Kapitel 1
Ein Irrtum
Eryn stand wie erstarrt und fixierte weiterhin die seltsam gekleidete Gestalt, die sich bislang noch nicht dazu bequemt hatte, auf ihre und Malriels Frage zu antworten. Von einem Moment zum nächsten mutete die Vorstellung, sie hätten Malhora von Haus Aren vor sich, eine Frau in ihren späten Siebzigern, plötzlich vollkommen lächerlich an. Abgesehen davon, dass sie zweifellos tot war, hatten sie soeben beobachtet, wie diese Wüstennomaden scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht waren. Malhora hatte in Eryns Gegenwart noch niemals irgendwelche athletischen Körperbewegungen vollführt, die darauf hingedeutet hätten, dass sie beweglich oder flink genug war, um so etwas wie ein Untertauchen im Sand zu bewerkstelligen, um dann emporzuschnellen und einer sich gerade günstig in Reichweite befindlichen Person die Kehle aufzuschlitzen.
Doch ihre Augen klebten an dem Schlitz in der Kopfbedeckung, durch den grimmige braune Augen hervorblitzten. Braune Augen waren keineswegs eine Seltenheit in einem Land, wo dunkles Haar vorherrschte, soviel war ihr bewusst. Ganz im Gegenteil. Braune Augen waren bei praktisch jeder Person, die in den Westlichen Territorien geboren wurde, der Normalfall. Das machte Enric mit seinen blonden Haaren und blauen Augen zu einem Kuriosum, wann immer sie nach Takhan kamen.
Malhoras Stimme gehört zu haben musste wohl nur eine Einbildung gewesen sein. In diesem Fall jedoch musste Malriel unter denselben Wahnvorstellungen leiden…
Ram’an trat vor, um die Frage zu beantworten, die die Erscheinung gestellt hatte. Wie sich die die Kette als Durchgang durch die Barriere verwenden ließ. Weder Eryn noch Malriel waren zu einer Antwort imstande.
“Man hebt sie einfach an und schiebt sie dann mit einem kräftigen Stoss durch die Barriere. Dann kannst du sie als Durchgang benutzen.”
Die Gestalt folgte der Anweisung, und einen Moment später trat sie durch den Schild und nickte anerkennend angesichts eines simplen Prinzips, das sich dermaßen effektiv umsetzen ließ.
Einen Moment später nahm sie das Tuch ab, das ihr Gesicht bedeckte, und Malriel vermochte gerade noch mit einer Hand vor den Mund das Aufschluchzen, das ihr entwichen war, zu dämpfen.
Da war sie in ihrer ganzen Pracht – Malhora von Haus Aren, allem Anschein nach eine ehrenamtliche Meuchelmörderin der Wüstenstämme.
“Großmutter!” flüsterte Eryn, noch immer ungewiss, ob sie ihren Augen trauen durfte. “Du lebst!” Sie streckte ihre Arme aus und zog die alte Frau in eine Umarmung.
“Natürlich lebe ich. Wie kommst du auf die Idee, es wäre anders?”
“Weil alle anderen auf deinem Anwesen abgeschlachtet wurden!” schrie Malriel ihr entgegen, woraufhin einige der Umstehenden zusammenzuckten.
Die Takhaner wichen ein paar Schritte zurück. Das hier zeigte alle Anzeichen eines weiteren bevorstehenden Aren-Zusammenstoßes.
“Jedoch befand sich meine Leiche nicht unter ihnen”, erwiderte Malhora ruhig.
“Ich habe um dich getrauert, du selbstsüchtiges, rücksichtsloses, verantwortungsloses altes…”
“Mutter, bitte!”, versuchte Eryn zu bremsen, was verdächtig nach einem drohenden Nervenzusammenbruchs aussah. Malriel bekleidete das Amt der Obersten Triarchin der Westlichen Territorien. Die Leute sollten sie nicht in einem solchen Zustand erleben. Das würde ihr Vertrauen in die geistige Stabilität ihrer Anführerin untergraben.
“…Ungeheuer!”
“Reiß dich zusammen, Malriel”, schoss Malhora streng zurück. “Denk an deine Position!” Einen Moment später wurde ihr Kopf durch eine kräftige Ohrfeige zur Seite geschleudert.
“War es zu viel verlangt, einen Vogel zu schicken und mir mitzuteilen, dass es dir gut geht, Mutter?” zischte Malriel und wischte sich wütend eine Träne von ihrer Wange.
“Die Wüstenstämme halten nichts von Vögeln, wie du sehr wohl weißt”, knirschte die alte Frau mit zusammengebissenen Zähnen, während sie ihrer Tochter einen mörderischen Blick zuwarf.
