”

Sie nickte und schloss die Augen, sich seines Blicks auf ihr nur zu bewusst. Sie kämpfte die Nervosität nieder und fand diesen Ort des Friedens und der Stille in sich. Erst dann ließ sie die Magie ihren Arm entlang und von ihrer Handfläche in seinen Schädel fließen. Da dies nun bereits das dritte Mal war, dass sie danach suchte, fand sie den Punkt einigermaßen rasch. Es schien umso einfacher zu werden, je öfter sie es tat. Genau wie Valrad sie angewiesen hatte, ließ sie, indem sie Magie zuführte, die Größe der Barriere langsam und vorsichtig anwachsen, bis sie aufgelöst werden konnte, ohne beim umliegenden Gewebe irgendwelche Schockreaktionen auszulösen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der nervenaufreibende Blick des Königs noch immer auf sie gerichtet. Sie nickte und entfernte ihre Hand von seiner Stirn. “Es ist vollbracht. Die Barriere in Euch ist nun beseitigt.”

König Folrin lächelte beifällig. “Gut gemacht.” Dann stand er auf und wandte sich an den Rat.

Tyront hatte sich bereits von seinem Stuhl erhoben. Er wusste immerhin, was von ihm erwartet wurde. “Ich bin der Nächste.” Er kam mit forschen Schritten auf sie zu und nahm den Platz ein, den der König gerade eben geräumt hatte. Seine Haltung war so ruhig und selbstbewusst wie immer, aber sie sah die Warnung in seinen Augen. Es sah also so aus, als wäre ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, ihr Zugriff zu seinem Kopf zu erlauben.

“Sorgt Euch nicht, Lord Tyront”, sagte sie so leise, dass nur er sie hören konnte. “Ich verspreche, es wird nicht wehtun. Ich werde mich benehmen; keine Alpträume oder Bilder von riesigen Katzen, die Euch durch die Straßen jagen.”

Er erwiderte nichts darauf, sondern zog nur eine Braue hoch, als sie ihre Hand hob, um sie auf seine Stirn zu legen.

* * *

Tyront gesellte sich zu seinem Stellvertreter, der an eine Säule gelehnt stand, während er seine Gefährtin auf der kleinen Bank dabei beobachtete, wie sie mit vor Konzentration gerunzelter Stirn arbeitete.

“Kilan sagte uns, dass ihre Familie in den Westlichen Territorien für ihre Unbeherrschtheit berüchtigt ist”, bemerkte er. “Wie bedauerlich, dass nicht jemand mit mehr Sanftmut seinen Weg hierher gefunden hat.”

Enric lächelte nur. Es schien, als hätte Tyront, genau wie Enric erwartet hatte, seinen Ärger über die Neuigkeiten der Adoption vom Abend zuvor überwunden.

“Ich muss sagen, dass ich mit dem, wie sich die Dinge bislang entwickelt haben, recht zufrieden bin. Außerdem musst du zugeben, dass wir von ihrem Wissen profitiert haben. Nach mehr als dreihundert Jahren werden wir wieder weibliche Magier haben. Dass wir ihr Temperament aushalten müssen, ist ein kleiner Preis dafür, würde ich sagen”, merkte er an.

Tyront seufzte. “Du hast Recht, und das wissen wir beide. Allerdings schätze ich es nicht besonders, dass du die Stimme der Vernunft bist, wenn ich stattdessen einen mitfühlenden Zuhörer brauche, um meine Frustration loszuwerden, mein lieber Junge.”

“Mein lieber Junge”, wiederholte Enric mit einem leichten Kopfschütteln. “Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Wann wirst du aufhören, mich so zu nennen?”

“Wenn unser Altersunterschied zu schrumpfen beginnt oder du meine Position übernimmst”, erwiderte Tyront selbstgefällig.

“Wenn ich deine Position übernehme? Das würde bedeuten, dass du tot wärst”, strich Enric hervor.

“Das würde mich auf jeden Fall davon abhalten, dich länger mit mein lieber Junge anzusprechen, oder etwa nicht?”

“Es würde dich von einer Menge Dinge abhalten, würde ich meinen”, entgegnete der jüngere Mann trocken.

“Sehr richtig. Aber dann ist da noch die Frage, ob du überhaupt zur Verfügung stündest, um meine Nachfolge anzutreten mit deinem neuen Status als Erbe eines Hauses in Takhan, ist es nicht so?”

Ah ja, dachte Enric grimmig – sie waren also wieder bei diesem Thema angelangt. Natürlich ließ es sich auf lange Sicht nicht vermeiden; er stand nun für zwei Positionen, die einander mehr oder weniger – schon allein aus geographischen Gründen – ausschlossen, an zweiter Stelle.

“Ich rechne nicht damit, dass ich mich in absehbarer Zukunft in diese Verlegenheit kommen werde”, sagte er in dem Versuch, seinen Vorgesetzten zu besänftigen. “Ich bin zuversichtlich, dass es ausreichend Gelegenheit geben wird, um im Laufe der Zeit ein fähiges Oberhaupt für Haus Aren zu finden. Malriel ist noch keine Fünfzig, also bezweifle ich, dass sie ihre Position in nächster Zeit aufgeben wird. Oder du deine.”

Das schien Tyront bis zu einem gewissen Grad zu beschwichtigen. “Das mag zutreffen. Aber wenngleich das keine Angelegenheit ist, die uns jetzt im Augenblick betrifft, bedeutet das nicht, dass wir dafür keine Lösung finden müssen. Im Moment sieht es so aus, als wäre die Nachfolge im Orden gefährdet.” Sein Blick wanderte zu Eryn, die gerade an Lord Poron arbeitete. “Nummer drei”, murmelte er. “Abgesehen von der Tatsache, dass sie den Orden wahrscheinlich auflösen oder in ultimatives Chaos stürzen würde, ist das nicht einmal das Hauptproblem, da du sie ohnehin mit nach Takhan nehmen würdest. Damit bleibt Lord Poron, bei dem ich mir wünschen würde, dass er ewig lebt, der aber trotzdem zwanzig Jahre älter ist als ich und mich sehr wahrscheinlich nicht überleben wird, um meine Position zu übernehmen.”

“Dann also Orrin”, lächelte Enric. “Nun, das wäre eine gute Wahl. Abgesehen davon, dass er sich einfach weigern würde. Er ist zu ehrlich, zu direkt für diesen politischen Tanz.”

Tyront atmete hörbar aus. “Ich hoffe, du siehst, in welche Situation du mich mit deiner ritterlichen Geste gebracht hast, indem du den Platz deiner Gefährtin in ihrer alten Familie eingenommen hast, um ihre neue zu beschützen.”

Enric nickte verständnisvoll. “Ich darf dich meines Mitgefühls versichern.”

“Ich würde lieber hören, wie du mir versicherst, dass du eine Lösung für dieses Dilemma findest. Glaub bloß nicht, dass das allein mein Problem ist, Enric.”

“Davon würde ich nicht einmal träumen. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit eines weiteren unerwarteten Zuwachses in unseren hohen Rängen”, sagte der jüngere Mann fröhlich.

“Hör bloß auf, mich aufzumuntern”, knurrte Tyront. “Wenn es irgendeine Gerechtigkeit in dieser Welt gibt, werde ich mich mit so etwas kein drittes Mal herumplagen müssen.” Er sah erneut zu Eryn hin. “Ist sie noch immer so entschieden dagegen, Kinder zu bekommen? Sie ist immerhin mit dir in dieses magische Band eingetreten.”

“Ja, das ist sie. Und wenn ich zuvor bei Lord Woldarns Frage nicht eingegriffen hätte, hätte sie ihre Ansichten dazu ohne Zweifel in recht farbenfrohen Worten kundgetan. Denkst du darüber nach, meine Nachkommen nach Takhan zu schicken, damit sie Haus Aren übernehmen?” Er schüttelte den Kopf. “Das würde nicht ganz so einfach funktionieren. Gemäß ihren Gesetzen wären unsere Kinder Mitglieder von Haus Vel’kim. Kinder, die wir allerdings wohl niemals haben werden”, fügte er in einem Tonfall hinzu, auf den hin Tyront seine Augen zusammenkniff.

“Darüber bist du nicht allzu glücklich, was?”, fragte er behutsam nach.

Enric seufzte. “Ich respektiere diese Entscheidung. Und ich war mir darüber im Klaren, bevor ich das Kommitmentband mit ihr eingegangen bin. Ich beschwere mich also nicht. Es ist immerhin nicht so, als wäre ich ohne sie drauf und dran gewesen, eine Familie zu gründen. Wenn sich die Frage stellt, ob ich entweder Kinder haben werde oder Eryn behalten kann, brauche ich über die Antwort nicht einmal nachzudenken.”

Der ältere Mann nickte langsam. “Ich verstehe. Wie bedauerlich, dass dies die Optionen sind.”

Lord Poron trat zu ihnen und lächelte. “Ich habe es hinter mich gebracht. Es scheint, als hätte ich nun die Fähigkeit, magische Töchter zu zeugen”, lachte er. “Meine Aurna wird sich sehr amüsieren, wenn sie das erfährt.”

“Es ist mehr die Geste, die zählt”, meinte Tyront. “Wir müssen sagen können, dass der gesamte Rat der Magier die Barriere entfernen ließ – sonst könnten wir es kaum rechtfertigen, wenn wir andere dazu anhalten, wenn es nicht jeder einzelne von uns ebenfalls tut.”

Lord Poron winkte ab. “Keine Beschwerden von meiner Seite, Lord Tyront. Es war interessant mitanzusehen, obwohl Lady Eryn mir immer wieder sagte, ich solle aufhören, jeden ihrer Schritte zu verfolgen und unbequeme Fragen zu stellen, die ihre Konzentration störten.”

“Nun, ich würde meinen, dass es womöglich nicht die schlaueste Idee ist, eine Heilerin abzulenken, die sich im Inneren Eures Kopfes zu schaffen macht”, zeigte Enric auf. “Aber ich bin sicher, dass es mehr als genug Gelegenheiten geben wird, sich anzusehen, wie es gemacht wird, wenn sie die Barrieren im Heilergebäude entfernt.”

Ihre Haltung wurde etwas aufrechter, als der König auf sie zutrat.

“Lord Enric, Ihr seid Euch gewiss über den Brauch im Klaren, dass die Krone denjenigen, die sich um das Königreich verdient machen und seinen Dank verdienen, einen Gefallen gewährt?”

Enric lächelte flüchtig. “Ich gestehe, dass ich mir dessen bewusst bin, Eure Majestät.”

“Dann gehe ich weiterhin zweifellos recht in der Annahme, dass Ihr bereits etwas im Sinn habt, das Ihr mir zu diesem Zweck näherbringen wollt?”

“Da gibt es in der Tat eine Idee, die ich sehr gerne mit Euch diskutieren würde, Eure Majestät.”

“Sehr gut”, lächelte der König. “Dann schlage ich vor, dass wir uns bald treffen, um uns darum zu kümmern. Benötigt Ihr Zeit, um Euer Vorhaben im Detail auszuarbeiten?”

“Nein, wie es der Zufall will, ist alles vorbereitet.”

“Ausgezeichnet. Ich muss sagen, dass das nicht gänzlich unerwartet kommt.” Der König nickte den drei Magiern zu. “Entschuldigt mich nun. Ich muss Euch nun verlassen.” Er wartete, bis sich die Magier vor ihm verbeugt hatten, bevor er sich entfernte.

“Also, was wird es denn werden?”, fragte Lord Poron neugierig.

“Nichts, das ich verbreiten möchte, bevor es bewilligt wurde”, meinte Enric mit einem leisen Lachen. “Das soll angeblich Unglück bringen.” Er sah zu Eryn hinüber. “Es sieht so aus, als hätte sie hier noch eine Weile zu tun. Das bedeutet, dass ihre Arbeit unerledigt liegen bleibt und sie heute Abend nicht besonders entspannt sein wird. Ich gehe davon aus, dass ich sie nach Hause schleifen muss, bevor sie wieder auf ihrem Schreibtisch einschläft.”

“Das ist die Kehrseite daran, wenn man mit solch einer wichtigen Frau verbunden ist, Lord Enric”, lachte Lord Poron. “Der wichtigsten, die wir derzeit haben.”

* * *

Eryn kehrte in ihr Arbeitszimmer zurück und ließ sich in den Sessel plumpsen. Zwei Stunden waren vergangen. Zwei Stunden, die sie wesentlich besser nutzen hätte können, als die Barrieren des Königs und der Ratsmitglieder zu entfernen. Aber zumindest hatte sie ihre Fertigkeiten durch die Übung ein wenig verbessert. Zum Ende hin war sie schon wesentlich schneller gewesen als zu Beginn. Sobald sie mit dem Letzten von ihnen fertig war, war sie mehr oder weniger aus der Ratshalle geflohen, als erste Versuche folgten, sie in Gespräche zu verwickeln.

Sie hatte gesehen, wie Enric auf einer Seite gestanden hatte und zuerst mit Lord Tyront und dann auch mit Lord Poron gesprochen hatte. Später war Orrin noch dazugestoßen. Nur kurze Zeit nach dem Entfernen von Lord Tyronts Barriere hatte sie einen überraschenden Anfall von Melancholie verspürt, der nicht von ihr gekommen war. Sie fragte sich, was die beiden Männer wohl besprochen hatten, das in ihrem Gefährten solch ein Gefühl auslöste.

Ein Klopfen ertönte an der Tür, die ihr Arbeitszimmer mit Rolans verband, und sie rief ihn zu sich. Er steckte seinen Kopf herein.

“Vern hat nach Euch gesucht. Ich sagte ihm, dass ich ihm Bescheid gebe, sobald Ihr zurück seid. Er ist jetzt in Plias Labor”, berichtete ihr Assistent.

Seufzend stand sie auf. “In Ordnung, dann hole ich ihn besser. Es sieht nicht so aus, als würde ich heute irgendetwas erledigen können. Ich frage mich, warum ich dermaßen optimistisch war.”

Sie trat in den Korridor hinaus und klopfte an Plias halboffene Tür.

“Plia?”, rief sie aus. “Mir wurde gesagt, Vern sei hier.” Als sie eintrat, sah sie, wie Plia ein Bündel getrockneter Kräuter inspizierte, das höchstwahrscheinlich von den Kräutersammlern geliefert worden war, und Vern in einem der Bücher auf dem Tisch neben ihr herumblätterte.

“Ich habe es dir ja gesagt”, verkündete er dann triumphierend, “die Blüten müssen vor dem Trocknen gepflückt werden!”

Beide blickten auf, als Eryn eintrat.

“Da bist du ja!”, beschwerte sich Vern. “Ich warte hier schon seit mehr als einer halben Stunde auf dich! Wo warst du nur? Ich hätte gedacht, dass du nach deiner Reise genug Arbeit hast, um nicht einfach mitten am Tag fortzulaufen!”

Sie schnaubte. “Sag das nicht mir, sondern dem Rat der Magier! Die dachten, dass jetzt eine prima Zeit wäre, um mich eine Kleinigkeit für sie erledigen zu lassen. Plia, ich hoffe, er hält dich nicht von der Arbeit ab? Wirf ihn einfach hinaus, wenn er dich nervt.”

“Nein”, lächelte das Mädchen, “tatsächlich hat er mir sogar sehr geholfen. Es hilft, dass er dir dabei zur Hand gegangen ist, die Bücher zusammenzustellen; er findet die Dinge darin viel schneller als ich.”

Vern legte das Buch zur Seite und winkte Plia zum Abschied zu, bevor er Eryn in ihr Arbeitszimmer folgte. Sobald die Türe ins Schloss fiel, veränderte sich seine Haltung vollkommen. Er ließ seine Schultern hängen, und seine Miene wurde unglücklich und besorgt.

“Was ist los?”, fragte sie sofort. “Das ist keine gute Reaktion darauf, dass du mein Zimmer betrittst.”

“Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Ich schätze, dass du bereits das eine oder andere gehört hast. Wie ich mich um alles hier gekümmert habe, hat sich nicht gerade als großer Erfolg erwiesen”, murmelte er. “Ich habe versagt.”

Eryn sah ihn an und überlegte, wie damit umzugehen war. Mitgefühl würde sie im Augenblick bei ihm nicht weiterbringen. Sein Selbstwertgefühl war jetzt gerade niedrig, und wenn sie ihn behutsam anfasste, würde er das nur als Bestätigung auffassen. Eine Freundin war nicht das, was er im Augenblick brauchte. Er brauchte eine Vorgesetzte.

Sie griff nach ein paar Blättern Papier und gab vor, sie durchzusehen, bevor sie verwirrt aufblickte.

“Ich habe mir die Berichte, die Rolan mir bei jeder Gelegenheit mit so viel Eifer nachwirft, durchgesehen, und es scheint, dass es in den letzten Wochen eine zunehmende Anzahl an Patienten gab, die mit weitgehend guten Ergebnissen behandelt wurden.” Sie zog eine Liste hervor. “Hier steht, dass die Qualität der Kräuter und Medizin angemessen war, also keine Beschwerden von dieser Seite. Die Beschwerden, die gemacht wurden – alle vier – wurden rasch aus der Welt geschafft. Das Geld ist nur so hereingeflossen und wurde ordnungsgemäß aufbewahrt, die Patientenberichte wurden fertiggestellt, und ich bin nicht zu vollkommenem Chaos und Durcheinander zurückgekehrt.” Sie legte die Papiere zur Seite. “Ich habe gehört, dass du Ärger mit den Heilern hattest, aber da die Heilerdienste durchgehend und mit dem von mir verlangten Standard bereitgestellt wurden, betrachte ich den Ausdruck versagt hier nicht als angemessen.”

Er blinzelte mehrmals und runzelte die Stirn. Als er zum Sprechen ansetzte, hob sie einen Finger, um ihn zu stoppen.

“Ich bin sicher, dass die Zeit, in der du die Verantwortung für alles hier tragen musstest, nicht eben entspannend und unkompliziert war, sondern voller Herausforderungen, besonders persönlicher Natur. Aber das hat dich weder davon abgehalten, die Dienste am Laufen zu halten, noch hast du alles hingeschmissen und bist abgehauen, wenngleich die Meisten das zweifellos verstanden hätten. Also, wie auch immer du selbst deine Leistung beurteilen magst, rational betrachtet ist versagt jedenfalls nicht zutreffend. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, musst ich mich darauf verlassen können, wie du Situationen beurteilst.” Sie lehnte sich zurück und legte ihre Fingerspitzen genau so aneinander, wie sie es Lord Tyront hatte tun sehen. Oh Mann. Imitierte sie ihn jetzt tatsächlich?

“Ich würde dich darum ersuchen, noch einmal nachzudenken und mir dann eine realistische Beurteilung dessen zu geben, was in meiner Abwesenheit vorgefallen ist.” Sie war stolz darauf, wie kühl ihre Stimme klang. Die Aussage klang wie der Befehl, der sie tatsächlich auch war.

Vern richtete sich auf, und auf seinem Gesicht blieb nur ein unsicherer Ausdruck zurück, als wüsste er nicht genau, wie er mit Eryn als Authoritätsperson umgehen sollte, wenn sie viel eher in ihren explosiven, verärgerten oder ausgelassenen Stimmungen kannte.

Seine Augen wanderten einige Sekunden lang suchend über den Boden, bevor er zu sprechen begann. “Die Behandlung der Patienten hat gut funktioniert; ich habe ein Rad eingeführt, wo jeder der Lehrlinge zuerst mit mir arbeitete, bevor er wieder mit einem anderen Lehrling zusammengespannt wurde. Um die komplizierteren Behandlungen habe ich mich selbst gekümmert, während die anderen die weniger aufwändigen Dinge geheilt haben und angewiesen waren, bei Fragen zu mir zu kommen.” Dann hielt er inne und dachte erneut kurz nach, bevor er fortsetzte: “Die Kräuterversorgung war zu Beginn etwas unstet, aber Plia hat sich etwas ausgedacht, um vorauszuplanen, welche Medizin sie braucht und hat die Kräutersammler entsprechend angewiesen. In manchen Fällen war die Qualität ein Problem, besonders wenn es um die Kräutersammler geht, die nicht mit uns auf der Exkursion waren. Aber Plia war sehr streng, wenn es darum ging, die Materialien anzunehmen, also hat sich das gebessert.” Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

“Was noch?”, forderte Eryn ihn auf.

“Rolan hat sich um alles Verwaltungstechnische gekümmert, und obwohl ich es zu Beginn etwas schwierig fand, mit ihm auszukommen, hat sich herausgestellt, dass dieser Ort hier ohne ihn mehr oder weniger dem Untergang geweiht ist. Zumindest, wenn du nicht hier bist.”

Sie unterdrückte ein Lächeln und verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass es diesbezüglich keinen großen Unterschied machte, ob sie hier war.

“Ohne ihn wäre ich komplett und vollkommen verloren gewesen. Wirklich. Ich denke, ich verdanke ihm meine geistige Gesundheit. Oder was davon noch übrig ist”, seufzte Vern.

Gut. Zumindest sah er, dass auch etwas Positives gelaufen war, dachte sie. Es war Zeit, das anzusprechen, was nicht so gut funktioniert hatte.

“Was war das Problem zwischen dir und den anderen Heilern?”, erkundigte sie sich milde.

“Ich weiß es nicht, es war einfach…”, begann er und brach sofort ab, als sie den Kopf schüttelte.

“Nein, Vern. Lass für den Moment das Selbstmitleid beiseite und denk nach. Ich brauche anständige Antworten, keine Beschwerden”, beharrte sie.

Er wirkte leicht bestürzt, nickte aber und begann von Neuem. “Ich hatte den Eindruck, dass es ihnen schwerfiel, mich ernst zu nehmen.”

“Was denkst du, woran das lag?”

Er sah sie an, als wäre das offensichtlich. “Meine Jugend, würde ich meinen.”

“In Ordnung. Ich habe gehört, dass es gewisse… Unstimmigkeiten gab, was das Training betrifft?”

“Das könnte man so sagen, ja”, antwortete er düster. “Entweder haben sie die Aufgaben, die ich ihnen gegeben habe, überhaupt nicht erledigt oder nur die Hälfte davon.”

“Haben sie dir dafür einen Grund genannt?”

“Sie haben immer wieder gesagt, es sei zu viel, dass sie nach der Arbeit keine Energie mehr dafür hätten.”

Eryn nickte. “Ich verstehe. Und wie hast du auf dieses Argument reagiert?”

“Ich sagte ihnen, sie sollten mehr Einsatz für ihre Ausbildung zeigen und sie besser ernst nehmen, anstatt zu versuchen, einen Vorteil aus deiner Abwesenheit zu ziehen”, informierte er sie.

Meine Güte. “Du hattest also keinerlei Zweifel, dass sie womöglich tatsächlich nicht versucht haben, sich aus Faulheit vor den Aufgaben zu drücken, sondern weil es wirklich zu viel für sie war?”

Seine Augen verengten sich. “Ich habe viel mehr als das getan, als ich mein Heilertraining mit dir begann! Ich blieb bis Mitternacht auf, um Bücher zu lesen, die Sachen zu üben, die ich gelernt hatte und Bilder zu zeichnen. Ich gab ihnen wesentlich weniger zu tun, also sehe ich wirklich nicht, worüber man sich hier beschweren konnte!”

Eryn lehnte sich nach vorne. “Vern, du weißt sehr genau, dass deine Fähigkeiten rund um alles, was auch nur entfernt mit Büchern und Verständnis zu tun hat, über dem Durchschnitt liegen. Das ist etwas, das nicht nur ich dir gesagt habe, sondern das du zweifellos auch mit dem Rest deiner Klassenkameraden und deinen Lehrern wahrgenommen hast. Es kann sehr gefährlich sein, deine eigenen Standards, die auf deinen persönlichen Fähigkeiten beruhen, auf andere Menschen anzuwenden, deren Stärken entweder nicht so ausgeprägt sind wie deine oder aber in anderen Bereichen liegen.”

“Du denkst also ebenfalls, dass ich zu viel von ihnen erwartet habe?”

Sie atmete langsam aus. “Vern, ich bin nicht wirklich in einer Position, um hier irgendetwas zu beurteilen. Ich habe keine Ahnung, was oder wie viel genau du ihnen zu tun gegeben hast, ob es zu viel war oder nicht. Ich versuche nur, dich dazu zu ermutigen, ihren Standpunkt zu sehen und dir selbst klar zu machen, dass nicht jeder so ist wie du. Das bedeutet nicht, dass sie als Heiler weniger wichtig sind als du, wohlgemerkt. Sie haben womöglich andere Stärken, die du nicht besitzt”, fügte sie als Warnung hinzu.

Das schien ihn zum Nachdenken anzuregen.

“Sie sperrten mich mehrmals ein”, war alles, was er schließlich leise sagte.

“Das hätten sie nicht tun sollen”, nickte sie. “Es war recht kindisch. Aber Leute tendieren dazu, unvernünftig zu reagieren, wenn sie sich unverstanden fühlen und frustriert sind. Das ist der Trick, siehst du? Ihnen zuzuhören.” Sie lächelte. “Erinnerst du dich an all diesen Ärger, den wir mit dem Umkleideraum hatten?” Wie weit weg das nun schien. “Ich beharrte darauf, alles so zu belassen, ganz egal, welche Unannehmlichkeiten Enric mir verursachte. Dann waren es die Heiler selbst, die zu mir kamen und mir sagten, dass ich es ändern sollte. Darüber war ich nicht besonders glücklich, das darfst du mir glauben. Obwohl es sich anfühlte, als hätte ich diese Schlacht gegen Enric verloren, gab ich dennoch meinen Kampf auf und tat, worum sie mich baten. Deswegen haben sie mich nicht weniger respektiert. Hätte ich trotz ihrer Bitte darauf bestanden, alles so zu lassen, wie es war, hätte mich das sicherlich ihre Gunst gekostet. Und trotz all des Ärgers, den du mit ihnen hattest, haben sie niemals die Qualität ihrer Arbeit darunter leiden lassen, soweit ich das gesehen habe. Weißt du, das ist etwas, das du ihnen zugutehalten solltest.”

Vern rieb sich über sein Gesicht, plötzlich müde. “Das zeigt mir, dass ich ganz klar nicht dafür geschaffen bin, Leute zu führen.”

“Kompletter Unsinn. Es zeigt nur, dass du sechzehn bist. Leute anzuführen ist eine Frage von Erfahrung und Lernbereitschaft. Lernbereitschaft war in deinem Fall noch nie ein Problem. Die Erfahrung wird mit dem Alter kommen, da bin ich sicher. Ich habe nicht die Absicht, dich vom Haken zu lassen, wenn es darum geht, für mich einzuspringen.”

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. “Nach all dem denkst du noch immer, dass das eine kluge Idee ist?”

“Ja, das tue ich. Ich habe nicht die Absicht, dich dein Potential und Talent verschwenden zu lassen, weil du noch nicht gelernt hast, deine tyrannischen Tendenzen unter Kontrolle zu bringen. Du wirst früher oder später eine Führungsrolle irgendeiner Art übernehmen, das lässt sich nicht vermeiden. Also fängst du besser damit an zu lernen, wie man mit Leuten umgeht. Allerdings werden wir zusehen, dass du beim nächsten Mal besser vorbereitet bist.”

“Man hört die Leute von geborenen Anführern reden! Es ist also nicht unbedingt etwas, das man lernen kann, sondern ist ein Talent”, strich er hervor.

“Geborene Anführer, Vern, sind Leute, die sich den Luxus leisten können, all das nicht lernen zu müssen, weil sie höchstwahrscheinlich mit beträchtlichen Stärken in diesem Bereich geboren wurden. Allerdings sind sie dann womöglich weder gute Heiler, Künstler oder Verhandler. Wenn du mich fragst, würde ich lieber mit einer Gabe geboren werden, die nicht erlernt werden kann und dafür die Mühen auf mich nehmen, die Fertigkeit des Führens zu erlernen. Du hast gehört, was die Leute über Enric sagen. Er war in seiner Jugend ein fauler, nutzloser Taugenichts – auf jeden Fall kein geborener Anführer. Und sieh ihn dir jetzt an.”

Sie entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um zu ihrer Rolle als Freundin zurückzukehren. “Vern, du hast nicht versagt. Abgesehen von deiner vollkommen unrichtigen Bewertung der Situation”, lächelte sie. “Ich bin stolz auf dich, sehr sogar. Das war ich immer. Und ich bin zuversichtlich, dass du mir mehr als genug Gründe liefern wirst, auch in Zukunft stolz auf dich zu sein.”

Er entspannte sich und erwiderte ihr Lächeln. “Es tut gut, dich zurück zu haben. Richtig gut.”

Sie grinste. “Gut. Vergiss das nur nicht.”

“Was soll ich denn jetzt mit den Heilern tun?”

“Ich werde mit ihnen reden und mir ihre Seite der Geschichte anhören. Ihnen sagen, dass sie gute Arbeit geleistet haben, ihnen Anerkennung zeigen. Was den Rest betrifft – nun, es liegt an dir, dass du sie dazu bringst, dich wieder zu respektieren. Du hast zwei bedeutsame Vorteile: weitreichenderes Heilerwissen und mehr Heilererfahrung als sie. Benutz das, um ihnen zu helfen, lass dich aber nicht respektlos behandeln. Das ist soweit alles.” Sie warf einen kurzen Blick zur Tür, die zum Zimmer ihres Assistenten führte. “Er hat also in meiner Abwesenheit gut gearbeitet?”

Vern schüttelte den Kopf. “Nicht bloß gut, sondern er hat mir Tag für Tag das Leben gerettet. Er hat so viel Papierkram erledigt, dass ich nicht einmal weiß, was das alles ist. Er kann nur zu mir, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wenn er eine Unterschrift oder sonst etwas brauchte, um diesen Ort hier am Laufen zu halten. Fast jeden Tag ist er lange geblieben und war früh am Morgen wieder zurück. Ich weiß nicht, wann er Zeit zum Schlafen hatte. Und er hat versucht, uns vom Streiten abzuhalten.”

Eryn nickte. Das war in der Tat ein hohes Lob, und sie entschied, von nun an netter zu Rolan zu sein. Das hatte er sich redlich verdient.

Sie lächelte und beugte sich vor. “Ich habe ein paar sehr hilfreiche Dinge in Takhan gelernt. Dinge, bei denen ich mir denken könnte, dass du begierig darauf bist, sie zu erlernen.”

In Verns Augen funkelte es. “Was zum Beispiel?”

“Ich habe gelernt, wie man Leute jünger erscheinen lassen kann. Zehn Jahre, zwanzig, wie viel du willst. Und ich habe einen sehr talentierten und gescheiten nichtmagischen Heiler kennengelernt, der mir etwas über nichtmagische Diagnosemethoden beigebracht hat.”

Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. “Ernsthaft? Das ist fabelhaft!”

“Da ist noch mehr. Ich habe gelernt, wie man es den Leuten hier ermöglichen kann, magisch begabte Töchter zu haben.”

Vern starrte sie an. “Das ist nicht dein Ernst!”

“Doch, das ist es”, lächelte sie, zufrieden mit seiner Reaktion. “Und ich wurde gerade vom Rat der Magier damit beauftragt, daran zu arbeiten. Ich könnte noch einen weiteren Heiler gebrauchen, der mir dabei hilft. Du kennst nicht zufällig jemanden, den diese Aufgabe interessieren würde, oder?”

Kapitel 3

Nebenwirkungen

Junar lachte begeistert, als sie die Tür öffnete und sich Eryn gegenübersah.

“Hey, welch unerwartete Ehre! Ich dachte nicht, dass wir dich in nächster Zeit hier sehen würden! Du musst mit Arbeit überflutet sein, könnte ich mir vorstellen. Orrin – sieh mal, wer hier ist”, rief sie. Dann bemerkte sie den leicht gepeinigten Gesichtsausdruck ihrer Besucherin und hielt inne. “Irgendetwas stimmt nicht. Komm herein.”

“Ich muss mit dir reden”, seufzte Eryn und betrat den Salon, der ganz unverkennbar zeigte, dass im Laufe der letzten paar Wochen eine weibliche Hand am Werk gewesen war. Blumen in Vasen, bunte Zierkissen, kleine Gegenstände, die keinem anderen Zweck als der Dekoration dienten.

Orrin kam aus seinem Arbeitszimmer und runzelte die Stirn. “Gibt es Ärger, Mädchen?”

Sie nickte. “Das könnte man sagen, ja.”

“Hast du ihn verursacht oder leidest du unter den Auswirkungen?”, erkundigte er sich weiter.

“Schwierige Frage. Ich schätze, in gewisser Weise könnte man beides sagen”, erwiderte sie nach kurzer Überlegung.

“Nun, wenn das nicht kryptisch ist…” Junar drehte die Augen zur Decke und führte Eryn zu einem Sofa. “Setz dich. Ich hole dir etwas zu trinken.”

“So, was ist los?”, fragte Orrin und näherte sich gemächlich.

Eryn betrachtete ihn ein paar Augenblicke lang, dann sagte sie: “Ich bin nicht wirklich sicher, ob du das hören solltest. Es hat mit Sex zu tun.”

Er brachte seine etwas unbehagliche Miene unter Kontrolle, aber nicht, bevor sie sie bemerkt hatte. Sie lächelte dünn. “Das ist deine letzte Chance zur Flucht, Krieger. Was wird es sein? Wirst du dich den Neuigkeiten stellen oder Junar dazu bringen, dir davon zu erzählen, nachdem ich fort bin?”

Er schnaubte entrüstet. “Was lässt dich glauben, ich würde so etwas tun? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich an diesem Aspekt deines Lebens jemals irgendein ungebührliches Interesse bekundet hätte. Oder jemals gehabt hätte”, fügte er hinzu.

“Ich denke, dass du schrecklich neugierig wärst, weil ich normalerweise nicht herumlaufe, um mit Leuten über meine intimen Probleme zu sprechen”, bemerkte sie mit einer hochgezogenen Braue.

“Ich werde bleiben”, verkündete Orrin. “Aber nur, weil du es wie eine Herausforderung formuliert hast.”

“Mutiger Orrin”, murmelte sie und nahm das warme Getränk entgegen, das Junar ihr brachte.

“Dann rück schon heraus damit!”, drängte sie die Schneiderin, bevor sie sich zwischen die beiden setzte.

Eryn nahm einen Schluck und spürte die tröstliche Wärme in ihrem Hals und Magen. Sie fragte sich, wie sie am besten anfangen sollte. Es war einiges damit verbunden, von dem sie noch nichts wussten.

“Enric und ich sind vor unsere Abreise aus Takhan etwas eingegangen, das sich Kommitmentband dritten Grades nennt”, begann sie. “Es ist ein magisches Kommitment, das nur zwischen zwei Magiern möglich ist. Es bindet sie sehr eng aneinander.”

Junars Augen wurden groß, und Orrins Stirn legte sich in Falten. “Eine magische Bindung? Wie der Eid an den König?”

“Ja, so ähnlich. Allerdings etwas stärker. Sie haben dort drei Kommitmentbande, und das zwischen Gefährten ist das Stärkste. Es führt erhöhte Intimität sowie mehr Bewusstsein für die Gefühle des anderen herbei und zieht Gefährten zueinander zurück, wenn sie getrennt sind.”

“Und in so etwas bist du eingetreten?”, fragte Junar ungläubig. “Du hast dich magisch an einen Mann gebunden?”

“Freiwillig?”, fügte Orrin in dem gleichen fassungslosen Tonfall hinzu.

“Kommt schon!”, rief Eryn aus und warf frustriert die Hände hoch. “Ich war zuvor schon mehrere Monate lang mit Enric verbunden, warum sollte es euch also überraschen, dass wir das getan haben, was man als nächsten Schritt betrachten könnte?”

“Weil du in dein Kommitment mit ihm hineingezwungen wurdest und das zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gut aufgenommen hast”, antwortete Orrin.

“Zudem hast du ernsthafte Bindungsprobleme”, sagte Junar.

“Nun, die könnt ihr als überwunden betrachten! Kann ich jetzt weitererzählen, oder wollt ihr noch länger über meine vermeintlichen Bindungsängste reden?”

“In Ordnung… ihr seid also dieses starke magische Kommitment miteinander eingegangen.” Orrin bedeutete ihr fortzufahren.

“Es hat Nebenwirkungen”, murmelte Eryn.

“Abgesehen von den Dingen, die du gerade erwähnt hast?”, fragte Junar.

“Ja. Zumindest in unserem Fall. Mir wurde gesagt, dass das kaum jemals passiert und ich mir deswegen keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber natürlich ist es ausgerechnet Enric und mir passiert”, seufzte sie und drückte ihre Finger gegen ihre Schläfen. “Weit weg von all den Leuten, die zumindest ein klein wenig darüber wissen.”

“Und diese Nebenwirkungen betreffen dein Sexualleben?”, fragte die Schneiderin vorsichtig.

“Ja, unter anderem. Wir haben uns etwas eingehandelt, das sich Geistesband nennt. Das bedeutet, dass sich zwischen uns eine Verbindung entwickelt hat, die es uns ermöglicht, die Gefühle des jeweils anderen in unserem eigenen Bewusstsein wahrzunehmen, wenn sie stark genug sind”, erklärte Eryn.

Beide starrten sie überrascht an. Junar erholte sich als erste. “Wirklich? Wie zum Beispiel was?”

“So ziemlich alles – gute und schlechte Gefühle. Als ich davon erfuhr, sagte ich etwas, das Enric enorm verärgerte, und die Gewalt seiner Reaktion zwang mich beinahe in die Knie.”

Orrin wirkte verwundert. “Erstaunlich. Und weshalb genau ist das im Bett ein Problem?”

Eryn warf ihm einen gequälten Blick zu. “Weil seine Emotionen zusätzlich zu meinen eigenen so intensiv sind, dass mein Gehirn offenbar nicht in der Lage ist, damit umzugehen. Ich bin ohnmächtig geworden.” Sie schnipste mit den Fingern. “Einfach so. Vollkommen weg.”

Junar erwiderte hilfreich: “Meine Güte. Das ist aber unangenehm.”

“Unangenehm?”, rief Eryn aus. “Das ist eine gewaltige Untertreibung! Das ist eine Katastrophe!”

“Warum?”, fragte ihre Freundin verwirrt. “Ich gehe davon aus, dass die Gefühle, die du verspürt hast, positiv waren?”

“Ja. Na und?”

“Ich könnte mir denken, dass eine Menge Frauen absolut begeistert wären bei der Aussicht darauf, nach dem Sex aufgrund einer überwältigenden Welle an positiven Gefühlen das Bewusstsein zu verlieren”, meinte sie achselzuckend. “Ich allerdings nicht”, fügte sie mit einem verschmitzten Blick zu Orrin hinzu. “Ich bin absolut zufrieden.”

Eryn warf ihr einen finsteren Blick zu. “Enric war panisch! Er dachte einen Moment lang, er hätte mich umgebracht! Kannst du dir das vorstellen? Ich frage mich, ob er es jemals wieder wagen wird, mich anzufassen. Oder ob das überhaupt eine gute Idee wäre.”

“Kannst du niemanden in den Westlichen Territorien fragen, was ihr tun könnt? Oder ob das lebensgefährlich sein könnte?”, regte Orrin an.

“Enric hat eine Nachricht an meinen Onkel, einen Heiler, geschickt. Aber da wir es noch nicht geschafft haben, diese vermaledeiten Vögel zum Brüten zu bringen, wird die Antwort wohl einige Zeit auf sich warten lassen.”

“Was werdet ihr dann tun? In getrennten Räumen schlafen?”, erkundigte sich Junar.

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. In dieser Hinsicht ist er unerbittlich. Nach unseren anfänglichen Schwierigkeiten, wo ich mich weigerte, in seinem Zimmer zu schlafen, scheint es, dass er den Gedanken, in verschiedenen Räumen zu nächtigen, rigoros ablehnt. In Takhan wurden wir für die Dauer des Verfahrens getrennt, und das nahm er nicht besonders gut auf.”

“Ja, das Verfahren”, sagte Orrin langsam. “Das ist etwas, worüber ich sehr gerne mehr hören würde. Uns wurde nur mitgeteilt, dass sich deine Rückkehr aufgrund von Vorwürfen, denen du dich stellen musstest, verzögern würde.”

Junar öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder.

“Was?”, fragte Eryn.

“Ich wollte euch gerade zum Abendessen einladen, aber ich weiß nicht genau, wie ich das anstellen soll. Kann ich das überhaupt? Ich meine, dein Gefährte ist Orrins Vorgesetzter. Ist das angemessen? Würde er überhaupt annehmen? Was ist, wenn er es tut? Ich gebe zu, dass ich hier etwas überfordert bin”, seufzte sie.

“Dann erlaube mir, dir hier aus der Klemme zu helfen. Ich würde euch beide plus Vern gerne einladen, in drei Tagen bei uns zuhause zu Abend zu essen.”

Junar lächelte erleichtert. “Danke. Das macht die Sache wesentlich einfacher.”

“Ich bin froh, dass ich dir eine Last von den Schultern nehmen konnte. So, habt ihr irgendwelche Ratschläge für mein Ohnmachtsproblem?”, wollte Eryn wissen.

Junar zuckte die Achseln. “Ich gebe zu, dass ich das Problem nicht wirklich sehe. Du verlierst also das Bewusstsein, wenn das Vergnügen die Grenze des Erträglichen überschreitet. Das klingt für mich nicht gerade nach einer unerträglichen Bürde. Warum genießt du es nicht einfach? Oder gibt es aus Heilersicht irgendwelche Einwände? Könnte dein Gehirn dabei Schaden nehmen? Ich schätze, du hast das überprüft?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Das habe ich, ja. Und nein, kein Schaden, der mir aufgefallen wäre. Aber ich fühle mich so hilflos, wenn ich einfach ohnmächtig werde! Es ist schwach, erbärmlich.”

“Ah ja”, lächelte Orrin. “Und da sind wir auch schon bei der Wurzel des Problems angelangt, nicht wahr? Hier geht es sicherlich nicht darum, was Lord Enric über dich denkt. Er würde dich deswegen nicht weniger schätzen. Aber du hast ein Problem damit, schwach zu wirken, womöglich eine Folge dessen, wie du bei uns in der Stadt gelandet bist. Ganz zu schweigen davon, wie du an deinen Gefährten gebunden wurdest. Indem man dich dazu zwang. Kontrolle. Du hast das Gefühl, dass du erneut die Kontrolle über dein Leben verlierst, und das passt dir nicht.”

Eryn blinzelte mehrmals vor Erstaunen. “Das war ein überraschend tiefgehender Einblick.”

“Du meinst im Gegensatz zu meiner üblichen, ungebildeten Herangehensweise?”, fragte er mit hochgezogenen Brauen.

“Nein!”, protestierte sie. “Es ist nur so, dass du nach meiner Erfahrung eher zu etwas mehr Stumpfheit neigst.”

“Dir ist schon klar, dass es in meinem Arbeitszimmer Bücher gibt, nicht wahr?”

“Ja, durchaus”, bestätigte sie taktvoll.

“Die sind nicht als Dekoration gedacht. Ich habe fast alle davon gelesen”, bemerkte er trocken.

“Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe, Orrin”, seufzte sie. “Du denkst also, ich vertraue Enric nicht genug, um es zu ertragen, dass ich die Kontrolle verliere?”

Er schüttelte den Kopf. “Das habe ich so nicht gesagt. Kontrolle ist ein angeborenes menschliches Bedürfnis. Wenn wir den Eindruck haben, dass wir die Dinge um uns herum nicht beeinflussen können, egal, was wir tun, dann fühlen wir uns hilflos, frustriert. Du hast um Kontrolle gekämpft, als du eine Gefangene warst. Zuerst, indem du mir bei jeder Gelegenheit Widerstand geleistet hast, und als das nicht funktionierte, begannst du damit, Leute auf der Straße zu heilen.”

Eryn starrte ihn an. Es schien, als wäre Vern nicht das einzige geistig gewandte Mitglied dieser Familie. Wie hatte sie ihn nur dermaßen unterschätzen können?

“Indem du mich also mit Vern durch die Straßen ziehen hast lassen…”, setzte sie an.

“Habe ich dir einen Teil der Kontrolle über dein Leben zurückgegeben, ja. Und danach warst du kooperativer. Obwohl du immer noch deine Grenzen ausgereizt hast und ich dir neue setzen musste. So wie in dieser einen Nacht, als du Junars Schwester geheilt hast und nicht in dein Quartier zurückgekehrt bist. Die Kontrolle, die man einer Gefangenen überlässt, sollte immerhin ein gewisses Ausmaß nicht übersteigen.”

“Orrin, Orrin”, murmelte sie und nickte, “du durchtriebener alter Hund. Du bist gefährlicher, als ich gedacht hätte.”

“Wie kommst du allgemein mit diesem Teilen eurer Gefühle zurecht? Wie läuft das? Fühlst du plötzlich etwas und hast keine Ahnung, weshalb?”, wollte Junar wissen.

“Nun, es ist anders als meine eigenen Gefühle. Ich weiß es also sofort, wenn ich etwas von ihm empfange. Meist ist es verwirrend, besonders wenn ich irgendwo anders bin und nur die Emotion, aber keinen Zusammenhang dafür habe. Wie gestern, als er mit Lord Tyront gesprochen hat. Da war ein kurzer Moment der Traurigkeit oder des Bedauerns, und ich hatte keine Ahnung, wodurch er ausgelöst wurde.”

“Und danach fragen willst du ihn nicht?”, forderte Junar sie auf.

Eryn verzog das Gesicht. “Ich weiß es nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass er es mir sagen würde, wenn er wollte, dass ich davon wüsste. Diese ganze Sache ist mühsam. Es ist so, als ob wir langsam verschmelzen und ich mich zu fragen beginne, wo er aufhört und ich anfange. Ich möchte mir eine gewisse private Eigenständigkeit bewahren. Es ist intim genug, die Gefühle aus erster Hand zu teilen, ohne auch noch jedes winzige Detail rundherum zu erfahren.”

Junar nickte langsam. “Ich schätze, das verstehe ich. Aber wer hätte gedacht, dass es in ihm überhaupt so viele Gefühle gibt? Er wirkt immer so ruhig und gefasst.”

“Starke Gefühle hat er sehr wohl; er zeigt sie nur niemandem. Es macht ihm überhaupt keine Mühe, genau zu kontrollieren, wie viel er herauslässt. Und ich denke, das ist jetzt bereits mehr, als er wollen würde, dass ihr über ihn wisst.” Sie erhob sich. “Danke für eure Zeit.” Sie lächelte Orrin an. “Du bist nützlicher als ich dir zugestehe.”

“Offensichtlich”, bemerkte er. “Du verlässt uns also bereits wieder? Das war ein recht kurzer Besuch.”

“Ich muss zurück zur Klinik. Vern und ich treffen uns dort, damit ich ihm bei den anderen Heilern zeigen kann, wie man die Barriere in ihren Köpfen entfernt.”

Er räusperte sich. “Ich habe nicht den Eindruck, dass Vern und die Heiler derzeit besonders gut miteinander auskommen.”

“Ich bin sicher, dass sie sich benehmen werden, besonders, wenn ich dort bin, um ihm den Rücken zu stärken. Ich bin zuversichtlich, dass sie es schaffen werden zusammenzuarbeiten. Ich hatte gestern ein kleines Gespräch mit Vern.”

Orrin nickte. “Ich weiß. Davon hat er mir erzählt. Über ein paar der Dinge, die du zu ihm gesagt hast, war er recht überrascht. Und ich ebenfalls, um ehrlich zu sein. Du wirst langsam erwachsen, nicht wahr?”

Sie seufzte und kicherte. “Es scheint, als wären wir beide voller Überraschungen heute, was?”

“Ich wünschte, das wäre so. Ich warte noch immer auf meine Geschenke von der anderen Seite des Meeres”, schmollte Junar.

“In drei Tagen, ich verspreche es”, lächelte Eryn und schloss die Tür hinter sich.

* * *

Sie betrat den Salon und pfiff durch die Zähne, als sie sah, wie er für die Gäste umgestaltet worden war. Die würden in etwa zwei Stunden eintreffen, und sie war mit den Bemühungen immens zufrieden. Es erinnerte an die Westlichen Territorien, fiel ihr auf. Zierkissen in bunten Stoffen, ein Tischtuch im gleichen Stil. Wann hatten sie all das bloß gekauft?

Enric hatte ihr gesagt, dass er beabsichtigte, ihre Gäste ein wenig in die neue Kultur, zu der sie beide nun mehr oder weniger gehörten, einzuführen. Also hatte er sich am Vortag mit Orrin und natürlich Urban auf die Jagd begeben, um der westlichen Tradition zu folgen, Gästen nur das zu servieren, was der Gastgeber selbst erlegt hatte. Den Kriegerlehrer hatte die Einladung seines Vorgesetzten überrascht, ebenso wie Eryn.

Es schien, als ob die Szene bei ihrer Heimkehr Enric tatsächlich zum Nachdenken über seinen Mangel an Kontakten mit anderen Menschen in seinem Heimatland angeregt hatte und er nun daran arbeitete, das zu ändern. Orrin war mehr oder wenige die offensichtliche – wenn auch keine ganz unkomplizierte – Wahl, wenn man ihre nicht gerade harmonische gemeinsame Geschichte bedachte.

Der Ausflug schien gut verlaufen zu sein, sie kehrten mit mehreren Beutetieren zurück und trennten sich freundschaftlich.

“Enric?”, rief sie und ging zu seinem Arbeitszimmer, als keine Antwort kam. Der Raum war leer, ebenso wie die anderen. War es möglich, dass er nicht zuhause war? Sie sah aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers in den Innenhof und fand Urban, die auf einem erhöhten Platz auf einem Felsen schlief, während ihre Pfoten und ihr Kopf schlaff nach unten hingen. Enric konnte also nicht weit weg sein. Er ließ die Katze nur zuhause, wenn er Ratsversammlungen besuchte, und soweit sie informiert war, stand heute keine auf dem Plan.

Mit einem Achselzucken ging sie nach oben, um ihre Garderobe durchzusehen und fand eine Notiz, die an die Tür geheftet war. Es war eine Anweisung, etwas Ansehnliches in den Farben ihres Heimatlandes anzuziehen. Lächelnd zog sie eine farbenfrohe Tunika und eine dunkle Hose heraus, um sie nach dem Waschen anzuziehen. Enric schien es wirklich zu genießen, heute Abend den Gastgeber zu spielen, wenn man von den Details ausging, denen er seine Aufmerksamkeit widmete.

Sie hielt inne, als ihr ein Gedanke kam. Ihr Blick wanderte zu dem Fenster, das den Hof und das gegenüberliegende Gebäude mit den Arbeitsräumen überblickte. Arbeitsräume wie die Küche. Er würde doch wohl kaum die Zubereitung der Mahlzeit selbst übernehmen? Nein, dachte sie, amüsiert über sich selbst – das war wohl eine etwas zu gewagte Annahme. Oder?

Sie entschied, dass noch immer genug Zeit für ein schnelles Bad blieb. Die letzten drei Tage waren aufreibend gewesen, also hatte sie sich sicherlich ein wenig Entspannung verdient, bevor sie ihre Gäste empfing.

Ihre Gedanken allerdings kümmerte es wenig, dass sie zur Ruhe kommen wollte, als sie sich wenig später in das erfrischende, warme Wasser sinken ließ. Die schienen nur auf eine kleine Pause gewartet zu haben, um von allen Seiten auf sie einzustürmen.

Vern und die Heiler. Die erste Begegnung nach ihrer Rückkehr war merklich angespannt und übermäßig höflich verlaufen, aber nach ein paar Stunden schienen sie alle ihren Weg zurück in ihre Rollen gefunden zu haben, so wie vor ihrer Abreise – als Kollegen ohne Hierarchie, sondern nur mit einem Wissensvorsprung zwischen ihnen. Vern schien hinterher immens erleichtert, froh, dass seine Kollegen wieder mit ihm sprachen.

In den letzten zwei Tagen war er fleißig gewesen und hatte Barrieren entfernt, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergeben hatte. Zuerst bei Junar und Plia, dann bei Rolan und seinen Klassenkameraden. In seinem Eifer wollte er mit den Patienten fortsetzen, aber Eryn hatte ihn zurückhalten müssen. Er war noch immer dabei, sich von sechs sehr anstrengenden Wochen zu erholen und musste sich, anstatt ihre Arbeit zu erledigen, auf die Dinge konzentrieren, die er im Unterricht verpasst hatte.

Das Geistesband hatte sich in den letzten drei Tagen als überraschend unproblematisch erwiesen. Einmal hatte sie ein Aufflackern von Ärger bei Enric verspürt und ihn am Abend danach gefragt. Er hatte ihr erklärt, dass einer seiner Kollegen im Rat seine Meinung über Enrics Adoption etwas zu freizügig kundgetan hatte und entsprechend zurechtgewiesen worden war. Sehr wahrscheinlich mit einem frostigen Lächeln und einem warnenden Blick, der keinerlei Hinweis auf das Ausmaß an Ärger in seinem Inneren preisgegeben hatte. Sie fragte sich, ob sich das erlernen ließ. Ihre Gefühle so in ihrem Inneren zu behalten, sie nur herauszulassen, wenn sie sie als Waffe einzusetzen gedachte.

Von allen Leuten, die im Heilergebäude arbeiteten, schien Plia die Einzige gewesen zu sein, die von der Anspannung zwischen Vern und den anderen Heilern nicht betroffen war. Sie hatte zuverlässig in ihrem abgeschiedenen Rückzugsort vor sich hingearbeitet, die Tür geschlossen gehalten, Kräutersammler und Apotheker empfangen, um ihre Güter entweder anzunehmen oder zurückzuweisen, und ihren Medizinvorrat vorbereitet.

Eryn hatte sie dazu ermutigen wollen, sich an diesem Abend zu ihnen zu gesellen, aber Plia hatte höflich abgelehnt und vorgegeben, anderweitig verabredet zu sein. Enric und Orrin gemeinsam am gleichen Ort war womöglich zu viel für sie – sie verbeugte sich noch immer jedes Mal vor Enric, wenn sie ihm im Haus über den Weg lief, obwohl er ständig betonte, dass dies eine recht übertriebene Formalität war, wenn man unter dem gleichen Dach lebte.

Der Hof hatte sich bei ihrer Rückkehr als angenehme Überraschung entpuppt. Das Gras, das kurz nach ihrer Abreise gesät worden war, bedeckte den Boden mit den großen Felsen, Bäumen und Baumstämmen. Urban fand Gefallen daran – wahrscheinlich, weil sie endlich einen Platz hatte, den sie nach Herzenslust verwüsten durfte. Enric hatte Eryn erzählt, dass die Leute ihn immer wieder darauf ansprachen, wie sehr die Katze gewachsen war, seit sie sie vor eineinhalb Monaten zuletzt gesehen hatten und auch recht nachdrücklich wissen wollten, wie lange das Wachstum wohl noch andauern würde. Eryn bemerkte die Veränderung nicht wirklich, aber da sie Urban jeden Tag gesehen hatte, wäre es ihr auch kaum aufgefallen. Die Kiste für den Transport der Katze hatte allerdings auf der Rückreise etwas voller gewirkt.

Sie spürte, wie ihre Augenlider schwerer wurden und nahm sich vor, sie nicht länger als eine Minute zu schließen.

* * *

Es überraschte Enric, das Schlafzimmer leer vorzufinden. Sie war eindeutig nach Hause gekommen – er hatte ihre Robe auf dem Haken unten hängen sehen. Auf dem Bett lagen die Kleider, die sie am Abend zu tragen gedachte. Seiner Bitte folgend hatte sie etwas ausgewählt, das sie in Takhan anfertigen hatte lassen. Ihre Gäste wurden in weniger als einer halben Stunde erwartet, und von ihr war keine Spur zu sehen.

Als er den Nassraum betrat, sah er einen schlaffen Arm aus der Wanne hängen, und er ließ seine Anspannung mit einem langen Seufzer los. Sie wirkte so friedlich, wie sie leise im Wasser schnarchte. Nach ein paar mühsamen Tagen war ein warmes Bad allerdings keine gute Methode, um wach zu bleiben, dachte er und ging neben ihr in die Hocke.

“Eryn”, meinte er, stieß sie leicht an und wiederholte es, als sie nicht reagierte.

Sie öffnete ihre Augen halb und schenkte ihm ein schläfriges Lächeln. “Hallo du.”

Dann setzte sie sich abrupt auf, woraufhin Wasser auf sein Hemd und noch etwas mehr auf den Boden schwappte. “Bin ich eingeschlafen? Oh nein! Wie viel Zeit habe ich noch?”

Enric lächelte nur und trocknete seine Kleidung mit ein wenig Magie. Er sah zu, wie Dampf in winzigen Schwaden aufstieg. “Eine halbe Stunde.”

Sie atmete erleichtert aus. “Gut. Das kann ich schaffen.”

Er beobachtete sie aufmerksam, als sie in der Wanne aufstand. Das Wasser rann in winzigen Bächen ihren Körper hinab und fand seinen Weg entlang von Kurven und Hautfalten, während Enric genüsslich lächelte.

“Lass das”, wies sie ihn an. “Ich weiß genau, wie das normalerweise endet, wenn du mich so ansiehst. Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit mehr.”

Sein Lächeln blieb unverändert. “Ich sehe dich auf eine bestimmte Weise an? Dessen bin ich mir nicht bewusst.”

Mit einem Augenrollen stieg sie aus der Wanne und wickelte sich in ein großes Handtuch ein. “Natürlich tust du das. Dieser hungrige Blick, wenn deine Augenlider halb geschlossen sind, aber deine Augen jeder meiner Bewegungen folgen. Wie ein Raubtier, das bereit ist, seine nächste Mahlzeit zu erlegen.”

“Interessante Einschätzung”, überlegte er. “Und nicht ganz unberechtigt, gestehe ich. Unglücklicherweise hast du Recht, wir haben tatsächlich keine Zeit.” Besonders, da sie in letzter Zeit im Bett ohnmächtig wurde und hinterher eine Weile zur Erholung benötigte. Er sah zu, wie sie ihre Haare mit einer Berührung ihrer Finger trocknete und sie bürstete, bis sie in sanften, dunkelbraunen Wellen ihren Rücken hinabhingen.

“Ich habe darüber nachgedacht, sie abzuschneiden”, sagte sie nebenbei, als sie bemerkte, wie er ihre gleichmäßigen Bewegungen mit der Bürste beobachtete. “Sie sind eher unpraktisch. Und ich trage sie ohnehin entweder geflochten oder hochgesteckt.”

“Wag es bloß nicht, sie abzuschneiden”, knurrte er. Im Bett trug sie die Haare offen. Soweit es ihn betraf, brauchte sie niemand sonst mit offenen Haaren zu sehen.

“Du fragst mich auch nicht um meine Erlaubnis, wenn du deine Haare abschneidest”, strich sie mit einem gereizten Blick hervor. “Du suchst mehr oder weniger meine Kleider aus, und jetzt willst du mir auch noch sagen, wie ich meine Haare schneiden lassen soll?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein. Ich will dir sagen, wie du dir die Haare nicht schneiden lassen sollst. Aber das können wir ein anderes Mal diskutieren. Jetzt solltest du dich fertigmachen. Wenn wir unseren Gästen einen Einblick in die Kultur des Westens gewähren wollen, können wir ebenso gut bei der Pünktlichkeit auf Originalität achten.”

“Wie sehr du auf Authentizität bedacht bist. Mit deiner eigenen Besessenheit mit Pünktlichkeit hat das natürlich überhaupt nichts zu tun”, scherzte sie und ging ihm voran ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

“Ich will für meine Gäste eben nur das Beste”, murmelte er, woraufhin sie innehielt und sich zu ihm umdrehte.

“In letzter Zeit sprichst du gerne in Reimen, was? Zuerst der Kommitment-Eid und jetzt spontane kleine Verse für alltägliche Zwecke. Wirklich zauberhaft.”

Er zuckte die Schultern und reichte ihr die Tunika vom Bett. “Als ich jünger war, schrieb ich eine Menge Gedichte. Meist mit dem Zweck, meine Lehrer und meinen Vater in bildreicher Sprache zu schmähen. Aber ebenso wie das Zeichnen, ist auch das Verfassen von Poesie nicht gerade eine Fertigkeit, die bei einem Magier erwünscht ist.”

Sie starrte ihn überrascht an. “Das hast du wirklich getan?”

Leise lachend zog er ihr die Tunika nach unten, als sie vor Erstaunen erstarrt schien. “Ja, das habe ich. Wenn auch nichts Inspirierendes oder Herzerwärmendes. Es war mehr wie eine Wissenschaft für mich, Worte zu finden, die sich reimten und sie so zusammenzufügen, dass daraus möglichst beleidigende Kombinationen entstanden. Nicht gerade das, was die meisten Leute als künstlerischen Ansatz verstehen würden, fürchte ich.”

“Das würde womöglich davon abhängen, welche Leute du fragst. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Leute hier auch Verns Arbeit nicht gerade als künstlerisch erachten würden, während man in Takhan absolut sprachlos war, als man sein Buch sah.”

Enric grinste. “Manche Leute würden wohl eine ähnliche Reaktion auf meine frühen Werke zeigen, allerdings vor Schock anstatt Anerkennung.”

“Du hast nicht zufällig irgendwo noch ein paar davon herumliegen, oder?”, fragte sie neugierig.

Er schüttelte den Kopf. “Nein, meine Lehrer konfiszierten sie ständig und verbrannten sie dann womöglich hinterher. Ich habe einst ein recht wenig Schmeichelhaftes über Orrin geschrieben. Zur Bestrafung ließ er mich zehn Stunden Küchendienst ableisten.”

Sie lachte laut auf bei dem Gedanken, dass sie heute Abend genau diesen Mann zum Essen eingeladen hatten.

“Dann sieht es wohl so aus, als wärst du nicht sehr gut darin gewesen, sie zu verstecken”, lächelte sie.

“Das wollte ich auch gar nicht. Das war immerhin der Sinn dahinter – ich brauchte ein Publikum.”

Seltsam, dachte sie, wie unterschiedlich ihre Prioritäten in ihrer Jugend gewesen waren. Er hatte nach Aufmerksamkeit gesucht, während sie bestrebt gewesen war, sie um jeden Preis zu vermeiden.

* * *

Eryn eilte zur Tür, als sie das entschiedene Klopfen vernahm. “Das ist Orrins Klopfen; ich würde es überall wiedererkennen. Davor hat mir gegraut, als ich noch in meiner Zelle in den Kriegerquartieren residierte. Normalerweise hat er kurz darauf meine Tür eingetreten oder mich gescholten. Oder beides.”

Enric lächelte. “Es scheint, dass wir beide keine besonders erfreulichen Erinnerungen aus unseren frühen Tagen mit ihm haben. Warum genau haben wir ihn hierher eingeladen?”

“Damit wir uns selbst beweisen können, dass wir jetzt stärker und ranghöher sind als er und ihn nicht länger zu fürchten brauchen”, lachte sie und öffnete die Tür.

Sie schnappte in gespieltem Erstaunen nach Luft und legte eine Hand auf ihren Brustkorb. “Orrin, ganz egal, wie oft ich dich in Abendgarderobe sehe, es ist jedes Mal ein Schock!”

“Ist das die Art von Begrüßung, die ein Gast hier erdulden muss? Deine Manieren haben sich seit deiner Reise in fremde Gefilde nicht eben verbessert”, entgegnete er und ließ eine glücklich wirkende Junar als Erste eintreten.

Sofort griff sie nach Eryns Händen und hielt sie zu beiden Seiten hoch, bevor sie einen Schritt zurücktrat und ihr geschultes Auge die Kleidung beurteilen ließ. “Sehr interessant! Dreh dich”, befahl sie.

“Die Frau, die du mitgebracht hast, hat auch keine besonders guten Manieren”, meinte Eryn, drehte sich aber gehorsam, als Junar mit ihrem Finger nachdrücklich eine kreisende Geste vollführte.

“Schlechter Einfluss, befürchte ich. Ihre Auswahl an Freunden ist mangelhaft”, antwortete Orrin gelassen. “Genau wie bei meinem Sohn. Du bist ein verderblicher Einfluss auf die ganze Familie.”

Eryn bemerkte, wie Junar blinzelte und ein Lächeln unterdrückte, das nur ein Ausdruck der Freude darüber gewesen sein konnte, in den Begriff Familie miteinbezogen zu werden.

“Dann hast du ja Glück, dass du der Einzige zu sein scheinst, der über genug Charakterstärke verfügt, um dem zu widerstehen.” Sie wandte sich an ihre Freundin. “Also, Schneiderin – bin ich fertig mit dem Posieren? Nicht, dass dieser kuschelige Platz vor der Tür nicht absolut gemütlich wäre, aber ich würde doch lieber in den Salon gehen, wenn es euch nichts ausmacht.”

“Nun, Heilerin”, antwortete Junar mit einer hochgezogenen Braue, “dann solltest du uns wohl besser eintreten lassen, anstatt im Weg herumzustehen.”

Nachdem sie ihre Umhänge aufgehängt und zur Seite getreten waren, kam Vern herein und verdrehte die Augen, als er die Tür hinter sich schloss. “Endlich! Ich war kurz davor, ein Feuer zu machen und mir eine Ratte zu fangen, die ich darüber rösten kann!”

“Du hättest eine von denen mitbringen können, die dein Katzenmonster fängt, um sie dann auf dem Teppich zurückzulassen”, schnaubte Orrin.

Enric lächelte seine Gäste an, die sich alle vor ihm verbeugten. “Darauf können wir heute Abend verzichten, das ist eine gesellige Zusammenkunft. Willkommen. Was darf ich euch zu trinken anbieten? Zur Auswahl stehen Wein und verschiedene Säfte aus dem Westen.”

Junar ließ ihren Blick über die Dekoration wandern und nickte anerkennend. “Ein Glas Wein wäre wunderbar, danke.”

“Für mich das Gleiche”, meinte Orrin.

“Für mich auch”, nickte Vern.

Eryn sah Orrin fragend an. “Geht das in Ordnung für dich?”

Er zuckte die Achseln. “Er hat bewiesen, dass er wie ein Mann arbeiten kann – wer bin ich also, um ihm einen Drink zu verweigern, wenn er einen will?” Seine Augen verengten sich. “Hey, du brauchst gar nicht vorzugeben, dass du ihn zuvor niemals Alkohol trinken hast lassen. Oder muss ich dich an den einen Abend im Quartier des Botschafters erinnern?”

Sie biss sich auf die Lippe und sah zu Vern hin, der entschuldigend Lächelte. “Du bist mir in den Rücken gefallen, Vern!”

“Er hat den Geruch am nächsten Morgen bemerkt! Was hätte ich denn tun sollen?”

“Mich zum Beispiel aus der Sache heraushalten”, seufzte sie.

“Warum soll ich die Schuld auf mich nehmen, wenn ich sie weitergeben kann?”, meinte er und zog die Schultern hoch.

“Ein berechtigter Einwand”, stimmte Enric zu und reichte seinen Gästen und Eryn jeweils ein volles Glas, bevor er sein eigenes erhob. “Auf angenehme Abende in guter Gesellschaft”, sagte er feierlich und nahm einen Schluck.

“Würde es Euch etwas ausmachen, mich einen Blick auf Euer Hemd und Eure Hose werfen zu lassen, Lord Enric?”, fragte Junar zögernd.

Eryn lächelte. Ihre Schüchternheit in Enrics Gegenwart hatte also keine Chance gegen ihre professionelle Neugier.

“Keineswegs”, antwortete er sanft und stellte sein Glas zur Seite, um seine Arme zu heben und ihr einen besseren Blickwinkel zu ermöglichen.

“Sehr nett”, sagte sie leise, als sie ihn umrundete. “Der Schnitt ist mehr an den natürlichen Umriss Eures Körpers angepasst. Für einen schlanken, gut proportionierten Mann wie Euch ist das sehr vorteilhaft, für stämmiger gebaute Herren eher nicht.” Dann sah sie schockiert auf, als ihr zu spät klar wurde, dass sie mit ihren Kommentaren über seine körperliche Erscheinung gerade etwas freizügiger gewesen war, als die Umstände es rechtfertigten.

Enric zog eine Braue hoch und grinste. “Ich weiß. Darum habe ich sie anfertigen lassen. Ich hatte gehofft, dass du in der Lage bist, das Muster zu kopieren und mir mehr davon zu machen.”

Junar nickte erleichtert. “Das bekomme ich auf jeden Fall hin. Ich würde nur ein Hemd für das Muster brauchen. Ihr zieht den kräftigen Farben, die in Takhan offensichtlich beliebter sind, dunkle vor”, fügte sie mit einem Seitenblick auf die Kissen und Eryns eigene Tunika hinzu.

“Ja”, erwiderte er. “Mir wurde gesagt, das könne ich mir aufgrund meiner exotischen Haarfarbe leisten.”

Sie drehte sich wieder zu Eryn um. “Und du hast dich für die andere Kombination unserer Schnitte mit deren Stoffen entschieden, wie ich sehe. Nicht schlecht. Das ist ein beachtliches Bild, das ihr beide zusammen abgebt.”

“Hey, was ist das hier?”, hörten sie Vern fragen. Eryn drehte ihren Kopf und sah, dass er vor einem kleinen Bilderrahmen an der Wand neben einem hohen Schrank stand. Diese kleine Ergänzung war ihr noch gar nicht aufgefallen.

Als sie nähertrat, sah sie, dass es sich um einen Papierstreifen mit winziger Handschrift darauf handelte. Überrascht sog sie den Atem ein, als sie erkannte, worum es sich dabei handelte: Es war die Nachricht des Königs, in der er Enric darüber informierte, dass sein Antrag, im Fall ihrer Verurteilung zwei Jahre lang als Botschafter in Takhan zu bleiben, bewilligt wurde.

Sie schluckte hart und spürte einen Knoten in ihrem Hals. “Mein Onkel gab mir das. Das war es, was mich dazu brachte, Enric zu sagen, dass ich ihn liebe und ihn zu bitten, das Band dritten Grades mit mir einzugehen.” Und er hatte die Nachricht gerahmt. Wie etwas Wertvolles, das es zu erhalten galt.

Sie spürte, wie eine intensive Welle wahrer Zuneigung in ihr aufstieg, die sie mehrmals hintereinander blinzeln ließ, um die Feuchtigkeit zurückzuhalten, die sich in ihren Augen sammelte. Sie sah, wie sich ein langsames Lächeln auf Enrics Gesicht ausbreitete, als er ein Echo dessen empfing, was in ihr vorging.

“Sehen wir gerade das Geistesband in Aktion?”, flüsterte Junar.

Orrin nickte, während er beide abwechselnd fasziniert anstarrte. “Ja, so sieht es wohl aus.”

“Welches Geistesband? Und was soll dieses Band dritten Grades sein?”, fragte Vern und sah alle vier Leute um sich verdattert an.

Eryn kämpfte sich zurück in die Gegenwart. “Eine Kleinigkeit, die wir uns bei einem magischen Kommitment in Takhan eingefangen haben”, erklärte sie.

“Etwas, das ihr euch eingefangen habt?”, fragte er bestürzt. “Wie eine Krankheit? Und du hast was getan? Freiwillig?”

Sie bedeckte ihre Augen mit einer Hand. “Warum werde ich das andauernd gefragt? Allen Ernstes! Sehe ich aus, als wäre ich in letzter Zeit genötigt, ausgenutzt oder unterdrückt worden?”

“Schon gut, schon gut”, murmelte Vern, “zurück zu diesem Geistesband. Was ist das und warum hast du es?”

“Eine direkte Verbindung, die starke Gefühle zwischen uns transportiert. Alles, was ich weiß ist, dass wir es haben, aber ich habe keine Ahnung, weshalb. Es kommt ganz selten vor, also sieht es so aus, als gäbe es in den Westlichen Territorien kaum Aufzeichnungen darüber.”

Vern sah sie betroffen an. “Was hast du dort getrieben, Eryn? Zuerst lassen sie dich das Land nicht verlassen, weil du irgendein Verbrechen begangen hast, und dann gehst du einfach ein magisches Band ein, ohne die Folgen zu bedenken?” Er sah mit vorwurfsvoller Eindringlichkeit zu Enric. “Ich dachte, man hätte Euch mitgeschickt, damit Ihr sie beschützt und sie davon abhaltet, irgendetwas Dummes anzustellen?”

Orrin fasste nach der Schulter seines Sohnes und drehte ihn abrupt zu sich herum. “Du magst heute hier als Eryns Gast eingeladen sein, mein Sohn, aber vergiss nicht, mit wem du hier redest. Du bedenkst deine Worte wohl von nun an besser und gehst sicher, dass sie angemessen sind, bevor du den Mund öffnest. Oder du trägst die Konsequenzen.”

Der Junge schloss einen Moment lang die Augen, ganz eindeutig, um den Impuls zu unterdrücken, sich noch mehr Ärger einzuhandeln. Dann drehte er sich zurück zu Enric und senkte den Kopf. “Ich entschuldige mich, Lord Enric. Lasst mich Euch versichern, dass es nichts anderes als die Sorge um Eryns Wohlbefinden war, die mich dazu veranlasst hat, zu sprechen ohne nachzudenken. Obwohl dies natürlich keine Rechtfertigung ist.”

“Ich nehme die Entschuldigung an”, erwiderte Enric milde. “Und lass mich dir versichern, dass sich sogar meine beachtlichen Fähigkeiten zuweilen Eryns dunkler Gabe, sich Ärger einzuhandeln, geschlagen geben müssen”, fügte er trocken hinzu.

“Diese Aussage weise ich von mir”, knurrte Eryn.

“Aber natürlich tust du das”, lächelte er und küsste ihre Stirn. “Die Wahrheit ist kaum jemals angenehm. Sollen wir Platz nehmen und unsere Gäste bewirten, meine Liebste?”

“Wir werden selbst servieren?”, fragte sie mit einer hochgezogenen Braue und lächelte. Er war also bei ihrer Ankunft zuvor tatsächlich im anderen Gebäude gewesen, um das Mahl persönlich zuzubereiten.

“So wird es gemacht, wie man mir sagte.” Dann ergriff er Junars Hand und legte sie auf seinen Arm, um sie zum Tisch zu geleiten, Vern und Orrin hinter ihnen.

Als alle saßen, forderte er Eryn auf, ihm zu seinem Arbeitszimmer zu folgen, wo er zwei farbenfrohe Schalen in größere Topfe mit heißem Wasser gestellt hatte, um den Inhalt warmzuhalten.

Sie zog beide Augenbrauen hoch, als er sechs Schüsseln in ihre Hände drückte. “Wann hast du all das bloß gekauft?”

“Sagen wir, dass ich eine Menge Zeit totzuschlagen hatte, als ich bei Golir festsaß”, erwiderte er mit einem leisen Lachen.

“Und die hast du damit verbracht, Haushaltsgegenstände einzukaufen? So wie die Kissen und das Tischtuch? Er hat dich also einfach allein durch die Straßen wandern lassen, anstatt dich wie ein ordentlicher Aufpasser zu bewachen?”

“Natürlich nicht. Er begleitete mich. Ich denke, er erachtete es als weiser, mich irgendwie zu beschäftigen, anstatt mich rastlos bei sich zuhause einzusperren.”

Die Vorstellung der beiden mächtigen, hochrangigen Magier, die solche Einkäufe tätigten und dabei Farben, Qualität, Muster und dergleichen diskutierten, brachte sie zum Lächeln.

“Steh hier nicht einfach grinsend herum”, tadelte er sie. “Bring die Schüsseln zu unseren Gästen, damit wir sie verpflegen können.” Dann hob er eine der großen Schalen aus ihrem Wasserbad, trocknete die tropfende Unterseite mit einem Tuch und ging ihr voran zurück zum Salon, wo er sie in der Mitte des Tisches platzierte, bevor er zurückkehrte, um die zweite zu holen.

Er lächelte über das schlecht verborgene Erstaunen seiner Gäste, ihn beim Servieren von Essen zu sehen. “In den Westlichen Territorien ist es Brauch, dass der Gastgeber seine Gäste bekocht. Und sollte Fleisch serviert werden, dann muss es ebenfalls vom Gastgeber selbst erjagt worden sein. Alles andere wäre eine Beleidigung und würde ihn der Lächerlichkeit preisgeben. Ich habe zwei verschiedene Gerichte vorbereitet, da Eryn sich entschieden hat, nicht länger Fleisch zu essen. Ihr seid natürlich eingeladen, beide zu probieren.”

Junar sagte: “Ich gebe zu, ich bin ganz überwältigt davon, wie gut Ihr Euch offenbar an die dortigen Gepflogenheiten angepasst habt.” Dann starrte sie Eryn ungläubig an, während Enric ihre Schüsseln füllte und jeden einzeln fragte, welches Gericht bevorzugt wurde. “Du isst jetzt kein Fleisch mehr? Was ist passiert?”

Eryn nahm die Schüssel von ihrem Gefährten entgegen und wandte sich an ihre Freundin. “Wir wurden eingeladen, meinen Cousin und seine… Freunde auf einen Jagdausflug zu begleiten, und das hat sich für mich als böses Erwachen erwiesen. Später habe ich erfahren, dass es dort als akzeptierter Lebensstil gilt, kein Fleisch zu essen, wenn man nicht bereit ist, es selbst zu töten.” Sie zuckte mit den Schultern. “Für mich hörte sich das prima an. Und das tut es noch immer.”

“Es fehlt dir also gar nicht? Das hier riecht überhaupt nicht verlockend für dich?”, fragte Vern ungläubig und hielt ihre seine Schüssel unter die Nase.

“Nein zu beidem. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn ich das nicht einatmen müsste.” Ihr Gesicht wurde starr, und sie drehte den Kopf zur Seite, bis er die Schüssel wieder vor sich hingestellt hatte.

Dann ruhten die Blicke erwartungsvoll auf Enric, wartend, dass er zu essen begann.

“Von einem Gastgeber wird erwartet, dass er wartet, bis alle seine Gäste den ersten Bissen gegessen haben, bevor er selbst beginnt”, erklärte er. “Denn erst dann kann er sicher sein, dass jeder etwas bekommen hat, das ihm zusagt. Somit würde ich euch ersuchen, genau das zu tun.”

“Es scheint, als hattet Ihr dort eine Menge zu lernen nach Eurer Ankunft”, bemerkte Orrin.

Eryn nickte. “Das ist wohl wahr. Seid froh, dass wir euch für den Moment den Rest ersparen. Nächstes Mal, wenn ihr herkommt, müsst ihr auf den Kissen sitzen, die sie dort anstelle von Stühlen verwenden und eure Hände in speziell dafür gedachten Schüsseln waschen”, fügte sie grinsend hinzu. “Da Enric seine Zeit dort mit Einkaufen verbracht hat, hat er das alles womöglich auch noch erworben.” Ihre Augen weiteten sich, als er nur die Achseln zuckte. “Das hast du tatsächlich? Ach du meine Güte!” Kopfschüttelnd wandte sich sie zurück an Orrin. “Es scheint, als wäre meine leere Drohung nicht ganz so leer gewesen, wie ich dachte.”

Junar schluckte ihren ersten Bissen und sah zu Enric auf. “Das schmeckt wirklich gut. Wo habt Ihr gelernt zu kochen? Das ist keine Fertigkeit, die ich mit Magiern in Verbindung bringen würde.”

“Eryns Cousin Vran’el hat es mir beigebracht. Dort drüben scheint die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen als ebenso grundlegende Fertigkeit wie das Heilen erachtet zu werden”, erklärte er.

“Cousin?”, fragte Vern neugierig und drehte sich zu Eryn. “Du hast vorher einen Onkel erwähnt. Du hast dort also deine Familie getroffen? Wie sind die so?”

Langsam begann sie zu erklären: “Lass mich am Anfang starten. Als wir das Schiff in Takhan verlassen hatten, wurden wir von drei Leuten und Ram’an begrüßt. Ein wichtiger Politiker und noch zwei Leute. Einer davon hat sich als mein Onkel väterlicherseits herausgestellt. Er war derjenige, der mir die Nachricht gegeben hat, die du an der Wand gesehen hast. Die andere stellte sich mir vor als… meine Mutter.”

Drei Augenpaare starrten sie an. “Was? Deine tote Mutter?”, fragte Junar verwirrt.

“Ja, das hat sich als kleine Fehlinformation erwiesen”, bemerkte Eryn ironisch.

“Deine Mutter lebt also tatsächlich?” Vern klang erstaunt. “Unfassbar! Warum wirkst du dann nicht glücklich, wenn du darüber redest?”

“Weil sich herausgestellt hat, dass ich die einzige Tochter einer sehr mächtigen Familie war, von der erwartet wurde, eines Tages die Rolle der Anführerin, oder Oberhaupt des Hauses, wie sie es dort nennen, einzunehmen.”

“Dann bist du tatsächlich eine Art verlorene Prinzessin!”, lachte Vern und klatschte in die Hände. “Ich hatte Recht!”

“Ja, ich gratuliere ganz herzlich”, schnaubte sie. “Aber da hing noch etwas mehr dran. Man erwartete auch, dass ich ein Kommitment mit Ram’an eingehe.”

“Was?” Dieses Mal war es Orrins verblüffte Stimme, die den Ausruf tätigte. “Das ist also der Grund, weshalb…” Sein Blick fiel auf Enric, und er verstummte sofort.

“Das geht schon in Ordnung, Orrin – er hat in der Zwischenzeit von Ram’ans kleinem Verhörversuch erfahren”, seufzte sie.

“Warum?”

“Mein Cousin hat ihm davon erzählt. Ram’an hat sein Manöver in Takhan publik gemacht.”