Eryns Blick wanderte zu dem Mann, der immer noch blutend auf dem Boden außerhalb der Barriere lag. Es war im Moment wohl kaum die ratsamste aller Vorgehensweisen, eine Frau zu provozieren, die zu so etwas fähig war.
Sie packte Malriel an den Schultern und flehte sie mit eindringlichem Flüsterton an: “Beruhige dich gefälligst! Auf der Stelle! Die Leute blicken zu dir auf – sie müssen sehen, dass du dich unter Kontrolle hast! Ich verspreche dir, dass du dich später auf sie stürzen kannst! Bitte!” Sie schloss für einen Moment die Augen und fügte hinzu: “Ich bin so erschöpft, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Ich habe nicht die Kraft, dich außer Gefecht zu setzen und von hier wegzutragen.”
Eryn drehte den Kopf und sah, wie Orrin und König Folrin mit ihren Männern den Hügel herab auf sie zu kamen. Ein wenig zu spät, kam ihr der unwillkürliche Gedanke. Sie hatten all die interessanten Ereignisse verpasst.
Ihr Blick wanderte zu Enric und Ram’an, dann zu Neled. Sie alle erweckten den Anschein, als brauchten sie ebenso dringend ein Bett wie sie selbst.
Sie hob den Arm und deutete auf die Residenz, aus der Etor Gart vor nicht allzu langer Zeit in der Gewissheit geflohen war, dass sich alles zu seinen Gunsten wenden würde. “Ich werde dort oben etwas Schlaf nachholen.”
“Dafür kannst du ebenso gut zur Aren Residenz laufen, die ist nicht viel weiter entfernt”, rief Malhora ihr nach, als sie sich in Bewegung gesetzt hatte.
“Es gibt keine Aren Residenz mehr, Großmutter”, warf Eryn über ihre Schulter zurück, zwang einen Fuß vor den anderen und ergriff im Vorbeigehen Enrics Hand, um ihn mit sich zu ziehen.
“Was meint sie damit, es gibt keine Aren Residenz mehr?” erfragte Malhora von ihrer Tochter.
“Er hat sie zerstört, Mutter”, schnappte Malriel. “Also wird es jetzt keinen Streit mehr darüber geben, wem das Hauptschlafzimmer zusteht, wenn du in der Stadt bist!”
Enric schüttelte den Kopf, legte seiner Gefährtin einen Arm um die Schultern und schleppte sich in Richtung des Hügels, der vor ihnen lag. Er wirkte beinahe unbezwingbar in diesem Moment, wo die Aufregung des Schlachtgetummels nicht länger durch seine Adern pulsierte. “Ist es nicht erstaunlich, wie schnell sich alles wieder normalisiert hat?”
“Ich denke, Malriel geht auf Malhora los, damit sie nicht stattdessen in Tränen ausbricht”, vermutete Eryn. “Ich hatte Recht, möchte ich anmerken”, fügte sie dann hinzu. “Malhora ist nicht tot. Es ist mir ein Bedürfnis, das hervorzuheben.”
“Gut gemacht, Liebste. Ich habe eindeutig unterschätzt, wie schwer es ist, deine Sippe auszurotten.”
In der Zwischenzeit hatten der König und Orrin die beiden erreicht.
“Lord Enric, was hat es mit all dem auf sich? Wer sind diese Leute?” verlangte König Folrin zu wissen und deutete auf die Loman Ergen.
“Bei allem Respekt, Eure Majestät”, antwortete Enric, “das wird Euch jemand anderer beantworten müssen. Versucht es bei Malriel. Sie könnte im Moment etwas Ablenkung gebrauchen. Ich muss meine Gefährtin an einen Ort bringen, wo sie sich hinlegen kann.”
Eryn runzelte die Stirn. “Du nicht? Du siehst nahezu so erschöpft aus wie ich mich fühle.”
“Du bist schlimmer dran als ich, weil du dich dringend von der Heilung erholen musst, die du erhalten hast. Ich dagegen bin lediglich müde. Ich kann noch ein paar Stunden durchhalten und mich um ein paar Dinge kümmern.”
“Wartet auf mich”, rief ihnen Ram’ans Stimme hinterher. “Wenn die mächtigen Anführer des Ordens sich zur Ruhe begeben können, dann muss das auch bei mir zulässig sein.”
Enric unterließ es, ihn darauf hinzuweisen, dass er selbst noch eine Weile wach zu bleiben hatte.
Als Ram’an zu ihnen aufgeschlossen hatte, nickte er dem König zu. “Eure Majestät.” Dann deutete er auf die Residenz vor ihnen. “Ihr wisst, wem die gehört, nicht wahr?”
“Das ist mir gleichgültig, solange es dort Schatten und Wasser gibt”, entgegnete Eryn müde. “Ich nehme sogar mit dem Boden vorlieb, solange ich mich nur hinlegen kann.”
“Sie gehört Haus Roal, Haus Arens größtem Widersacher”, fühlte er sich bemüßigt, sie aufzuklären.
Sie seufzte und drehte sich zu ihm um. “Wenn du unbedingt schwierig sein musst, können wir dich nicht mitnehmen. Halt einfach den Mund, Arbil.”
Ram’an zuckte mit den Schultern, und als sie stolperte, stützte er sie mit einem Arm um ihre Taille, zusätzlich zu Enrics Arm um ihre Schultern.
Arm in Arm, wankend wie Betrunkene, nahmen sie zu dritt den beschwerlichen Aufstieg in Angriff.
* * *
Enric erwachte mit schmerzendem Rücken, bedingt durch die leicht schräge Position seines Körpers auf den Sitzkissen im Hauptraum der Roal-Residenz. Eryn hatte es nicht einmal mehr in ein Schlafzimmer geschafft, sondern war auf der ersten bequem wirkenden Oberfläche zusammengeklappt. Den Kissen. Als Enric etwa fünf Stunden später zurückgekehrt war, hatte er sich einfach neben ihr niedergelassen. Nach dem schwachen Licht der frühen Morgendämmerung zu urteilen, hatte er in etwa fünfzehn Stunden lang geschlafen. Allzu erfrischt fühlte er sich nicht, was nach den Strapazen der letzten Tage jedoch kaum zu erwarten war. In den kommenden Tagen würde er den Preis dafür bezahlen, dass er sich mit Magie auf den Beinen gehalten hatte. Dazu kam noch die Tatsache, dass er auch nicht eben jünger wurde und sein Körper nicht müde wurde, ihn darauf hinzuweisen.
Er versuchte, seine Umgebung in dem schwachen Licht zu erahnen. Eryn hatte sich neben ihm auf den Kissen ausgestreckt. Aufgrund ihres beachtlichen Platzanspruchs beim Schlafen war er selbst gezwungen gewesen, sich mit einer weniger bequemen Position zufrieden zu geben. Bei dieser Frau war ein breites Bett nicht lediglich ein Luxus, sondern eine Überlebensfrage.
Sie trug immer noch den Großteil ihrer Rüstung am Leib. Im Gegensatz zu ihm hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, sich auch nur von einem einzigen der steifen Lederteile zu befreien.
Zu ihren Füßen lag Ram’an, dessen Beine zu Boden hingen. Er hatte es geschafft, zwei weitere Kissen für sich zu ergattern.
Unbeholfen und mit einer Grimasse angesichts seiner verspannten Muskeln kämpfte sich Enric auf die Beine, darauf bedacht, jedes Geräusch zu vermeiden, das die anderen beiden aus dem Schlaf reißen könnte. Er verspürte den Drang sich zu strecken, etwas zu trinken und dann die Toilette aufzusuchen. Da Haus Roal nicht zu den Kreisen zählte, in denen sich die Mitglieder von Haus Aren nach Belieben bewegen konnten, war er noch nie bei einer der geselligen Zusammenkünfte oder Feiern in dieser Residenz zu Gast gewesen und daher mit deren Grundriss nicht vertraut.
Gewisse Gegebenheiten unterschieden sich kaum von einer Residenz zur anderen, wie beispielsweise die Anordnung des Hauptraums im ersten Stock, der angrenzenden Küche und des gesamten Lagerbereichs im Erdgeschoss. Die verbleibenden Räume allerdings, einschließlich des Badezimmers, waren eine Frage der persönlichen Vorlieben.
Er trat auf die Terrasse hinaus, atmete die kühle Morgenluft ein und genoss den Luxus, seine Gedanken ausnahmsweise nicht um einen zu erwartenden oder einen geplanten Angriff kreisen lassen zu müssen. Beim Strecken seiner Arme und Beine spürte er, wie seine Gelenke mit einem leisen Schnappen wieder einrasteten. Seine Muskeln erinnerten sich unter Protest daran, dass Bewegung ihr Existenzzweck war. Als Nächstes entledigte er sich seines Leinenhemds und setzte seine Haut der kühlen Morgenluft aus.
Kurz darauf kehrte er in das Gebäude zurück und bewegte sich auf der Suche nach Wasser leise in die Richtung, in der er die Küche vermutete. Er trank eine ganze Karaffe leer und begab sich sodann auf die Suche nach einem Badezimmer.
Im ersten von zwei Korridorein öffnete er eine Tür nach der anderen. So verging eine Weile, bis er fand, wonach er suchte. Im Inneren der Residenz war es noch fast völlig dunkel.