“Was? Nein! Ich meinte, warum du dich an Ram’an binden hättest sollen!”

Eryn verzog das Gesicht, beantwortete dann aber die Frage. “Weil es zwischen den Häusern gebräuchlich ist, ihre Nachkommen anderen Häusern zu versprechen, um ihre politischen Allianzen zu stärken. Als einzige Tochter eines mächtigen Hauses war ich für den Sohn eines anderen bestimmt.”

“Aber du hattest doch bereits einen Gefährten, als du dorthin gingst!”, rief die Schneiderin aus.

“Da es zwischen uns kein Band dritten Grades gab, erkannten sie Enric nicht wirklich als meinen Gefährten an. Somit versuchte Ram’an mit allen Mitteln, mich von ihm loszubekommen.” Sie schüttelte den Kopf und seufzte, froh, dass all dies hinter ihr lag.

“Offensichtlich erfolglos”, meinte Orrin mit einem dünnen Lächeln.

“Offensichtlich”, bestätigte Enric, sein Lächeln grimmig.

“Wäre mein Cousin Vran’el nicht gewesen, hätte Ram’an es geschafft, mich für eine ganze Weile in Takhan festzuhalten”, erzählte Eryn. “Hätte Vran’el nicht arrangiert, dass ich von meinem Onkel adoptiert werde, hätte Ram’an mich als Mitglied seines Hauses beansprucht.”

“Du wurdest von deinem Onkel adoptiert?”, rief Junar völlig verzweifelt. “Könntest du die Ereignisse wohl in der richtigen Reihenfolge erzählen? Mein Kopf dreht sich! Wie kann das alles in so kurzer Zeit passiert sein?”

Enric seufzte. “Ich werde das übernehmen. Eryn hat es nicht gerade einfacher gemacht, indem sie ständig vor- und zurückgesprungen ist. Wir haben es geschafft, Handelsvereinbarungen zu treffen, und Eryn brachte es bis dahin fertig, sich Ram’an vom Leib zu halten. Nach drei Wochen sollten wir nach Hause zurückkehren. Gerade, als wir an Bord des Schiffes gehen wollten, wurden wir von Wachen aufgehalten, die uns zum Senat brachten. Das ist so etwas wie unser Rat hier. Es stellte sich heraus, dass Malriel, Eryns Mutter, ihre eigene Tochter beschuldigte, vor dreizehn Jahren den Tod ihres Vaters verursacht zu haben. Ich überlasse es Eryn, ob sie diese Geschichte eines Tages selbst erzählen möchte. Aber seid versichert, dass es aus rechtlicher Sicht klar war, dass Eryn nicht dafür verantwortlich war und dieses Verfahren auch nie über sich ergehen hätte lassen müssen, würde ihre Mutter nicht über solch beträchtlichen politischen Einfluss verfügen.” Er hielt inne, um einen Schluck Wein zu nehmen, bevor er fortfuhr. “Für die Dauer des Verfahrens wurden wir voneinander getrennt. Jeder von uns wurde der Aufsicht eines Magiers unterstellt, der stärker war als wir selbst. Ram’an meldete sich freiwillig dafür, Eryn zu bewachen und durfte die Aufgabe übernehmen, wenngleich er es in der Residenz der Familie ihres Onkels tun musste anstatt in seiner eigenen.” Er hielt inne, als er sah, dass Orrin verwirrt wirkte.

“Wartet”, meinte der Krieger mit einem Stirnrunzeln. “Aber Ram’an war nicht stärker als Eryn. An diesem Tag in seinem Quartier schaffte sie es, seinen Schild zu durchbrechen.”

Eryn schloss die Augen und unterdrückte ein Stöhnen. Oh nein. Das war das einzige kleine Detail gewesen, von dem Enric nichts gewusst hatte, das sie geschafft hatte, vor ihm zu verbergen. Bis jetzt.

Es wurde still am Tisch. Niemand wagte es, auch nur ein Geräusch zu verursachen. Enrics tiefer Atemzug, der zwischen seinen Lippen entwich, war alles, was hörbar war.

“Eryn?”, fragte er mit gefährlich ruhiger, aber dennoch bedrohlicher Stimme. Sie konnte seinen Zorn feurig in ihrer Magengrube spüren. “Würdest du mir das wohl näher ausführen? Wie kommt es, dass ich über Kampfhandlungen, die bei dieser Gelegenheit stattfanden, nicht im Bilde war?”

“Ich dachte, du sagtest, er wüsste Bescheid, Eryn!”, rügte Orrin sie mit Schärfe. “Wann wirst du endlich mit deinen Geheimnissen aufhören, du Idiotin!”

“An dieser Antwort wäre ich selbst auch sehr interessiert”, fügte Enric mit zusammengekniffenen Augen hinzu. “Heraus damit!”, forderte er mit mehr Nachdruck.

Sie wählte ihre Worte sorgsam. “Es war nur eine Kleinigkeit. Er versuchte, mich an diesem Tag mit einem Schild vor der Tür davon abzuhalten, sein Quartier zu verlassen, nachdem ich mich aus seinem Griff befreit hatte. Ich schoss zweimal darauf und schaffte es gerade noch, ihn zu durchdringen. Also ging ich davon aus, dass ich stärker sei als er. Was offensichtlich nicht stimmte. Später sagte er mir, dass er nicht seine gesamte Kraft dafür eingesetzt hatte, den Schild zu errichten, weshalb er schwach genug war, um von mir überwunden zu werden. Es tut mir wirklich leid.”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, das tut es nicht. Ich spüre eine Mischung aus Verdruss und Unbehagen, aber kein Bedauern.” Seine blauen Augen waren zu Schlitzen verengt. “Und noch ein weiterer Schub an Ärger, weil ich dich durchschaut habe. Lass dir das eine Lehre sein. Lüg mich nicht an. Nie wieder. Ich beginne wirklich, dieses Geistesband zu schätzen.”

“Auch wenn ich deswegen im Bett ohnmächtig werde?”, warf sie verärgert zurück in der Hoffnung, in als kleine Rache vor ihren Gästen in Verlegenheit zu bringen.

Über diesen Versuch lächelte er nur, nicht im Geringsten aus der Bahn geworfen. “Ich merke, dass mich diese kleine Nebenwirkung im Moment nicht besonders kümmert. Betrachte es als sanfte Methode, dich auszuschalten. Bisher haben wir es erst zweimal versucht, wenn du dich erinnerst. Womöglich entwickelst du nach einer Weile eine gewisse Immunität gegen diese Auswirkung. Wir werden wohl einfach weiter üben müssen, nicht wahr?”

Ihr Gesicht verfärbte sich dunkelrot, und sie griff rasch nach einem Glas Wasser und leerte es in einem Zug.

Enric warf ihr einen letzten missbilligenden Blick zu, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder seinen Gästen. “So viel dazu. Wie ich schon sagte, wurde Ram’an zu Eryns Wächter bestellt und nutzte die Situation zu seinem Vorteil. Zumindest soweit dies möglich war, während sich ihr Onkel und ihr Cousin in der Nähe befanden. Ram’an war einer der Senatoren und hatte somit eine Stimme bei der Schlussabstimmung der Verhandlung. Ursprünglich war er entschlossen, gegen Eryn zu stimmen, da das Ziel ihrer Mutter ein zwei Jahre andauernder Hausarrest in Takhan war. Aber dann entschied sich Eryn, sich von der Familie ihrer Mutter loszusagen, falls das Verfahren zu ihren Gunsten ausging. Da Ram’an sich zu entscheiden hatte, entweder die Führungsrolle in seinem eigenen Haus zu übernehmen oder Eryn als Erbin eines anderen Hauses als seine Gefährtin zu nehmen, sah er darin seine Chance, sowohl Eryn als auch die Position zu erlangen. Er schaffte es, mit seiner eigenen und noch drei weiteren Stimmen, das Urteil des Senats umzulenken.”

“Was?”, fragte Vern. “Warum musste er sich zwischen Eryn und der Führung seines Hauses entscheiden?”

“Weil Eryn die einzige Erbin ihres Hauses war, er aber noch einen jüngeren Bruder hatte, der diese Rolle übernehmen konnte. Zwei Erben eines Hauses können in den Westlichen Territorien nicht als Gefährten verbunden werden”, erklärte Enric geduldig. “Aus diesem Grund war es für Ram’an eine attraktive Option, dass Eryn sich von ihrem Haus lossagte und somit ihre Position als Erbin aufgab.”

“Aber warum dachte er, dass sie in Takhan bleiben würde, nachdem sie das Verfahren gewonnen hätte? Es stand ihr doch dann frei abzureisen, oder etwa nicht?”, fragte der Junge und wunderte sich, weshalb jede Antwort bloß zu neuen Fragen führte.

“Weil er sehr versiert war, was historische Gesetze und deren Anwendung betraf. Da gab es ein Gesetz, das ihm beträchtlich geholfen hätte. Es handelte sich dabei um eine Regel, der zufolge ein versprochener Gefährte das Recht hat, die Partnerin für das eigene Haus zu beanspruchen für den Fall, dass sie sich von ihrem eigenen lossagt. Das sollte ermöglichen, dass die Kommitment-Vereinbarung dennoch erfüllt wird. Dieses Gesetz wurde verabschiedet, bevor die Erfüllung der Vereinbarung freiwillig war. Man wollte damit verhindern, dass sich Kinder davon befreien, indem sie sich einfach von ihrem Haus lösen.”

“Aber ihr Cousin hat das verhindert, indem ihr Onkel sie adoptierte?”, fragte nun Junar, der es sichtlich Mühe bereitete, mit all diesen Details Schritt zu halten.

“So ist es”, nickte Enric. “Eryn ist somit nicht länger die Erbin des Hauses ihrer Mutter, sondern ein offizielles und rechtlich bestätigtes Mitglied der Familie ihres Vaters, also Haus Vel’kim.”

“Dann gibt es jetzt keinen Erben für das Haus deiner Mutter?”, fragte Vern.

“Oh doch, den gibt es”, warf Eryn ein. “Es stellte sich heraus, dass Enric sich erpressen oder vielleicht sogar eher bestechen ließ, sich von meiner Mutter adoptieren zu lassen. Er ist nun der neue Erbe von Haus Aren, dem ich den Rücken gekehrt habe.” Mit offenkundiger Genugtuung betrachtete sie ihre verblüfften Mienen. Es tat gut zu sehen, dass sie nicht die Einzige war, die das absolut und vollkommen grotesk fand.

“Verstehe ich das richtig”, sagte Orrin ganz langsam, “dass Ihr, Lord Enric, nun der Sohn und Erbe der Mutter Eurer Gefährtin seid?”

“Ja”, nickte Enric, “das stimmt.”

“Bedeutet das, dass man Euch jederzeit dazu heranziehen könnte, ihre Nachfolge anzutreten? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Eure Position im Orden? Es ist angedacht, dass Ihr eines Tages bereits hier jemandem nachfolgen sollt”, erwiderte Orrin besorgt.

“Theoretisch, ja”, gab Enric zu, “aber praktisch ist das im Moment nicht besonders wahrscheinlich. Ich bin zuversichtlich, dass sich im Laufe der Zeit eine andere Lösung für diese Verpflichtung ergeben wird.”

“Und das ist jetzt alles? Abgesehen davon, dass Ihr vor Eurer Abreise noch dieses Band eingegangen seid?”, wollte Junar mit gerunzelter Stirn wissen.

“Nun, beinahe. Enric hat sich an Ram’an dafür gerächt, dass er seine Hände nicht bei sich behalten hat, indem er ihn gezwungen hat, unsere Zeremonie und die Festlichkeiten in seiner Residenz auszurichten. Dann hat er ihn auch noch dazu gebracht, an der Zeremonie selbst teilzunehmen”, ergänzte Eryn. “Aber das war jetzt alles. Wirklich.”

“Unfassbar”, seufzte Orrin und seine Augen waren voller Erstaunen geweitet. “Eryn, es scheint, als gäbe es wirklich keine Chance, dich lange vor Ärger zu bewahren.”

“Wie war das mit der Zeremonie genau?”, fragte Junar. “Du sagtest, es war ein magisches Band? Wie funktioniert das? Wie der Eid an das Königreich, den man mit aneinander gepressten Händen schwört?”

“So ziemlich, ja”, nickte Eryn. “Abgesehen davon, dass man dafür fünf Hände braucht anstatt nur zwei und man außerdem seinen eigenen Schwur dafür schreiben muss. Enrics Eid hat sich sogar gereimt.” Sie sah zu Orrin hin. “Da gibt es etwas, das ich dich fragen wollte. Enric sagte mir, dass er einmal ein Gedicht über dich schrieb, als er ein Junge war. Und zwar ein beleidigendes.”

Orrin lächelte. “Daran erinnere ich mich, ja. Ich war nicht der einzige Lehrer, dem er diese Ehre angetan hat. Wir verglichen sie und versuchten herauszufinden, wen von uns er am meisten hasst. Lass mich nachdenken…” Er lehnte sich zurück und sah für eine kurze Weile an die Decke, bevor er zu rezitieren begann: “An Orten, wo man Orrin sieht / Liegt oft ein Ohr, ein Fingerglied / Von einem Schüler abgetrennt / Der blutig durch das Land nun rennt.”

Vern starrte zuerst seinen Vater, dann Enric an. “Ihr habt das geschrieben? Ernsthaft?”

“Ich gebe zu, das habe ich. Ich erkenne es wieder”, grinste Enric. “Es ist allerdings nur ein Auszug. Ich bin überrascht, dass Ihr Euch noch an die Worte erinnert, Lord Orrin. Es scheint, als hätte es einen dauerhaften Eindruck bei Euch hinterlassen.”

Orrin lachte leise. “Das hat es in der Tat. Ich war der erste der Lehrer, der auf diese Weise geehrt wurde. Respektlos und beleidigend, aber extrem amüsant zu lesen. Es wurde sogar so schlimm, dass sich die Lehrer, die nicht von dieser Unverfrorenheit betroffen waren, ausgeschlossen fühlten.”

Eryn lachte. “Und du dachtest, dass künstlerisches Talent in diesem Land überhaupt nicht geschätzt wird!”

“Das wurde es auch nicht”, bemerkte Enric, “Für dieses spezielle Gedicht wurde ich zur Arbeit in die Küche geschickt. An die Bestrafungen der anderen Lehrer erinnere ich mich nicht einmal mehr.”

“Dann scheint es, als hätte Euch meine Reaktion ebenfalls beeindruckt”, grinste Orrin.

“So scheint es wohl, ja”, nickte Enric nachdenklich.

“Und heute, etwa zwanzig Jahre später, sitzen der Schmutzpoet und der gnadenlose Lehrer gemeinsam an einem Tisch und essen das Mahl, dass der Schmutzpoet zubereitet hat, weil eure Partnerinnen zufällig Freundinnen sind”, sagte Vern und klang ebenfalls beeindruckt. “Ich wette, wenn das damals jemand vorhergesagt hätte, wärt ihr entweder in Panik verfallen oder hättet abgestritten, dass es jemals soweit kommen könnte.”

“Das ist allerdings wahr”, nickte Orrin. “Aber damals wäre es schon schlimm genug gewesen, wenn man mir gesagt hätte, dass ich mich eines Tages als Lord Enrics Untergebener wiederfinden würde.”

Enric lehnte sich zurück und betrachtete seinen alten Lehrer nachdenklich. “Ich hoffe, es hat sich als nicht ganz so übel für Euch erwiesen.”

Der ältere Mann lächelte. “Es gab ein paar Anlässe, wo Befehlsverweigerung eine attraktive Option zu sein schien. Besonders im Laufe des letzten Jahres.” Sein Blick sprang zu Eryn.

Die beiden Männer lächelten einander schief an, als sie an meisterhaft bezwungene Herausforderungen zurückdachten.

Eryn wechselte einen Blick mit Junar, die ihre Augen zur Decke richtete. Die beiden Männer wirkten viel zu selbstgefällig für ihren Geschmack. Sie lehnte sich nach vorne.

“Von einer Sache habe ich dir noch nicht erzählt. Ich habe es in Takhan ausprobiert und denke, dass du das sehr interessant finden könntest. Die Magier benutzen zum Jagen goldene Gürtel, die ihre Magie blockieren.”

Enric und Orrin tauschten einen leicht panischen Blick. Der eine bei der Aussicht darauf, dass ein weiteres intimes Detail enthüllt wurde, der andere, weil man ihn womöglich dazu drängen könnte, dem Beispiel des jüngeren Mannes zu folgen.

Vern lächelte nachsichtig und stand auf, um an den Barschrank zu treten und kurz darauf mit einer halbvollen Flasche zurückzukehren.

“Ich vermute, ich bin nicht der Einzige, der Nachschub braucht, oder?”, seufzte er und füllte dann die beiden Gläser auf, die hastig in seine Richtung geschoben wurden.

»Ende der Leseprobe«

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„Bindungen“ – Der Orden: Buch 2

Kapitel 1

Pläne

Tyront warf dem jüngeren Mann gegenüber einen Blick zu und brachte die volle, leicht ergrauende Mähne mit seinem nachsichtigen Kopfschütteln zum Tanzen. “Du warst in den letzten Tagen sehr gut gelaunt. Das hat nicht zufällig etwas mit der Abreise eines gewissen Botschafters zu tun?”, lachte er leise.

Enric lächelte schwach und streckte seine langen Beine aus, bevor er seine Knöchel überkreuzte. “Willst du damit andeuten, ich würde die großartigen Chancen, die der Besuch der Delegation dem Königreich eröffnet, nicht schätzen? Das würde bedeuten, dass meine Gesinnung eher unpatriotisch wäre.”

“Nein, mein Junge, ich will damit nur sagen, dass du erleichtert bist, dass er nicht länger versuchen kann, deine Gefährtin von dir wegzulocken.”

Die durchdringenden blauen Augen des jüngeren Mannes verengten sich missbilligend. “Du denkst also, ich hätte befürchtet, er wäre schlussendlich erfolgreich gewesen?”

“Vielleicht hätte er es nicht geschafft, sie wegzulocken, aber womöglich sehr wohl, sie von hier wegzubringen. Ich bezweifle, dass sie freiwillig von hier fortgegangen wäre. Du scheinst ihr ans Herz gewachsen zu sein. Mir ist aufgefallen, dass sie jetzt wesentlich entspannter ist, wenn du sie berührst.”

“Ja, das ist sie. Und das war harte Arbeit. Ich habe sie mehr oder weniger mürbe gemacht”, antwortete Enric mit einem trägen Lächeln, froh darüber, dass sich die Unterhaltung nicht länger um den Botschafter drehte.

Tyront grinste. “Wie hinterhältig. Was führt sie derzeit im Schilde? Das Heilergebäude ist noch nicht fertig, also kann sie dort derzeit weder heilen noch unterrichten. Weißt du, ob sie den jungen Rolan bereits kontaktiert hat?”

“Sie hat erwähnt, dass sie über eine Expedition zum Unterweisen der Kräutersammler nachdenkt. Sie will ihnen beibringen, nach welchen Pflanzen sie suchen sollen, wo sie zu finden sind und wie man damit umgeht, nachdem man sie gefunden hat. Sie wird ihren Assistenten womöglich anweisen, sich diesbezüglich um ein paar organisatorische Angelegenheiten zu kümmern.”

“Du wirkst von dieser Idee nicht allzu begeistert. Ich persönlich denke, dass es eine sinnvolle Verwendung ihrer Zeit wäre, bis sie mit der Nutzung des Gebäudes beginnen kann.”

Enric seufzte. “Ja, ich weiß. Allerdings passt mir der Gedanke, dass sie die Stadt mit einem Haufen Fremder für einige Tage verlässt, ganz und gar nicht. Ich habe angedeutet, dass ich sie begleiten könnte, aber sie hat es als Scherz abgetan und nur gelacht.” Er schüttelte den Kopf. “Könnte ich mit einer offiziellen Anordnung dafür sorgen, dass sie hierbleibt? Würdest du mich dabei unterstützen? Es würde immerhin bedeuten, dass sie ihr Kampftraining und ihre Studien für einige Zeit vernachlässigt.”

Tyront sah ihn ungläubig an. “Soll das dein Ernst sein? Ich kann dich bei so einer Sache nicht unterstützen. Und ich würde sagen, es ist gut, wenn du sie zur Abwechslung etwas allein machen lässt. Sie ist eine fähige junge Frau. Es wird Zeit für sie, etwas anzupacken, ohne dass du ständig bereitstehst, um alles geradezubiegen, das schiefgeht. Oder du sogar von vorneherein verhinderst, dass etwas schiefläuft.”

“Ich tue nichts dergleichen”, erwiderte Enric in dem vollen Bewusstsein, dass er es doch tat.

“Ach nein? Und was ist mit den Magiern, die du zur Baustelle ihres Gebäudes geschickt hast, um sicherzugehen, dass es rechtzeitig fertig wird? Und mit den Verhandlungen mit den Apothekern, zu denen du sie begleiten wolltest?” Tyronts Augen verengten sich. “Ist es möglich, dass du versuchst, ihr zu zeigen, dass sich ihre Erfolgschancen erhöhen, wenn du in der Nähe bist? Kann es sein, dass du tatsächlich so verzweifelt bist?”

Der jüngere Magier wirkte leicht gereizt. “Warst nicht du derjenige, der gepredigt hat, dass ein Anführer auch gleichzeitig ein Mentor sein sollte?”

“Was du betreibst, hat nichts mit der Aufgabe eines Mentors zu tun. Es dient lediglich deinen eigenen persönlichen Zielen anstatt denen deines Protegés”, antwortete der ältere Mann mit hochgezogenen Brauen.

“Das klingt für mich, als wärst du dafür, dass sie etwas ohne meine Hilfe zuwege bringt. Und du wirst ihr somit auch die Erlaubnis für ihre Kräutersammlerexpedition erteilen.”

“Ja. Wenn die Details halbwegs vernünftig sind, werde ich ihr keine Steine in den Weg legen”, sagte er. “Auch wenn es dir fast das Herz bricht, ein paar Tage auf sie verzichten zu müssen.”

“Wie nett. Zuerst drangsalierst du mich jahrelang, damit ich mir endlich ein nettes Mädchen suche, und wenn ich es dann tue, verspottest du mich, weil ich an ihr hänge.” Enric schüttelte den Kopf. “Mir hätte klar sein sollen, dass man es dir nicht recht machen kann.”

Tyront lächelte. “Ich bin sehr zufrieden, glaube mir. Dass du dich in sie verliebt hast, war ein Glücksfall für uns alle. Aber es tröstet mich zu sehen, dass sie dich auf Trab hält. Ein Mann in deiner Position hat eine Menge gefügiger Frauen zur Auswahl. Somit ist die Versuchung, eine auszuwählen, die dir jeden Wunsch von den Augen abliest, auf jeden Fall da. Aber auf lange Sicht ist eine weniger fügsame Partnerin stimulierender.”

“Ja, ich wette, das ist die eine Sache, an der es mir wahrscheinlich niemals mangeln wird: Stimulation”, sagte Enric mit einem schiefen Grinsen. Dann wurde er wieder ernst. “Wie sieht es mit dem Bericht über die Ergebnisse der Verhandlungen mit der Delegation aus? Hat Marrin ihn schon übermittelt? Ich freue mich schon darauf, ihn zu lesen. Ich bin neugierig, worauf man sich geeinigt hat. Warum genau nochmal war der Orden nicht an den Gesprächen beteiligt?”

“Weil es vorwiegend um Handelsangelegenheiten ging, und das ist keiner der Fach- oder Verantwortungsbereiche des Ordens.”

“Ah ja, die Krieger werden nur eingeladen, wenn die Handelsgespräche fehlschlagen und wir ihnen die Köpfe einschlagen sollen”, erwiderte Enric säuerlich.

“Sieh dich nur an… Es steckt also doch ein wenig von deinem Vater in dir. Verspürst du den Drang, zu deinen Wurzeln zurückzukehren – ein Kaufmann zu sein und Verträge auszuhandeln?”

Der jüngere Mann verzog das Gesicht bei der Erwähnung seines Vaters. “Kaum. Sag mir bloß nicht, dass du glücklich darüber bist, dass wir außen vor gelassen wurden? Es gibt wertvolles Wissen über Magie in den Westlichen Territorien, also sehe ich nicht ein, warum wir nicht berechtigt waren, an den Verhandlungen teilzunehmen.”

“Ich denke, du überschätzt den Fortschritt und die Tiefe der Gespräche. Es ging größtenteils darum, eine vorläufige Handels- und Nachrichtenstruktur zu etablieren, Informationen über verfügbare Handelsgüter auszutauschen sowie einen Wechselkurs für die Währungen festzulegen.”

Enric grinste. “Sie haben es also nicht wirklich geschafft, dich ganz auszuschließen, nicht wahr?” Er lehnte sich nach vorne. “Ich frage mich, wer dein Informant ist. Aber das wirst du mir natürlich nicht sagen.”

Tyront hob seine Schultern. “Natürlich nicht. Geh und such dir deine eigenen Agenten in nützlichen Positionen.”

Als es an der Tür klopfte, blickten sie auf. Ein Diener überreichte seinem Herrn eine gefaltete Nachricht. Der ältere Mann drehte sie um und warf einen Blick auf das Siegel.

“Ah, ja. Ich sehe, dass Eryn endlich ihr eigenes Siegel hat.” Einige Sekunden lang betrachtete er die geschwungenen Linien, die ein elegantes Ornament formten. “Interessant. Es erinnert mich an dein eigenes, was wohl kaum ein Zufall ist, wie ich vermute.”

“Nein, keineswegs. Ich habe Vern entsprechend instruiert, und er hat in Rekordzeit ein Design geliefert. Sehr nützlich, der Junge. Wir sollten ihn wirklich im Auge behalten. Ich schätze, sie hat dir die Anfrage für ihre Expedition geschickt?”

Tyront öffnete das Siegel, las und nickte kurz darauf. “Ja, in der Tat. Sie erbittet für zehn Tage Verpflegung für sich selbst, eine weitere Person und fünfzehn Kräutersammler.”

“Eine weitere Person?”

“Ja. Es scheint, als würde sie den jungen Vern mitnehmen wollen, damit er Zeichnungen für Dokumentationszwecke anfertigt. Sie erwähnt, dass sie ein Buch mit Anweisungen schreiben will, für das diese unverzichtbar wären.” Er warf einen Blick auf ein zweites Blatt Papier, das beigefügt war. “Sie hat sogar einen von Orrin unterzeichneten Brief mitgeschickt, in dem er zustimmt, seinen Sohn für die Dauer der Expedition in ihre Obhut zu übergeben. Ich mag diese kleinen Zeichen der Achtsamkeit.” Er las den Brief erneut. “Seltsam, sie hat keine Diener für die Reise angefordert. Ich gehe nicht davon aus, dass sie beabsichtigt, für all diese Leute jeden Abend das Lager vorzubereiten und zu kochen. Also werde ich zwei weitere Leute bewilligen, die sich darum kümmern.”

Enric lächelte, als ihm eine Idee kam. “Schick Plia, das Waisenmädchen aus der Küche, mit. Eryn hatte in den letzten Wochen kaum Gelegenheit, Zeit mit ihr zu verbringen, und ich weiß, dass sie sich deswegen schlecht fühlt.”

“Plia, das Küchenmädchen, geht in Ordnung.” Tyront machte sich eine Notiz. “Irgendwelche Vorlieben bezüglich der zweiten Person?”

“Nein, nicht wirklich. Aber es sollte jemand sein, der schwer heben kann und kein Problem damit hat, die Befehle einer Frau zu befolgen.”

“Nun, letzteres würde dich ohnehin ausschließen”, sagte Tyront mit einem dünnen Lächeln. “Ich habe immerhin Jahre gebraucht, bis du Befehle vom König angenommen hast. Siehst du? Es wäre vollkommen sinnlos, wenn du sie begleiten würdest.”

* * *

Eryn klopfte an die Tür zu Orrins Quartier und lächelte, als Junar öffnete.

“Hallo. Ich laufe dir hier in letzter Zeit immer öfter über den Weg. Warum machst du dir überhaupt noch die Mühe, nach Hause zu gehen?”, grinste sie.

“Weil ich eine unabhängige Frau mit meinem eigenen Einkommen bin und meinem Liebhaber nicht auf der Tasche liegen will – deshalb”, erklärte Junar mit gespieltem Hochmut.

“Liebhaber.” Eryn schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und betrachtete die zierliche Frau vor sich, deren Erscheinungsbild in ihrem fließenden Kleid so viel weiblicher war als der nüchterne Stil, den sie selbst bevorzugte: Hose und Tunika und eilig geflochtene Haare, die ihren Rücken hinabhingen. “Ich habe noch immer Probleme damit, Orrin mit diesem Begriff in Verbindung zu bringen.”

“Gut”, sagte die Schneiderin. “Ich würde auch nicht wollen, dass du auf diese Weise an ihn denkst.”

“Da besteht keine Gefahr, Süße. Er gehört ganz dir. Ist der Sechzehnjährige meines Herzens in der Nähe? Ich habe gute Nachrichten für ihn.”

“Er ist in seinem Zimmer mit seiner Nase in einem Buch. So wie immer, wenn er nicht gerade irgendeinen Körperteil zeichnet, den kein normaler Mensch identifizieren kann. Sei vorsichtig mit diesem Monster, das du mitgebracht hast. Es hat ein garstiges Gemüt.”

Eryn runzelte die Stirn. “Monster? Meinst du den Kater, den ich hergebracht habe, damit er übt, wie man Weichteilgewebe repariert? Er ist noch immer hier? Warum? Er sagte mir, dass er ihn nur noch füttern und dann wieder freilassen wollte. Das war vor mehr als einer Woche!”

Junar nickte ernst. “Ja, das war der ursprüngliche Plan. Aber irgendwie hat es die Bestie geschafft, Vern einer Gehirnwäsche zu unterziehen, sodass er sie jetzt behält. Sie schläft jetzt in seinem Bett, isst übriggebliebenes Fleisch und pinkelt auf alles, was irgendwie teuer aussieht.”

“Meine Güte”, sagte Eryn und verzog mitleidig das Gesicht. Sie fühlte sich ein wenig schuldig. “Soll ich mit ihm darüber reden?”

Junar seufzte. “Nein, das ist Orrins Problem, also soll er sich darum kümmern. Sein Sohn, sein Quartier, seine Verantwortung. Allerdings befürchte ich, dass irgendwann kein Diener mehr einwilligen wird, sein Quartier zu reinigen. Stinkende, nasse, tropfende Gegenstände wegzuräumen oder vom Verursacher attackiert zu werden, ist kaum ein Anreiz, hier zu arbeiten.”

Eryn biss sich auf die Lippe. “Und jetzt ist der Kater in seinem Zimmer? Wohin ich gehen soll?”

“Du hast ihn eingefangen, also weißt du offensichtlich, wie du mit ihm umgehen musst. Und du kannst dich mit einem Schild schützen. Worin genau liegt die Gefahr für dich?”

“Nun, ihn einzufangen war nicht wirklich eine Angelegenheit, die für mich mit großer persönlicher Gefahr verbunden war”, gab sie zu. “Ich habe ihn im Grunde betäubt und über meiner Schulter hergetragen. Er könnte sich daran erinnern und sich an mir rächen.”

Junar warf ihr einen spöttischen Blick zu. “Du hast den Kater mit Magie ausgeschaltet, um ihn zu fangen? Das war wahrlich ein heroischer Akt. Es ist ja nicht so, als wärst du um ein Vielfaches größer als die arme Kreatur.”

“Geh du einmal da hinaus und versuch, eines dieser durchtriebenen Biester mit deinen nackten Händen zu fangen, dann reden wir weiter”, schoss Eryn zurück. “Die haben Krallen. Und Zähne. Und sind blitzschnell. Hab ich die Krallen erwähnt? Wahrhaftige Dolche, sage ich dir. Und plötzlich ist es eine arme Kreatur? Vor einer Minute hast du noch von einem Monster gesprochen!”

“Sagt die Frau, die sich selbst sofort heilen kann. Ich habe noch nichts gehört, das deine Angst, dort hineinzugehen, rechtfertigen würde. Also ab mit dir. Sonst muss ich dich an deinem Ohr hineinziehen”, grinste die Schneiderin.

Eryn richtete sich auf. “In Ordnung. Ich fürchte mich nicht vor einem Kater. Ich fürchte mich nicht vor einem Kater. Ich kann ihn wieder betäuben, falls nötig…” Sie klopfte an Verns Tür und öffnete sie, als er etwas Unverständliches grummelte.

Er war über ein Buch auf seinem Schreibtisch gebeugt, und die Spitzen seiner zu langen Stirnfransen berührten fast das Papier. Der enorme, rote Kater war auf seinem Bett zusammengerollt und öffnete bei ihrem Eintreten ein Auge. Seine Schwanzspitze zuckte in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung, versprach aber dennoch Schmerzen, falls eine sorglose Person sich unangemessene Freiheiten herausnahm – wie beispielsweise, ihm zu nahe zu kommen.

“Gute Nachrichten”, kündigte sie vergnügt an. “Die Expedition ist bewilligt worden! In nicht mehr als drei Wochen brechen wir zu zehn Tagen Wildnis und Kräutersammeln auf!”

Vern blickte auf, blinzelte ein paarmal, um die Welt der Hautkrankheiten hinter sich zu lassen und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

“Das ist großartig”, grinste er dann. “Ich hätte nicht gedacht, dass dich Lord Enric wirklich fortgehen lässt.”

“Was soll das denn heißen?” schnaubte sie entrüstet. “Ich bin eine erwachsene Frau und eine wichtige Person in diesem verfluchten Orden. Natürlich lässt er mich gehen!” Sie erwähnte nicht, dass Enric mehrmals versucht hatte, sie davon abzubringen, angedeutet hatte, sie begleiten zu wollen und sehr wahrscheinlich Agenten angeheuert hatte, um sie im Auge zu behalten. Das würde bedeuten, dass Vern Recht hatte, und das wäre einfach nicht richtig. Wenngleich das grundsätzlich der Fall war.

“Wann reisen wir nochmal ab?”, fragte der Junge und rieb sich die Hände.

“In drei Wochen. Es ist vorher noch einiges zu planen, und ich schätze, das ist eine gute Gelegenheit für meinen neuen Assistenten, um mit seiner Arbeit zu beginnen. Auch wenn das offiziell erst in ein paar Wochen geplant war. Aber ich denke, es ist eine gute Idee, jemanden hier zu haben, der sich um die Dinge kümmert, solange ich weg bin. Ich werde ihm also schonend beibringen, dass er früher als geplant starten muss. Er wird begeistert sein”, fügte sie trocken hinzu.

Vern grinste breit. “Hey, wenn du ihn nicht wieder dorthin trittst, wo es am meisten wehtut, habt ihr einen besseren Start als beim letzten Mal.”

“Großartig. Warum genau nehme ich dich nochmal mit, damit ich dich dann den ganzen Tag um mich habe?”

“Weil du jemanden brauchst, der gut zeichnen kann. Und es scheint, als wären meine Fähigkeiten in der Stadt beispiellos”, erwiderte er selbstgefällig.

“Ja, genau. Ich wusste, dass es einen guten Grund geben muss, warum ich willens bin, mir das anzutun.”

“Würdest du lieber Rolan mitnehmen? Er könnte eine Doppelfunktion als dein Diener übernehmen”, meinte der Junge mit einem boshaften Grinsen.

“Halt die Klappe oder du wirst die Doppelfunktion als mein Diener übernehmen”, drohte sie sanft. “Das würde Plias Arbeit zweifellos erleichtern.”

“Plia kommt auch mit?”, lächelte Vern. “Wunderbar. Es wird nett sein, zumindest ein freundliches weibliches Gesicht dabeizuhaben.”

“Willst du damit sagen, dass mein Gesicht nicht freundlich ist?”

“Ernsthaft, wirfst du nach dem Aufstehen niemals einen Blick in den Spiegel? Ich frage mich, wie Lord Enric das aushält.”

Sie sah ihn an und seufzte. “Weißt du, ich beginne mich zu fragen, wie schwer Zeichnen wirklich sein kann. Vielleicht könnte ich es innerhalb von drei Wochen erlernen.”

“Nur zu, versuch es”, grinste er. “Du wirst zu mir zurückkehren und mich auf Knien anflehen, dich zu begleiten.”

Sie seufzte. “Ja, wahrscheinlich.” Als sie sich anschickte, sich auf sein Bett zu setzen, warnte sie ein leises Knurren, das lieber noch einmal zu überdenken. “Warum ist der Kater noch immer hier? Ich dachte, du wolltest ihn nach dem Aufwachen nur füttern, um dein schlechtes Gewissen zu beruhigen und ihn dann wieder loswerden? Er sieht ziemlich wild aus. Hat er schon jemanden gefressen?”

Vern sah verletzt aus. “Ram’an, so etwas würdest du niemals tun, nicht wahr?”, gurrte er und liebkoste den Kater hinter einem Ohr, ohne dabei gebissen, gekratzt oder sonst irgendwie verletzt zu werden.

Eryn zog eine Braue hoch. “Du hast den Kater nach dem Botschafter benannt? Wirklich? Das ist schräg, sogar für deine Verhältnisse.”

“Warum? Ich mag den Botschafter. Ich weiß, dass du irgendeine Auseinandersetzung mit ihm hattest, aber das ist geklärt, oder? Es ist also nicht illoyal von mir, wenn ich seinen Namen für den Kater verwende.”

Sie seufzte. “Nein, nicht wirklich. Ich bin nur verwundert darüber, dass du ihn behalten hast. Ich meine, er ist ein Straßenkater, und Junar hat erwähnt, dass er herumpinkelt.”

“Das ist eine krasse Übertreibung. Das war nur, weil Ram’an keine Toilette hatte.”

“Und jetzt hat er eine?”

“Ja, er hat eine Kiste mit Sägespänen. Und er benutzt sie auch. Er pinkelt nur auf Vaters Schuhe, wenn er aufgebracht ist.”

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. “Ich muss wirklich vorsichtiger sein, was ich für deinen Unterricht verwende. Wenn ich dich anweise ein Pferd zu heilen, wird das dann auch in deinem Zimmer landen? Und wer soll sich um diese Bestie kümmern, während du auf der Expedition bist? Wenn er andere Leute ebenso freundlich behandelt wie mich, wird sich ihm niemand nähern wollen.”

“Ach, das ist kein Problem”, winkte Vern ab. “Er braucht nur zweimal pro Tag sein Futter und seine Kiste einmal pro Tag gereinigt. Die Diener können das machen. Er schläft meistens, also wird er niemanden belästigen. Es ist allerdings schade, dass wir im ersten Stock sind. Er kann so nicht durch das Fenster hinaus und wieder herein.”

“Hast du es versucht?”

“Habe ich was versucht?”

“Das Fenster offenzulassen, du Genie. Darunter ist ein Vorsprung, der um das gesamte Gebäude herum verläuft. Er könnte einen Weg hinunter und wieder herauf finden. Du wärst erstaunt, was manche dieser kleinen Kerle zuwege bringen.”

Vern betrachtete den Kater zweifelnd. “Ich weiß nicht. Er könnte weglaufen und nie wieder zurückkehren.”

Kaum, dachte Eryn. Warum sollte er zwei Mahlzeiten am Tag und einen warmen Schlafplatz aufgeben? Aber sie sagte stattdessen: “Du würdest ihn doch nicht hier festhalten wollen, wenn er nicht bleiben will, oder? Ich muss dir wohl kaum sagen, was ich davon halte, jemanden gefangen zu halten, oder doch?”

Er seufzte. “In Ordnung. Ich werde es versuchen. Ich verspreche es.”

Gut, dachte sie. Mit ein wenig Glück würde der Kater den Weg zurück nach oben nicht mehr finden, und Orrin würde ihr irgendwann die tierischen Attacken auf seine Schuhe verzeihen.

“So, ich muss jetzt los, um meinen neuen Assistenten zu finden.” Sie pflasterte ein breites, künstliches Lächeln auf ihr Gesicht. “Das wird so ein Spaß.”

* * *

Sie fragte sich, was wohl der beste Ort war, um Rolan zu treffen. In ihrem Quartier? Nicht gut, sie hatte dort nicht wirklich ein Arbeitszimmer. Und das von Enric zu benutzen, war absolut keine Option. Obwohl sie wusste, dass er es ihr mehr als bereitwillig zur Verfügung stellen würde, fühlte es sich einfach nicht richtig an. Der Salon war zu formlos, und das Gästezimmer war nicht mehr als eine Sammlung von Büchern und Dokumenten. Sie würden auf dem Bett sitzen müssen, und das war alles andere als angemessen.

Was für ein Ärgernis, dass das Heilergebäude noch nicht fertig war. Sie entschied, dass sie Lord Tyront fragen würde, ob sie einen der Besprechungsräume, den der Orden zur Verfügung hatte, benutzen konnte. Das war offiziell – vielleicht ein wenig zu sehr – aber dagegen ließ sich derzeit nichts machen.