Gedanklich sortierte er die Aufgaben, die dieser Tag mit sich bringen würde. Sie mussten sich mit ihren Familien in Verbindung setzen, ihnen mitteilen, dass die Rückkehr nach Takhan nun wieder sicher war; dafür sorgen, dass die Anwesen ihre Lieferungen in die Stadt wieder aufnahmen; die Gefangenen aus dem Anwesen in den Hügeln herbeischaffen; die Leichen der feindlichen Soldaten beseitigen und sich darum kümmern, dass ihre eigenen gefallenen Soldaten angemessen bestattet wurden. Weiters mussten die Schäden, die die Stadt erlitten hatte, begutachtet und in einigen Fällen rasch behoben werden. Der Hafen musste einsatzbereit sein, sonst konnten sie weder diejenigen, die sie weggeschickt hatten, wieder zurückzuholen, noch die Waren in Empfang nehmen, die Anyueel ihren Verbündeten zukommen lassen musste, bis sie wieder in der Lage waren, sich aus eigener Kraft zu versorgen.
Außerdem mussten er und Eryn mit der Triarchie, Malriel und Neled – und nun wohl auch mit Horam – konferieren und besprechen, wie es nun weitergehen sollte. Es gab einen wichtigen Aspekt, den es herauszufinden galt – nämlich was exakt dieses Bündnis zwischen Neled und Horam beinhaltete. Was genau hatte Neled versprochen? Würde sie dafür ihre Position in Takhan aufgeben müssen? Oder war sie so unvorsichtig gewesen, den Loman Ergen eine Bleibe in Takhan zu versprechen, ohne zuvor jene um ihre Zustimmung zu bitten, die dort das Sagen hatten?
Als er in den Hauptraum zurückkehrte, sah er, dass Ram’an in der Zwischenzeit ebenfalls aufgewacht war. Eryn hingegen schlummerte noch immer tief und fest. Kurz zog er in Betracht, sie zu wecken, um ihr etwas zu trinken einzuflößen, bevor er sie wieder ruhen ließ. Er entschied sich dagegen und platzierte stattdessen Wasser auf einem Tisch in der Nähe für später, sobald sie von selbst aufwachte.
Ram’an gähnte und streckte sich, erhob sich und folgte Enric auf die Terrasse, um Eryn nicht zu stören.
“Was wird jetzt geschehen?”, fragte das Oberhaupt von Haus Arbil und ließ sich auf die Sitzkissen fallen.
“Wir müssen das Land aus dem Ausnahmezustand heraus und zurück in die Normalität führen. Unsere ersten Prioritäten sind die Beseitigung der Toten, bevor eine Seuche über uns hereinbricht, und die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln. Kaum eines der Anwesen ist angegriffen worden, daher erwarte ich bei letzterem keine Probleme.”
“Und das erste? Ich nehme an, ihr wollt eure toten Soldaten und natürlich die Ordensmagier zurück nach Anyueel schaffen?”
Enric nickte. “Das müssen wir. Als Sieger haben wir keine andere Wahl. Diejenigen, die wir in der Wüste verloren haben, mussten wir bereits begraben, aber jene, die in der Stadt gefallen sind, müssen nach Hause gebracht werden.”
“Insbesondere Lord Tyront, nehme ich an?”
“Ja, vor allem er”, antwortete Enric leise und sinnierte darüber, wie er Vyril die grausige Nachricht überbringen sollte. Vorausgesetzt, der König hatte sie nicht bereits informiert, während sich Enric in der Wüste auf die Jagd nach Etor Garts Männern begeben hatte.
“Was ist mit dem Kadaver von Etor Gart? Verfüttern wir ihn an die Fische oder lassen wir ihn in der Wüste verrotten, so wie er es verdient hat?”
“Nein. Ich wünschte, wir hätten diesen Luxus. Wir werden ihn zurückbringen müssen als Beweis für seine Niederlage.”
Ram’an runzelte die Stirn. “Du willst nach Kar reisen, um ihnen die verwesenden Überreste ihres kriegstreiberischen Anführers zu präsentieren? Oder hast du vor, die Kriegsgefangenen freizulassen und sie ihnen mitzugeben?”
Enric streckte sich erneut und unterdrückte ein Gähnen. “Das kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Es ist nicht allein meine Entscheidung.”
Es folgten einige Sekunden des Schweigens, dann fragte Ram’an: “Wegen Malhora. Hattest du schon Gelegenheit, mit ihr zu sprechen? Das muss wohl das Seltsamste gewesen sein, was ich je mitangesehen habe. Ich wusste nicht, dass sich die Nomaden auf diese Weise unter dem Sand bewegen können – von der Oberfläche aus völlig unbemerkt! Und wie ist Malhora überhaupt bei ihnen gelandet?”