Sie zog ein Blatt Papier und einen Stift heran und kritzelte eine schnelle Notiz. Dann verschloss sie sie mit ihrem neuen Siegel und wies den Boten an, nach der Zustellung auf eine Antwort zu warten. Falls Lord Tyront gerade zuhause war, sollte es nur ein paar Minuten dauern, bis sie ihre Antwort hatte; ihre Quartiere waren nicht besonders weit voneinander entfernt.

Sie griff nach einem weiteren Blatt und begann, eine Nachricht an Rolan zu verfassen, um ihn zu sich zu rufen. Sie überlegte, was die beste Art war, das zu tun. Es wie eine Einladung zu formulieren, würde schwach wirken. Ein Befehl wäre wohl etwas harsch. Eine Bitte? Aber das würde die Möglichkeit einer Weigerung offen lassen, nicht wahr? Sie entschied sich schließlich, es wie einen Befehl, der es im Prinzip war, zu formulieren.

Ein Klopfen an der Tür brachte Lord Tyronts Antwort, in der er sie wissen ließ, dass es ihr freistand, jeden Besprechungsraum zu nutzen, den sie jetzt und in Zukunft für welchen Zweck auch immer als dienlich erachtete. Das war praktisch. Sie entschied sich, den Raum zu verwenden, den sie für ihre Verhandlungen mit den Apothekern kannte. Zumindest war er einfach zu finden.

Sie stellte die Nachricht an Rolan fertig. Sie instruierte ihn, sie in einer Stunde zu treffen und Stift und Papier mitzubringen, da dies sein erster Arbeitstag als ihr Assistent sein würde.

Es wäre eine Erleichterung, ihn den Großteil der Arbeit in Verbindung mit der Expedition erledigen zu lassen. Enric hatte sie wenig subtil darauf hingewiesen, dass er von ihr erwartete, dass sie einiges an Studien und Kampftraining, das sie vermissen würde, vorab erledigte. Das bedeutete noch mehr Stunden des Lesens und des Kämpfens zusätzlich zu ihren Heilerstunden mit Vern.

Aber sie war gewillt, das in Kauf zu nehmen für die Chance, zum ersten Mal seit zehn Monaten der beengten Stadt zu entfliehen. Sie hatte beinahe ihr ganzes Leben lang zwischen Bäumen gelebt, Kräuter gesammelt, in Teichen und Flüssen gebadet. Und nun war sie seit einiger Zeit schon auf einen Ort beschränkt, wo es nicht mehr als ein paar magere Bäume gab und einen Fluss, mit dem sie lieber keinen Kontakt riskieren wollte. Zumindest nicht mit dem Stück in und flussabwärts der Stadt. Wieder wirkliche Erde unter ihren Füßen zu spüren, das Rauschen des Windes in den Blättern über sich zu hören… Andererseits… mit sechzehn Männern im Freien zu schlafen, keine Sanitärräume, den Elementen ausgeliefert, ergänzte ein anderer Teil in ihr und wurde ärgerlich zum Schweigen gebracht.

Es schien, als hätte sie sich an den Luxus des Lebens in der Stadt gewöhnt, überlegte sie. Vielleicht war es höchste Zeit, wieder mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, sich daran zu erinnern, dass es im Leben nicht nur um weiche Betten, reichliche Frühstückstabletts und heiße Bäder ging.

* * *

Sie wandte sich von dem hohen Fenster ab, als das laute Klopfen an der Tür durch das geräumige Besprechungszimmer mit der gewölbten Decke und dem ovalen Tisch mit den sechs unbequem aussehenden Stühlen hallte. Ein Diener öffnete die Tür, verbeugte sich und kündigte Rolan an.

Wie sie erwartet hatte, wirkte er nicht allzu erfreut darüber, ihr wieder zu begegnen. Ob das daran lag, dass er so unversehens herzitiert worden war oder an seiner neuen Position im Allgemeinen, konnte sie nicht sagen. Aber sie hatte sich das hier ebenfalls nicht ausgesucht, also würden sie beide sich wohl irgendwie damit arrangieren müssen. Sie war älter, weiser und damit reifer und bekleidete einen höheren Rang. Somit war sie wahrscheinlich diejenige, die dafür Sorge tragen musste, dass dies irgendwie funktionierte.

“Lady Eryn”, sagte er förmlich und verbeugte sich, als der Diener sie allein gelassen hatte. Er trug die übliche braune Robe der Magier. Seine blonden Haare reichten bis zu seinem Kragen und waren hinter seine Ohren zurückgestreift. Seine Haltung war steif, womöglich wegen seines Unmuts über seine neue Position, und er vermied den Blickkontakt mit Eryn, so gut er es vermochte. Er machte sich nicht die Mühe, die Tatsache zu verbergen, dass ihm das Treffen mit ihr keinerlei Vergnügen bereitete, sondern eine Störung war, die er zu erdulden hatte.

Er war zweiundzwanzig Jahre alt, überlegte sie. Nur sechs Jahre älter als Vern, aber wesentlich weiter fortgeschritten, was Zynismus und Missbilligung betraf. Nun, zumindest im Hinblick auf Missbilligung. Für einen Jungen seines Alters war Vern ungewöhnlich zynisch und sarkastisch.

“Rolan.” Sie nickte ihm zu, kam näher und bedeutete ihm, Platz zu nehmen, während sie selbst vorerst stehenbleiben würde. Sollte sie ihm dafür danken, dass er gekommen war? Es war nicht so, als hätte er in dieser Angelegenheit wirklich eine Wahl gehabt. Ihm zu danken, würde womöglich wie Spott wirken.

“Ich schätze es, dass du so kurzfristig gekommen bist”, sagte sie und entschied, dass es richtig klang. “Du wurdest darüber informiert, dass wir unsere Zusammenarbeit in ein paar Wochen beginnen sollten. Es hat sich aber bereits jetzt etwas ergeben, wo ich deine Hilfe benötige. Ich hoffe, das bereitet dir keine allzu großen Unannehmlichkeiten.”

“Nein”, erwiderte er steif und fand es offensichtlich immens unangenehm, hier sitzen zu müssen.

“Gut”, quittierte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ich sehe, dass du Stift und Papier dabei hast.” Sie zeigte auf ihre eigenen Zettel, die sie mitgebracht hatte und schob sie auf dem Tisch in seine Richtung. “Die erste Aufgabe, bei der ich deine Unterstützung benötige, ist die Planung einer Expedition, die in drei Wochen losgehen soll. Ihr Zweck ist es, die…”

“Eine Expedition?”, unterbrach sie der junge Mann und legte die Stirn in Falten. “Ich habe keine Ahnung, wie man eine Expedition plant! Was soll ich denn da machen?”

“Zuerst einmal wirst du den Mund halten und mir zuhören, wenn ich rede”, erwiderte sie harsch. “Du könntest immerhin etwas Nützliches dabei lernen.”

Sie sah, wie er seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammenpresste. Fabelhaft. Ihn zu rügen war definitiv kein guter Start.

“Wie ich dir gerade zu erklären versucht habe”, fuhr sie fort, “ist der Zweck dieser Expedition, die Kräutersammler zu unterrichten, wo man Pflanzen für Medizin und medizinische Behandlungen findet und wie man damit umgeht. Ich habe bereits mit ein paar von ihnen gesprochen und eine zehntägige Route festgelegt.” Sie beugte sich vor, hob ein Blatt hoch und schob es zu ihm. “Die blaue Linie auf dieser Karte zeigt den Weg, den ich festgelegt habe. Ich will, dass du das an dich nimmst und eine Akte mit allen für diese Reise erforderlichen Informationen zusammenstellst. Lass von allem eine Kopie anfertigen, damit jeder von uns beiden eine vollständige Version hat.”

Er zog das Papier an sich und betrachtete es mit einem Stirnrunzeln. “Das ist kompletter Unsinn.”

“Wie bitte?”, sagte sie eisig mit auf den Rücken gelegten Händen und wartete darauf, dass er aufsah.

“Bei den meisten der Plätze, die Ihr markiert habt, ist keinerlei Unterkunft in der Nähe. Wo habt Ihr denn die Nachtquartiere geplant?”

“Wir werden im Wald ein Lager errichten, Stadtjunge. Und wir müssen daran arbeiten, wie du deine Einwände künftig auf eine respektvollere Art und Weise kundtust”, fügte sie hinzu und stöhnte innerlich. Das klang sehr stark nach jemandem, den sie ständig beleidigt hatte. War sie dabei, sich in eine weibliche Version von Tyront zu verwandeln? Sicher nicht!

“Lass mich das anders ausdrücken”, sagte sie zuckersüß und beugte sich zu ihm hinab, während sie ihre Handflächen auf dem glatten, polierten Holz der Tischplatte abstützte. “Wenn du jemals wieder irgendetwas, das ich sage, als Unsinn bezeichnest, werde ich deinen jämmerlichen Hintern von hier bis zum Meer treten. Habe ich mich klar ausgedrückt?” Sie lächelte, als er nach einem Moment des Zögerns nickte. Gut. Das hatte sich schon viel eher nach ihr selbst angefühlt.

“Ausgezeichnet. Zurück du den Lagern. Da wir die meiste Zeit nicht in Tavernen bleiben werden, brauchen wir Zelte, länger haltbare Lebensmittel sowie Kochutensilien und vernünftige Kleidung für die Reise durch den Wald. Für die Nächte brauchen wir auch warme Decken. Es wird bereits wärmer, aber der Winter ist noch nicht vollständig vorbei. Zumindest sollten wir keinen Schnee haben. Hoffe ich.”

Sie sah zu, wie er die Punkte, die sie aufgezählt hatte, auf seinem Notizblock vermerkte und wartete, bis er fertig war. Dann setzte sie fort: “Dann brauchen wir Ausrüstung für das Verarbeiten und Aufbewahren der Kräuter. Ich habe hier schon eine Liste vorbereitet.”

Er nahm das zweite Blatt Papier wortlos in Empfang, betrachtete es und schnitt dann eine Grimasse.

“Was ist jetzt? Stimmst du meiner Auswahl nicht zu? Dann gehe ich davon aus, dass du über weitreichende Fachkenntnisse betreffend die Verarbeitung von Heilkräutern verfügen musst, um das beurteilen zu können?”, sagte sie mit scharfer Stimme und verschränkte die Arme.

Rolan warf ihr einen verärgerten Blick zu. “Dazu kann ich nichts sagen. Eure Handschrift zu entziffern, ist eine ziemliche Herausforderung. Oder ist das die Art, wie man in den Westlichen Territorien zu schreiben pflegt? In diesem Fall würde ich Eure Ladyschaft gnädigst um eine Übersetzung bitten.”

Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Das war witzig gewesen, aber sie konnte es nicht wirklich zugeben. Sie schüttelte ihren Kopf und spitzte die Lippen. “Dann werden wir dich wohl an meine Handschrift gewöhnen müssen.” Sie schenkte ihm ein boshaftes Lächeln. “Oder, falls du einen Ansatz vorziehst, der für deine armen Augen weniger belastend wäre, kannst du auch ständig hinter mir herlaufen und mein Diktat aufnehmen. Würde dir das nicht einiges an Aufwand ersparen?”

Er schluckte, und sie konnte sein Unbehagen bei dem Gedanken, überall für jeden sichtbar mit einem Notizblock hinter ihr her zu trotten, deutlich auf seinem Gesicht erkennen.

“Ich denke, ich werde es noch einmal mit der Liste versuchen”, versicherte er ihr eilig.

“Gut, darauf hatte ich gehofft”, nickte Eryn und kehrte dann zu den Gegenständen für die Expedition zurück. „Wir benötigen genug Papier und Tinte zum Zeichnen für Vern. Und etwas, worin wir seine Arbeiten hinterher aufbewahren können, ohne dass sie zerreißen, nass werden oder sonst irgendwelchen Schaden nehmen. Ich bin noch nie mit Büchern oder Dokumenten gereist, du wirst dir hier also etwas überlegen müssen.”

Sie ging ein paar Schritte und murmelte dann mehr zu sich selbst: “Habe ich noch etwas vergessen?”

“Waffen”, erwiderte Rolan prompt.

Sie drehte sich mit einem Stirnrunzeln zu ihm um. “Was? Das ist kein Raubzug, sondern eine Expedition zur Ausbildung von Kräutersammlern! Oder schlägst du vor, dass wir ein paar Dörfer plündern und niederbrennen, wenn wir schon dabei sind?”

Er rollte ungeduldig mit den Augen. “Und was ist, wenn Ihr überfallen oder angegriffen werdet? Werdet Ihr einfach nur einen großen, starken Schild um alle herum errichten und warten, dass Eure Angreifer so lange darauf einschlagen, bis sie außer Atem sind?”

“Wir reden hier über Kräutersammler, nicht schlachtgestählte Krieger! Sie würden sich sehr wahrscheinlich mit einer scharfen Klinge, die länger als ein Kräutersammlermesser ist, nur selbst verletzen.”

“Und Eure Waffen, Lady Eryn? Oder beabsichtigt Ihr, hier völlig unbewaffnet abzureisen? Und ohne jemanden, der weiß, wie man ein Schwert benutzt? Werdet Ihr allein eine Gruppe von siebzehn Leuten beschützen, falls nötig? Nach gerade einmal zehn Monaten Kampftraining?” Er kämpfte sichtbar um Gelassenheit. “Nun, das sollte meine Position wohl bald überflüssig machen.”

“Hey!”, rief sie fassungslos aus. “Ich wäre dir dankbar, wenn du hier nicht verfrüht mein vorzeitiges Ableben planen würdest!”

“Fiele mir im Traum nicht ein”, murrte er missmutig und gab vor, etwas aufzuschreiben. “Gibt es sonst noch etwas, oder kann ich gehen?”

“Nein, das ist alles von meiner Seite. Für den Moment. Ich erwarte regelmäßige Statusberichte über deinen Fortschritt. Wenn ich nichts von dir höre, werde ich kommen und dich finden. Und dich zum Reden bringen.” Sie lächelte süffisant. “Nimm den leichten Weg und informier mich einfach, ja?”

Er starrte sie ein paar Augenblicke lang an, dann verbeugte er sich und zog sich hastig zurück.

Eryn ließ sich auf einen Stuhl fallen und spürte, wie die Anspannung, jetzt, wo Rolan weg war, aus ihrem Körper wich. Das war nicht so schlecht gelaufen, nicht wahr? Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass das Treffen harmonisch ablaufen würde. Nicht wenn beide Seiten unwillig waren zusammenzuarbeiten und sich nicht die Mühe machten, das zu verbergen. Aber zumindest war er hier mit einem klaren Arbeitsauftrag abgezogen, richtig? Sie seufzte. Hoffentlich würde er zumindest ein paar der Sachen erledigen, damit sie sich nicht um alles allein kümmern musste.

* * *

“Guten Tag”, grüßte Enric sie von einem der Sofas aus und legte sein Buch zur Seite, als sie den Salon betrat. “Wie ist dein Treffen mit Rolan gelaufen?”

Sie seufzte. “Wie kommt es, dass du darüber Bescheid weißt? Mir war nicht einmal bewusst, dass du heute irgendeine Verabredung mit Lord Tyront hattest.”

“Hatte ich nicht wirklich. Zumindest nichts Offizielles. Er hat mir bei unserem gemeinsamen Mittagessen erzählt, dass du einen Ort für ein Treffen mit deinem Assistenten benötigst.”

“Wenn ihr also keinen arbeitsbezogenen Grund habt, euch zu sehen, esst ihr gemeinsam?” Sie schüttelte den Kopf.

“Nicht vom Thema abweichen. Erzähl mir von Rolan. Ist es gut gelaufen?”

“Oh, ja. Fabelhaft. Er ist ein richtiger Schatz. Ich würde ihn wirklich gerne adoptieren. Darf ich, bitte?”, bettelte sie mit gespieltem Eifer.

“Kaum”, lachte Enric leise. “Er ist nur fünf Jahre jünger als du, was bedeutet, dass er großjährig ist. Die Leute würden denken, dass du einfach nur deinen Liebhaber einziehen lassen willst.”

Sie zog eine Grimasse bei dem Gedanken an Rolan in ihrem Bett. “Nun, dann vielleicht lieber doch nicht.”

“Ich stimme zu. Es lief also nicht ganz so, wie du es dir erhofft hast?”, fragte er zum dritten Mal, entschlossen, nicht aufzugeben.

“Ich weiß es nicht.” Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa, ließ sich von ihm auf die Schläfe küssen und nahm einen Schluck von seiner Tasse auf dem Tisch. Enric spielte mit einer ihrer Haarsträhnen, zufrieden mit der gemütlichen, intimen Situation zwischen ihnen und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

“Ich denke, es hätte schlimmer laufen können. Er hat den Raum nicht schreiend, sondern eher verhalten fluchend verlassen. Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr? Und ich habe ihn kein einziges Mal getreten, obwohl es ein paar Gelegenheiten gab, wo ich das wirklich wollte. Also würde ich sagen, dass ich große Zurückhaltung im Angesicht meiner neuen Herausforderung in Form meines sehr widerwilligen Assistenten gezeigt habe.”

“Ich bin so stolz”, schmunzelte Enric. “Erst vor kurzer Zeit warst du die Gefangene, und jetzt unterdrückst du bereits andere.”

Sie grinste. “Was soll ich sagen? Ich lerne offenbar schnell.” Dann biss sie sich auf die Unterlippe und dachte zurück an das, was Rolan gesagt hatte. “Denkst du, ich sollte Waffen auf die Expedition mitnehmen?”

“Auf jeden Fall”, antwortete er, ohne zu zögern. „Ich könnte mir vorstellen, dass du so ziemlich die einzige sein wirst, die weiß, wie man sie benutzt. Falls es also irgendwelche Probleme gibt, solltest du vorbereitet sein.”

„Aber ich bin eine Magierin! Warum sollte ich Schwerter benutzen?”

Enric starrte sie an. „Weil es sehr strenge Gesetze gibt, um mit Magiern zu verfahren, die ihre Kräfte gegen Nicht-Magier einsetzen.”

“Was? Aber genau das mache ich doch beim Heilen”, strich sie sachlich hervor.

“Du weißt, was ich meine. Die Regeln kommen zur Anwendung, wenn es um weniger freundschaftliche Zwischenfälle geht. Wie um einen Kampf.”

“Auch wenn es sich dabei um bloße Verteidigung handelt?”, fragte sie ungläubig.

“Das würdest du dann hinterher beweisen müssen. Wenn es auch nur den Schatten eines Zweifels gibt, wirst du für jeden Schaden, den du angerichtet hast, zur Rechenschaft gezogen. Der König muss zeigen, dass er uns unter Kontrolle hat, und aus deinen Studien der Geschichtsbücher sollte dir klar sein, weshalb. Es gab in der Vergangenheit ein paar… unangenehme Zwischenfälle mit abtrünnigen Magiern.” Er legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. “Was denkst du, weshalb wir wirklich Schwertkampf trainieren, Eryn? Wohl kaum, um uns gegen andere Magier zur Wehr zu setzen. Wir können so sicherstellen, dass wir uns gegen Nicht-Magier verteidigen können, da wir aufgrund der Gesetze sonst nicht in der Lage wären, einem Kampf standzuhalten.”

Eryn starrte ihn mit offenem Mund an. Dann stand sie auf und lief aufgebracht im Salon auf und ab. Sie warf die Hände frustriert und verärgert hoch. “Ich werde noch verrückt mit euch allen! Warum hat mir das in all diesen Monaten, in denen ihr mich zum Kampftraining gezwungen habt, nie jemand gesagt? Ich meine, diesen Grund hätte ich verstanden!”

“Was meinst du damit – niemand hat dir davon erzählt?”

Sie starrte an die Decke. “Genau was ich gesagt habe! Kein einziger von euch mächtigen Kriegern hat es der Mühe wert erachtet, mir mitzuteilen, warum ich das lernen musste! Es wäre nicht gar so eine Tortur gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass es einen berechtigten Grund dafür gibt! Ihr verfluchten Idioten, jeder einzelne von euch!”

Sie sah zu Enric hinab und verengte die Augen, als sie ihn lachen hörte. “Tyront hat dir das also nie gesagt? Und Orrin ebenfalls nicht? Aber du hast monatelang täglich mit ihm trainiert! Er hat nie erwähnt, warum?”

“Ich bin so froh, dass dich das erheitert! Ich sehe absolut nicht, was daran komisch sein soll. Und gib bloß nicht Orrin die Schuld! Du trainierst mich jetzt seit zwei Monaten – und hast du dir jemals die Mühe gemacht, etwas darüber zu sagen? Nein, das hast du nicht!”, rief sie aus.

“Das hätte ich, wenn mir bewusst gewesen wäre, dass es niemand sonst getan hat.”

“Wir hatten Diskussionen über dieses Thema! Ich habe dir gesagt, dass ich all dieses Kämpfen für eine Verschwendung von Zeit und Magie halte! Warum hast du da nichts gesagt?”

Er zuckte die Schultern. „Ich dachte, du wolltest einfach nur schwierig sein. Logische Argumente funktionieren kaum jemals, wenn jemand nur Dampf ablassen will.”

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich glaube das einfach nicht. Und ich habe das nur zufällig herausgefunden, weil ich nicht daran gedacht hätte, ein Schwert zur Expedition mitzunehmen. Stell dir vor, ich hätte mich während eines Angriffs mit Magie verteidigt! Ich hätte schwer bestraft werden können, ohne in diesem Moment zu wissen, dass ich das Gesetz breche!”

Enric wurde wieder ernst. “Ja, da ist die eine Sache, die gefährlich gewesen wäre.” Damals, während ihres Fluchtversuchs, als sie die Torwachen ausgeschaltet hatte, war sie nur deshalb damit durchgekommen, weil sie noch immer gefangen gewesen und es somit praktisch erwartet wurde, dass sie die Gesetze brach. Zudem war auch niemand wirklich zu Schaden gekommen. Also war man mehr als willens gewesen, sie damit davonkommen zu lassen – besonders, da sie zu der Zeit noch nicht an den Orden und dessen Regeln gebunden war.

“Ich verstehe, weshalb du verärgert bist. Und du hast Recht. Jemand hätte es dir sagen sollen. Du wärst also weniger widerspenstig gewesen, wenn dir klar gewesen wäre, dass der Grund für unser Kampftraining der Schutz der Nicht-Magier ist?”

“Natürlich! Ich hätte euch nicht so sehr gehasst dafür, dass ihr mich zwingt zu lernen, wie man Schaden zufügt, wenn mein Lebenszweck das Heilen, nicht das Verletzen von Menschen ist. Ich hätte akzeptiert, dass dies einfach ein Weg ist, um unnötige Verletzungen zu vermeiden.”

Er seufzte. “Es scheint, als hätten wir uns allen das Leben schwerer als nötig gemacht.” Dann lächelte er. “Stell dir vor, ich hätte dich so viel früher wieder in mein Bett bekommen können.”

Sie schnaubte. “Träum weiter, Schönling. Ich hätte dich nicht weniger gehasst, nachdem du mir ständig das Bewusstsein geraubt und den Schild meines Vaters in mir übernommen hast. Ohne deinen kleinen Trick, mich nach meinem Fluchtversuch in deinem Quartier einzusperren, hättest du mit deinem nächsten Versuch wohl bis zur nächsten Nacht der Ungezwungenheit warten müssen.”

Er lächelte selbstbewusst. “Nein, so lange hätte ich nicht gewartet, glaub mir. Nicht, nachdem ich dich an diesem Tag auf der Straße geküsst hatte. Das hat mich sehr eindrucksvoll daran erinnert, was mir gefehlt hat.”

Sie starrte ihn verwirrt an. “Wie sind wir jetzt bei diesem Thema gelandet? Ich bin noch immer böse mit dir, weil du mir nichts über die Gesetze gegen den Einsatz von Magie gegen Nicht-Magier gesagt hast.” Sie seufzte und warf ihm einen verärgerten Blick zu. “Es ist eine ziemliche Herausforderung, mit dir über etwas zu reden, bei dem du dich nicht wohl fühlst. Du bringst mich ständig vom Thema ab.”

“Nicht besonders effektiv, wie es scheint”, bemerkte er. “Du schaffst es immer wieder, dazu zurückzukehren, mich zu tadeln.”

“Ja, genau. Als ob das wirklich einen Unterschied machen würde. Was soll ich denn jetzt machen? Im Alleingang mit einem Schwert Horden von Angreifern abwehren? Ist es mir überhaupt gestattet, mich mit einem Schild zu schützen?” Ihre Gedanken sprangen zurück zu dem Vorfall, als sie Plia zum ersten Mal getroffen und sie mit einem Schild vor den Steine werfenden Rüpeln gerettet hatte.

“Ja, Schilde gehen in Ordnung. Man kann Leute nicht mit einem magischen Schild verletzen.” Er runzelte die Stirn. “Außer…”

“Außer was?”

“Außer du sperrst sie mit einer luftdichten Barriere ein und lässt sie ersticken.”

“Jetzt hör aber auf!”, rief sie aus. “Wer würde denn so etwas tun?”

“Du wärst überrascht was Menschen tun, wenn sie um ihre eigene oder die Sicherheit ihrer Lieben bangen”, sagte er ruhig. Er dachte daran, wie er sie bewusstlos auf dem Boden hatte liegen sehen, während die Apotheker in einer Ecke gekauert saßen. Sein eigenes Leben war damals keinerlei Gefahr ausgesetzt, aber er war willens gewesen, begierig sogar, ihnen wehzutun, sie vor Schmerzen zuckend zu Boden zu schicken. Hätte Tyront ihn nicht dann und dort aufgehalten, hätte wohl niemand sagen können, was passiert wäre.

Sie betrachtete ihn aufmerksam. “Das klingt, als hättest du persönliche Erfahrung mit dem Thema.”

“Sagen wir einfach, dass ich einmal recht nahe dran war, dieses spezielle Gesetz zu brechen”, sagte er und lächelte gezwungen.

“Es ist also in Ordnung, wenn ich mich mit einem Schild schütze, ohne meinen Angreifern Schaden zuzufügen. Dann sollte es auch möglich sein, den Rest der Expedition so zu schützen. Allerdings geht das nur, wenn sie nahe genug beieinanderstehen.”

“Grundsätzlich ja.”

“Wie sieht es damit aus, meine Geschwindigkeit und Stärke zu erhöhen, wenn ich gegen einen Nicht-Magier kämpfe? Ist das erlaubt?”

“Ja, das ist sogar empfehlenswert. Sonst hätte Orrin beim Training nicht solchen Wert auf diese Fertigkeiten gelegt. Du bist allerdings dazu aufgerufen, diesen erheblichen Vorteil dazu zu nutzen, deinen Angreifer nur zu entwaffnen und nicht zu töten. In diesem Fall hättest du dich immer noch zu rechtfertigen. Allerdings wäre es nicht ganz so problematisch wie im Fall eines Lochs in der Brust, das von einem Blitz verursacht wurde.”

Sie zuckte die Achseln. “Damit habe ich kein Problem. Ich bin nicht erpicht darauf, jemanden zu töten, weder mit Magie, noch mit meinen Händen.”

“Gut. Der Gedanke, dass du voller Blutdurst auf der Suche nach wehrloser Beute durch die Wälder streifst, hätte ein gewisses Unbehagen bei mir verursacht”, sagte er und erhob sich, als ein Klopfen an der Tür ertönte. “Dem Klopfen nach zu urteilen, ist das Tyront.”

Und tatsächlich trat der Anführer des Ordens nur wenig später ein.

“Lady Eryn”, nickte er und nahm ihre Verbeugung zur Kenntnis.

“Lord Tyront”, erwiderte sie.

“Wie ist das Treffen mit dem jungen Rolan gelaufen?”, fragte er und nahm Platz.

Sie unterdrückte ein Lächeln. Er war also gekommen, um zu sehen, wie gut seine Rache funktionierte. Wie charmant.

“Unerwartet produktiv”, antwortete sie ernst. “Ich habe ihn in die Planung meiner Expedition miteinbezogen, und er hat die Aufgaben, die ich ihm übertragen habe, akzeptiert. Natürlich wird sich erst herausstellen, wie gut er sie erledigen wird.”

Tyront betrachtete sie und nickte dann. “Es freut mich, das zu hören. Wie geht die Planung voran?”

“Es gilt noch, das eine oder andere herauszufinden”, meinte sie mit einem Schulterzucken. “Aber nichts Unüberwindliches, würde ich sagen.”

Enric reichte seinem Vorgesetzten eine dampfende Tasse. „Wir haben gerade über die Gesetze über die Anwendung von Magie gegenüber Nicht-Magiern diskutiert. Es scheint, als hätte Eryn bis gerade eben nicht darüber Bescheid gewusst.”

“Wie bitte?” Tyront runzelte die Stirn. “Wie ist das möglich? Sie ist seit mindestens zehn Monaten hier.”

“Ja, sagt das mir”, murmelte sie und verschränkte die Arme.

“Lord Orrin hat das Euch gegenüber nie erwähnt?” fragte der ältere Mann ungläubig.

“Nein, und auch keiner von euch”, betonte sie, genervt, dass die Schuld schon wieder auf Orrin geschoben wurde.

“Nun, dann können wir uns wohl glücklich schätzen, dass Ihr Euch bislang soweit zurückgehalten habt, zumindest diese eine Regel nicht zu brechen.”

Sie warf ihm einen entnervten Blick zu, schwieg aber. Sie vermutete, dass er sie absichtlich provozierte. Vielleicht war er enttäuscht über ihren Bericht über das Treffen mit Rolan und hatte stattdessen auf Verzweiflung und Chaos gehofft. Er suchte also womöglich nach einem anderen Grund, um sie für etwas zu bestrafen. Aber nein, nicht heute.

Tyront schmunzelte, als hätte sie soeben seine Vermutung bestätigt. Sie jedoch blieb still und funkelte ihn nur an.

Enric beobachtete die beiden und verbarg sein Lächeln. Sie hatte dazugelernt. Gut.

“Wir haben auch über den Schutz der Expedition gesprochen. Als einzige Magierin und trainierte Kämpferin – wenn wir Vern hier nicht mitzählen – könnte es eine Herausforderung werden, Angreifer abzuwehren.”

Der ältere Magier nickte. “Ja, darüber habe ich ebenfalls nachgedacht. Ich werde die Teilnehmerzahl auf dreiundzwanzig erhöhen. Vier Schwertkämpfer sollten zusätzlich zu Euch, Lady Eryn, ausreichend sein.”

“Oh, nein”, stöhnte Eryn. “Das würde heißen, dass er Recht hatte und ich falsch lag. Und dass ich es offen zugeben muss.”

“Tja, Liebste, so scheint es wohl”, grinste Enric und fügte hinzu: „Ich rede also besser mit Rolan, da er die Planung jetzt übernommen hat.”

“Nein”, protestierte sie. “Du wirst es ihm nicht sagen, sondern ich. Du hast gesagt, ich könnte jetzt selbst unterdrücken.”

Tyront bedachte Enric mit einer hochgezogenen Augenbraue und schüttelte langsam den Kopf. “Das hast du ihr gesagt? Tatsächlich? Ich bin froh, dass du so ein lobenswertes Vorbild bist”, bemerkte er.

“Ach, Lord Tyront”, erwiderte Eryn mit kalkuliertem Spott, “weshalb sollte ich dafür auf ihn angewiesen sein, wenn Ihr selbst so ein strahlender Stern an beispielhafter Führung seid?”

Er sah sie an und schürzte die Lippen, hin und her gerissen zwischen Belustigung über ihre vorsichtig formulierte Beleidigung und Erstaunen über ihre Unverfrorenheit, ihn, wie subtil auch immer, überhaupt zu beleidigen.

Da er gute Laune hatte, entschied er sich, Humor zu zeigen und hob mit einem dünnen Lächeln seine Tasse.

 

Kapitel 2

Vorbereitungen

“Was ist los? Du wirkst etwas verdrossen”, bemerkte Enric vom Türrahmen zu seinem Arbeitszimmer, seinem bevorzugten Beobachtungsposten, aus.

Eryn blickte zu der hochgewachsenen Gestalt auf und seufzte. “Ich hatte auf ein paar Bewerbungen für die drei offenen Positionen als Heilerlehrlinge gehofft, aber bisher tut sich hier gar nichts. Es scheint, dass Lord Poron, Vern und ich selbst die einzigen sind, die an dem Beruf interessiert sind. Das enttäuscht mich etwas”, gab sie zu. “Aber ich schätze, meine Erwartungen waren wohl etwas zu hoch. Es geht immerhin darum, Menschen zu überzeugen, die schon ihr Leben lang denken, Kriegskunst sei der einzige Weg für einen Magier, um ein wahrhaft wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein. Sie sehen wahrscheinlich nur eine Frau, einen halbwüchsigen Jungen und einen alten Mann und denken, dass das die Art von Image ist, das einen Heiler erwartet.”

Enric blieb stumm. Er wusste, dass dies tatsächlich der Fall war, wollte es aber ungern bestätigen. Und außerdem arbeitete er bereits an einer Idee, um diese Sichtweise zu ändern.

“Wir könnten eine öffentliche Ankündigung für alle Magier machen”, schlug er vor. “Man könnte herausstreichen, dass nur die fähigsten und passendsten Kandidaten in Betracht gezogen werden.”

“Ich befürchte, das wird kaum einen Unterschied machen, wenn es ohnehin niemand tun will. Es gibt hier nicht viel Wettbewerb, gegen den es sich durchzusetzen gilt”, sagte sie müde.

Er kam näher und ging vor ihr in die Hocke. “Komm schon. Tyront und ich könnten auch ein paar Worte sagen und betonen, wie wichtig diese neue Einsatzmöglichkeit für unsere Kräfte ist, welche Ehre sie bringen wird.”

Sie konnte nicht anders als grinsen. “Ja, ich sehe schon, dass dies einen ziemlich beachtlichen Eindruck hinterlassen würde, wenn es von zwei Kriegern kommt. Warum nimmst du nicht Orrin noch mit dazu, nur um es für das Publikum so richtig spaßig zu gestalten?”

“Dein Mangel an Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des hohen Kommandos des Ordens schockiert mich, meine Liebste.”

“Gut. Der Gedanke, dass ich bereits nach der kurzen Zeit, in der wir zusammen leben, die Fähigkeit verloren haben könnte, dich zu überraschen, wäre mir ein Graus gewesen.”

“Kaum”, neckte er sie, “du überrascht mich jeden Morgen, wenn du es schaffst, dich für deine Termine aus dem Bett zu quälen. Allerdings muss ich sagen, dass du mir noch unwilliger als sonst erscheinst, wenn du für dein Kampftraining aufstehen musst. Oder ist das nur mein Eindruck?”

Sie lachte, so wie er gehofft hatte, und tätschelte seine Wange. „Das bildest du dir nur ein, Enric. Ich finde es nicht schlimmer, für unsere Verabredungen aufzustehen als für all die anderen.”

“Das ist eine Erleichterung. Denke ich.” Er schnappte sich ein Brötchen von ihrem Frühstückstablett und erntete dafür einen vernichtenden Blick. „Sei nicht gierig, da sind noch zwei weitere.”

“Ich wollte die, die ich jetzt nicht esse, mitnehmen. Ich nehme gerne hin und wieder einen Bissen zu mir, wenn ich eine Pause einlege.”

“Sag mir nicht, dass dich Lord Poron in der Bibliothek essen lässt?”

“Das weiß ich nicht, ich habe es nie gewagt, das herauszufinden. Ich gehe dafür immer hinaus. Man muss in der Gegenwart von Büchern Respekt zeigen”, zitierte sie ihren Vater.

Er sah zu, wie sie das halb verspeiste Brötchen von ihrem Teller nahm und es in ihr Getränk eintauchte, bevor sie hineinbiss. Er erinnerte sich, wie sie ihm erzählt hatte, dass es eine Angewohnheit aus ihrer Kindheit war, an der sie trotz der gegenteiligen Bemühungen ihres Vaters festgehalten hatte.

“Wie sieht dein Tagesplan heute aus? Geschichte? Schlachtstrategien? Botanische Studien?” Er grinste, als er Letzteres aussprach.

Sie kicherte. “Ja, genau. Von eurem Haufen brauche ich unbedingt Unterricht in Botanik. Der Orden unterscheidet nur zwischen zwei maßgeblichen Eigenschaften bei einer Pflanze: essbar oder nicht.”

“Nicht mehr, Liebste. Jetzt, da wir dich bei uns haben, tun wir so viel mehr. Es scheint, als hättest du das Konzept, dich selbst als Teil des Ordens zu betrachten, noch nicht ganz verinnerlicht.”

“Was soll ich sagen? Wann immer ich etwas vollkommen Idiotisches und Nutzloses sehe, versuche ich, mich davon zu distanzieren.”

“Ich verstehe.” Er spitzte die Lippen, nicht sehr angetan von ihrer Beschreibung der Institution, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. „Solltest du nicht eher versuchen, die Dinge zu verändern, die du als nutzlos erachtest, anstatt zu vermeiden, damit in Berührung zu kommen?”

“Meine Güte, du ermutigst wohl nicht etwa die Revolutionärin in mir, oder doch? Ich frage mich, ob ich Lord Tyront darüber in Kenntnis setzen sollte”, schnaubte sie.

Er erschauderte. „Ich fürchte den Tag, an dem du und Tyront euch gegen mich verbündet.”

Sie erinnerte sich schuldbewusst daran, dass sie eigentlich genau das bereits getan hatten. Sie verbargen immer noch die Wahrheit über das Ausmaß ihrer Auseinandersetzung mit Ram’an vor Enric. Er wusste nach wie vor nicht, dass Ram’an zuerst eine Wahrheitssperre angewendet hatte, um sie zu befragen, und dann versucht hatte, sie in seinem Quartier einzusperren.

“Also, welchen Torturen wirst du dich heute stellen müssen?”, formulierte er seine Frage um.

“Politische Strategien oder so etwas, glaube ich. Lord Poron hat für die nächsten paar Tage einen neuen Stapel an Büchern für mich vorbereitet.”

“Gut. Das sollte ein einigermaßen nützliches Fach für dich sein, wenn du ihm genug Beachtung schenkst. Wann ist übrigens die Prüfung in Geschichte angesetzt?”, erkundigte er sich weiter.

“In zehn Tagen. Und fünf Tage danach werde ich in Schlachtstrategien getestet. Es scheint, als wollten sie alle die Prüfungen erledigt haben, bevor ich mit den Kräutersammlern aufbreche”, sagte sie mit einer Grimasse. Der Zeitplan klang zermürbend, wenn sie ihn wiederholte.

“Lord Poron ist derjenige, der dich bei Politischen Strategien betreut, nicht wahr? Er möchte dich möglicherweise ebenfalls testen, bevor du abreist.”

“Ja, das hat er mir schon mitgeteilt. Aber ich habe mich mit ihm darauf geeinigt, den Stoff aufzuteilen. Ich werde nur die Hälfte jetzt lernen und den Rest, nachdem ich zurückgekehrt bin. Habe ich erwähnt, dass ich ihn mag?”

Enric lächelte. “Nein, aber es ist dennoch offensichtlich. Ich finde es recht interessant, wie du es schaffst, dich mit den hohen Rängen im Orden anzufreunden.”

“Wie mit Lord Tyront?”, fragte sie ihn verschmitzt.

“Mit ihm wohl nicht gerade, aber du bist mit der Nummer zwei verbunden und mit Nummer vier und fünf aus den hohen Rängen befreundet.”

“Ja, genau. Als ob ich diejenige war, die sich die Verbindung zu dir ausgesucht hat, Nummer zwei.”

Er grinste. “Ich gebe zu, dass du ein wenig Hilfe dabei hattest, diese Entscheidung zu treffen. Sag mir nicht, dass du sie bereust? Du solltest dich nach einem Monat noch immer in dieser glückseligen Phase kurz nach dem Kommitment befinden.”

“Glückselige Phase kurz nach dem Kommitment? Ach, in der sollen wir uns derzeit befinden? Falls ja, graut mir davor, wenn uns der triste und langweilige Alltag einholt. Keine Kämpfe, Manipulationen, Drohungen und ähnlich erfreuliche Begebenheiten mehr.”

Er zog sie lachend in seine Arme. “Keine Sorge, solange ich dein Vorgesetzter bin und du meinen Befehlen folgen sollst, wird es immer Kämpfe und Drohungen zwischen uns geben.”

“Welch Erleichterung”, lachte sie und wand sich aus seinen Armen. “Ich befürchte, ich muss jetzt los. Auf mich wartet zweifellos faszinierende Lektüre darüber, wie ich meine Feinde glauben lasse, dass sie meine Freunde sind, während mir bewusst ist, dass ein Freund wenig mehr ist als ein Feind, den ich mich noch nicht zu töten entschlossen habe.”

“Nein, Liebste, das wäre Diplomatie. Bei Politischer Strategie geht es darum, deine Feinde mit einem Lächeln im Gesicht anzulügen, während du im Stillen Pläne zu ihrer Vernichtung schmiedest.”

Sie schüttelte den Kopf. “Weißt du, das klingt immens deprimierend. Ich hoffe wirklich, dass ich nie wichtig genug sein werde, um all dieses schreckliche Wissen tatsächlich einzusetzen.” Sie lächelte strahlend. “Aber vielleicht muss ich das gar nicht! Als Frau habe ich immer noch die weniger komplizierte Option zur Verfügung, mir Männer gefügig zu machen, indem ich sie mit zu mir ins Bett nehme, richtig? Klassische weibliche Strategie.”

Enric zog eine Augenbraue hoch und lächelte dünn. “Das, liebste Lady Eryn, würde ich nicht empfehlen. Sonst würdest du herausfinden, dass die Leute, die du dir zu Willen machen willst, eine Tendenz haben, unter sehr verdächtigen Umständen dahinzuscheiden.”

Sie runzelte die Stirn in gespielter Verwirrung. „Das klingt jetzt überhaupt nicht mehr nach Politischer Strategie. Zu direkt und offensichtlich, überhaupt nicht raffiniert und subtil.”

“Nein”, stimmte er mit einem dunklen Gesichtsausdruck zu. “Das ist ganz schlicht und einfach Eifersucht. Weniger kompliziert, aber in meinem Fall wesentlich gefährlicher.”

* * *

Eryn stand auf, um die Tür zu öffnen. Plia, vermutete sie. Und tatsächlich stand das Mädchen dort, strahlend und kaum in der Lage, ihre Aufregung im Zaum zu halten. Zumindest ließ die rastlose Energie, die sie ausstrahlte, das vermuten.

“Eryn!”, rief sie aus und drückte die Magierin fest.

Die Frau lächelte und wartete, bis die glücklicherweise mittlerweile weniger dünnen und schwachen Arme sie wieder losließen, damit sie das Mädchen hereinbitten und die Tür schließen konnte.

“Stimmt es wirklich? Ich werde tatsächlich mit auf deine Expedition kommen?” Plias große Augen waren vor Begeisterung geweitet.

Eryn nahm ihre Hand und nickte. “Ja. Enric hat es vorgeschlagen, und ich muss sagen, dass es eine fabelhafte Idee ist. Ich war nicht wirklich sicher, ob du dich bei dem Gedanken an eine zehntägige Reise durch die Wildnis wohlfühlen würdest. Aber deiner Reaktion gerade eben entnehme ich, dass ich mir darüber keine Sorgen hätte machen müssen.”

“Ich war noch nie zuvor außerhalb der Stadt”, gab das Mädchen zu. “Ich bin deswegen ein kleines bisschen nervös, aber solange du dabei bist, habe ich keine Angst.”

“Das ist ein großer Vertrauensbeweis, aber Vern wird auch dabei sein. Und auch noch vier bewaffnete Männer, um uns zu beschützen. Du brauchst dich also nicht zu fürchten, auch wenn ich aus irgendeinem Grund gerade nicht um dich bin”, lächelte sie.

“Vern kommt auch mit?”, fragte Plia in einem Tonfall, der ganz offensichtlich beiläufig wirken sollte.

Eryn beobachtete, wie eine leichte Röte in Plias Wangen stieg und fragte sich, ob diese Schwärmerei für Vern niedlich war, oder ob das später zu Ärger führen könnte. Es war wahrscheinlich harmlos. Plia war dreizehn Jahre alt, noch immer mehr Kind als Frau, und Vern hatte sie noch nie als etwas anderes als eine jüngere Schwester behandelt, soweit Eryn das bisher beobachtet hatte.

“Ja, er wird die Chance nutzen und etwas über Botanik lernen und auch die Zeichnungen anfertigen, die ich für die Bücher für die Kräutersammler brauche. So können sie die Pflanzen später nachschlagen, wenn wir wieder zurück sind.”

Das Mädchen wirkte plötzlich besorgt. “Eryn, ich habe keine Ahnung, was ich für die Reise brauche. Ich habe ein wenig Geld gespart und…”

“Kleine Blume, das ist genau der Grund, warum ich dich für heute eingeladen habe. Junar wird jeden Moment eintreffen, und sie wird sich um die Kleider kümmern, die du brauchen wirst. Und mach dir keine Sorgen um das Geld. Der Orden wird sich darum kümmern.”

“Der Orden?”, flüsterte sie ehrfürchtig. “Aber ich bin doch kein Mitglied!”

“Aber ich, und ihnen ist daran gelegen, mich zufriedenzustellen”, lächelte Eryn. “Du brauchst dich also deswegen nicht schuldig zu fühlen – die haben mehr Geld als sie brauchen.” Sie legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern. “Bist du in den letzten zwei Monaten gewachsen? Mir kommt vor, als müsste ich mich zu deinen Schultern nicht mehr so weit nach unten beugen.”

“Ein wenig”, lächelte Plia. “Koch sagt, das liegt an den regelmäßigen Mahlzeiten und der ordentlichen Arbeit. Allerdings bin ich bei zweiterem etwas skeptisch. Ich hätte vielmehr gedacht, dass schweres Heben das Wachstum eher stoppt, weil es mich nach unten zieht.”

Eryn lachte und trat von ihr weg. “Lass mich dich einmal richtig ansehen.” Und das tat sie. Weniger blass, nicht mehr so dünn, Muskeln von der Arbeit, adrett und sauber, ordentlich gekämmtes Haar, passende Kleidung. Ein viel besseres Bild als das, an das sie sich erinnerte, als sie einander kennengelernt hatten. Sie dachte mit einem warmen Gefühl daran, dass Orrin derjenige war, der diese Veränderung ermöglicht hatte. Er hatte ihr angeboten, Plia die Lehrstelle in der Palastküche zu verschaffen als Gegenleistung dafür, dass Eryn an dem Wettkampf teilnahm.

Sie hörten ein weiteres Klopfen, und Plia schickte sich an, die Tür zu öffnen, doch Eryn hielt sie zurück. “Nein, du bist nicht als meine Dienerin hier. Zumindest jetzt noch nicht. Du bist mein Gast, und als solcher brauchst du die Tür nicht zu öffnen.”

Junar wehte herein, einen großen, schwarzen Sack über ihre Schulter geschwungen. Sie setzte ihn auf der nächsten verfügbaren freien Fläche ab. “Meine Güte, das ist schwer!”

“Neue Tasche?”, fragte Eryn und beäugte die Monstrosität. “Was hast du da drin? Dein gesamtes Geschäft?”

“Nein, nur ein paar Sachen, die jede aufstrebende, begehrte Schneiderin benötigt, um professionell arbeiten zu können.” Sie grinste. “Orrin hat sie für mich anfertigen lassen. Ich habe mich entschieden, dass ich ihm erlaube, mich gelegentlich zu beschenken. Um ihn glücklich zu machen.”

“Um ihn glücklich zu machen? Wie rücksichtsvoll von dir”, grinste Eryn.

“Plia, mein liebes Kind!”, sagte Junar und küsste das Mädchen auf die Wangen. “Sieh dich an, du bist gewachsen! Und wirst wohl noch weiterwachsen für die nächsten drei oder vier Jahre. Ich denke, das werden wir bei der Länge berücksichtigen müssen, damit dir die neuen Sachen länger passen.” Dann drehte sie sich zu ihrer Freundin. “Was ist mit dir? Du hast bisher auch nichts für die Expedition in Auftrag gegeben. Sag mir nicht, dass du vorhast, mit den schönen Stadtkleidern, die ich dir gemacht habe, durch den Wald zu stapfen? Dafür würde ich dir die Haut bei lebendigem Leibe abziehen!”

Eryn seufzte. “Dann sage ich das wohl besser nicht und bestelle stattdessen einige Hosen und Oberteile, die sich für das Stapfen eignen, schätze ich mal?”

“Braves Mädchen”, nickte die Schneiderin offensichtlich zufrieden und wandte sich wieder an Plia. “Dir ist klar, dass du auch Hosen tragen wirst müssen? Ich hoffe, das wird nicht zu unangenehm für dich. Aber ein Kleid ist wirklich keine gute Wahl, wenn man bedenkt, wohin ihr wollt.”

“Das geht schon in Ordnung, es stört mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, ich freue mich darauf. Hosen erscheinen mir so viel praktischer, und trotzdem müssen wir die ganze Zeit Kleider tragen!”

Junar seufzte. “Oh, nein. Das ist Eryns schlechter Einfluss. Als Vorbild ist sie ganz klar nicht geeignet, zumindest nicht wenn es um Mode geht.”

“Sagt die Frau, die meine Kleidung macht”, kommentierte besagtes Vorbild. “Das ist keine sehr schmeichelhafte Einschätzung deiner eigenen Fähigkeiten, liebste Freundin.”

“Meine Fähigkeiten sind nicht das Problem, Eryn, sondern der Widerstand, auf den sie ständig stoßen”, schoss sie zurück.

“Doch wohl nicht ständig? Was ist mit all den Kleidern, die du für mich genäht hast? Ich habe jedes einzelne davon getragen, oder etwa nicht?”

“Das ist wohl wahr”, gab Junar zu, “aber das war jedes Mal ein Kampf. Plia, mein Schatz, warum ziehst du nicht deine Schuhe und das Kleid aus und kletterst auf diesen Stuhl hier? Ich würde jetzt gerne deine Maße nehmen.”

Plia zog sich gehorsam aus und stieg in ihrer Unterwäsche auf den Stuhl. Junar fragte sie nach ihren bevorzugten Farben und den Arbeiten, die ihr während der Expedition übertragen werden würden, um den Schnitt und das Material an die Herausforderungen anzupassen.

“Eryn, ich nehme an, du wirst im Dreck nach Pflanzen graben, auf dem kalten, harten Boden knien, auf Felsen herumklettern und eine Menge anderer Dinge tun, die alles, was ich dir mache, strapazieren und zerreißen werden?”

“Absolut richtig”, bestätigte sie fröhlich. “Und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue.”

“Ja, das kann ich mir vorstellen. Wenn etwas nicht damenhaft ist, kann ich mich darauf verlassen, dass es dir gefällt. Das heißt, dass ich dir ein paar zusätzliche Hosen anfertigen werde. Lord Enric würde es mir nicht danken, wenn ich dich unter all diesen Männern mit zerrissener Kleidung herumlaufen ließe.”

“Ja, wir sollten uns wirklich darauf konzentrieren, was Enrics Bedürfnisse für diese Expedition sind, nicht wahr?” Eryn verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

“Das solltest du wohl besser. Seine Beschützerinstinkte sind sehr stark, wenn es um dich geht. Ich wette, er ist nicht allzu glücklich darüber, dass du ihn so lange allein lässt, um dich mit so vielen Fremden in ein Abenteuer zu stürzen.”

Die Magierin seufzte. “Beschützerinstinkte? Versuch es stattdessen mit besitzergreifend. Er ist ein erwachsener Mann. Du musst ihn nicht bedauern. Er wird sich wohl irgendwie beschäftigen können, solange ich weg bin.”

Junar wirkte überrascht. “Du bist unglaublich unsensibel! Ich frage mich, ob es dich wirklich so wenig kümmert, wie sehr er dich vermissen wird, oder ob du das einfach nur vorgibst.”

“Jetzt hör aber auf! Ich lebe jetzt gerade mal einen Monat lang mit ihm zusammen! Ich wage zu behaupten, dass er meine Abwesenheit irgendwie überstehen wird. Und wir reden hier von zehn Tagen, nicht zehn Monaten!”

Plias Blick sprang, fasziniert von dem Austausch, von einer Frau zur anderen und wieder zurück.

Die Schneiderin seufzte und schüttelte den Kopf. “Ich hoffe wirklich, dass du ihn dort draußen in der Wildnis so richtig vermissen wirst. Wenn du nachts allein in deinem frostigen Lager liegst, dich niemand in den Armen hält und deine Decke das einzige ist, was dich wärmt. Das würde dich im Nu dazu bewegen, ihn mehr zu schätzen.”

“Denkst du nicht, dass das Frieren in der Wildnis mich eher dazu bringt, sein Quartier zu schätzen als ihn selbst?”, erwiderte Eryn und duckte sich rasch, als ein zusammengerolltes Maßband auf sie zugeflogen kam.

* * *

Eryn hob die Papiere hoch, die im Laufe des Tages für sie abgegeben worden waren. Enric hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, diese zu sammeln und auf der Kommode neben der Tür zu hinterlegen. Die war sie noch immer nicht losgeworden, so wie sie es geschworen hatte, nachdem sie sich in einer beschwipsten Nacht den Zeh daran gestoßen hatte.

Es war der dritte von Rolan’s Berichten, den sie bisher erhalten hatte. Er schickte sie regelmäßig jeden zweiten Tag, was ihr sehr gut passte. Er hatte begonnen, die Gegenstände, die sie ihm aufgetragen hatte zu besorgen, zusammenzutragen und in einem Lagerraum zu hinterlegen. In den letzten sechs Tagen hatten sie nicht mehr als kurze Nachrichten ausgetauscht, Fragen gestellt und beantwortet. Er hielt sie mit Kopien der Zettel für ihre Akte auf dem Laufenden, darunter eine Liste mit den Namen aller Teilnehmer, Checklisten mit Fortschrittsberichten und Vorschlägen, wie man die Zeichnungen sicher transportieren konnte. Die verfügbaren Boxen und Truhen waren für den Transport in einer Kutsche gedacht und für einen Pferderücken ungeeignet, weil sie viel zu sperrig und schwer waren. Eine Möglichkeit war, die Papiere die ganze Zeit über mit einem Schild zu schützen, aber das erschien ziemlich unpraktisch. Eine weitere Idee war, sie in ein Öltuch einzuschlagen, was auf jeden Fall eine Überlegung wert war. Vielleicht konnte Lord Poron dabei behilflich sein, hier eine brauchbare Lösung zu finden. Sie würde Rolan anweisen, mit ihm in Kontakt zu treten.

* * *

Eryn hob eine der flachen Holzboxen hoch, die Rolan zu ihrem zweiten Treffen gebracht hatte, und wog sie in einer Hand.

“Die ist ziemlich schwer”, kommentierte sie. “Dir ist schon klar, dass wir auf Pferden durch den Wald reiten, oder? Und dass wir mehr als eine davon brauchen, da sie ziemlich flach sind?”

Der junge Mann biss die Zähne zusammen. “Zur Auswahl stehen entweder ein wenig mehr Gewicht oder nasse Papiere. Trefft Eure Wahl.”

Zu ihrer Überraschung stellte Eryn fest, dass sie diebische Freude dabei empfand, ihren Assistenten zu piesacken und fragte sich, ob sie deswegen zerknirscht sein sollte. Nein, entschied sie, sicher nicht. Aber zumindest war ihr jetzt klar, warum es Lord Tyront so viel Vergnügen bereitete, sie zu reizen. Die Privilegien des Führens, sinnierte sie. Vielleicht würde sie sich ja doch noch daran gewöhnen, eine Position mit Autorität und Wichtigkeit im Orden innezuhaben…

“Hmm. Warum ist die Box überhaupt so schwer?”

Er nahm sie ihr wortlos aus den Händen, öffnete einen Verschluss und ließ eine weitere, noch flachere Box herausgleiten.

Eindrucksvoll, dachte sie. Zwei Boxen, die nahtlos ineinander glitten, um zu verhindern, dass Wasser durch eine Öffnung eintreten konnte. Die Oberfläche war glatt, wahrscheinlich mit einer Art Ölfarbe behandelt, um das Wasser abzuhalten.

“Interessant. Was denkst du, wie viele Blätter in eine davon hineinpassen?”

Rolan zuckte mit den Achseln. “Ich habe es geschafft etwa zwanzig hineinzustopfen, aber sie sehen nicht mehr so gut aus und sind verknittert, wenn man sie wieder herausnimmt. Fünfzehn sollten in Ordnung gehen.”

Sie biss sich auf die Unterlippe während sie zusah, wie er die Boxen wieder ineinanderschob. Er hatte ihre Frage vorausgesehen und es zuvor ausprobiert. Das war beachtlich. Nicht gerade das, was sie erwartet hätte von jemandem, der solch offensichtlichen Widerwillen zeigte, wenn es darum ging, mit ihr zu arbeiten.

“Ich denke, dann werden wir vier Boxen nehmen. Nicht einmal Vern sollte es schaffen, während unseres Ausflugs mehr als sechzig Zeichnungen fertigzustellen. Und wir werden wohl ohnehin kaum auf so viele verschiedene Pflanzen stoßen.”

Er zog sein Notizbuch heraus, ein kleineres dieses Mal, und machte eine Anmerkung.

“Wie geht die Planung sonst voran? Irgendwelche Schwierigkeiten soweit?”

“Nein”, sagte er nur und zuckte dann mit den Schultern. “Außer Eure Möbel. Die brauchen eine Menge zusätzlicher Packtiere, und die sind zu dieser Jahreszeit nicht so leicht zu kriegen.”

Sie blinzelte. “Meine was?”

“Eure Möbel. Tisch, Stuhl…” Seine Stimme verstummte aufgrund ihres Gesichtsausdrucks.

Sie betrachtete ihn aus zu Schlitzen verengten Augen und fragte sich, ob er sich über sie lustig machte.

“Was? Ihr seid eine Frau! Und noch dazu eine wohlhabende. Man erwartet, dass Ihr mit Stil verreist.”

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. “Und du bist ein Idiot, und was für einer. Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich mit einem Tisch und Stühlen durch den Wald reisen würde und mich dann über das Gewicht von Papierboxen beschwere? Benutz dein Gehirn, mein lieber Junge!” Sie sah, wie er bei der Anrede zusammenzuckte und musste zugeben, dass sie womöglich nicht ganz angemessen war. Sie selbst immerhin nur wenige Jahre älter.

“Woher soll ich denn wissen, dass Ihr auf einem Baumstamm sitzen und auf dem harten Boden schlafen wollt?”

“Noch vor einem Jahr habe ich meine eigenen Kräuter gesammelt. Wie hätte ich denn einen Tisch mitschleppen sollen? Auf dem Rücken?” Sie schnaubte bei der Vorstellung.

“Fein”, schnappte Rolan. “Dann wäre Ihre Ladyschaft vielleicht so freundlich, mir eine Liste mit dem zukommen zu lassen, was sie auf die Expedition mitzunehmen gedenkt?”

“Nein”, erwiderte sie mit einem süßen Lächeln. “Ladyschaft wird nichts dergleichen tun. Sie ist ein großes Mädchen und wird ihre Sachen selbst zusammenpacken. Sie lässt sich aber dazu herab, dir mitzuteilen, dass ein Packtier für sie selbst und das Dienstmädchen ausreicht. Außer du hast geplant, dass ich noch ein paar weitere schwer transportierbare, nutzlose Sachen mitschleppe?”

Rolan schloss für einen Moment die Augen, wie um sich zu sammeln, und sah sie dann mit kaum verhülltem Verdruss an. “Ist das alles? Kann ich jetzt gehen?”

“Ja, wenn du sonst keine Fragen mehr hast?”

“Nein”, antwortete er in einem Tonfall, der erahnen ließ, dass er sich lieber sein eigenes Bein abnagen würde, als länger als nötig mit ihr zu reden. Er verbeugte sich rasch, ohne sie anzusehen, bevor er die Tür des Besprechungszimmers hinter sich schloss.

Sie grinste und schüttelte den Kopf, als er weg war. Warum hatte sie nur jemals gezögert, um einen Assistenten zu bitten?

Kapitel 3

Die Geste

Eryn gähnte, als sie die letzte Seite des Buches, das Lord Poron ihr in der Woche zuvor gegeben hatte, umblätterte. Zu langwierig, zu langweilig, zu öde. Und dennoch musste sie sich einen Großteil davon einprägen. Sie sah auf das Blatt Papier mit ihren Notizen. Es war kaum etwas Greifbares darunter, nur Verschwörung und Töten. Erachtete man es wirklich als weise, den Leuten so etwas beizubringen? Warum brachte man ihnen nicht stattdessen den Wert von Ehrlichkeit und Direktheit nahe?

Sie sah, wie Lord Poron durch eine der hohen Doppeltüren eintrat und sich sein Gesicht bei ihrem übertriebenen Unmutsseufzer zu einem Lächeln verzog. “Ich sehe, dass Euch Eure derzeitige Lektüre nicht mehr Vergnügen bereitet als die anderen Bücher, meine Liebe. Aber zumindest bekommt Ihr jetzt eine kurze Pause. Kommt, wir müssen uns auf den Weg zu der Kundgebung machen.”

“Welche Kundgebung? Seid Ihr sicher, dass ich dorthin muss?”, fragte sie mit einem verwirrten Stirnrunzeln. “Ich bin immerhin nicht darüber informiert worden.”

“Oh ja, ich denke, das solltet Ihr. Ich könnte mir denken, dass es recht interessant werden wird.” Der Magier in seinen Siebzigern hob das vor ihr liegende Buch hoch und stellte es auf seinen Platz im Regal zurück.

Sie zuckte die Schultern. “Na gut. Wo findet sie statt?”

“Draußen auf dem Palastplatz. Vielleicht solltet Ihr einen kleinen Umweg machen, um Eure Robe zu holen. Wenn so viele von uns anwesend sind, schadet es nicht, die Leute an Euren Status zu erinnern, meine Liebe. Nun los, beeilt Euch. Wir wollen nicht zu spät kommen”, trieb er sie an und schob sie mehr oder weniger aus der Bibliothek hinaus.

“Ja, ja, ich komme schon”, seufzte sie. “Was wird denn Großartiges kundgetan?”

“Das werdet Ihr bald genug erfahren. Allerdings nur, wenn Ihr Euch beeilt und wir es dorthin schaffen, bevor es vorbei ist”, fügte er mit einem besorgen Gesichtsausdruck hinzu.

“Wisst Ihr was? Warum laufe ich nicht flink zu meinem Quartier, hole meine Robe und treffe Euch in ein paar Minuten beim Palasttor?”, schlug sie vor. Die Aussicht, von ihm den ganzen Weg zu ihrem Quartier und dann zum Palastplatz angetrieben zu werden, war nicht besonders erfreulich. “Ich verspreche, mich zu beeilen.”

Als sie sich wenig später die Robe über den Kopf gezogen hatte, ging sie flink in Enrics Arbeitszimmer, um auf den Platz hinabzusehen. Es hatten sich tatsächlich eine Menge Magier dort versammelt. Auch ein paar neugierige Zuschauer hatten ihren Weg dorthin gefunden und hielten Abstand zu den mächtigen und verehrten Mitgliedern des Ordens.

Seltsam, dachte sie und wandte sich um, um Lord Poron wie versprochen unten zu treffen. Wenn das so wichtig war, musste Enric darüber Bescheid wissen. Warum hatte er nichts erwähnt, besonders da sie ebenfalls dorthin sollte?

Lord Poron nickte, als er sie auf sich zulaufen sah und bedeutete ihr, den Palast als erste zu verlassen. Die Magier standen in Grüppchen beisammen und unterhielten sich ungezwungen. Von den Fetzen der Unterhaltung, die sie aufschnappte, konnte sie erkennen, dass sie ebenfalls keine Ahnung hatten, was sie erwartete.

Sie erblickte Orrin, der mit verschränkten Armen und seiner üblichen breitbeinigen Pose auf einer Seite der Menge stand. Er war kein Teil des Trubels, sondern nur ein Beobachter. Sie näherte sich ihm und blieb neben ihm stehen. Er quittierte ihre Anwesenheit mit einem knappen Nicken und fuhr damit fort, seine Magierkollegen zu beobachten.

Orrin war weder ungewöhnlich groß, wie Enric, noch strahlte er die beinahe schon zudringliche Autorität aus, die Lord Tyront umgab. Aber da war eine Art ruhiger, autoritärer Kraft und Selbstbewusstsein, die ihn herausragen ließen. Das und seine durchdringenden, grünen Augen ließen die Leute Abstand davon nehmen, ihm in die Quere zu kommen. Und natürlich seine Kampffertigkeiten, die sich in seiner aufrechten Haltung zeigten, als ob er sich in einem Zustand dauerhafter Wachsamkeit befand und jeden Moment mit einem Angriff rechnete. Die lange, dünne Narbe, die sich über eine Seite seines Gesichts erstreckte, trug nicht gerade dazu bei, diesen Eindruck von Gefahr abzumildern. Er musste in etwa in Lord Tyronts Alter sein, in seinen frühen Fünfzigern, aber sein Beruf als Kriegertrainer hatte ihm den beeindruckenden, muskulösen Körper eines Kämpfers beschert. Das und das Fehlen von jeglichem Grau in seinem vollen Haar ließen ihn etwas jünger erscheinen.

“Was soll das alles hier? Weißt du irgendetwas?”, fragte sie ihn und ließ ihren Blick über die versammelten Männer schweifen. Es mussten mehr als hundertfünfzig sein.

“Abwarten”, sagte er mit einem wissenden Lächeln.

Eryn versuchte gar nicht erst, ihn dazu zu bewegen, dass er preisgab, was er wusste. Das war zwecklos, wie ihr klar war. Er war von der starrköpfigen Sorte. “Weißt du”, sagte sie etwas erstaunt, “mir war gar nicht bewusst, wie viele Magier es gibt.”

Orrin sah sich um. “Es sind schon ein paar, ja. Obwohl im Moment nicht alle von uns hier sind. Die Kinder mit magischen Fähigkeiten sind nicht anwesend, und auch die meisten Mitglieder des Rates nicht.”

“Wie viele magisch begabte Kinder gibt es denn?”

“Etwa vierzig. Nicht alle von uns vererben das Talent.”

Dann sah sie Enric durch das Palasttor nach draußen treten und auf sie zukommen, natürlich in seine blaue Robe gekleidet. Ihr fiel auf, dass das Kleidungsstück anders aussah. Er hatte offensichtlich Zeit gefunden, Junar daran arbeiten zu lassen. Seine breiten Schultern und schmalen Hüften waren zu seinem Vorteil betont, dachte sie. Sie beobachtete, wie er sich näherte und schließlich vor den versammelten Magiern zum Stehen kam.

Das Murmeln um sie herum wurde immer leiser. Jeder, der einen Blick auf die blaue Robe erhaschte, verstummte. Als schließlich der Letzte von ihnen ruhig war, nickte Enric Orrin zu, der daraufhin neben ihn trat. Er schenkte Eryn kurz ein Lächeln und erhob seine Stimme, erhöhte die Lautstärke mit ein wenig Magie, damit ihn alle verstehen konnten.

“Guten Morgen an alle. Ihr fragt euch sicher, weshalb ich zu dieser Versammlung gerufen habe. Ich möchte die Sache mit den drei offiziell ausgeschriebenen Stellen für Heiler ansprechen.”

Eryn schloss die Augen. Nein, bitte nicht, dachte sie mit einem innerlichen Stöhnen. Keine verzweifelten Versuche, jemanden zu finden, der sich seiner Gefährtin erbarmte und ihr den Gefallen tat, mit ihr zu arbeiten. Oder die Gelegenheit ergriff, einen guten Eindruck auf Enric zu machen, ohne ein ernsthaftes Interesse am Heilerberuf selbst mitzubringen.

Sie öffnete die Augen wieder, als er fortfuhr. “Ich bin hier, um euch zu warnen, euch nicht vorschnell zu bewerben, da es eine Verpflichtung zu harter Arbeit ist und nicht wie das Kämpfen von einen hohen Level an magischer Stärke profitiert, sondern etwas viel Selteneres erfordert: einen überdurchschnittlichen Intellekt und die Bereitschaft, ihn einzusetzen.”

Eryn runzelte verwirrt die Stirn. Was war sein Plan? Warum riet er den Leuten davon ab, sich zu bewerben, wenn ohnehin niemand vorhatte, das zu tun? Sollte er es nicht lieber umgekehrt versuchen?

“Die Fähigkeit zu heilen ist in unserem Königreich noch immer eine Seltenheit”, fuhr er fort. “Daher müssen diejenigen, die sich für eine Bewerbung entscheiden, sich nicht nur der Herausforderung stellen, neue Fertigkeiten zu meistern und als Pioniere zu arbeiten; sie müssen auch bereit dazu sein, in ein paar Jahren die Verantwortung einer Führungsrolle zu übernehmen.”

Sie entspannte sich etwas. Nun, das klang schon besser. Dieses Argument würde zweifellos weniger starke Magier ansprechen, die kaum eine Chance hatten, in den Rängen der traditionellen Kriegerhierarchie aufzusteigen.

“Die Fertigkeit zu heilen wird uns stärken – als Königreich, als Krieger, als Magier und als Gesellschaft. Stellt euch vor, ihr seid verletzt oder anderweitig außer Gefecht gesetzt und könntet euch selbst und andere heilen. Stellt euch einen Bauern mit einem gebrochenen Bein vor, der nicht mehrere Wochen lang warten muss, bis er wieder arbeiten kann, um seine Familie zu ernähren. Denkt an eure Kinder, Gefährtinnen, Freunde und dass ihr mit einer Berührung eurer Hand ihre Schmerzen lindern könntet.” Er hielt kurz des Effekts wegen inne und fing so viele Blicke wie möglich ein, als er sich umsah. “Die Menschen in den Westlichen Territorien schätzen die Kunst des Heilens so hoch, dass jeder einzelne Magier die Grundprinzipien erlernt – auch ohne ein Heiler zu sein. Wir sind in der glücklichen Lage, unsere eigene Heilerin hier im Orden zu haben, die uns diese Fähigkeit lehrt und dieses Wissen mit uns teilt. Und wir werden diese Chance nutzen.”

Er zog einen Dolch aus seinem Ärmel und fuhr mit der scharfen Klinge, ohne auch nur das kleinste Anzeichen von Schmerz zu zeigen, über seine Handfläche. Dann hob er seine Hand hoch über seinen Kopf, damit jeder sie sehen konnte. Der Schnitt war ziemlich tief, das Blut rann in dunkelroten Rinnsalen seinen Unterarm hinab.

Was machte er nur? Eryn fragte sich, ob er wollte, dass sie neben ihn trat und eine kleine Heildemonstration für die Menge lieferte. Sie wartete auf sein Zeichen. Aber es kam keines.

Als er sicher war, dass die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf seine blutende Handfläche gerichtet war, schloss er die Augen und Eryn starrte ihn mit offenem Mund an. Er würde doch nicht… oder doch? Nein, das war unmöglich! Er wusste doch nicht wie!

Ihr Atem beschleunigte sich, als sie sah, wie sich der Schnitt langsam schloss und der Blutfluss verebbte. Er hielt seine Hand weiterhin über seinem Kopf erhoben und zog mit seiner anderen Hand ein sauberes, weißes Tuch aus einer Tasche, um das Blut abzuwischen. Dann präsentierte er der starrenden Menge eine perfekte, unversehrte Handfläche.

Enric sah zu seiner Gefährtin und war ungemein zufrieden mit der Überraschung und vollkommenen Ungläubigkeit auf ihrem Gesicht. Orrin zog daraufhin seinen eigenen Dolch aus einem Futteral in seinem Stiefel und zerschnitt seine Hand auf die gleiche Art und Weise. Auch er hielt sie sodann hoch in die Luft, damit jeder sie sehen konnte, bevor er seine Augen schloss. Eryn bedeckte ihren weit offenen Mund mit beiden Händen und sah zu, wie sich der Krieger heilte, genau wie sein Kollege es nur Augenblicke zuvor getan hatte.

Erst jetzt, wo das Murmeln rund um sie begann und mit jeder Sekunde lauter und erregter wurde, erkannte sie, wie vollkommen still es um sie herum gewesen war.

Enric war zufrieden mit der Reaktion auf seine kleine Demonstration, und er und Orrin gingen auf sie zu, beide mit unverkennbarer Selbstgefälligkeit ob ihres betäubten Gesichtsausdrucks.

“Aber… wie?” Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Das Wie war ziemlich klar, nicht wahr? Es gab nur einen anderen Heiler im Königreich, der es ihnen gezeigt haben konnte. “Ich meine wann?” Sie gestikulierte hilflos.

“Ich habe Vern gebeten, mir ein paar der grundlegenderen Dinge beizubringen, während du und Orrin eure Tanzstunden hattet. Ich habe ihn angewiesen, es für sich zu behalten. Ich wollte dich überraschen.” Er lächelte auf sie hinab. “Es scheint, als wäre mir das gelungen.”

Sie atmete langsam aus und schüttelte den Kopf, während sie erst jetzt über die Auswirkungen dessen nachdachte, was er gerade getan hatte, was beide Männer getan hatten. Sie hatten soeben der Gesamtheit der Magier im Königreich gezeigt, dass die zwei meistverehrten Krieger im Orden die Fertigkeit des Heilens hoch genug schätzten, dass sie Zeit und Mühe dafür aufwendeten, sie zu erlernen.

Enric beobachtete die Schlacht zwischen ihren Hemmungen, in der Öffentlichkeit Zuneigung zu zeigen, und dem Impuls, genau das zu tun. Er wartete ein paar Augenblicke, ob sie sich dazu durchringen konnte. Dann seufzte er und zog sie in seine Arme. “Komm her. Und du solltest gar nicht erst leugnen, dass dir genau das durch den Kopf gegangen ist”, murmelte er, bevor er ihr einen Kuss auf die Lippen drückte.

Sie zögerte einen Moment lang, dann schlang sie ihre Arme um ihn und presste ihn fest an sich, während ihre Wange auf seiner Schulter lag.

“Danke. Vielmals.”

“Gerne. Aber wir werden erst sehen müssen, ob das irgendetwas ändert. Erwarte nicht zu viel”, warnte er.

Sie ließ ihn los und lächelte. “Das macht keinen Unterschied. Die Geste war erstaunlich, ob sie nun darauf reagieren oder nicht. Ich schätze das wirklich.” Sie wandte sich an Orrin, hob ihre Arme, um ihn ebenfalls zu umarmen und stöhnte leicht, als er sie nicht gerade zärtlich drückte.

“Keine Luft”, keuchte sie mit einem übertriebenen Erstickungsanfall.

Er lachte leise. “Du bist noch immer zu weich. Ich hätte gedacht, dass sich das mit deinem Kampftraining in der Zwischenzeit von selbst erledigt hätte, besonders mit deinem neuen Trainingspartner.”

“Wenn du Junar genauso umarmst, dann wirst du deine neuen Heilerfertigkeiten oft genug brauchen”, lachte sie und küsste seine Wange. Als sie sich umsah, erkannte sie Vern, der grinsend auf sie zukam.

“Das war vielleicht eine Vorstellung, was? Kannst du hören, wie sie reden? Sie sind total verwirrt”, strahlte er, als wäre er glücklich über einen gelungenen Streich. “Und dein Gesicht war ein Anblick! Dein Mund war weit offen, deine Augen sind hervorgetreten… Sehr elegant, Lady Eryn.”

Sie schnipste ihre Finger gegen sein Ohrläppchen und grinste, als er es rieb. “Vorsicht, Junge. Ich könnte sonst entscheiden, dass du nicht autorisiert warst, Heilerstunden zu geben und daher bestraft werden musst.”

“Nicht autorisiert?”, schnaubte er. “Du denkst, dass Lord Enric nicht autorisiert ist, mich zu autorisieren? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatte er noch einen höheren Rang als du.”

“Ja”, stimmte Enric zu, “das war auch mein Eindruck. Und was auch immer sie benutzt, um dich zu bedrohen, kannst du getrost als nichtig betrachten.”

“Nett”, erwiderte sie. “So viel zu meiner Autorität.”

* * *

“Eine nette Vorführung”, kommentierte Tyront und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. “Und noch dazu recht effektiv. Ich habe seit gestern insgesamt vier Bewerbungen erhalten.”

Enric zog seine Augenbrauen nach oben. “Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten. Hast du Eryn schon davon erzählt?”

“Nein. Ich will sie mir erst genauer ansehen.”

“Sag mir nicht, dass du die Kandidaten, die du nicht befürwortest, vorher aussortierst? Sie würde dir nie wieder vertrauen, wenn sie das herausfände.”

Tyront beeilte sich, diese Bedenken zu zerstreuen. “Nein, selbstverständlich nicht. Wofür hältst du mich? Sie ist diejenige, die mit den Leuten arbeiten muss, die sie sich aussucht, was also wäre mein Vorteil? Ich bin nur neugierig.”

“Warum überlässt du ihr die Auswahl dann nicht vollständig?”, erkundigte sich Enric.

“Weil es keinen guten Eindruck macht, wenn ich ihr im Zusammenhang mit dem Heilen alles allein überlasse. Und es zwingt sie auch dazu, gelegentlich mit mir zusammenzuarbeiten. Das ist etwas, woran sie sich gewöhnen muss.” Er grinste boshaft. “Es scheint, als würde ihr ihr neuer Assistent ebenfalls das eine oder andere über Führung beibringen.”

“Warum? Was hast du gehört?”

“Nicht so sehr gehört als gelesen”, sagte Tyront und nahm zwei Briefe von seinem Schreibtisch. “Der junge Rolan ist nicht allzu glücklich darüber, mit ihr arbeiten zu müssen, soviel kann ich dir sagen.”

“Berichte?”

“Nein, besser. Beschwerdebriefe.” Er hielt das erste Blatt hoch und las vor: “Lady Eryn scheint es als angemessen zu erachten, mich wiederholt mit dem beleidigenden Ausdruck ‘Idiot’ zu betiteln. Ich erachte dies nicht als professionelles Verhalten und denke zudem nicht, dass diese Regelung langfristig zur beiderseitigen Zufriedenheit funktionieren kann. Ich wäre somit ewig dankbar, wenn Ihr Euch imstande sehen würdet, eine andere Position für mich zu finden.”

“Oh ja, das klingt in der Tat nach ihr”, bemerkte Enric und seufzte.

“Warte, da ist noch einer. Das ist genau genommen der Erste. Er muss ihn kurz nach ihrem ersten Treffen geschrieben haben”, sagte Tyront und begann erneut vorzulesen: “Lady Eryn hat mich heute mit körperlicher Gewalt bedroht für den Fall, dass ich es versäume, ihre Forderungen zu erfüllen. Ich zitiere: ‘Ich werde deinen jämmerlichen Hintern von hier bis zum Meer treten’ und ‘Wenn ich nichts von dir höre, werde ich kommen und dich finden. Und dich zum Reden bringen.’ Ich bin ernsthaft um meine persönliche Sicherheit besorgt und ersuche Euch dringend darum, Eure Wahl für meine Stelle noch einmal zu überdenken. Sie hat des Weiteren damit gedroht, mich ihre Geringschätzung spüren zu lassen, indem sie mich in der Öffentlichkeit erniedrigende und peinliche Aufgaben durchführen lässt.” Er ließ beide Blätter sinken. “Führungspotential wie es im Buche steht.”

“Was wirst du deswegen unternehmen?”

“Ich?” Tyront schüttelte den Kopf und lächelte breit. “Nicht das Geringste. Und warum sollte ich? Ich freue mich auf seine Nachrichten, sie amüsieren mich. Und er hält mich unabsichtlich auf dem Laufenden darüber, was sie so treibt. Sozusagen ein unbezahlter Agent. Ein sehr nützlicher junger Mann.”

Enric grinste und schüttelte den Kopf. “Du durchtriebener, alter Halunke. Hat dir Eryn ebenfalls irgendwelche Briefe geschickt, um dich dazu zu bewegen, dass du deine Meinung änderst?”

“Nein, überhaupt nichts. Aber ich wäre sehr daran interessiert, was sie zu sagen hat. Ich schätze, ich werde sie um einen Fortschrittsbericht bitten müssen. Wenngleich ich befürchte, dass es einige Zeit in Anspruch nehmen wird, ihn zu lesen. Ihre Handschrift wirkt etwas… ungeduldig, um es milde auszudrücken. Und nachdem ich regelmäßig Orrins Gekritzel entziffern muss, will das etwas heißen. Ich gehe davon aus, dass sie nicht allzu angetan davon ist, Berichte zu schreiben?”

“Nein, nicht wirklich. Wäre ihr Terminplan nicht so voll, würde ich stattdessen regelmäßige Treffen vorschlagen.”

“Ich werde darüber nachdenken. Wir können das besprechen, wenn sie von ihrer Expedition zurückgekehrt ist.” Er sah den jüngeren Mann an. “Hast du dich schon an den Gedanken gewöhnt, dass sie zehn Tage lang mit einem Haufen Fremder durch die Wälder streifen wird? Es sind nur mehr sieben Tage, bis es losgeht, wenn ich mich nicht irre.”

Enric seufzte. “Nein, nicht wirklich. Ich bin noch immer nicht glücklich darüber, aber sie ist fest entschlossen, es zu tun und ich sehe ein, warum. Sie ist jetzt seit einiger Zeit in der Stadt eingesperrt. Nachdem sie auf dem Land aufgewachsen ist, kann ich verstehen, dass sie für eine Weile von hier weg will.”