“Malriel war noch nicht fertig damit, sie anzuschreien, als ich sie gestern verlassen habe, und seitdem habe ich sie beide nicht mehr gesehen. Ich war beschäftigt, während du dich ausgeruht hast”, fügte er spitz hinzu.
Ram’an zuckte mit den Schultern. “Nun, anders als du und deine Männer bin ich nicht mein ganzes Leben lang auf einen Krieg vorbereitet worden. Ich habe einen Beruf erlernt, der Bücher und Schreibmaterial erfordert, keine Schwerter und Magie. Du solltest mir also zugute halten, dass ich so lange auf den Beinen geblieben bin, wie ich es vermocht habe.”
Enric seufzte. Selbstverständlich hatte er Recht. Für einen Zivilisten hatte er sich bei all dem durchaus wacker geschlagen. Er hatte bis zum bitteren Ende durchgehalten und war bei der Begegnung mit dem Feind nicht ein einziges Mal verzagt.
“Entschulde bitte. Ich wollte dich nicht herabwürdigen.”
“Kein Grund zur Sorge, mein Freund. Wie geht es nun weiter? Darf ich darauf hoffen, dass ich bald in meine Residenz zurückkehren kann, um mir wenigstens frische Kleidung zu besorgen, oder muss ich ihr fernbleiben, solange der König sie noch benutzt?”
“Es ist gewiss kein Problem, wenn du dir frische Kleidung besorgst. Du kannst dich mir anschließen, mein erster Weg führt dorthin, um mich mit dem König und Orrin zu beraten. Du kannst dich in der Zwischenzeit gerne in mein Haus zurückziehen. Zum Glück steht es noch. Möglicherweise halten sich dort jedoch auch Malriel und Malhora auf. Wenn du meine Gastfreundschaft akzeptierst, mach dich darauf gefasst, dass es wahrscheinlich keine allzu ruhige Erfahrung wird.”
Ram’an nickte dankbar. “Das Angebot nehme ich dankend an. Was ist mit Theá?”
“Ich werde ihr eine Nachricht hinterlassen und sie anweisen, dass sie nach Hause gehen soll, sobald sie aufwacht. Ich vermute allerdings, dass sie noch ein paar Stunden schlafen wird.”
“Gut. Dann werde ich das Bad benutzen und etwas Wasser trinken, während du die Nachricht verfasst.”
“Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo ich ein Arbeitszimmer mit etwas Papier und einem Stift finden kann?”
“Überhaupt keine.”
Enric drehte sich um und begab sich erneut auf Zimmersuche.
* * *
Eryn gönnte sich ein finales, ausgedehntes Gähnen, bevor sie an die Eingangstür der Arbil Residenz klopfte. Die Morgendämmerung kündigte sich bereits durch eine deutlich erkennbare orange Färbung des Sonnenlichts an.
Als sie etwa eine Stunde zuvor aufgewacht war, allein und leicht verwirrt an einem ihr unbekannten Ort, hatte sie sich vage daran erinnert, dass Ram’an etwas von der Roal-Residenz erwähnt hatte. Abgesehen von der geschmackvollen, gediegenen Einrichtung hatte das Gebäude einen offenen, luftigen und modernen Eindruck auf sie gemacht. Es wurde ganz eindeutig dem Ruf des Hauses als fähige Bauherren gerecht.
Enrics Zettel auf dem niedrigen Tisch forderte sie auf, in ihr offenbar noch intaktes Haus zurückzukehren und sich zu waschen, bevor sie in die Arbil Residenz aufbrechen sollte. Einige Themen würde man auch ohne sie angehen, aber für andere war ihre Anwesenheit erforderlich.
Hier stand sie also und wartete geduldig darauf, eingelassen zu werden. Malriel war diejenige, die ihr die Tür öffnete und dann zur Seite trat, um sie eintreten zu lassen, bevor sie ihr ein feuchtes Handtuch reichte.
“Wie geht es dir, Maltheá?”, erkundigte sich ihre Mutter. “Wie ich höre, war die Heilung, die du erhalten hast, recht umfassend, was bedeutet, dass du dich noch ein paar Tage lang erschöpft fühlen wirst. Unter normalen Umständen würden wir dir raten, dich zu schonen und so viel zu ruhen, wie es dir möglich ist.”
Eryn lächelte. “Ich danke dir, Mutter. Das Verfahren ist mir bekannt. Ich war früher selbst Heilerin, wie du dich vielleicht noch erinnerst?” Wie war es möglich, dass die Leute ihre Fähigkeiten auf diesem Gebiet so schnell aus den Augen verloren, nur weil sie den Beruf nicht länger aktiv ausübte? Nicht-Heiler waren plötzlich von dem Bedürfnis beseelt, ihr die grundlegendsten medizinischen Prinzipien zu erklären.
“Verzeih mir. Ich bin lediglich besorgt.”
Eryn musterte ihre Mutter und erinnerte sich, wie verstört diese zuvor an der Barriere gewesen war, als sie alle Zeugen des dramatischen Vorfalls geworden waren, mit dem Malhora die Welt davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass die Gerüchte über ihr Ableben übertrieben und verfrüht gewesen waren. Nichts davon hatte Spuren in Malriels gegenwärtigem Aussehen hinterlassen. Sie strahlte einen Hauch mehr Eleganz aus als in den letzten Wochen, um den Menschen unmissverständlich zu signalisieren, dass sie in eine neue Phase eingetreten waren – eine Phase, die noch weit entfernt war von aufwendigen gesellschaftlichen Zusammenkünften in luxuriösen Residenzen, die aber trotz all der Arbeit, die noch vor ihnen lag, ein erster Schritt in Richtung der Normalität war, nach der die Sehnsucht so groß war. Eryn fragte sich, wessen Kleidung sie gerade trug. Hatte sie es geschafft, unter den Trümmern ihrer Residenz ein paar intakte Kleidungsstücke zu bergen? Diese Tunika kam ihr allerdings bekannt vor…
“Wie geht es dir, Mutter? Hast du dich schon mit Großmutters unerwarteter Rückkehr von den Toten abgefunden?” Sie betrachtete die dunkle Hose, die etwas weniger körperbetont geschnitten war, als es Malriel bevorzugte. Vielmehr wirkte das Kleidungsstück wie für eine Frau gemacht, deren Fokus eher darauf lag, sich viel zu bewegen als verführerisch auszusehen… “Sind das meine Kleider?”
Malriel sah an sich hinab, als müsse sie sich vergewissern, was genau sie gerade am Leib trug. “Ja, das sind sie. Enric war so freundlich, mir eine Auswahl aus deinem Kleiderschrank anzubieten, da die einzigen Kleider, die ich derzeit besitze, entweder verschwitzt, staubig und zerrissen sind oder unter den Ruinen meines Hauses verschüttet liegen”, erklärte sie etwas spitz. Ganz so als wollte sie ihre Tochter herausfordern, ihren Unmut darüber zu äußern, dass sie ihre Kleidung vorerst teilen musste.
“Das ist kein Problem”, versicherte Eryn ihrer Mutter umgehend. Und das war es auch tatsächlich nicht. Was sie allerdings ein wenig verärgerte, war die Tatsache, dass sie ihre eigenen Sachen nicht auf Anhieb erkannt hatte, weil die Art, wie Malriel sie trug, sie irgendwie… stilvoller wirken ließ. Es war nicht nur die Art, wie sie die einzelnen Stücke kombiniert hatte, sondern auch, wie sie sich mit ihrem Körper bewegten, wie das Licht mit den Falten im Stoff spielte, wenn sie sich drehte oder umherging.
“Also, wegen Malhora…?”
Malriel seufzte. “Wir haben so ziemlich genau dort angeknüpft, wo wir vor ihrem Verschwinden aufgehört haben.”
Eryn schnitt eine Grimasse. Das bedeutete, dass sie sich nach wie vor gegenseitig als formidable Gegnerinnen betrachteten und die Illusion hegten, dies sei eine Art Kompliment, das sie einander zollten, ein Ersatz für eine intakte Beziehung. Und keine von beiden war mutig genug, der anderen zu signalisieren, dass sie sich beide wünschten, die Dinge zwischen ihnen stünden anders. Und das, davon war Eryn überzeugt, war der Grund, weshalb sowohl Malriel als auch Malhora das lang vermisste Kind – nämlich sie selbst – benutzten, um das zu kompensieren, was sie der jeweils anderen vorenthielten. So viel zu dem Ruf der Aren, von dem Malriel noch vor einem Tag behauptet hatte, er entbehre jeglicher Grundlage; sie unterwarf sich diesem Ruf, so wie man es von ihr erwartete. So viel zu ihren ach so vernünftigen Worten, als sie das Thema kurz vor dem Explodieren der Mauer erörtert hatten.
“Komm mit. Wir sollten nach oben gehen zu den anderen. Horam ist nur wenige Minuten vor dir angekommen, und ich denke, es wird dich interessieren, was sie uns zu sagen hat.”
Eryn runzelte die Stirn. “Das klingt, als wüsstest du bereits, was das sein wird.”
Malriel lächelte nur und ging voraus die Treppe hinauf.
Die Sitzkissen waren recht gut besetzt, wie Eryn bemerkte. Da waren der König, die Triarchen, Enric, Orrin, Neled, Horam, Valrad und nun auch sie selbst. Bei einem geselligen Beisammensein würde der Gastgeber die Sitzgelegenheiten für eine so große Anzahl von Menschen etwas umgestalten. Aber im Moment würden sie sich einfach zusammenquetschen müssen.