“Du machst dir keine Sorgen darüber, dass sie nicht zurückkommen könnte, oder?”

“Nein”, sagte er mit gerunzelter Stirn. “Warum? Denkst du, das sollte ich?”

Tyront grinste. “Woher soll ich das wissen? In dieser Hinsicht habe ich keinerlei geheime Informationen von meinen Agenten erhalten, wenn es das ist, worauf du hinaus willst. Keine geheimen Pläne zur Flucht aus dem Königreich, die mir zu Ohren gekommen wären. Sie hat übrigens alle ihre Tests erfolgreich abgelegt. Zumindest diejenigen, die sie schon hinter sich hat. Da ist noch immer einer in Politischer Strategie offen, denke ich. Lord Poron will sie in den nächsten Tagen über einen Teil der Bücher testen.”

“Gut. In den letzten Wochen hat sie ihre Bücher sogar mit ins Bett genommen, also ist es gut, dass das nicht vergebens war.” Enric spitzte die Lippen. “Es gibt da etwas, worüber ich nachgedacht habe. Ein paar von Verns Unterrichtsstunden wurden aufgrund seines Heilertrainings verschoben. Ich habe mich gefragt, ob er nicht zwei oder drei seiner Gegenstände gemeinsam mit Eryn anstatt dem Rest der Klasse fortsetzen könnte. Er ist klug genug, um mit einer höheren Lerngeschwindigkeit zurechtzukommen.”

“Und du denkst dabei natürlich überhaupt nicht an deine Gefährtin, sondern nur an die Vorteile für den Jungen?”, fragte Tyront milde.

Enric überlegte genau, bevor er darauf antwortete: “Überhaupt nicht wäre vielleicht nicht ganz korrekt, aber da der Junge erheblich davon profitieren würde, denke ich nicht, dass ich Eryn hier ungebührlich bevorzuge.”

“Ich verstehe”, antwortete Tyront langsam. “Dann achten wir wohl besser darauf, dass wir den Vorteil für den Jungen betonen, wenn wir es seinen Lehrern mitteilen. Es könnte sonst so erscheinen, als ob du versuchtest, den Orden umzukrempeln, um deine Gefährtin glücklich zu machen. Und diesen Eindruck wollen wir doch wohl vermeiden, nicht wahr?”

Enrics Augen verengten sich. “Du denkst, ich bin ein verliebter Narr, oder?”

“Spielt es eine Rolle, was ich denke?”, sagte er mit einem dünnen Lächeln und wurde dann wieder ernst. “Enric, du hast in all den Jahren niemals irgendwelche Forderungen gestellt oder um Gefälligkeiten gebeten, seit du in die Ränge der Macht aufgestiegen bist. Aus meiner Sicht steht dir ein wenig Narrheit durchaus zu. Ich habe lange darauf gewartet, dass du eine Gefährtin findest. Und solange deine Pflichten dadurch nicht vernachlässigt werden, habe ich kein Problem damit, mit dir hin und wieder etwas nachsichtig zu sein.”

Der jüngere Mann nickte langsam und verinnerlichte die Bedeutung von Tyronts Worten. Großzügigkeit verpackt in eine Warnung. Das war typisch für Tyront.

* * *

Eryn seufzte und schüttelte den Kopf über die Nachricht, die sie soeben von den Apothekern erhalten hatte. Es waren nur noch drei Tage bis zum Beginn der Expedition übrig. Offenbar dachten sie, dass dies genau der richtige Zeitpunkt wäre, um einen Lehrplan für das Training, das sie gemäß der Vereinbarung mit dem Orden zu absolvieren hatten, zu verlangen. Sie hatte keinerlei Absicht, noch vor ihrer Abreise einen zu erstellen. Besonders, da das Heilergebäude ohnehin noch nicht fertig war – und das war immerhin der Ort, an dem der Unterricht stattfinden sollte.

Eine Idee ließ ihre Augen schelmisch aufblitzen. Sie würde die Apotheker an Rolan verweisen. Zumindest würde ihn das beschäftigen, bis sie wieder zurück war. Sie waren ziemlich fordernd, und die Gespräche mit ihnen waren nicht eben angenehm. Und es konnte ohnehin nicht schaden, sie für die Zukunft bereits jetzt daran zu gewöhnen, dass sie sich an ihren Assistenten wenden mussten.

Sie blickte zurück zu dem letzten der Bücher, das sie für ihre Prüfung mit Lord Poron morgen noch durchgehen musste. Zehn Tage ohne irgendwelche Bücher über was auch immer der Orden als nützliches Wissen erachtete, keine Tests, nichts. Das erschien ihr nun wie ultimativer Luxus. Sie schüttelte ihren Kopf über ihre umherwandernden Gedanken und erhob sich, um ihr Glas aufzufüllen. Sie hatten es erfolgreich bewerkstelligt, dass einer Frau, die Bücher ihr Leben lang verehrt und sich an ihnen erfreut hatte, nun vor ihnen graute und sie davon träumte, mehrere Tage lang keine einzige Seite lesen zu müssen. Wenn der Orden das als effektive Ausbildungmethode erachtete, würde sie mit ein paar Leuten hier sprechen müssen.

Sie warf einen Blick auf die Kiste voll mit ledernen Hosen, die kurz zuvor geliefert worden waren und entschied, dass sie sich eine Pause von ihrem Buch verdient hatte. Junar war ebenfalls recht fleißig gewesen. Zusätzlich zu ihrer regulären Arbeit hatte sie die Kleidungsstücke für Vern, Plia und Eryn fertiggestellt.

Rolan hatte sie durch einen Boten wissen lassen, dass sämtliche Vorräte, Koch- und Schlafutensilien, Papierboxen und sonstige Ausrüstung beinahe vollständig und bereit zum Zusammenpacken waren. Alles schien nach Plan zu laufen.

Sie sah nachdenklich zu der Tür, hinter der Enric arbeitete. Je näher der Tag der Abreise rückte, desto rastloser fühlte sie sich. Zuerst hatte sie es der Aufregung zugeschrieben, aber jetzt begann sie den Verdacht zu hegen, dass ein Teil von ihr ihn nur ungern zurückließ.

Was er für sie getan hatte, die Heilerstunden mit Vern, hatte sie berührt. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sie sehr gerne mochte, aber das… Es schien, als ob seine Zuneigung zu ihr tiefer ging, als sie erwartet hatte. Vielleicht war es sogar Liebe?

Sie erschauderte bei dem Wort. Ihr Vater hatte sie mehr als einmal davor gewarnt. Er hatte ihre Mutter geliebt, und diese Verbundenheit hatte sich für ihn nicht eben als Segen erwiesen. In ein anderes Land fliehen und all diese Zeit über seine wahre Identität verbergen zu müssen – das hatte es ihm eingebracht. Er hatte ihr gesagt, dass sie, seine Tochter, das einzig Gute war, das aus seiner Liebe entstanden war.

In den Jahren, die sie in ihrem kleinen Dorf verbracht hatte, hatte sie ein paar glückliche Paare gesehen, aber viele waren alles andere als das gewesen. Sie hatte Gewalt, Untreue, schwelende Unzufriedenheit, enttäuschte Hoffnungen und Frustration beobachtet. Und was all diese Gefühle auf lange Sicht aus Menschen machten. Da gab es Paare, die zum Zeitpunkt ihrer Kommitment-Zeremonie Glückseligkeit ausstrahlten und nur wenige Jahre später kaum noch in der Lage oder willens waren, einander in die Augen zu sehen. Es war erstaunlich, wie viel sich zwischen zwei Menschen verändern konnte, die einander ursprünglich mit Leib und Seele zugetan und in, nun ja, Liebe verbunden gewesen waren.

Dass ein Gefährte zurückgelassen wurde, kam auf dem Land nicht häufig vor. Es war wichtig, dass man zeigte, dass man den Lebensbund ehrte. Man nahm keine Rücksicht, wie viel Unzufriedenheit und Verbitterung zwischen den beiden Menschen herrschte. Sie hatten sich mit einem Eid, törichterweise in einer sehr optimistischen Stimmung geschworen, aneinander gefesselt. Ihn aufzulösen wäre wie Betrug. Und diejenigen, die selbst in einer unglücklichen Beziehung gefangen waren, erwiesen sich als die strengsten Tugendwächter, um sicherzugehen, dass die anderen ebenso sehr litten.

Sie war entschlossen gewesen, niemals in diese Falle zu geraten. Es wäre kaum möglich gewesen, ihre magischen Fähigkeiten geheim zu halten, wenn sie einer anderen Person ständig so nahe gewesen wäre. Ganz zu schweigen davon, dass sie die Unglückseligkeit vermeiden wollte, die sie gesehen hatte.

Aber dann waren da der König und Enric mit ihren eigenen Ideen und Plänen gewesen. Enric hatte ihr am Abend ihres Kommitments gesagt, dass er ohnehin geplant hatte, sie um ihre Hand zu bitten, auch ohne die Einmischung des Königs. Er hatte ihr aber mehr Zeit geben wollen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie fragte sich, wie er reagiert hätte, wenn er sie eines Tages gefragt und sie ihn aus Angst vor zukünftigem Elend zurückgewiesen hätte.

Das waren jetzt jedoch unnütze Gedanken. Sie war nun in genau der Falle gefangen, die sie immer vermeiden wollte. Zu ihrer Erleichterung und Überraschung hatte sie sich bislang weniger als Folter, sondern als größeres Vergnügen erwiesen, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Aber emotionale Bindungen hatten auch ihre Nachteile. Was, wenn einer von ihnen eines Tages damit begann, den anderen zu verachten oder sich in jemand anderen verliebte? Oder sich in der Partnerschaft einfach nur langweilte?

Sie rieb mit den Händen über ihr Gesicht und schob diese Gedanken weit weg. Es gab keine Garantie, dass dies hier funktionieren würde. Warum also sollte sie es nicht genießen, solange es währte? Genau, dachte sie und seufzte über ihre eigene Torheit. Darum begann sie ihn auch bereits jetzt zu vermissen, noch bevor sie auch nur aufgebrochen war.

»Ende der Leseprobe«

 

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Solltest du den Rest des Buches auch unterhaltsam finden, wäre eine Bewertung super! Die sind für Autoren lebenswichtig.

„Der Orden“ – Buch 1

Kapitel 1

Eryn

Die Luft war eisig und es schien, dass der Winter mit viel Schnee seinen Einzug halten würde.

Es war erst der Beginn dieser Jahreszeit, allerdings war sie bereits jetzt wesentlich rauer als die letzten Jahre, an die sie sich erinnern konnte.

Eryn beobachtete ihren Atem, der in blassen Wolken vor ihrem Gesicht kondensierte. Dann hob sie ihren Blick zum sternenübersäten Himmel über sich. Er war ein unvergleichlicher Anblick in solch einer klaren, wolkenlosen Nacht. Trotzdem freute sie sich auf ihre Rückkehr nach Hause zu einem gemütlichen Feuer und einem warmen Getränk. Sie hasste diese Kälte seit sie denken konnte. Ihre bevorzugte Jahreszeit waren die heißen Sommermonate, ganz gleich wie sehr sie die Arbeit in der Hitze erschöpfte. Der Sommer fühlte sich auf jeden Fall wesentlich besser an als diese klirrende Kälte.

Sie presste ihre Tasche mit den Wurzeln fest an sich und eilte durch die dunkle Hauptstraße des kleinen Dorfes. Sie hätte schon vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein sollen, aber die Wurzeln waren dieses Jahr schwer zu finden. Vermutlich hatten sich die Dorfbewohner ebenfalls auf die Suche danach gemacht, um sie auf den Märkten zu verkaufen.

Ihr Vater würde sie bereits ungeduldig erwarten und jede Minute – oder jede zweite – einen Blick aus dem Fenster werfen. Er wurde es nicht müde, ihr zu erklären, wie gefährlich es für ein fünfzehnjähriges Mädchen war, allein in der Dunkelheit unterwegs zu sein. Eryn unterdrückte jedes Mal ein Seufzen, wenn er eine weitere seiner Tiraden darüber startete, welche zahllosen Gefahren hinter jeder Ecke lauerten. Ihre späte Rückkehr würde ihr eine weitere einbringen, daran bestand kein Zweifel.

Nur noch vorbei an zwei weiteren Häusern, und sie würde den schmalen Pfad erreichen, der zu dem abgeschieden gelegenen kleinen Haus führte, das sie mit Treban, ihrem Vater, bewohnte.

Treban war der Dorfheiler, und zwar ein ausgezeichneter. Sein guter Ruf war weit verbreitet. Die Kranken und Verletzten kamen von weit her, um sich von ihm helfen zu lassen – kaum jemals vergebens. Er war ungemein stolz auf seine Arbeit und hatte noch niemals jemanden fortgeschickt, auch wenn der- oder diejenige nicht in der Lage war, ihn zu bezahlen.

Diejenigen jedoch, die er behandelte, waren stets bestrebt, einen Weg zu finden um ihn zu entschädigen – auch wenn es längere Zeit dauerte. Es war nicht klug, auf jemanden wie ihren Vater einen schlechten Eindruck zu machen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass man seine Dienste eines Tages wieder benötigte. Zuweilen trafen Pakete mit Dankesbriefen ein, die seine Großzügigkeit priesen. Ihr Vater führte keine Aufzeichnungen darüber, wer ihn bezahlt hatte und wer nicht. Es kümmerte ihn schlicht und einfach nicht.

Heilen war für ihn nicht einfach nur ein Mittel, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern dazu, den Menschen zu dienen und zu helfen. Er war überzeugt, dass sie das Gleiche für ihn tun würden. Manche belächelten seine Selbstlosigkeit als naiv. Seine Einstellung hielt ihn aber nicht davon ab, die Menschen so zu sehen, wie sie wirklich waren. Er wollte nur einfach nicht so sein wie sie. Er war ein Mann, der das Beste glauben wollte, sich aber der menschlichen Natur sehr wohl in ihren schlimmsten Ausprägungen bewusst war.

Und Eryn wusste, dass er genau aus diesem Grund immer wieder seiner Tochter verständlich zu machen versuchte, wie wichtig es war, dass sie auf sich aufpasste.

Irgendwo hinter einem der Häuser hörte sie einen Zweig brechen, nur eines der vielen Geräusche, die das Landleben mit sich brachte. Sie sagte sich, dass es sich wohl um ein kleines Tier handelte oder um jemanden, der ein paar Scheite Holz zum Kochen ins Haus holte.

Kein Grund nervös zu werden, beruhigte sie sich und verfluchte ihren Vater dafür, dass er sie dazu brachte, in jedem Schatten eine Gefahr und in jedem Geräusch ein böses Vorzeichen zu sehen.

Das nächste Geräusch war näher, gleich hinter ihr.

Sie schluckte, holte tief Luft, drehte sich um und seufzte erleichtert auf, als sie Krion, den Sohn des Bäckers, erkannte. Er war ein paar Jahre älter als sie, ein hochgewachsener, gutaussehender junger Mann. Er hatte stets ein Lächeln und ein Zwinkern für Eryn übrig, wenn sie in das Geschäft seines Vaters kam, um Brot zu kaufen.

Schon vor einer Weile hatte er begonnen, mit ihr zu flirten, und Eryn fühlte sich überaus geschmeichelt. Manche der anderen Mädchen ihres Alters und ältere hatten schon versucht, seinen Blick auf sich zu ziehen, und Eryn war sehr erfreut, dass er gerade sie ausgewählt hatte. Zumindest hoffte sie, dass sie die Einzige war, mit der er flirtete… Sie wäre am Boden zerstört, wenn sie jemals herausfände, dass er mit allen Mädchen so umging, sobald er ein paar ungestörte Momente mit ihnen verbrachte.

Ein paar andere Jungs hatten ebenfalls begonnen, ein Auge auf sie zu werfen, aber keiner von ihnen schaffte es so wie Krion, sie derart nervös zu machen.

Sie strahlte, als er näher kam, so wie immer, wenn sie ihn erblickte. “Was machst du denn hier draußen in der Kälte? Solltest du nicht zuhause sein?”

Seine hellen Zähne blitzten im Dunkeln, als er lächelte. “Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, kleine Eryn. Es ist gefährlich hier draußen in der Dunkelheit.”

Sie rollte mit ihren Augen: “Du klingst wie mein Vater!”

Er lachte: “Ich bringe dich wohl besser nach Hause, damit dir nichts passiert und dein Vater sich nicht aufregt.”

Sie fühlte, wie ihre Hände zu schwitzen begannen. Er bot ihr an, sie nach Hause zu begleiten! Sie würde mit ihm den ganzen Weg bis zu ihrem Haus gehen, würde ihn ganz für sich allein haben! Das bedeutete, dass er sie mochte, nicht wahr? Er würde sie nicht begleiten, wenn er nichts für sie empfinden würde, richtig? Oder tat er es einfach nur aus der für ihn so typischen Galanterie?

Er wartete auf ihre Antwort. “Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, kleine Eryn, oder?”, neckte er sie.

Angst? Sie fühlte sich beinahe schwindlig vor Glückseligkeit und lächelte. “Nein, selbstverständlich nicht. Danke, das wäre fein.”

Sie folgten dem Weg wortlos bis sie das Dorf hinter sich gelassen und den schmalen Weg erreicht hatten, der zum Haus des Heilers führte.

“Wie gefällt es dir so, mit deinem Vater zu arbeiten? Das Heilen? Ich meine, dein Vater bildet dich doch zu einer Heilerin aus, oder?”

Sie nickte. “Ja genau, und ich finde es toll. Manchmal ist es wirklich mühsam, die ganze Nacht aufzubleiben, um jemandem zu helfen, der betreut und beobachtet werden muss, und dann nach nur zwei oder drei Stunden Schlaf mit der täglichen Arbeit weiterzumachen – aber glücklicherweise passiert das nicht zu oft. Aber zu sehen, wenn Leute zu uns kommen, denen es wirklich schlecht geht, und sie sich dann nach der Behandlung so viel besser fühlen – das ist wirklich großartig.” Hör auf zu plappern, ermahnte sie sich, so vertreibst du ihn bloß.

Vor der Kurve, die das Haus in Sichtweite bringen würde, stoppte er, trat an sie heran, legte seine Hände auf ihre Schultern und zog sie näher zu sich. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Würde er sie wirklich küssen? Ihr Gesicht glühte trotz der Kälte. Was für eine Schande, dass sie in der Dunkelheit nicht mehr als seine Silhouette erkennen konnte.

Seine Lippen senkten sich kühl auf ihren eigenen, kalten Mund, aber seine Zunge war warm. Sie legte ihre Arme um seine Mitte, lehnte sich an ihn und schmolz unter seiner Berührung dahin.

Als sie seine Hand auf ihrer Brust spürte, zog sie sich zurück und drückte sie entschieden weg. Er ließ seine Hand erneut dorthin wandern und wollte sie wieder näher zu sich ziehen.

“Nein”, sagte sie atemlos und schüttelte in der Dunkelheit ihren Kopf.

“Warum nicht? Du magst mich doch, oder nicht?” Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören.

Sie stieß ihn fester von sich. Da packte er eines ihrer Handgelenke, damit sie sich nicht weiter zurückziehen konnte. “Ich will das nicht, lass mich los!”

“Plötzlich zierst du dich? Wir wissen doch beide, dass es nichts anderes ist!” Er klang verärgert, als ob er nicht wirklich mit Widerstand gerechnet hätte, und schien ihn als persönliche Beleidigung zu empfinden.

Statt einer Antwort versuchte sie, ihn dorthin zu treten, wo ihr Vater es ihr gezeigt hatte. Er schaffte es knapp, ihrem Fuß zu entkommen und fluchte, als sie stattdessen seinen Oberschenkel traf. Sobald er mit beiden Händen nach seinem Bein griff, wandte sich Eryn in Richtung des Hauses und begann zu laufen.

Sie fühlte nach nur wenigen Schritten, wie seine Hand ihren Ellbogen umfasste und sie beinahe zurückstolpern ließ.

“Lass mich los, du Mistkerl!”, schrie sie und hoffte inständig darauf, dass ihr Vater sie hören und zu ihrer Rettung eilen würde.

Er hielt ihr den Mund mit seiner Hand zu und drückte sie nach unten auf den kalten, harten Boden; seine andere Hand tastete sich voran, um ihre Röcke hochzuschieben. Sie wand und krümmte sich unter ihm, trat nach ihm, versuchte ihn in die Hand zu beißen und sich von ihm zu befreien. Sie spürte seine kalte Hand auf ihrem Bauch, wie sie sich nach unten bewegte und fühlte, wie Tränen an ihren Schläfen hinabliefen. Tränen des Verrats, des Ärgers über sich selbst, der vollkommenen Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit.

Dann plötzlich spürte sie von einem Moment zum nächsten sein Gewicht nicht länger. Sie vernahm seinen überraschten Aufschrei und schließlich ein Geräusch, das klang, als würde jemand einen Schlag einstecken. Da war ein scheußliches Knacken, das nichts anderes als das Brechen eines Knochens sein konnte. Dann hörte sie Krions Stimme, als er sich fluchend davonmachte.

Sie konnte den Mann nicht sehen, erkannte aber den Geruch nach Kräutern, der ihren Vater stets umgab, bevor sich seine warmen Hände um die ihren schlossen und sie zurück auf ihre Füße zogen.

“Vater”, schluchzte sie, “er wollte…”

“Mir ist klar, was er wollte”, unterbrach sie die irritierend ruhige Stimme ihres Vaters. Sie spürte den mühsam im Zaum gehaltenen Zorn darin und drückte sich an ihn, als er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie zurück zum Haus brachte.

“Die Wurzeln…” Sie blieb stehen und versuchte zu erkennen, wo die Tasche gelandet war. Ihr Vater entdeckte sie zuerst, bückte sich und hob sie auf, bevor er seinen Arm wieder um ihre Schultern legte und seine Tochter an sich zog.

“Komm, mein Mädchen”, sagte er. “Bringen wir dich ins Haus. Du bist eiskalt.”

Sie fühlte sich auch kalt, durch und durch eisig. Es hatte sie ganz tief in ihrem Inneren getroffen. Nicht einmal das einladende Feuer, das sie durch die Fenster des Hauses erkannte, konnte sie trösten.

Sie rechnete mit Tadel, mit einer Maßregelung ob ihrer Sorglosigkeit, die sie dazu bewegt hatte, allein mit einem Jungen durch die Dunkelheit zu gehen, aber ihr Vater blieb stumm. Er nahm nur den Umhang von ihren Schultern und hängte ihn ordentlich an den Haken an der Wand neben seinen eigenen. Er hatte ihn nicht umgelegt, als er ihr zur Hilfe gekommen war.
Dann griff er nach ihrer Hand und zog sie zu seinem gemütlichen Sessel vor dem Feuer. Er verließ sie noch einmal kurz, und sie hörte das Geklapper von Geschirr, bevor er zur ihr zurückkehrte und vor ihr in die Hocke ging.

Er presste einen Becher mit einer klaren, dunklen, scharf riechenden Flüssigkeit in ihre Hand und wischte die Tränen weg, die ihre Wangen hinabliefen, während sie schweigend in seinem Sessel saß.

Sie machte keinerlei Anstalten zu trinken, also hob er ihre Hand mit dem Becher an, bis sie einen Schluck nahm. Die süße Flüssigkeit brannte sich ihren Weg den Hals hinab und brachte sie zum Husten. Fast augenblicklich fühlte sie, wie sich Wärme in ihrem Magen ausbreitete.

Sie blickte in das Gesicht ihres Vaters, das zwischen den Tränen immer wieder verschwamm. Still wartete sie noch immer auf die Tirade, die jeden Moment beginnen musste.

Eine Zeitlang sahen sie einander einfach nur an, schließlich sprach ihr Vater, zu ihrer Überraschung aber nicht, um sie zu tadeln, wie sie es erwartet hatte. “Es tut mir leid, mein Kind. Das ist meine Schuld.”

Sie starrte ihn an, fühlte, als wäre sie in einem absurden Traum gefangen.

“Was?”

Er schüttelte seinen Kopf. “Ich hätte dich warnen sollen. Ich hätte dich nicht wegen der Wurzeln losschicken sollen, wenn es so früh dunkel wird. Ich hätte stattdessen gehen sollen. Ich…”

Sie griff nach seiner Hand. Es war unerträglich, dass ausgerechnet er sich die Schuld dafür gab, was passiert war. Oder eher dafür, was er abgewendet hatte.

“Du hast mich gewarnt!”

“Nein.” Er befreite seine Hand aus ihrem Griff und fuhr sich durch sein graues, aber immer noch dichtes Haar. “Ich habe dich nicht vor ihm im Speziellen gewarnt.”

Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass sie innerlich noch weiter erstarren konnte. “Vor ihm im Speziellen?”, wiederholte sie beinahe lautlos.

“Letztes Jahr wurde ich zu einem jungen Mädchen im Dorf gerufen. Ihr war aufgelauert worden, und sie wurde…” Seine Stimme verebbte. “Sie sagte, dass es der Sohn des Bäckers gewesen war”, setzte er nach einer Weile fort. “Seitdem habe ich meine Augen und Ohren offengehalten, um gleich im Bilde zu sein, falls so etwas noch einmal passieren sollte. Und nun, jetzt wärst du beinahe…” Er brach erneut ab.

Sie saß bewegungslos, zu überwältigt, um zu sprechen. Nur ein einziger Gedanke drehte sich in ihrem Kopf: Der junge Mann, in den sie sich im Begriff war zu verlieben, war nichts anderes als ein Tier, das sich hilflosen jungen Frauen aufzwang. Das letzte an Zuneigung, das seinen Angriff überlebt hatte, verpuffte und wurde durch Härte und Kälte ersetzt.

“Ich werde zusehen, dass er dafür bezahlt”, presste Treban zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Sie blickte zu ihrem Vater auf und überraschte ihn, als sie ruhig sagte: “Nein.” Die Tränen trockneten noch auf ihren Wangen, doch der Schimmer in ihren Augen hatte sich von Verletzlichkeit zu stählerner Härte gewandelt. Er wollte widersprechen, doch sie meinte stattdessen: “Lass mich.”

* * *

Als Eryn am nächsten Morgen erwachte, stellte sie überrascht fest, dass es schon sehr spät war. Die Sonne stand bereits am Himmel, und normalerweise hätte ihr Vater sie schon lange geweckt. Sie war dankbar, dass er davon abgesehen hatte, denn die Nacht war alles andere als erholsam gewesen. Es hatte Stunden gedauert, bis sie endlich, trotz des Schlaftrunks ihres Vaters, in einen ruhelosen Schlaf gesunken war.
Sie zog sich an und ging nach unten, wo sie ihn in seinem Sessel sitzend vorfand. Er starrte in den Kamin. Das Feuer war niedergebrannt – es waren nur ein paar glühende Holzstücke übrig, die noch etwas Wärme abgaben. Als sie sich näherte, blickte er auf.

“Setz dich, Eryn. Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden möchte.”

Sie drehte sich um, holte einen Stuhl vom Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Dann wartete sie, dass er zu sprechen begann.

“Ich hätte das bereits vor einiger Zeit tun sollen, aber ich habe es in den letzten paar Jahren immer wieder aufgeschoben. Ich wollte nicht sehen, dass du zu einer Frau heranwächst, anstatt mein kleines Mädchen zu bleiben.” Er seufzte: “Trotzdem, das Wissen darüber, welche Menschen es dort draußen gibt, hätte mich schon früher dazu bewegen sollen, als du noch jünger warst.”

Eryn runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.
“Ich sehe, dass ich dich verwirre”, lächelte er. “Du weißt, wie die inneren Organe einer Frau funktionieren. Ich habe es dir mehrmals gezeigt, du hast sogar kleinere Probleme selbst geheilt. Du bist mit dieser Gabe gesegnet, mein liebes Kind. Deshalb möchte ich etwas tun, um sicherzustellen, dass niemand jemals in der Lage sein wird, dir das anzutun, was diese Bestie gestern versucht hat.”

Sie begann, sich etwas unbehaglich zu fühlen.

“Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, Eryn. Ich spreche von einem magischen Schutz, der verhindert, dass weder ein Mann noch ein Objekt in deinen Körper eindringen kann, sofern du das nicht wünschst. Ich kann ihn ohne Schmerzen platzieren, und er wird niemals eine Last für dich sein. Du allein entscheidest, wer ihn passieren darf.”

Anders als andere Mädchen ihres Alters hatte sie kein Problem damit, über solche Themen mit ihrem Vater zu sprechen. Der menschliche Körper war für sie nichts Mysteriöses oder Schamhaftes, sondern wie ein offenes Buch. Ihre Magie ermöglichte es ihr, einfach die Augen zu schließen und sich anzusehen, wie alles funktionierte, herauszufinden, was Probleme verursachte und dann bereitzustellen, was auch immer benötigt wurde – entweder ein wenig Heilungsenergie oder Kräuter.

“Was passiert, wenn es jemand ohne meine Erlaubnis versucht?”, fragte sie neugierig.

“Es wäre eine ziemlich schmerzhafte Erfahrung für denjenigen”, meinte er mit einem dünnen Lächeln und einem schadenfrohen Glitzern in seinen Augen.

“Irgendetwas, das dauerhaften Schaden verursacht?”, wollte sie hoffnungsvoll wissen.

“Du weißt sehr genau, wie ich darüber denke, unsere Fähigkeiten dazu einzusetzen, anderen Menschen Schaden zuzufügen”, sagte er mit einem warnenden Unterton.

Sie seufzte. Natürlich wusste sie es. Nur manchmal wäre es so unglaublich befriedigend, zumindest ein paar Unannehmlichkeiten verursachen zu dürfen. Ein Jucken hier, ein Ausschlag dort… Was war so schlimm daran?

Vor etwa fünf Jahren hatten sie sich hier niedergelassen, nachdem sie ungefähr ebenso lange von einem Ort zum nächsten gezogen waren. Sie war gezwungen gewesen, sich an ein Leben zu gewöhnen, das völlig anders war als jenes, das sie gekannt hatte. Sie war das verlegene neue Mädchen, das von anderen Kindern drangsaliert und beschimpft worden war. Ein wenig Rache wäre nett gewesen – besonders da niemals jemand daraufgekommen wäre, wer dahintersteckte.

Sie war verwirrt, als ihr Vater ihr erklärte, dass es in diesem Land keine Frauen mit der Gabe gab, nur Männer. Auf die Frage weshalb meinte er nur, dass er es nicht wisse.

Die nächste ungewöhnliche Sache war, dass alle diese Menschen hier die gleiche Haarfarbe hatten. Sie erinnerte sich dunkel, dass ihre eigene Haarfarbe ein sattes, dunkles Braun war. Hier fand man keine einzige Person mit dunklem Haar. Ihr Vater hatte ihre Haarfarbe von einem prächtigen, glänzenden Braun zu einer der vielen blonden Schattierungen hier verändert.

Die blonde Farbe zu erhalten war jedoch weniger einfach. Die Veränderung war nicht permanent, und sobald ihr Körper nicht länger aktiv die magische Energie bereitstellte, nahm ihr Haar wieder seine ursprüngliche Farbe an. Es hatte mehrere Wochen gedauert, bis ihr Unterbewusstsein dahingehend trainiert war, immer wieder den nötigen Fluss an Energie bereitzustellen – sogar im Schlaf. Sowohl damals als auch heute war sie noch zu jung und unerfahren, um die Technik zu erlernen. Sie war höchst komplex.

Aber die Erinnerung an das Leben zuvor war in den letzten zehn Jahren so stark verblasst, dass kaum noch etwas vorhanden war.
“Bist du einverstanden?”, sprach ihr Vater ungeduldig in ihre Gedanken.
“Ja.” Sie musste nicht wirklich darüber nachdenken. Ihr Vater würde es nicht vorschlagen, wenn es gefährlich oder unnötig wäre. “Wie funktioniert es?”

“Ich werde einen Schutz in deinem Unterleib platzieren. Solange du Lebenskraft hast, um ihn zu versorgen, wird er dort verbleiben. Sämtliche Flüssigkeiten werden weiterhin in der Lage sein, deinen Körper ohne Probleme zu verlassen.”

“Niemand kann ihn entfernen?”, fragte sie.

“Nur ein Magier, der stärker ist als ich. Und davon sollte es hier nicht viele geben”, fügte er mit einem selbstbewussten Schmunzeln hinzu.

Eryn wusste nichts darüber, sie war noch nie anderen Magiern begegnet, aber er selbst war sich dessen bewusst, dass er außerordentlich stark war. Aus diesem Grund hatte er auch seine Gefährtin in einem dummen Machtspiel verloren und musste mit seiner Tochter in ein anderes Land fliehen, wo er nun ein einfaches Leben führte. Er verbarg seine eigenen Fähigkeiten und die seiner Tochter und ging als gut ausgebildeter Apotheker durch. Die Tatsache, dass Eryn erste Anzeichen zeigte, selbst eine fähige Heilerin zu werden, stellte keinerlei Gefahr dar. Selbst dann, wenn sie sich – dank ihrer verborgenen Fähigkeiten – als ungewöhnlich gut darin erweisen sollte.

Schließlich wusste jeder, dass Frauen über keinerlei magische Kräfte verfügten.

* * *

Eryn holte tief Luft, als sie aus dem Fenster blickte und Prowel, den Bäcker, den Weg zu ihrem Haus entlangkommen sah.

“Vater”, rief sie eindringlich, “Prowel ist auf dem Weg hierher. Er sieht nicht glücklich aus.”

Ihr Vater trat auf die Tür zu und öffnete sie abrupt, bevor der Bäcker die Möglichkeit hatte, mit seiner erhobenen Faust dagegen zu schlagen. Er stolperte mehr oder weniger hinein.

“Was willst du?”, fragte ihr Vater ruhig.

“Du!” Prowel deutete mit dem Finger auf den Heiler, “Du hast den Arm meines Sohnes gebrochen!”

Ah, das war also dieses knackende Geräusch gewesen, sinnierte Eryn. Sie lächelte. Mehlsäcke schleppen würde für eine Weile wirklich schmerzhaft sein.

“Er hat meine Tochter attackiert.” Noch immer kein Zeichen von Aufregung.

“Er hat mir alles drüber erzählt – dass er sie geküsst hat, ist keine Rechtfertigung dafür, seinen Arm zu brechen, du dummer Narr!” Der Bäcker hatte zu schreien begonnen.

Das war nicht klug, überlegte Eryn. Ihr Vater reagierte nicht besonders gut auf so etwas. Er mochte in seinem grauen Gewand wie ein Gelehrter wirken, mit den langen Haaren und dem Geruch von Kräutern, der ihn umgab. Aber er hackte sein Holz selbst, und ebenso erledigte er sämtliche Reparaturen im und um das Haus herum. Er war in sehr guter körperlicher Verfassung.

“Küssen war es nicht, was ich gesehen habe. Wie hätte er sie auch küssen können, wenn seine Hand ihren Mund zugehalten hat, um sie vom Schreien abzuhalten?” Jetzt konnte sie die Härte in seiner Stimme hören. “Du weißt sehr wohl, was er versucht hat, und was er in der Vergangenheit getan hat. Wenn du dem keinen Riegel vorschiebst, wird niemand in deiner Familie jemals wieder medizinische Hilfe von mir erhalten.”

Prowels Kopf war komplett rot angelaufen. “Ich verlange, dass du sofort kommst und dich um den Arm kümmerst, den du gebrochen hast!” Es war ganz offensichtlich eine enorme Anstrengung für ihn, nicht zu schreien.

“Ich habe dir gerade gesagt, dass du und die deinen nicht länger Anspruch auf Heilung jeglicher Art haben. Geh! Komm nicht zurück, bevor du dich nicht um die Sache gekümmert hast.” Er war dabei die Tür zu schließen, aber der Bäcker holte mit der Faust aus. Als er sich anschickte, dem Heiler ins Gesicht zu schlagen, merkte er, wie er nach vorne gezogen wurde. Ein scharfer Schmerz flammte in seinem Rücken auf, als er auf dem Boden aufschlug. Sobald er wieder in der Lage war, sich zu bewegen, rappelte er sich auf und schwankte zur Tür hinaus.

Auf unsicheren Beinen dahinstolpernd wandte er sich zurück zum Haus und hob seinen Finger. “Das ist nicht vorbei, Heiler!” Er spie ihm das letzte Wort förmlich entgegen und wankte zurück zum Dorf.

* * *

Es gab natürlich Gerede. Der Sohn des Bäckers trug seinen gebrochenen Arm in einer Schlinge um seinen Hals und erzählte jedem, der es hören wollte – ebenso wie denen, die es nicht hören wollten – wie er sich die Verletzung zugezogen hätte: Er sei im letzten Moment zur Seite gesprungen, bevor ein Wagen ihn überrollt hätte, und er somit sicherlich getötet worden wäre.

Der Grund für den Klatsch allerdings war eher, dass er den Heiler nicht konsultiert hatte. Der Bäcker konnte es sich sicherlich leisten, für die Behandlung seines Sohnes zu bezahlen, besonders da Trebans Preise mehr als annehmbar waren und er generell auch Bezahlung in Naturalien akzeptierte. Aber Krion winkte mit einem abwertenden Prusten ab und verkündete, dass es nur ein Kratzer sei, und dass die Qualität der Dienste des Heilers ohnehin enorm überbewertet würde.

Hier hörten die Leute nun genauer hin. Über den Heiler in abfälliger Art und Weise zu sprechen war etwas, das man einfach nicht tat. Es war ein ungeschriebenes Gesetz. Nicht nur, dass es kaum jemals einen Grund dafür gab, sondern es war auch ein Glücksfall für das Dorf, dass der Mann entschieden hatte, sich hier niederzulassen und leistbare, hochqualitative medizinische Dienste anzubieten. In einer größeren Stadt hätte er ohne Probleme ein Vermögen verdienen können.

Es fiel auch auf, dass sowohl der Heiler als auch seine Tochter nicht mehr in die Bäckerei kamen, um Brot zu kaufen. Wenn sie versuchten, Informationen von Treban zu erhalten, antwortete er nur in seiner üblichen gutmütigen Art, dass Eryn ihre Vorliebe zum Backen entdeckt hätte und er sie zuhause experimentieren ließe. Nun hätten sie ständig so viel Brot und Kuchen zuhause, dass es nicht mehr erforderlich war, etwas einzukaufen.

Viele waren zufrieden mit der Erklärung und – genau wie er es beabsichtigt hatte – amüsiert. Andere jedoch kannten Eryn ein wenig und schätzten sie – nicht ganz ungerechtfertigt – kaum als Hobbybäckerin ein.

Wann immer Eryn Krion irgendwo im Dorf sah, zwang sie sich, ihre Augen nicht abzuwenden, sondern seinem Blick kalt und gelassen Stand zu halten. Zuerst hatte er bei jeder Begegnung gegrinst, ganz offensichtlich selbstbewusst in dem Wissen, dass er etwas Bestrafungswürdiges getan und ungeschoren davongekommen war. Nach einer Weile jedoch schien er verwirrt. Sie verhielt sich nicht so, wie er es erwartet hatte: keine Anzeichen von Ängstlichkeit, Scheu oder zumindest Hass. Nur kühle Gleichgültigkeit.

Viele Wochen lang kreisten Möglichkeiten durch ihren Kopf, wie man ihn bestrafen könnte: öffentlich oder persönlich, ohne sichtbare äußere Zeichen oder blutig und für jeden erkennbar, vielleicht mit Hilfe von Magie zugefügt, oder auch nur mit einem stumpfen Gegenstand, der seine empfindlichen Körperteile traf.

Sie wusste, dass ihr Vater die Verwendung von Magie zu diesem Zweck ablehnte. Sie verstand seine Philosophie, einen mächtigen Vorteil nicht dafür zu nutzen, anderen Schaden zuzufügen. Krion allerdings wurde nicht von den gleichen Skrupeln geplagt. Ihn hielt nichts davon ab, seine überlegene körperliche Stärke gegen Schwächere einzusetzen. Warum verdiente er Nachsicht – insbesondere da er bereits in der Vergangenheit, nachdem er eine Frau verletzt hatte, ohne Bestrafung davongekommen war?

Sie stieß beinahe mit Krion zusammen, als sie die Straße überquerte, in Gedanken damit beschäftigt, Qualen für ihn zu ersinnen. Er war mit einer Gruppe Jungs in seinem Alter unterwegs, von denen sie die meisten kannte.
“Wenn das nicht die Tochter des Heilers ist”, sagte er, den Satz in die Länge ziehend. “Ich habe gehört, dass du das Backen für dich entdeckt hast. Hoffentlich nicht, um meinem Vater und mir Konkurrenz zu machen?” Er lachte und seine Begleiter schienen sich unwohl zu fühlen. Man legte sich nicht mit der Familie des Heilers an, es war einfach nicht klug. Doch wenngleich sie sich nicht beteiligten, so versuchte auch niemand, ihn zum Weitergehen zu bewegen.