Sie begrüßte alle mit einem herzlichen Lächeln und bezog dann einen Platz zwischen Enric und Neled. Enric hatte sich für sein bevorzugtes schwarzes Gewand entschieden und die dunkelrote Schärpe ergänzt. Auf diese Weise verwandelte er sein legeres Gewand in ein halbwegs formelles, das seine Stellung widerspiegelte, ohne dass er dafür eine Rüstung oder seine Robe tragen musste, beides ausgesprochen unbequem in diesem Klima.
“Lady Eryn”, nickte der König ihr zu. “Ich nehme an, Ihr habt Euch soweit erholt, dass Ihr Eure Pflichten wieder aufnehmen könnt?”
“Das habe ich in der Tat”, antwortete sie. Dann sah sie Horam an. “Ich bin froh, dich wiederzusehen. Du hast uns gestern einen gehörigen Schrecken eingejagt. Nun ja – mir zumindest. Neled wusste immerhin, was zu erwarten war.” Sie schürzte die Lippen und sah Malriel und den König an. “Und vielleicht auch ihr beiden, wie ich vermute.”
Malriel lächelte leise. “Ja und nein. Ich wusste von Neleds Vereinbarung mit Horam. Sie hatte mich bereits darüber informiert, als sie das erste Mal in die Stadt kam und unser Angebot annahm, in Takhan zu bleiben. Dennoch war ich mir nicht sicher, ob es sich bei der Verstärkung, die Etor Gart erwartete, wirklich um die Loman Ergen oder um reguläre Soldaten der Armee Pirinkars handelte. Mein erster Impuls, als ich sie in der Ferne sah, war Panik, das will ich zugeben.”
Eryn erinnerte sich an ein Gespräch zwischen ihr und Neled, als sie im Süden nach feindlichen Truppen gesucht hatten. Neled hatte angedeutet, dass sie bestimmte Dinge plante – Dinge, von denen Malriel Kenntnis hatte.
König Folrin räusperte sich und warf einen kühlen Blick in Malriels Richtung. “Ich allerdings wurde über eine solche Vereinbarung nicht informiert, und in der Folge auch nicht die Befehlshaber meiner Truppen.”
“Verzeih mir, Folrin”, flötete Malriel, “dieses Geheimnis zu teilen stand mir nicht zu. Und solange wir nicht mit Sicherheit sagen konnten, ob und wann sie auftauchen würden, brachte es keinerlei strategischen Vorteil, es dir mitzuteilen.”
Der König erwiderte darauf nichts, doch seine Miene verriet deutlich genug, wie wenig er mit ihr übereinstimmte.
Eryn verbarg ein Lächeln und dachte, dass es ihn zutiefst verärgern musste, nun selbst die Art von Behandlung zu erfahren, die er bevorzugt anderen angedeihen ließ.
“Du solltest deine Schärpe tragen, damit wenigstens irgendein Zeichen deiner Position erkennbar ist”, flüsterte Enric ihr ins Ohr, während alle Aufmerksamkeit auf Malriel gerichtet war.
“Sie ist mit Staub und getrocknetem Blut beschmutzt”, antwortete sie. “Ich hatte keine Zeit, sie zu waschen, bevor ich hierher kam.” Ein kurzer Blick auf Enrics eigene Schärpe zeigte ihr, dass sie sauber war. Offensichtlich hatte er sich also entweder selbst die Zeit genommen, sie zu waschen, oder jemand anderen damit beauftragt, das für ihn zu erledigen. Da es in der Stadt aktuell keine Bediensteten gab, hatte er es vermutlich selbst übernommen und dabei seine unfreiwillig in den Bergen erworbene Fähigkeit genutzt, als Malriel auf dem Rückweg von Pirinkar darauf bestanden hatte, dass die Männer ihre Kleidung selbst wuschen, um dem Stamm, bei dem sie zu Gast gewesen waren, die modernen Gepflogenheiten der Stadtbewohner zu demonstrieren.
König Folrin sah Neled und dann Horam an. “Meine werten Damen, ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr mich und alle anderen hier über die Art eurer Vereinbarung aufklären könntet. Horam, ich habe gehört, dass du die Anführerin einer Gruppe bist, die sich Loman Ergen nennt, was sich grob mit die Unerschrockenen übersetzen lässt.”