“Nun, was soll ich sagen?”, meinte sie mit einem süßen Lächeln. “Das Brot hat in letzter Zeit einfach nicht unseren Ansprüchen genügt.” Fass mich an, dachte sie. Gib mir eine Gelegenheit, dir weh zu tun, während du versuchst, mir etwas anzutun.

Aber er knirschte nur mit den Zähnen und blitzte sie durch die zu Schlitzen verengten Augen an. Sie war erstaunt über sich selbst, wie sie ihn jemals anziehend hatte finden können.

“Vergebt mir, hochwohlgeborene Lady, dass unsere bescheidene Bäckerei auf dem Lande nicht Eurem vornehmen Geschmack entspricht.”

Sie sah seine zu Fäusten geballten Hände. Gut, dachte sie schadenfroh. Nur noch ein wenig mehr…

“Ach, keine Sorge. Ich weiß ja, dass ihr euch bemüht, so gut ihr könnt”, gurrte sie herablassend. Krions verärgerter Blick erstickte das Kichern eines der Jungs.

“Wie geht es deinem Arm?” Sie ließ ihre Stimme vor wonnevoller Bosheit triefen. Dies war das Letzte, das ihr einfiel, um ihn genug zu provozieren, sodass er am helllichten Tag Hand an sie legen würde.

Ein Gefühl von Triumph schoss durch sie, als sie fühlte, wie sich die Finger seiner intakten Hand in ihren Oberarm bohrten. Es war kein direkter Hautkontakt, aber besser als nichts. Ein paar dünne Lagen Stoff waren kein Problem. Damit konnte sie arbeiten.

Mit ihren inneren Sinnen tastete sie sich vor und wandte die diagnostischen Fähigkeiten an, die ihr Vater sie gelehrt hatte, um in seinen Körper hineinzusehen. Sie folgte dem schwachen Energieimpuls, den sie den Arm hinauf gesendet hatte, der sie festhielt. Auf seinen Unterarm konzentriert, instruierte sie seinen Körper, die Substanz des gesunden, starken Knochens an einem bestimmten Punkt langsam zu reduzieren. Nicht vollständig, nichts, das er fühlen konnte, aber genug, damit er bei der nächsten überdurchschnittlichen Belastung brechen würde.

Diese Technik war das exakte Gegenteil zum Heilen, funktionierte aber wesentlich schneller. Komisch, dachte sie, wie viel einfacher es war, Schaden zu verursachen als ihn zu reparieren.

Seine Freunde hatten schließlich doch entschieden, dass er zu weit ging und griffen nach seinen Schultern, um ihn von ihr wegzuziehen.

“Was glaubst du, was du hier machst?”, hörte sie einen von ihnen flüstern.

“Bist du total verrückt?”

Krion befreite sich aus ihrem Griff, machte kehrt und marschierte wortlos davon.

Sie verbarg ein Lächeln, als sie ihn in der Taverne verschwinden sah und die Tür hinter ihm alles andere als sanft geschlossen wurde.

* * *

Die Tür des kleinen Hauses wurde gewaltsam aufgestoßen und krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Wand. Eryn zuckte zusammen und blickte von den getrockneten Kräutern, die sie auf dem Tisch sortierte, auf.

Treban war außer sich vor Zorn und Ärger, das konnte sie daran erkennen, wie das Blut durch die hervortretende Ader an seinem Hals pulsierte. Das verhieß nichts Gutes, und sie konnte sich nur einen einzigen Grund vorstellen, der ihn in so eine Stimmung versetzt haben konnte.

“Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?” Seine Stimme hatte diese bedrohliche, gezwungene Ruhe angenommen, die die Rage, die sie in seinen stechenden Augen sehen konnte, kaum zurückzuhalten vermochte. Er stand noch immer im Türrahmen. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass ihr nicht bewusst sein könnte, wovon er sprach.

Also hatte Krion schließlich seinen anderen Arm gebrochen, genau wie sie es beabsichtigt hatte. Und nun hatte sie den Preis für ihre Rache zu bezahlen: Sie musste ihrem Vater gegenübertreten.

Die Kräuter auf dem Tisch bedeckte sie mit einem sauberen Tuch, damit die kalte Brise, die durch die offene Tür hereinwehte, sie nicht durcheinanderwirbeln konnte. Dann schluckte sie und erhob sich. Es war besser, dabei zu stehen.

“Er hat bekommen, was er verdient hat”, sagte sie leise, in dem vollen Bewusstsein, dass ihr Vater das nicht gut aufnehmen würde.

“Was er verdient hat? Was er VERDIENT hat?” Er schlug die Tür mit einer kraftvollen Bewegung seiner Hand zu, sodass die Bilderrahmen mit den getrockneten Kräutern an der Wand erbebten. “Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich dir nicht zuteilwerden lasse, was du verdienst! Du bist nicht besser als dieses Tier! Du hast deine Kräfte benutzt, um jemandem Schaden zuzufügen, der sich nicht dagegen zur Wehr setzen konnte! Ich schäme mich für dich!” Die Lautstärke seiner Stimme war mit jedem Satz leiser geworden, bis sie auf ihrem üblichen Level angelangt war.

Sie zuckte unter seinen Worten zusammen, obwohl sie diese fast Wort für Wort erwartet hatte. Die reduzierte Lautstärke machte es nicht einfacher, sie zu hören. Im Gegenteil. Sie wartete still darauf, dass er fortfuhr. Er sah nicht aus, als wäre er bereits fertig mit ihr.

“Ich habe dir von den Gefahren des Missbrauchs erzählt, wie unsere Kräfte Seelen korrumpieren können. Dass Menschen, die der Ansicht sind, sie seien aufgrund ihrer Fähigkeiten überlegen, anderen und sich selbst immenses Leid zufügen können. Du hast soeben den ersten Schritt auf diesen Abgrund zu getan.” Er klang leer, resigniert. Sie war beinahe erleichtert, als sein Ärger erneut aufflammte.

“Hast du mir überhaupt nicht zugehört?” Er war näher zu ihr getreten, und seine Worte wurden begleitet von seiner Faust, die fest genug auf dem Tisch landete, damit es die Kräuter kurz hob. Und Eryn.

Sie schluckte hart und blieb vor ihrem Vater stehen, senkte ihren Blick unter seinem. Dies war nicht das erste Mal, dass sie ihn so erzürnt erlebte, aber niemals zuvor war sie das Ziel seiner Wut gewesen. Sie fragte sich, ob er sie zum ersten Mal schlagen würde.

Er trat einen Schritt zurück, als ob er sich selbst davon abhalten wollte, genau das zu tun. Dann drehte er sich um. “Ich kann deinen Anblick jetzt nicht ertragen”, sagte er und öffnete die Tür erneut. “Wir reden später.” Und weg war er.

Eryn starrte ihm nach und spürte, wie ihr Mund austrocknete. Sie frage sich, ob sie ihm hinterherlaufen sollte, um sich zu entschuldigen und ihn um Vergebung zu bitten. Sie entschied sich aus zwei Gründen dagegen. Zum einen war er definitiv nicht in der Stimmung, eine Entschuldigung zu akzeptieren, und zweitens wäre es eine Lüge.

Es tat ihr absolut nicht leid, was sie getan hatte, und sie war überzeugt, dass sie keineswegs einen dunklen Pfad eingeschlagen hatte, der zu Ruin und Verdammnis führte. Aber sie bedauerte den Kummer ihres Vaters und fühlte, wie seine Zurückweisung in ihr brannte.

Sie würde es irgendwie wiedergutmachen. Vielleicht wäre ein gutes Abendessen ein Anfang. Sie band sich die Kochschürze um und begann, Gemüse zu putzen.

* * *

Eryns Blick wanderte wieder und wieder zur Tür, wann immer sie dachte, sie hätte ein Geräusch von draußen vernommen. Ihr Vater war nun schon seit vielen Stunden weg, und es war bereits dunkel. War er böse genug mit ihr, um die ganze Nacht über wegzubleiben? Sie hoffte es nicht.

In einem Versuch, sich zu beschäftigen, setzte sie ihre Arbeit an der Medizin fort und füllte Kräuterzubereitungen in kleine Glasfläschchen, mahlte Kräuter zu feinem Pulver, damit es später direkt vor Gebrauch mit Wasser vermischt werden konnte, und füllte es in kleine Ledersäckchen.
Sie wusste, dass Ihr Vater mit ihren Bemühungen zufrieden sein würde. Immerhin hatte sie ihm etliche Stunden an Arbeit erspart. Und sie hoffte, dass dies seine Gesinnung ihr gegenüber verbessern und er ihr schneller vergeben würde. Natürlich würde er den Grund dafür, dass sie die Kräuter verarbeitet hatte, sofort durchschauen, aber das spielte keine Rolle. Er war normalerweise niemand, der einen vernünftigen Bestechungsversuch verschmähte, wenn er ordentlich umgesetzt war. Er hatte diese Art von Humor.

Sie war beinahe fertig, als sie sah, dass Fackeln hinter dem Hügel, der den Großteil des Weges zum Dorf verdeckte, auftauchten. Sie zählte fünf. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie fühlte ein banges Gefühl in sich aufsteigen. Waren die Männer aus dem Dorf gekommen, um ihren betrunkenen Vater nach Hause zu bringen? Der Gedanke war schauderhaft, aber je näher die Männer kamen, desto mehr hoffte sie, dass es nicht mehr als das war.

Als sie nahe genug waren, dass sie die Gesichter erkennen konnte, öffnete sie die Tür. Ihr Vater war nicht unter ihnen.

Die blassen Gesichter zeigten einen Ausdruck grimmigen Kummers, als sie Eryn ansahen. Sie konnte in den Augen lesen, dass etwas Schreckliches, Entsetzliches passiert war. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor, noch bevor der Älteste unter ihnen, der Glashersteller, der die Fläschchen für ihre Medizin produzierte, zu sprechen begann.

“Dein Vater ist tot, Kind.” Seine Stimme klang rau und betrübt.
Tränen verschleierten ihren Blick, und der plötzliche Schmerz in ihrem Brustkorb zwang sie in die Knie. Sie fühlte Hände auf ihren Schultern, die sie hochhoben und zurück ins Haus in den Sessel ihres Vaters vor dem Kamin führten. Sie rang nach Luft, während ungestüme Schluchzer aus ihr hervorbrachen.

Tot! Nein – das war nicht möglich. Er konnte nicht für immer verloren sein, wo sie doch erst vor ein paar Stunden miteinander gesprochen hatten. Die letzten Worte zwischen ihnen… Seine waren gewesen, dass er sich für sie schämte, und ihre letzten Worte waren in Missachtung seiner Werte gesprochen. Sie würde mit dieser Bürde leben müssen, ohne jemals die Chance zu haben, es wiedergutmachen zu können.

Sie wusste nicht, wie lange sie mit den Männern dort gesessen hatte, die versuchten, sie zum Trinken des starken Gebräus zu überreden, das sie ihr an die Lippen hielten.

Nachdem ihr Schluchzen an Kraft verloren hatte, wechselte der Glashersteller einen Blick mit den anderen Männern, bevor er erneut sprach: “Dein Vater wurde getötet, Eryn. Prowel hat ihm ein Messer in den Rücken gerammt. Er hat deinen Vater beschuldigt, er hätte Krions anderen Arm gebrochen. Er kann nicht mehr richtig im Kopf gewesen sein.”

Sie starrte zu ihm auf, kaum in der Lage die Worte zu begreifen, die sie hörte. Als die volle Bedeutung der Nachricht in ihr Bewusstsein drang, ergriff eisige Kälte Besitz von ihr und traf sie tief im Innersten ihres Wesens.

Ihr Vater hatte sie gewarnt. Es kam nichts Gutes dabei heraus, wenn Magie gegen die Schutzlosen eingesetzt wurde, gegen diejenigen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Er hatte Recht, erkannte sie mit grauenvoller, betäubender Klarheit.

Ihre Tat hatte ihm sein Leben gekostet.

 

Kapitel 2

Enric

Er saß auf dem Dach der Bäckerei, die dem Palast am nächsten war und betrachtete den Sonnenaufgang. Das war untypisch für ihn. Üblicherweise vermied er es, vor Tagesanbruch aufzustehen, außer er hatte keine andere Wahl. Er fragte sich, ob die heutige Ausnahme etwas mit dem zu tun haben mochte, was ihn in wenigen Stunden erwartete, schloss dies aber schnell aus. Er blies eine Strähne seiner etwas zu langen Haare aus seinen blauen Augen. Es war für ihn ein kleiner Akt der Rebellion, sie nicht so zu tragen, wie es von ihm erwartet wurde. In Wirklichkeit einer von vielen.

Ein paar Passanten blickten zu dem jungen Mann Anfang Zwanzig auf, der so einen ungewöhnlichen Ort gewählt hatte, um in den Himmel zu starren. Sie setzten ihren Weg jedoch fort, sobald sie seine Robe identifiziert hatten: Es war ein Magier. Am besten mischte man sich nicht ein, was auch immer sie gerade anstellten.

Alle seine Kollegen, die ihr Training dieses Jahr gleichzeitig mit ihm beendet hatten, würden getestet und ihre magische Stärke gemessen. Daraufhin konnten sie sich für eine passende Stelle im Orden bewerben. In einer Institution, in der die Hierarchie durch den Umfang der magischen Stärke, über die man verfügte, festgelegt wurde, war dies praktisch eine Evaluierung persönlichen Wertes, überlegte Enric. Er war noch nie ein Freund von Evaluierungen gewesen, egal ob magisch oder intellektuell.

Und somit war er auch nie ein besonders aufmerksamer Student gewesen. Er hatte den Komfort, den ihm sein Status als Magier ermöglichte, genossen. Er kam aus einer Familie wohlhabender Kaufmänner und war nicht gerade als Bettler aufgewachsen, aber der Beitritt zum Orden war dennoch ein Schritt nach oben, soweit es seine Lebensumstände betraf.

Seine Eltern waren außer sich vor Freude, als sie seine Fähigkeiten entdeckt und sofort den Orden informiert hatten. Er war damals zwölf Jahre alt. Erstaunlich, sinnierte er, wie nervtötend und ermüdend die zehn Jahre seitdem gewesen waren. Er hätte es aber nicht vorgezogen, diese Zeit mit seinem Vater zu verbringen.

Die Begeisterung und der Stolz seiner Eltern wandelten sich allerdings schnell zu Ärger und Frustration, nachdem sie wiederholt Nachrichten anlässlich seiner wenig produktiven Einstellung erhalten hatten. Sein Vater war ein Händler durch und durch. Mühevoll versuchte er, seinem Sohn die Idee zu verkaufen, dass aus ihm ein wichtiger Mann mit wichtigen Pflichten werden könnte, der seine Familie mit Stolz erfüllte und große Dinge erreichte. Vergeblich.

Der Orden der Magier war dem Zweck der Verteidigung des Königreichs gewidmet. Geschichtelehrer waren mittlerweile die einzigen Menschen, die noch wussten, wann das letzte Mal ein tatsächlicher Bedarf dafür vorhanden war. Das Kampftraining war in Ordnung gewesen, Enric hatte es genossen. Lord Orrin, sein Lehrer, war allerdings nicht eben begeistert von seiner Faulheit und seinem Mangel an Respekt.

Die restlichen Fächer und Stunden der letzten Jahre verschmolzen zu einer Art verschwommenen Sphäre aus Information. Er schloss ein Jahr später als gewöhnlich ab, da er an das Lernen nicht eben ehrgeizig herangegangen war und einige Prüfungen wiederholen musste.

Heute war der Tag, an dem sich sein Platz in der Hierarchie des Ordens weisen würde. Er war nicht nervös als solches – eher neugierig. Er wusste, dass er stärker als die meisten – wenn nicht alle – Absolventen dieses Jahrgangs war. Aber es würde interessant werden, zu sehen, wie weit er nach oben kommen würde. Nicht zu weit, hoffentlich. An die verantwortungsvolleren Positionen waren Anforderungen geknüpft. Er war kein großer Freund von Anforderungen, Regeln und allem in dieser Richtung.

Die meisten seiner Lehrer hatten ihn wegen seiner Faulheit gerügt, als offensichtlich war, dass er ein Talent für Magie und deren Anwendung hatte. Er aber wollte weder die Zeit noch die Energie investieren, um diese Fähigkeiten kompetent zu meistern. Sie hatten versucht, ihm klar zu machen, dass Magie ohne das Wissen, wann und wie man sie einsetzte, ihn zurückwerfen würde, aber er hatte ohnehin nicht geplant, es weit zu bringen.

Eine nette Stelle als Beamter oder Assistent im Orden wäre genau das Richtige für ihn. Etwas, das ihm genug Freizeit übrigließ, um sich seinen Interessen zu widmen – wie der Jagd und Zeit mit seinen Freunden zu verbringen.

* * *

Er stand mit einer Gruppe junger Magier in seinem Alter beisammen. Die meisten von ihnen waren unruhig. Manche gaben es offen zu, andere versuchten es durch Selbstdarstellung oder mit Unfreundlichkeit zu verbergen.

“Es gibt nicht viel, vor dem du dich fürchten müsstest, was Enric?”, fragte sein guter Freund Kilan. “Du bist so ziemlich der Stärkste dieses Jahr, würde ich sagen. Vielleicht wartet ja ein nettes Plätzchen in den oberen Rängen auf dich?” Er sprach die letzten Worte mit einem Lächeln, wohl wissend, dass dies absolut nicht das war, wonach Enric strebte.

“Ja, wäre das nicht fabelhaft”, antwortete Enric lustlos.

Kilan wurde als Nächster hineingerufen, um getestet zu werden. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkehrte. Er sah zufrieden aus.

“Kategorie D, nicht übel”, grinste er. Ihm war bewusst, dass er keine Chance hatte, es höher als in C zu schaffen und hatte gehofft, nicht unterhalb von E klassifiziert zu werden. Somit war die goldene Mitte absolut in Ordnung.

“Gratuliere, Kumpel.” Enric wandte sich um, als die Flügel der Doppeltür erneut geöffnet und sein Name aufgerufen wurde. “Wir sehen uns gleich.”

Er betrat die Halle und verbeugte sich vor den versammelten Magiern, die im Gegenzug ihren Kopf neigten.

Enric ließ seinen Blick über die zehn Männer wandern. Er wusste, dass sie aus verschiedenen Stärkekategorien ausgewählt waren. Der Stärkste von ihnen war Lord Poron, Kategorie B, soweit er wusste, und damit der zweitstärkste Magier im Orden und dem Königreich. Enric war schon immer der Meinung gewesen, dass er gut in die Rolle der Nummer Zwei passte. Er musste in den Sechzigern sein, sein dünner werdendes Haar zu einem kurzen Zopf in seinem Nacken zusammengebunden, seine Augen intelligent und scharf, als würden sie die Welt um ihn herum einer ständigen Analyse unterziehen.

Einige der Magier waren ihm nur vom Sehen her bekannt, ein paar davon waren seine ehemaligen Lehrer.

Ihr Gesichtsausdruck war nicht eben enthusiastisch, als er eintrat. Mit Ausnahme von Lord Orrin, seinem Kampflehrer, der sich als einziger niemals irgendeine Frechheit von Enric gefallen hatte lassen, hatte keiner von ihnen besonders angenehme Erinnerungen an ihn.

“Schild hoch!” Lord Porons Anweisung wurde als Echo von den hohen Steinwänden zurückgeworfen.

Er folgte der Anweisung, und wenige Augenblicke später traf der erste Energieblitz seine Barriere. Zwei weitere wurden in seine Richtung geschickt, ohne dass etwas passierte. Ein zweiter Magier, sein alter Geschichtelehrer, falls seine Erinnerung ihn nicht betrog, schloss sich seinem Kollegen an und begann, Enrics Schild anzugreifen. Nichts passierte.

Weitere Magier stiegen mit ein, einer nach dem anderen, bis sieben von ihnen Stöße in kurzen Abständen losließen. Enric sah, wie sie die Stirn runzelten. Dann hob Lord Poron seinen Arm, um sie zu stoppen. Er atmete tief ein, zielte mit der Handfläche seines ausgestreckten Armes auf ihn, und feuerte einen klaren Blitz auf den Schild.

Er durchdrang die Barriere nicht. Lord Poron sah blass und beunruhigt aus und winkte dem Schreiber, dessen Aufgabe es war, die Kategorie jedes Magiers zu notieren. Er flüsterte etwas in das Ohr des jungen Mannes, worauf dieser sogleich loslief.

Enric wartete, den Schild nach wie vor aktiv. Diese Spielerei war Zeitverschwendung. Warum begannen sie nicht endlich richtig, damit er bald auf ein kaltes Getränk zu seinen Freunden stoßen konnte?

“Bin ich fertig? Kann ich gehen? Welche Kategorie bin ich?”, rief er den versammelten Magiern zu, die begonnen hatten, untereinander zu flüstern und ihm gelegentlich besorgte Blicke zuwarfen.

Lord Poron schritt auf ihn zu. “Wir müssen noch um ein wenig Geduld bitten, junger Mann. Wir erwarten noch jemanden. Ich bin zuversichtlich, dass er bald eintreffen wird.”

Enric runzelte verwirrt seine Stirn. “Was ist los? Bei den anderen vor mir hat das nur ein paar Momente gedauert. Ich stecke nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten, oder?” Er konnte sich nicht daran erinnern, kürzlich etwas angestellt zu haben, wofür er sich schuldig fühlen müsste.

“Nein.” Lord Porons Lächeln wirkte etwas gezwungen. “Keine Schwierigkeiten, sei versichert.” Dann kehrte er zu den anderen Magiern zurück und ließ den jungen Mann allein in der Mitte der Halle stehen.

Es war nicht viel Zeit vergangen, bevor sich die Doppeltür erneut öffnete und der Anblick des Mannes, der eintrat, Enrics Augenbrauen überrascht nach oben schnellen ließ. Es war Lord Tyront, der Chef des Ordens. Was brachte ihn hierher?

Lord Tyront war Mitte Vierzig, ein großer, respekteinflößender Mann mit ersten grauen Strähnen in seinem Bart. Seine blassblauen Augen fokussierten sich sofort auf Enric und blieben dort, während er ohne ein Wort zu den anderen Magiern auf ihn zutrat.

Sobald er nur noch wenige Schritte entfernt war, erhob er seine dröhnende Stimme: “Schild hoch, Junge.”

Enric folgte der Anweisung hastig und trat einen Schritt zurück, woraufhin eine Salve an Blitzen von Lord Tyronts Handfläche auf seine Barriere geschossen kam. Sie waren stärker als das, was man ihm zuvor entgegengeschleudert hatte, merklich stärker. Der ältere Mann fuhr fort, ihn zu attackieren, jede Salve stärker als die vorhergehende. Bald schon begann sein Schild zu flackern, und er schickte schnell mehr Energie hinein, um ihn aufrechtzuerhalten.

Lord Tyront hielt kurz inne, betrachtete ihn nachdenklich und dann, ohne Warnung, schoss er einen weißen Blitz ab, der Enrics Barriere durchdrang und ihn auf den Rücken zu Boden warf.

Der junge Mann unterdrückte einen schmerzlichen Aufschrei. Man zeigte kein Anzeichen von Schwäche vor dem mächtigen Anführer des Ordens. Er kämpfte sich zurück in eine aufrechte Position und blickte den Mann, der ihn niedergestreckt hatte, finster an. Das war wohl kaum nötig gewesen.

Als sein Blick zu den Magiern im Hintergrund zurückkehrte, sah er ein paar Münder offenstehen, andere hatten ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Es herrschte völlige Stille.

“Bin ich jetzt fertig?”, wollte er wissen.

Lord Tyront lächelte verbissen. “Oh nein, mein junger Freund. Du bist nicht fertig. Tatsächlich wirst du noch längere Zeit nicht fertig sein.”

Enric starrte ihn verwirrt an. “Was?”

“Kategorie A”, verkündete der Anführer laut und für jeden in der Halle hörbar. “Wir haben eine neue Nummer Zwei.” Dann drehte er sich um und verließ den Raum auf dem gleichen Weg, den er gekommen war.

Enric starrte ihm noch immer voller Unverständnis nach, selbst nachdem sich die schweren Türen mit einem lauten Donner hinter ihm geschlossen hatten.

Er schüttelte seinen Kopf. Etwas musste mit seinen Ohren nicht stimmen. Kategorie A? Was für ein Unsinn! Niemand war so stark, abgesehen natürlich vom Magier an der Spitze.

Die Art und Weise, wie ihn die Magier ungläubig anglotzten, ließ ihm die Wahrheit allmählich bewusstwerden.

Sie hatten Lord Tyront gerufen, weil Lord Poron, der zweitstärkste Magier des Ordens, nicht in der Lage war, Enrics Schild zu durchdringen. Ihm wich jede Farbe aus dem Gesicht, als ihm langsam die volle Auswirkung dessen, was soeben passiert war, klarzuwerden begann.

“Oh nein”, stöhnte er und schloss seine Augen.

* * *

Tyront seufzte und spürte die Spannung, die sich langsam hinter seiner Stirn aufbaute, als er die Berichte über seinen zukünftigen Stellvertreter las. Der Junge verursachte ihm nun schon seit Wochen Kopfschmerzen.

Wenn man Enrics bisherigen Werdegang in Betracht zog, war es kaum eine Überraschung, dass er nicht sehr gut auf den Trainingsplan, dem er zu folgen hatte, reagierte. Er kooperierte nicht mehr als unbedingt nötig, um der Anschuldigung offenen Ungehorsams zu entgehen. Beinahe ein Monat war nun vergangen, und es sah nicht so aus, als würde sich seine Einstellung irgendwann in naher Zukunft ändern.

Er hatte nicht nur eine Menge neuer Dinge zu lernen und Fähigkeiten zu erweitern, sondern musste auch noch jede einzelne Prüfung wiederholen, die er im Laufe der Jahre seines Trainings zum Magier knapp oder auch nur mit durchschnittlicher Punktezahl bestanden hatte.

In seiner neuen Position musste er als Vorbild fungieren, eine respektierte Säule des Ordens, eine Quelle der Weisheit und des Wissens und, falls erforderlich, ein starker Anführer in der Schlacht sein. Das Bild des faulen Taugenichts, das er in den letzten Jahren kultiviert hatte, musste er hinter sich lassen.

Orrin hatte als Einziger etwas entfernt Positives über ihn zu berichten. Also ging zumindest das Kampftraining einigermaßen gut voran.

Unglücklicherweise war dies nur ein geringer Trost und keineswegs genug, um das Training in seiner Gesamtheit als Erfolg zu betrachten.

Seine Gedanken wanderten zu Lord Poron, seiner derzeitigen Nummer Zwei. Wie zu erwarten, war er wenig begeistert darüber, ersetzt zu werden, insbesondere von jemandem wie Enric. Er war nicht der rachsüchtige Typ, überlegte Tyront, und würde seinem Nachfolger das Leben nicht schwerer als nötig machen. Schade, dachte er. Ein Anlass zum Kämpfen, wenn auch nur gegen einen verdrossenen Vorgänger, hätte Enric möglicherweise dazu motiviert, sich endlich anzustrengen. Es schien, als würde er sich selbst darum kümmern müssen.

Es war Zeit für eine kleine Unterhaltung mit Enric.

* * *

Enric schluckte, als er die Nachricht auf dem weichen, teuer aussehenden hellbraunen Papier las, das ein Bediensteter nur eine Minute zuvor gebracht hatte. Es stand nicht viel darauf geschrieben, nur: Mein Quartier, neun Uhr. Lord Tyront.

Das war in weniger als einer Stunde. Nicht genug Zeit, um sich ordentlich vorzubereiten, aber ausreichend Zeit, um so richtig nervös zu werden. Das war wahrscheinlich die Idee dahinter, vermutete er.

Es gab wenig Zweifel über den Grund für diese Ladung. Seine Fortschritte waren, das war ihm sehr wohl bewusst, alles andere als zufriedenstellend. Für Enric war dies vollkommen in Ordnung, er hatte diese Ehre, die ihm zwangsweise widerfahren war, ohnehin nie gewollt.

Der Anführer des Ordens aber würde kaum damit zufrieden sein, wie die Dinge liefen. Eine Einladung, bei der er sich für seine dürftigen Leistungen rechtfertigen musste, war wirklich nur eine Frage der Zeit gewesen.

Seit dem Tag des Tests hatte Lord Tyront keinerlei Interesse an ihm gezeigt. Mit dieser Nachricht war es das erste Mal, dass er etwas von ihm gesehen oder gehört hatte. Der hohe Lord gewährte seine Aufmerksamkeit offenbar nur dann, wenn etwas nicht ordnungsgemäß verlief. So wie jetzt.

Enric sah sich in seinem neuen Quartier im königlichen Palast um und fühlte sich noch immer etwas verloren. Dies hier war im Vergleich zu seiner vorherigen Bleibe wie der Unterschied zwischen einem Setzling und einem Baum. Vier große Räume, alle für ihn. Das war mehr, als er tatsächlich benötigte. Aber einen hohen Rang zu bekleiden bedeutete nicht, nur das zu haben, was erforderlich war, oder? Sein Quartier war auch dazu gedacht, seine Wichtigkeit zu reflektieren, repräsentativ zu sein.

Repräsentativ war es wohl, seufzte er. Die Frage war nur, was es repräsentierte. Auf jeden Fall nicht seine Persönlichkeit.

Das Apartment war elegant und luxuriös möbliert und ließ keine Wünsche offen. Der Salon allein war größer als die beiden Räume, die er zuvor bewohnt hatte. Und ihm war sogar ein eigener Diener zugeteilt, der die Reinigung übernahm, die Mahlzeiten aus der Palastküche holte und sich um jede seiner Launen kümmerte.

Enric war stets jemand gewesen, der Luxus genossen hatte. Allerdings nicht in einem Ausmaß, das ihn genug motiviert hätte, die Mühen zu investieren, die von ihm erwartet wurden. Damit in Verbindung stand so vieles, das er einfach nicht wollte. All diese Verantwortung, die Folgen im Falle eines Fehlschlags, die harte Arbeit um dorthin zu gelangen… Nein.

Das war nicht das, was er für sich geplant hatte. Was er gewollt hatte und noch immer wollte, war ein angenehmes, unkompliziertes, gemütliches Leben, möglichst keine harte Arbeit, genügend Zeit für seine Freunde und viel Zeit für sich selbst.

Seine Freunde – das war eine weitere Angelegenheit, die ihm zusetzte. Die meisten von ihnen hatten sich seit der großen Ankündigung von ihm zurückgezogen. Und selbst bei denjenigen, die sich noch immer mit ihm trafen, hatte die Frequenz erheblich abgenommen. Sogar Kilan, sein engster Freund, der Dank der Position seines Vaters an den Kontakt mit einflussreichen Persönlichkeiten gewohnt war, hatte begonnen, sich merklich von ihm zu entfernen.

Enric starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen.

Wie war es nur möglich, dass ausgerechnet er sich als zweitstärkster Magier des Königreichs entpuppt hatte? Was für ein Witz!

* * *

Die Tür wurde auf Enrics Klopfen hin geöffnet. Ein älterer Diener verneigte sich leicht und trat dann zurück, um ihm den Zutritt zum Salon zu ermöglichen. Es war ein Raum seinem eigenen sehr ähnlich, wenngleich hier ganz klar der Einfluss einer weiblichen Hand spürbar war.

Lord Tyront erhob sich von seinem Platz am Fenster und musterte seinen Gast von oben bis unten. Er machte sich nicht die Mühe einer Begrüßung, sondern deutete auf eine dunkelrote Couch vor einem kleinen, runden Tisch.

“Hinsetzen.”

Ebenfalls einen guten Abend, dachte Enric gereizt, tat aber wie ihm geheißen.

“Bitte lass uns allein”, instruierte Tyront den Diener und wartete, bis der Mann sich zurückgezogen hatte. Dann wandte er sich an Enric und blickte ihn finster an.

Er blieb stehen und begann ohne Einleitung: “Deine Leistungen bleiben hinter meinen Erwartungen zurück. Rechtfertige dich!” Seine Worte klangen harsch, sein Ton war es nicht.

Enric setzte sich unbewusst etwas aufrechter hin, eine tiefliegende Angewohnheit aus seiner Kindheit, als von ihm erwartet wurde, dass er Respekt zu zeigen hatte, wenn er gescholten wurde.

“Es tut mir leid, Lord Tyront.”

“Nein, das tut es nicht. Ich habe dich nicht gebeten, mich anzulügen, ich habe nach einem Grund gefragt.”

“Ich… ich muss zugeben, mein Lord, dass ich mit der derzeitigen Situation nicht sehr glücklich bin.”

Lord Tyront seufzte ungeduldig. “Hör auf, um den heißen Brei herumzureden, Junge. Sag, was dir durch den Kopf geht.”

Der junge Mann hob trotzig sein Kinn als er sprach: “Ich will nicht in diese Position gezwungen werden. Ich habe weder darum gebeten, noch bin ich daran interessiert.”

“Endlich eine klare Aussage”, kommentierte der andere trocken und nahm schließlich seinem widerwilligen Gast gegenüber Platz. “Was genau stößt dich ab?”

Auf der Suche nach den richtigen Worten hob Enric mehrmals hintereinander seine Arme und ließ sie wieder fallen, bevor er antwortete:

“Alles.”

“Geht es etwas detaillierter? Das ist nicht unbedingt hilfreich”, sagte der ältere Mann geduldig.

“Die Verantwortung. Ich meine, was genau qualifiziert mich für eine Position, in der ich viel ältere, viel erfahrenere Magier als ich es bin befehlige? Das macht keinerlei Sinn! Was ist, wenn ich etwas falsch mache oder falsche Entscheidungen treffe? Die Konsequenzen!”

“Was dich zuallererst qualifiziert, ist deine überlegene Stärke, da sie dem primären Zweck des Ordens, also der Verteidigung, dient; und als zweites das Wissen und das spezielle Training, das du derzeit erhältst.” Lord Tyronts Stimme war ruhig. “Was noch?”

“Die Arbeit. Ich möchte unabhängig sein, nicht gesagt bekommen, was ich tun soll, nicht die ganze Nacht umsonst arbeiten, mehr Zeit haben für mich und…” Er hielt inne.

“Und deine Familie? So wie dein Vater, der erfolgreiche Kaufmann, der fast immer rund um die Uhr gearbeitet hat, um der nächsten Gelegenheit für ein gutes Geschäft hinterherzujagen? Der dich und deine Geschwister in der Obhut seiner unglücklichen Gefährtin zurückließ, außer er stellte Forderungen, denen du zu gehorchen hattest?”

Enric starrte Lord Tyront an. Wie war es möglich, dass er darüber Bescheid wusste? Er hatte niemals irgendjemandem davon erzählt, nicht einmal seinen engsten Freunden. Er fühlte sich entblößt, verwundbar. Dieser Mann, dessen Gesicht jedem in der Stadt bekannt, der für ihn jedoch ein Fremder war, war unbefugt in sein Privatleben eingedrungen.

Als er weiterhin schwieg und finster auf den Teppich starrte, fuhr Lord Tyront fort: “Und du hast dir soeben selbst widersprochen. Wenn es für dich ein Problem ist, andere, ältere Magier zu befehligen, warum solltest du dich dann daran stoßen, selbst gesagt zu bekommen, was du zu tun hast? Du kannst nicht beides haben; Positionen, in denen man weder Befehle gibt, noch welche erhält, sind nicht gerade im Einklang mit der Natur unserer Institution – und übrigens auch nicht mit der unserer Gesellschaft. Wobei ein Platz weit oben in der Hierarchie die Anzahl derer, die dich befehligen können, drastisch reduziert.”

“Da seid Ihr. Und der König”, erwiderte er missmutig. “Es mögen nicht mehr so viele über mir sein, aber diejenigen, die übrig sind, reagieren nicht sehr gut darauf, wenn ihre Befehle in Frage gestellt werden.”

Ein Problem mit Autorität, dachte Tyront. Aber das war kaum eine Überraschung nach den Einblicken, die ihm sowohl aktuelle als auch ältere Berichte gewährt hatten. “Korrekt. Es gibt nicht viel Raum, wenn es darum geht, die Befehle des Königs zu hinterfragen. Aber ich versichere dir, dass ich mir sehr wohl anhöre, was du zu sagen hast. Möglicherweise handle ich sogar danach, wenn es halbwegs vernünftig ist. Tatsächlich ist es sogar deine Pflicht, mich zu beraten.”

“Ich, Euch beraten?” Enric schüttelte verzweifelt den Kopf. “Wie kann ich Euch beraten?”

“Als erstes wirst du erwachsen werden und hart daran arbeiten, die Erwartungen des Ordens – und meine – zu erfüllen.” Seine Worte enthielten nur den Funken einer Drohung. “Du wirst lernen, zu denken bevor du sprichst und handelst. Du wirst Respekt zeigen und ihn auch im Gegenzug einfordern. Zuvor jedoch musst du erst zu jemandem werden, der Respekt verdient.”

“Ich will das alles nicht”, flüsterte der junge Mann.

“Das Problem ist, dass uns niemand fragt, was wir wollen”, antwortete Tyront verständnisvoll. “Aber lass mich dir eines sagen: Männer, die es nach großer Macht gelüstet, sind in der Regel diejenigen, die am wenigsten geeignet sind, sie auszuüben. Das ist die eine Sache, die für dich spricht, mein Junge.” Er lehnte sich nach vorne und fing Enrics Blick ein, fesselte ihn mit seinem eigenen, durchdringenden Starren. “Deine Angelegenheiten sind etwas, mit dem du zurechtkommen musst, indem du schnell erwachsen wirst. Du magst die oberen Ränge als einen Haufen harmloser alter Männer sehen, aber lass mich dir sagen, dass Schwächlinge unter uns nicht lange bestehen. Die Luft ist dünn hier oben, wie du früh genug lernen wirst.” Und dann sprach er aus, wovon er sicher war, dass es funktionieren würde: eine Herausforderung.

“Bist du schwach, Enric?”

 

Kapitel 3

Ausgeliefert

12 Jahre später

Eryn kletterte den steilen, in Ermangelung eines besseren Wortes, Pfad hinauf. Sie fischte ein Tuch aus der Leinentasche, die sie quer über ihre Schulter und über ihren Brustkorb geschlungen hatte, und wischte ihre verschwitzte Stirn ab. Das Sammeln von Kräutern war eigentlich eine Aufgabe, die sie genoss, aber nicht bei dieser Hitze und ohne Schatten in Sicht.

Unglücklicherweise waren die Pflanzen, die sie brauchte, nur in größeren Höhen zu finden, denn sie benötigten eine Menge Sonnenlicht. Also würde sie in nächster Zeit keinen kühlen Fleck finden.

Sie hielt an, zog den robusten, ledernen Wassersack hervor und nahm einen großzügigen Schluck. Das Wasser war lauwarm und nicht unbedingt erfrischend, aber es tat seinen Zweck, es befeuchtete ihre trockene Kehle.

Nach der rückläufigen Baumlinie zu ihrer Linken zu urteilen, würde sie für den Rest des Weges noch etwa eine Stunde benötigen. Sie ging die paar Schritte zu einem Felsen und nahm Platz, um sich für eine kurze Weile auszuruhen. Sie sollte sich in dieser Hitze nicht zu sehr anstrengen.

Erinnerungen an fünfzehn Jahre zuvor, als sie diesen Weg zum ersten Mal gegangen war, überfielen sie plötzlich und ungebeten. Ihr Vater war an diesem Herbsttag bei ihr gewesen, hatte sie ständig angehalten, diesen Baum oder jene Blume zu identifizieren, hatte sie über die Vorgehensweise beim Herstellen von Medizin getestet, sie korrigiert, wenn ein Detail falsch oder ihr weitergeholfen, wenn ihr etwas entfallen war.

Vater. Der Schmerz des Verlustes war über die Jahre dumpfer geworden, wie auch die Verzweiflung, dass sie die Schuld daran trug. Zwölf lange Jahre hatten das bewerkstelligt. Sie hatte darum gekämpft, den Schmerz am Leben zu erhalten. Es war das Einzige, das sie noch mit ihm verband, der einzigen Person in ihrem ganzen Leben, der sie nahe gewesen war. Aber es war immer schwieriger geworden, den Schmerz zu halten und die abstumpfende Wirkung der Zeit zu bekämpfen.

Zu Beginn hatte es problemlos funktioniert – seine Bücher anzusehen, seine Zeichnungen, die Dinge, die er gebaut hatte – um die Erinnerung heraufzubeschwören. Tränen, die ihr trotz des großen Schmerzes die Illusion von Nähe gaben, waren ihr nach nur wenigen Sekunden in die Augen getreten.

Heute war der Schmerz beinahe außer Reichweite, so wie viele ihrer Erinnerungen an ihn. Was blieb, war die Leere, die Einsamkeit.

Mit fünfzehn Jahren war sie kaum mehr als ein Kind, und sogar zwölf Jahre später hätte sie noch gerne jemand Älteren und Weiseren um sich gehabt, der ihr nahe war, dem sie vollkommen vertrauen konnte.

Sie war in dem kleinen Haus am Rande des Waldes geblieben und hatte – so gut sie konnte – die Arbeit ihres Vaters als Dorfheilerin fortgeführt. Es war ihre Pflicht, ihre Buße, ihr Lebenszweck. Sie würde diese Mission fortsetzen, solange sie dazu in der Lage war.

Das letzte Mal hatten sie ein paar Wochen vor seinem Tod diesen Weg hier gemeinsam beschritten. Sie hatten ihre Kräutervorräte aufgestockt. Die ganze Zeit hatte sie an Krion gedacht und geplant, das gesamte Brot aufzuessen, damit sie einen Grund hatte, bald in die Bäckerei gehen zu können.

Krion. Sie erschauderte. Er war ebenfalls Teil ihrer Buße: Ihm regelmäßig im Dorf zu begegnen nach allem, was passiert war, was sie gemeinsam verursacht hatten. Ihr Vater war nicht der Einzige, der in dieser Nacht gestorben war.

Die Dorfbewohner hatten den Bäcker gelyncht, nachdem sie ihn mit dem blutigen Messer in der Hand über die Leiche des Heilers gebeugt vorgefunden hatten. Das hatten die Männer, die zu ihrem Haus gekommen waren, um ihr die schreckliche Nachricht zu bringen, nicht erwähnt.

Die Gerechtigkeit war flink und endgültig. Oder was die Dorfbewohner als solche erachtet hatten.

Sie war zerrissen zwischen dem Erstaunen über die Verehrung, die man ihrem Vater entgegengebracht hatte, und dem Horror vor dem gnadenlosen Abschlachten eines Mannes, den sie ein Leben lang gekannt hatten.

Nicht einer, sondern zwei Männer waren gestorben als Folge dessen, was sie getan hatte. Und niemand außer ihr wusste davon. Ihr Vater war immer unerbittlich gewesen, wenn es darum ging, ihre magische Gabe geheim zu halten. Und dieses Gesetz hatte sie niemals gebrochen.

Sie fragte sich, ob Krion über den Tod ihrer beiden Väter jemals Schuldgefühle empfunden hatte, oder ob sie die Einzige war, die diese Bürde trug.

Einige Tage, nachdem die Asche ihres Vaters dem Wind übergeben worden war, hatte sie Krion in seiner Bäckerei aufgesucht. Sie war nach Einbruch der Dunkelheit zu ihm gegangen, als die Bäckerei bereits für Kunden geschlossen war. Den Anblick seines Gesichts, als er die Tür auf ihr Klopfen hin öffnete, würde sie wahrscheinlich nie mehr vergessen. Schock und Horror hatten seine Züge verzerrt.

In diesem Augenblick war ihr bewusstgeworden, dass ihm davor graute, möglicherweise das gleiche Schicksal wie sein Vater zu erleiden. Die Dorfbewohner betrachteten ihn schließlich als die Ursache für diese ganze Situation. Er hatte ihr wortlos Zutritt gewährt und sie war eingetreten, nicht länger von Angst geplagt, was er mit ihr allein anstellen mochte.

Sie hatte sich zu ihm umgedreht, war sehr nahe an ihn herangetreten, hatte seinen Kragen gepackt und ihn zu sich heruntergezogen, so nahe, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. Seine Augen waren geschwollen vom Weinen. Sie erinnerte sich, dass sie sich darüber gewundert hatte, war er doch in ihren Augen nicht fähig, menschliche Gefühle zu empfinden. Für sie war er nicht mehr als ein Monster. Der saure Geruch von Tage altem Schweiß auf seiner Haut stach ihr in die Nase, ein Zeichen dafür, dass er seine Körperpflege vernachlässigte.

Sie hatte ihm in die Augen gestarrt und ihm gedroht, sie würde ihn dauerhaft verstümmeln, sollte sie jemals wieder hören, dass er eine Frau auch nur gegen ihren Willen angesehen hätte. Zwei gebrochene Arme wären im Vergleich dazu wie eine Umarmung. Dann war sie gegangen, alles andere als befriedigt mit der zusätzlichen Angst, die sie in seinen Augen wahrgenommen hatte – Angst, deren Ursache sie war.

Es funktionierte. Kein einziger weiterer Vorfall dieser Art war ihr in all den Jahren zu Ohren gekommen.

So hatte sie sich also mit fünfzehn Jahren der Herausforderung gestellt, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten – Jahre, bevor sie ihr Training beendet hätte. In Trebans Büchern zu lesen half ihr, ihr medizinisches Wissen zu erweitern. Allerdings war er immer sehr vorsichtig gewesen und hatte keine Bücher über Magie aufbewahrt, die zur Entdeckung seiner Kräfte führen konnten. Somit hatte ihr Magie-Training mit seinem Tod ebenfalls ein Ende gefunden. Sie hatte überlegt, zu experimentieren. Aber aus Angst davor, entdeckt zu werden, hatte sie den Gedanken immer und immer wieder verworfen. Man wusste nie, wer zusah, hatte ihr Vater immer gesagt.

Eryn seufzte und schüttelte die nostalgische Stimmung ab. Sie nahm einen weiteren Schluck des lauwarmen Wassers und steckte den Beutel wieder weg. Noch etwa fünf Stunden Tag – sie hatte vor, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause zu sein. Das war nicht realistisch, wenn sie hier weiterhin herumsaß. Es war noch ungefähr eine weitere Stunde zu gehen, dann ein oder zwei Stunden zum Sammeln der Kräuter, und schließlich brauchte sie drei Stunden für den Rückweg.

Ursprünglich wollte sie ihre Reise am Morgen beginnen, aber dann war ihr ein Patient in die Quere gekommen, dann ein weiterer, und ehe sie sich versah, war es Nachmittag und sie hatte hastig ihre Tasche gepackt und war losgegangen.

Falls sie genug Kräuter fand, überlegte sie, konnte sie genug Medizin vorbereiten, um über die nächsten drei Monate zu kommen. Sie musste noch mit dem Glashersteller über seine letzte Lieferung Fläschchen sprechen: Die Öffnung war zu eng, um die dickflüssigen Zubereitungen ohne Hilfe eines Holzstäbchens wieder herauszubekommen.

Sie fluchte, als sich ihr Schuh unter der Wurzel eines Baumes verfing und sie beinahe nach vorne fiel. Ein schneller Griff nach einem dünnen Baum verhinderte, dass sie auf ihren Knien landete. Sie lehnte sich an den Baum und schüttelte den Fuß, um ihn von der Wurzel zu befreien. Nach Luft schnappend hörte sie, wie das spröde Holz knackte und brach, dann rutschte sie die steile Böschung hinunter.

Panische Versuche, einen Baum, eine Wurzel oder einen Felsen im Fallen zu fassen zu bekommen, brachten ihr nicht mehr als zerkratzte und blutige Handflächen ein. Sie wollte schreien, aber kein Laut entkam.

Bitte – nur keine Kopfverletzung, war ihr letzter Gedanke, bevor ihr Kopf auf einem moosbedeckten Felsen, der ihren Absturz stoppte, aufschlug und sie regungslos auf dem schattigen Boden zum Liegen kam.

* * *

Feuerschein blitzte durch die Bäume, als sieben Männer durch den Wald stapften, jeder von ihnen mit einer entzündeten Fackel, um den Waldboden nach Spuren ihrer Heilerin abzusuchen. Sie war schon zu lange weg. Sie war eine vorsichtige Person, die immer Bescheid gab, wenn sie sich auf den Weg machte, um Kräuter zu sammeln. Immer ließ sie eine der Frauen im Dorf wissen, wohin sie unterwegs war und wann man sie zurückerwarten konnte.

Als fünf Stunden nach ihrer geplanten Rückkehr noch immer nichts von ihr zu sehen war, hatten sich zwei Gruppen von Männern auf die Suche gemacht. Der Schmied runzelte die Stirn, als er einen braunen Schuh entdeckte, der unter einer Wurzel feststeckte.

Er rief nach seinen Begleitern. Sie betrachteten den abgebrochenen Baum und sahen eine Spur. Da könnte jemand den Hang hinuntergerutscht sein.

Mit bedachtsamen Schritten kletterte eine Hälfte nach unten und entdeckte wenig später die regungslose Frau. Sie erkannten sie ohne Probleme an ihrem Gesicht, obwohl eine Schläfe blutverschmiert war. Sie hätten schwören können, dass es sich dabei um die Frau handelte, die sie alle kannten, seit sie ein Kind war, und die ihnen nun schon seit vielen Jahren ihre Dienste als Heilerin anbot.

Aber da war ein kleines Detail, das ihnen die Sprache verschlug und sie mehr als nur ein wenig einschüchterte: Ihr Haar, in dem sich nun eine Mischung aus Erde, kleinen Zweigen und Blättern verfangen hatte, sah fremdartig aus. Es hatte sich von einem strahlenden Blond zu einem dunklen Braun gewandelt.

* * *

Sie versuchte, ihren Kopf vom Sonnenlicht, das direkt auf ihr Gesicht schien und ihre Lider durchdrang, wegzudrehen. Die Bewegung war schmerzhaft und sie stöhnte leise, als sie langsam ihre Augen öffnete. Ihr Kopf schmerzte, und noch mehr Schmerzen bereitete ihr das Heben ihres Armes, um ihre Augen damit zu bedecken.

Sie schloss ihre Augen wieder und führte eine schnelle Kontrolle durch, indem sie einen kurzen magischen Impuls durch ihren Körper schickte. Er sollte ihr Informationen über den Schaden, den sie genommen hatte, aufzeigen: Ein verstauchter Knöchel, ein gebrochener Arm und eine Kopfverletzung. Nichts allzu Ernstes, sie konnte es in ein paar Minuten reparieren, auch wenn sie in ihrem derzeitigen Zustand ein paar Erholungspausen einlegen würde müssen.

Schließlich öffnete sie ihre Augen vollständig und starrte an die steinerne Decke, die ihr absolut unvertraut war. Ihre Augen wanderten langsam zur Quelle des Lichts, einem kleinen Fenster mit Gitterstäben hoch oben in der Wand. Ihr Blick huschte die Steinwände entlang zu der schweren Tür mit einem kleinen, vergitterten Fenster.

Sie war in einer Zelle, erkannte sie mit einem Ruck. Weshalb hatte man sie eingesperrt? Vor allem, da sie auch noch durch den Absturz verletzt war!

“Hallo?”, rief sie schwach mit rauer Stimme.

“Sie ist aufgewacht”, sagte jemand auf der anderen Seite der Tür. “Gib dem Bürgermeister Bescheid.”

Darauf folgte Stille.

Sie musste wohl wieder eingenickt sein, denn das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, ließ sie hochschrecken. Drei Männer und eine Frau traten ein, der Bürgermeister, der Schmied, der älteste Sohn des Schmieds und die Gefährtin des Bürgermeisters. Sie betrachteten Eryn mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht ganz entschlüsseln konnte.

“Warum bin ich hier?”, krächzte sie, woraufhin die Gefährtin des Bürgermeisters ein Glas Wasser für sie holte und es an ihre Lippen hielt, bevor sie eilig zurücktrat.

Ihre Stimme klang klarer, als sie fragte: “Was ist los hier? Warum bin ich eingesperrt?”

Anstatt einer Antwort reichte ihr der Bürgermeister einen kleinen Handspiegel.

Eryn entfuhr ein kurzer, entsetzter Aufschrei, als sie ihr Gesicht erblickte – umgeben von einer verhedderten Masse fremdartigen braunen Haares. Sie ließ den Spiegel beinahe fallen und berührte ihren Kopf, fühlte die vertraute Textur ihres Haares gemischt mit den Rückständen aus dem Wald. Es fühlte sich nicht anders an unter ihren Fingern, die Veränderung war jedoch eindeutig ersichtlich.

Gedanken begannen in ihrem bereits pochenden Schädel zu rasen und verstärkten den Schmerz noch weiter. Weshalb war das passiert? Wie war das möglich? Ihr Vater hatte hart mit ihr trainiert, um genau dies zu vermeiden, also warum funktionierte es zum ersten Mal in all diesen Jahren nicht mehr?

Dann begriff sie. Sie war nicht nur einfach eingeschlafen, sondern ihr Bewusstsein war tiefer abgedriftet, zu tief, um irgendwelchem Training oder eingebetteten Gewohnheiten zu gehorchen. Ihre Achtlosigkeit auf dem Pfad hatte weit mehr Schaden angerichtet, als nur ein paar Knochen und Gewebe zu verletzen. Sie war nicht länger dadurch geschützt, gleich wie alle anderen zu sein. Nun war sie anders. Und anders zu sein war gefährlich.

“Wir haben den König darüber informiert”, sagte der Bürgermeister ernst.

“Den König?”, antwortete sie schwach. “Aber… warum?”

“Du weißt genau, warum. Du bist nicht von hier. Es obliegt dem König, zu entscheiden, was mit dir zu passieren hat.”

“Was mit mir zu passieren hat?” Ihr Sichtfeld begann zu verschwimmen und der Kopfschmerz verstärkte sich von einem dumpfen Pochen zu einem Hämmern. “Was meinst du damit, was mit mir zu passieren hat? Ich habe mich in den letzten zwölf Jahren um dieses Dorf gekümmert”, schluchzte sie, hilflos gegenüber den Tränen des Ärgers, der Angst und der Verzweiflung, die ihre Wangen hinabliefen. “Nach allem, was passiert ist, bin ich hiergeblieben, und so dankt ihr es mir?” Sie versuchte aufzustehen, sank aber zurück auf die harte Bank.

“Es war nicht einfach für uns”, sprach dieses Mal der Schmied. Sie konnte das Bedauern in seiner Stimme hören, sah es in seinen Augen. “Wir haben dich immer als eine von uns betrachtet, wir wollen dich nicht verlieren. Aber…” Er deutete nur auf ihre Haare und suchte hilflos nach Worten, die nicht kommen wollten.

“Die Strafe für die Beherbergung von Spionen ist der Tod”, sagte der Bürgermeister mit hohler Stimme. “Das können wir nicht riskieren. Was mit dir passieren wird, liegt nicht länger in unserer Hand.”

Als Eryn ihre Knie an ihre Brust zog und ihr Gesicht darin vergrub, zogen sich die vier leise zurück und fragten sich, wie es sich dermaßen falsch anfühlen konnte das Richtige zu tun. Und den Gesetzen zu folgen musste das Richtige sein.

* * *

Zwei Tage waren vergangen, seit man ihr verkündet hatte, dass das Dorf sie an den König übergeben würde, als sie einen Tumult vernahm. Das Fenster war zu weit oben in der Wand, als dass sie hinaussehen hätte können.

Man hatte ihr zu essen und zu trinken gegeben und ihr auch Kleidung gebracht, damit sie die schmutzigen, zerrissenen, blutigen Stücke ablegen konnte. Sie hatte kein einziges Wort mit jemandem gewechselt. Niemand war besonders erpicht darauf, sich mit ihr zu unterhalten.

Die Verletzungen zu heilen hatte mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie vorausgesehen hatte. Natürlich konnte sie sich nur um den unsichtbaren Schaden in ihrem Inneren kümmern. Die Kopfwunde vollständig zu heilen und sich damit als Magierin zu erkennen zu geben, würde ihre Haarfarbe zu ihrem geringsten Problem werden lassen.

Sie hatte verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, ihre Magie so einzusetzen, dass sie sich aus ihrer Zelle befreien konnte, aber Heilen war nicht unbedingt eine offensive Fähigkeit. Natürlich nur, sofern man von dem Schaden absah, den sie am menschlichen Körper verursachen konnte.

Aber sie hatte keine Ahnung, ob oder wie schweres Mauerwerk oder Holztüren entfernt, in Luft verwandelt, zum Wegfliegen gebracht werden konnten. Oder was auch immer sonst hilfreich gewesen wäre, um aus der Zelle zu entkommen.

Sie wappnete sich, als sie die Geräusche herannahender Schritte vernahm. Keine Furcht zeigen, ermahnte sie sich. Sie würde ihnen nicht die Befriedigung geben, sie ängstlich zu sehen.

Der Schlüssel wurde im Schloss umgedreht, und kurz darauf trat der Bürgermeister ein. Hinter ihm folgten zwei Männer, die in irgendeine Art Uniform gekleidet waren. Sie wechselten einen Blick und nickten, offensichtlich eine Bestätigung, dass dies definitiv die Frau war, derentwegen sie gekommen waren.

Dann trat einer der beiden näher und hob seine Hände, in denen er, wie Eryn erst jetzt bemerkte, ein Paar stählerner Handschellen hielt. Sie zog in Betracht, sich aus Stolz zu weigern, wohl wissend, dass sie keine Chance hatte. Aber tretend und schreiend nach draußen gezerrt zu werden war nicht die Art und Weise, wie sie hier abreisen wollte. Sie wollte in Würde weggehen, den Dorfbewohnern zeigen, dass sie im Gegensatz zu deren Feigheit wusste, was Mut war. Das, was sie ihr antaten, war keineswegs mehr, als sie bewältigen konnte.

Sie hob ihre Arme und erlaubte dem Mann, den sie als Soldat betrachtete, ihr die Handschellen anzulegen und sie aus der Zelle zu führen. Vor dem kleinen Gebäude wartete eine Kutsche. Sie hatte in der Vergangenheit bereits mehrere Kutschen gesehen. Wohlhabende Menschen von weit her, die medizinische Hilfe benötigten, pflegten in ihnen anzureisen.

Diese war allerdings anders. Sie verfügte über die üblichen Holztüren, die aber an der Außenseite mit Metallstäben und einem großen Schloss verstärkt waren. Nun, dachte sie, wenigstens beabsichtigte man nicht, sie wie einen Mehlsack über den Rücken eines Pferdes zu werfen.

Erst jetzt bemerkte sie die Menschenmenge, die sich rund um die Kutsche gebildet hatte und aus sicherer Entfernung schweigend zusah. Sie ließ ihren Blick über die Gesichter wandern, kämpfte darum, ihre Gefühle für sich zu behalten und nicht mehr als eine ausdruckslose Maske zu präsentieren. Sie sah den Glashersteller, der blass aussah, seine Lippen zu einer dünnen Linie gepresst; den Schmied mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn; Krion, mit einer hübschen jungen Frau neben sich, die sich an seinem Arm festhielt. Sein Gesichtsausdruck war ernst; eigentlich hätte sie stattdessen Schadenfreude erwartet. Eryn fragte sich, ob sich die Frau darüber im Klaren war, worauf sie sich mit ihm eingelassen hatte.

Sie wurde zu der Kutschentür geführt und kletterte hinein, bevor man sie dazu zwang. Somit entfloh sie dem Anblick all dieser Menschen, die sie einfach so ausgeliefert hatten, bevor sie die Tränen sahen, die sie nicht länger unterdrücken konnte.

Einer der Soldaten, oder was auch immer er nun war, stieg nach ihr ein und nahm auf der gegenüberliegenden Bank Platz, um sie im Auge zu behalten. Es kümmerte sie nicht, ob er ihre Tränen sah, solange die Dorfbewohner ihrer nicht ansichtig wurden.

Ihr Vater wäre nicht überrascht gewesen, dachte sie, und fühlte, wie die Tränen erneut flossen. Immerhin hatte er hart dafür gearbeitet, genau das zu verhindern, hatte stets unnötige Risiken vermieden, die zur Entdeckung seiner magischen Fähigkeiten führen hätten können. Er war sich über die Schattenseiten der menschlichen Natur absolut im Klaren gewesen.

* * *

Zwei Tage in der dunklen Kutsche, einer der Soldaten immer bei ihr, bescherte ihr jede Menge Zeit, darüber nachzudenken, was sie wohl in der Stadt erwarten würde. Sie hatte genug Gelegenheit, sich unangenehme Optionen vorzustellen. Da gab es lebenslangen Gewahrsam, Folter zur Erlangung der Informationen, die man in ihrem Besitz vermutete, oder sogar Sklaverei. Oder eine nette Kombination zweier Optionen. Jede Kombination würde funktionieren, außer Nummer Eins mit Drei. Eine eingesperrte Sklavin war wohl wenig nützlich.

Abgesehen von ihren gedanklichen Ausflügen zu den potentiellen Schrecknissen, die die Zukunft bringen mochte, war die Reise nicht eben aufregend. Das rote Wappen des Königs hielt Ärger auf Abstand, sodass es keinerlei unterhaltsame Zwischenfälle in Form von Wegelagerern oder anderen kriminellen Elementen gab.

Sie verbrachten die Nächte in Gasthöfen, jedes Mal in einem Zimmer mit zwei Betten, eines für sie, das andere für einen der Soldaten, der sich ausruhte, während sein Kollege auf einem Stuhl Wache hielt.

Die Soldaten waren nicht besonders gesprächig. Das war für Eryn in Ordnung, sie selbst war auch nicht eben in geselliger Stimmung. Wesentlich wichtiger für sie war, dass sie sie kein einziges Mal auf eine Art und Weise berührten, die man als unangemessen hätte erachten können. Disziplin war eine großartige Sache bei einem Soldaten, überlegte sie.

Unglücklicherweise bedeutete dies nicht nur, dass sie ihre Finger von ihr ließen, sondern auch, dass ihre Augen auf ihr blieben – zu jeder Zeit. Es gab kein noch so kurzes Ermüden und Hinabgleiten in ein kleines Schläfchen. Sie boten ihr keine Gelegenheit zu einem Versuch, klammheimlich aus dem Fenster zu klettern.

Wie ungemein rücksichtlos.

Tag drei brachte die königliche Stadt Anyueel in Sichtweite, Hauptstadt des Königreichs Anyueel. Allerdings bezeichnete niemand das Land anders als das Königreich, wenn davon gesprochen wurde. Vermutlich, weil es unnötig war, zwischen den Namen von Ländern zu unterscheiden, wenn es keinerlei Kontakt über die Grenzen hinweg gab. Und es würde ohnehin nur zu Verwirrung führen, ob nun die Hauptstadt oder das Königreich gemeint war.

Eryn war noch nie zuvor dort gewesen und starrte auf die graue Steinmauer, die die Stadt umgab, größer als in ihrer Vorstellung. Sie erblickte ein hohes Gebäude, das über zahllosen Dächern thronte. Zweifellos der Palast des Königs, vermutete sie.

Eine Vielzahl an dunklen Rauchsäulen stieg aus einer Menge an Schornsteinen in die Luft empor.

Sie beobachtete, wie sie sich der Stadt näherten, und es dauerte nicht lange, bis die Kutsche vor einem enormen Tor zum Stehen kam. Sie hörte den Soldaten auf dem Kutschersitz ein paar forsche Worte mit den Torwächtern austauschen, bevor sich das Gefährt wieder in Bewegung setzte.

Beim Passieren des Tores versuchte Eryn, so viel wie möglich durch das kleine Fenster wahrzunehmen. Ihr Herz wurde schwer, als sie sah, dass es nicht nur eine dicke Steinmauer gab, sondern noch eine weitere ein paar Schritte weiter innen. Das äußere Tor hatte zwei schwere Türen mit mächtigen, metallenen Scharnieren, und das innere konnte durch ein Fallgitter blockiert werden. Derzeit stand es offen, und die zahlreichen metallenen Spitzen zeigten nach unten gleich einer düsteren Warnung. Bei dem Gedanken, was wohl mit den Knochen und Organen eines Menschen oder eines Tieres passieren würde, das darunter gefangen war, schauderte sie. Sehr wahrscheinlich mehr als ein oder sogar zwei Heiler gleichzeitig reparieren konnten.

Dann hielt die Kutsche vor dem hohen Gebäude, das sie vom Fenster aus bereits erspäht hatte, und die Türe des Gefährts wurde geöffnet.

Der Soldat ihr gegenüber gab ihr ein Zeichen, zuerst auszusteigen, genau wie er es jedes Mal in den letzten zweieinhalb Tagen getan hatte. Sie mutmaßte, dass er darauf trainiert war, Gefangenen nicht seinen ungeschützten Rücken zu präsentieren. Was auf jeden Fall einen Sinn ergab.

Köpfe drehten sich in ihre Richtung auf dem weiträumigen Platz vor dem Palast, als sie die Kutsche verließ und die Blicke unzähliger erstaunter Augen durch ihre ungewöhnliche Haarfarbe angezogen wurden. Sie konnte Geflüster aus verschiedenen Richtungen hören und sah Kinder, die mit dem Finger auf sie zeigten.

Die Soldaten machten sich daran, sie in das Gebäude zu eskortieren, doch zwei Männer in dunkelbraunen Roben kamen raschen Schrittes über den Platz auf sie zu. Beide waren eher jung, und einer hob seinen Arm, um sie aufzuhalten.

Sobald sie in Hörweite waren, rief er: “Wir werden sie übernehmen. Der Orden übernimmt ihre Befragung.”

Der Orden wollte mit ihr sprechen? Das war eine Überraschung, und zwar eine besorgniserregende. Ihr Vater hatte seine Ansichten über den Orden regelmäßig in der Abgeschiedenheit ihres Hauses kundgetan. Es waren keine sehr schmeichelhaften. Einen Haufen Einfaltspinsel hatte er sie genannt, die lieber mit ihrer Magie herumspielten und einander bekämpften, anstatt etwas Sinnvolles damit anzustellen.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Warum brachte man sie zu den Magiern? Sie konnten unmöglich von ihren Kräften wissen, oder? Hatte sie in den letzten zwei Tagen irgendetwas verraten, im Schlaf womöglich? Oder als sie in ihrem Dorf eingesperrt gewesen war?

Die Soldaten nickten und folgten den Männern in den Palast. Waren diese beiden Männer in Roben Magier? Kleideten die sich so?

Die Schatten im Inneren des Gebäudes erschwerten es ihr zunächst, ihre Umgebung wahrzunehmen. Nachdem sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah sie, dass sie sich in einer riesigen Eingangshalle mit mehreren Säulen befand, jede davon so dick wie ein alter Baum und mindestens ebenso hoch. Vier Korridore begannen zwischen jeweils zwei Säulen und erstreckten sich in die Ferne.

Die Männer in den Roben wandten sich dem ersten rechts zu und hielten dann vor einer mittelgroßen Doppeltür, die beinahe zu bescheiden für diesen Ort wirkte.

Der etwas Größere der beiden öffnete beide Türen und deutete den Soldaten, Eryn hineinzubringen. Sie schluckte und wurde, da sie sich nicht von selbst in Bewegung setzte, nach vorne gestoßen.

Das war sehr wahrscheinlich der Raum, in dem man sie befragen würde. Nach einem kurzen Blick bemerkte sie mit Erleichterung, dass keinerlei Folterwerkzeuge zu sehen waren. Es war ein eher großer Raum mit einem einzelnen Stuhl im Zentrum und einem massiven Tisch.

An dem Tisch saßen fünf Männer verschiedener Altersklassen. Einer davon war vollständig ergraut und schien in den Sechzigern zu sein, die anderen wirkten wesentlich jünger und rangierten wohl zwischen Mitte Zwanzig und Ende Dreißig. Sie alle waren in braune Roben gekleidet, sodass die Unterscheidung schwer fiel.

Keiner erhob sich, als sie eintrat. Sie gemahnte sich, dass sie den Respekt, den sie als Heilerin in den letzten eineinhalb Jahrzehnten genossen hatte, hier nicht erwarten konnte. An diesem Ort war sie nicht mehr als eine Fremde, die man verdächtigte, eine Spionin zu sein.

Die Soldaten brachten sie zu dem Stuhl, drückten sie darauf nieder und verließen den Raum ohne ein Wort. Die zwei Magier, die sie hergeführt hatten, bezogen Stellung vor der Tür.

Sie hatte auf der Reise hierher genügend Zeit gehabt, sich zu überlegen, was sie sagen würde, wenn die Zeit kam. Sie entschied, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. Der Bürgermeister hatte sicherlich alle Informationen weitergeleitet, die er über sie hatte. Was nicht besonders viel war. Es gab nicht wirklich einen Grund für sie, zu lügen; ihre Geschichte war harmlos genug, und sie wusste selbst nur sehr wenig über ihre Vergangenheit, bevor sie ihr Heimatland verlassen hatte. Sie wusste nicht einmal genau, woher sie stammte. Das Einzige, was sie verbergen musste, war ihre Magie, der Rest war unerheblich.

Wenn sie kooperierte, würde man sie wieder gehen lassen? Wohin würde sie in diesem Fall gehen? In ihr Dorf zurückzukehren war keine Option. Wie sollte sie es ertragen, wieder dort zu leben?

Nein, entschied sie, sie würde in der Nacht dorthin zurückkehren, um ihre Habseligkeiten zu holen und dann nie wieder zurückblicken. Sie konnte sich überall niederlassen – Heiler waren in diesem Land nicht eben zahl vorhanden, also sollte es nicht allzu schwierig sein, einen Ort zu finden, wo ihre Dienste höher geschätzt wurden als ihre Haarfarbe.

“Wie lautet dein Name?”, fragte der Älteste in ihre Gedanken hinein.

“Eryn”, antwortete sie folgsam.

“Woher stammst du?”

“Ich bin nicht sicher. Ich glaube aus dem Westen.”

Der alte Mann runzelte die Stirn. “Wie kannst du nicht sicher sein, woher du kommst?”

“Ich war noch ein Kind, als wir von dort weggingen.”

“Wir?”

“Mein Vater und ich. Er brachte mich hierher.”

“Wo ist er jetzt, dein Vater?”

“Er ist tot. Seit zwölf Jahren.”

“Warum hat er dich hierhergebracht?”

“Ich weiß es nicht.”

Sie begannen untereinander zu murmeln. Dann fragte einer der anderen vier: “Du hast also keine Ahnung, woher du kommst und weshalb dich dein Vater hierhergebracht hat? Das erscheint etwas unglaubwürdig.”

Eryn blieb stumm und sah die Männer nur an. Protest würde ihr kaum Pluspunkte einbringen.

“Wo ist deine Mutter?”

“Sie starb schon bevor wir hierherkamen.”

So ging es weiter und weiter. Sie schienen sehr interessiert an ihrem Vater und wie es möglich war, dass die Dorfbewohner vor dem Unfall im Wald niemals zuvor ihr braunes Haar erblickt hatten. Nun begann der gefährliche Teil. Sie musste jeglichen Verdacht auf Magie zerstreuen.

“Mein Vater konnte ein Pulver mischen, das es möglich machte, die Haarfarbe zu verändern. Er wollte nur in Frieden leben und nicht belästigt werden”, erklärte sie ruhig.

“Aus welchem Grund hat sich dein Haar dann zurück zu seiner ursprünglichen Farbe verändert, als du gefunden wurdest?”, fragte ein weiterer.

“Weil ich mehrere Stunden lang in der Hitze einen Pfad bergauf gegangen bin. Mein Schweiß muss den Großteil des Pulvers entfernt haben.”

Sie war auf diese Frage vorbereitet gewesen und war erleichtert, als sie sah, dass man ihre Erklärung zu akzeptieren schien.

“Wir haben gehört, dass dein Vater ein Heiler war.”

“Ja, er war ein sehr guter Heiler.”

“Anscheinend war er nicht nur sehr gut, sondern außergewöhnlich.”

“Ja, er hat mir erzählt, dass er zuhause viele Jahre lang ausgebildet worden war.”

“Ah ja, das geheimnisvolle Zuhause, an das du dich nicht erinnerst.” Der alte Mann schmunzelte und fuhr dann fort: “Du hast die Arbeit deines Vaters nach seinem Tod fortgesetzt.”

Sie nickte. “Ja.”

“Er hat dich also ausgebildet?”

Die Stunden schienen sich in die Länge zu ziehen. Sie wechselten sich dabei ab, ihr Fragen zu stellen, wollten manchmal hören, was sie bereits zuvor geantwortet hatte. Sie fragte sich, ob sie versuchten, sie dazu zu bringen, dass sie sich selbst widersprach.

Der Nachmittag begann bereits in den frühen Abend überzugehen, als der älteste der Männer sich erhob und auf sie zutrat. Sie war erschöpft, durstig, hungrig und hatte diese ganze Situation satt. Aber sie hatte es durchgestanden, und nun sah es aus, als würde sich all dies schließlich dem Ende zuneigen.

“Dann bleibt nur mehr eine Sache”, sagte der Mann und kam näher. Sie betrachtete ihn misstrauisch. Was wollte er jetzt noch?

“Was?”, seufzte sie müde.

“Nur ein kleiner Test, ob du uns die Wahrheit sagst.”

Sie runzelte die Stirn. “Was für ein Test?”

“Ich werde dir ein paar der Fragen noch einmal stellen. Dieses Mal werde ich ein wenig Magie einsetzen, um deinen Mund davon abzuhalten, eine Unwahrheit zu sagen.”

In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Das klang nicht gut, überhaupt nicht. Als er sich anschickte, ihren Arm zu ergreifen, zog sie ihn weg, sprang auf und presste sich gegen die Wand.

“Nein, ich will das nicht”, schrie sie. “Bleibt mir vom Leib!”

Der Mann trat näher und drängte sie in die Ecke. “Ich befürchte, du hast keine Wahl in dieser Angelegenheit, wenn man bedenkt, weshalb du hier bist.”

Er umfasste ihren Arm und hielt ihn so fest, dass sie sich nicht befreien konnte.

Sie zwang die aufsteigende Panik in ihrem Innern nieder. Vielleicht funktionierte es nicht bei ihr. Konnte sie womöglich selbst Magie einsetzen, um seine zu blockieren? Aber wie? Sie hatte bisher noch nicht einmal davon gehört, dass so etwas möglich war, geschweige denn, wie man entgegenwirken konnte.

Sie fühlte ein Rinnsal von Wärme von seiner Handfläche ihren Arm hinaufwandern.

“Nun, erzähl mir noch einmal, weshalb dich dein Vater hierhergebracht hat”, verlangte er.

Sie schüttelte verzweifelt ihren Kopf. “Ich weiß es nicht! Wirklich nicht. Ich glaube, er hat sich versteckt.” Das war nicht gut. Das letzte Stück war nicht beabsichtigt gewesen.

“Vor wem? Und weshalb?”

“Ich weiß es nicht!”

“War dein Vater ein Spion?” Der Griff um ihren Arm wurde stärker.

“Nein!”

“Bist du eine Spionin?”

“Nein!”

Wenn seine Fragen weiterhin in diese Richtung gingen, bestand keine unmittelbare Gefahr, dass sie ihr Geheimnis offenbarte.

Die nächste jedoch zerstörte diese Illusion rasch.

“War dein Vater in der Lage, Magie anzuwenden?”

Sie sog den Atem scharf ein und wollte es leugnen, doch ihr Mund weigerte sich, die Worte auszusprechen. Triumph blitzte in den Augen des Mannes auf.

“Aha!”

Das war genug! Sie trat ihm gegen das Schienbein und entriss ihren Arm seinem Griff. Er fluchte unterdrückt und wies seine Kollegen an: “Haltet sie fest!”

Neue, heiße Panik stieg in ihr hoch. Sie atmete schwer und zog sich langsam in eine Ecke zurück, ihr Blick auf die Magier gerichtet, die sich ihr stetig näherten. Sie trat dem ersten, der in ihre Reichweite kam, gegen das Knie, woraufhin er hastig mit einem Schmerzensschrei zurücksprang.

“Wir sollten sie vielleicht betäuben. Das wäre sicherer”, sagte einer von ihnen. “Eine schwache Betäubung sollte sie bei Bewusstsein halten, sodass sie unsere Fragen beantworten kann.”

Wenige Momente später schoss etwas auf sie zu und traf sie direkt in die Brust, sodass sie nach Luft schnappte.

Der Magier runzelte seine Stirn und schüttelte den Kopf. “Das hätte sie unschädlich machen sollen! Sie sollte nicht mehr aufrecht stehen!”

“Es war wohl zu schwach”, sagte ein anderer, und dieses Mal sah sie, wie der Energieblitz auf sie zuflog, ohne dass sie in der Lage war, ihm auszuweichen. Dieser traf sie in den Magen, sodass sie beinahe zusammenklappte.

Sie starrte die Männer an und verstand nicht, warum sie ihr bereitwillig Schmerzen zufügten; Hass, Angst und Verzweiflung brachen tief aus ihrem Inneren hervor. Als ein weiterer von ihnen mit seiner Handfläche auf sie zielte, hob sie beide Hände in einer abwehrenden Geste und bereitete sich so auf den nächsten Einschlag vor, verzweifelt entschlossen, den bevorstehenden Schmerz nicht an sich heranzulassen.

Sie spürte tatsächlich nichts, blickte auf und direkt in sieben erstaunte Gesichter, die sie anstarrten. Plötzlich riss die Hälfte von ihnen ihre Hände nach oben und entfesselte Strahlen aus Magie, die jedoch irgendwie gestoppt wurden und sich – ohne sie zu treffen – vor ihrem Körper zerstreuten.

Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung für dieses unerwartete Phänomen und bemerkte nach ein paar Sekunden vor sich in der Luft ein blasses Schimmern. Um es zu berühren, hob sie ihre Fingerspitzen an, zog sie jedoch flink wieder zurück, als sie ein schwaches, kribbelndes Knistern auf ihrer Haut fühlte.

Irgendwie hatte sie es geschafft, sich mit Magie zu schützen! Und es sah so aus, als konnten die Männer nicht zu ihr durchdringen!

Jetzt zielten alle von ihnen mit ihren Handflächen auf sie und setzten Stöße frei. Jeder einzelne davon wurde gestoppt, bevor er Schaden anrichten konnte. Sie versuchten es wieder und wieder, aber vergeblich.

Eryn sah, dass die Männer erblasst waren. Vor Angst? Sie beabsichtigte nicht zu bleiben und es herauszufinden, sondern bewegte sich langsam in Richtung der Türe, die noch immer von den beiden Magiern mit panischen Gesichtsausdrücken bewacht wurde.

“Lauft! Holt Lord Enric! SOFORT!” Dringlichkeit dröhnte in der Stimme des alten Magiers.

Die beiden standen noch einen Augenblick länger still, wie betäubt vor Schock, dann rannten sie los und ließen die Tür hinter sich offenstehen. Eryn schlüpfte hinaus und begann zu laufen, wissend, dass die Magier ihr knapp auf den Fersen waren.

Sie wandte sich nach links, wo sich laut ihrer Erinnerung der Eingang befinden musste und schlitterte den glatten Boden entlang. Sie musste schnell weg von hier, bevor sie es irgendwie schafften, sie aufzuhalten.

Sie vernahm, wie eine weitere Salve an Blitzen auf ihren Schild traf und blickte zurück zu den Männern, die sich eilig in eine Nische duckten, als ob sie Angst vor einem Gegenangriff hätten.

Dann dämmerte es ihr. Genau das war der Grund, warum sie sich versteckten – sie hatten keine Ahnung, dass sie nicht wusste, wie man die Angriffe erwiderte! Sie glaubten, sie könnte jeden Moment zurückschießen. Sie hatte die große Eingangshalle beinahe erreicht, als einige weitere Geschosse die Barriere trafen, ohne sie auch nur ansatzweise zu durchdringen. Sie fragte sich, warum sie nicht aufhörten, da es doch offensichtlich war, dass es keine Wirkung auf sie hatte.

Plötzlich wurde ihr klar, dass es sehr wohl eine Wirkung hatte. Sie wurde hingehalten. Hatten sie nicht nach jemandem geschickt? Einem Lord oder so etwas? Und es funktionierte auch: Jedes Mal, nachdem sie attackiert worden war, wurde sie langsamer.

Entschlossen, ihnen nicht noch weiter entgegenzukommen, griff sie hastig nach dem schweren Eisenring, um einen Flügel der Tür aufzuziehen, als sie eine laute, autoritäre Stimme hinter sich rufen hörte: “Angriff einstellen!”

Ein schneller Blick über die Schulter zeigte ihr, zu wem die Stimme gehörte: Ein Mann Mitte Dreißig, hochgewachsen und schlank, in eine blaue Robe gekleidet, kam zügig auf sie zu, anders als die anderen offensichtlich ohne Furcht vor einem Angriff.

Er strahlte Selbstbewusstsein aus, wurde davon umgeben wie von einer zweiten Haut. Und er wirkte fest entschlossen. Er blieb zwischen den Säulen stehen, hob seine Hand und entfesselte, ohne auch nur einen Moment zu zögern, einen Energieblitz.

Sie starrte in vollkommener Fassungslosigkeit in sein resolutes Gesicht, die fest aufeinandergepressten Lippen und die gerunzelte Stirn; sie nahm all diese bedeutungslosen Details mit unglaublicher Klarheit in sich auf, während ihre Knie langsam unter ihr nachgaben.

Sein Angriff hatte ihren Brustkorb getroffen, und der Schmerz wurde bereits von der Dunkelheit gedämpft, die sie umgab, noch bevor sie auf dem Boden aufschlug.

»Ende der Leseprobe«

 

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