Horam legte den Kopf schief. “Ich gehöre zu den Unerschrockenen, das ist richtig. Jedoch ordnen wir uns keinem Anführer unter. Ich bin lediglich eine der Älteren, die das Glück hat, das Vertrauen vieler zu genießen, die meinen Rat suchen. Ich nehme an, Ihr wurdet auch darüber informiert, dass wir seit Jahrhunderten ein wanderndes Volk sind, das immer in Bewegung ist, um der Unterdrückung zu entkommen, die sonst aufgrund unserer Magie unser Schicksal wäre. Ich selbst wurde in der Stadt Kar geboren und als Säugling dem grausamsten und abscheulichsten der Tempel übergeben. Wie so viele andere wurde mir das Sprechen verboten und ich wurde unmenschlichen und entwürdigenden Praktiken unterworfen. Es gelang mir zu flüchten, und ich wurde von den Loman Ergen verloren und allein in den Wäldern aufgelesen. Seither bin ich eine von ihnen.”
Eryn schluckte. Sie erinnerte sich daran, dass Horam ihr von ihrem bitteren Start bei den Anhängern von Amel Harp erzählt hatte. Hatte sie sich deshalb auf die Seite des Volkes geschlagen, das ihre Landsleute als Feind betrachteten? Weil sie sich gegen jene stellen wollte, die ihr so schreckliche Dinge angetan hatten? Die Gelegenheit nutzen, es einer Gesellschaft heimzuzahlen, die nicht nur tolerierte, sondern aktiv unterstützte, was Magiern im Allgemeinen und insbesondere den armen Kreaturen, die im Tempel von Amel Harp landeten, angetan wurde?
Als sich abzeichnete, dass Horam nicht weitersprechen würde, ergriff Neled das Wort. “Wir verließen Kar, sobald unsere Vorbereitungen abgeschlossen waren – nachdem ich mich endgültig zu diesem Schritt entschlossen hatte. Der Gedanke, mich den Loman Ergen anzuschließen, hat mich bereits seit Jahren beschäftigt, aber es bedurfte offensichtlich der Bedrohung, von unseren Unterdrückern in den Krieg geschickt zu werden, um mich zum Handeln zu bewegen. Ich wusste, dass Etor Gart durch den Verlust der Bendan Ederbren über keine Magier mehr verfügte, die für einen Krieg gegen Kampfmagier ausgebildet waren. Damit war es für ihn nur logisch, sich an die Loman Ergen zu wenden. Also habe ich sie aufgesucht, um sie zu warnen.” Sie lächelte bei der Erinnerung, ihr Blick in die Ferne gerichtet. “Sie zu finden, ist entweder eine Frage des Zufalls oder des Wissens, wo man suchen muss. Da ich keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte, und die Zeit wegen unserer Flucht aus dem Land drängte, beschloss ich, mich stattdessen von ihnen finden zu lassen. Ich kleidete mich in mein Priestergewand und verbrachte eineinhalb Tage auf einer erhöhten Lichtung, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ich schickte die anderen voraus und behielt nur ein paar meiner Leute zum Schutz bei mir, für den Fall, dass irgendwelche übereifrigen, gehorsamen Dorfbewohner versuchen würden, mich in die Stadt zurückzuschaffen. Sie fanden mich tatsächlich und beschlossen, sich mir zu nähern, obwohl sie sich normalerweise von Fremden fernhielten und sie nur aus der Ferne beobachteten. Doch mein Gewand hatte ihr Interesse geweckt, genau wie ich gehofft hatte. Nach ein paar weiteren Tagen des Reitens traf ich schließlich Horam. Ich warnte sie, dass die Regierung sie wahrscheinlich kontaktieren und mit Versprechungen dazu bewegen wollen würde, in einem Krieg kämpfen, der nicht der ihre war – einem Krieg gegen ein Volk, das keinem von uns etwas angetan hatte, außer dass es das Pech hatte, ein geeignetes Ziel für die Machtbestrebungen eines einzelnen Mannes zu sein. Wir unterhielten uns die ganze Nacht hindurch. Mein ursprüngliches Ziel bei der Suche nach ihnen war nicht ein Bündnis irgendeiner Art gewesen. Ich war ein Flüchtling, der sich und die Menschen, die unter ihrer Obhut standen, der Gnade von Fremden auslieferte, die keinen Grund hatten, uns zu vertrauen. Es gab ohnehin wenig, was ich hätte anbieten können. Und noch weniger hatte ich das Recht, um etwas zu bitten. Ich wollte sie lediglich warnen, sie anflehen, sich nicht auf diese Weise missbrauchen zu lassen – und für ein Freiheitsversprechen oder Ähnliches den Fehler zu begehen, den Leuten, die sie schon so lange jagten, ihren Aufenthaltsort zu verraten oder gar freiwillig ihr Leben für sie zu opfern.”
“Und trotzdem haben wir uns am Ende der Nacht verbündet”, übernahm Horam und lächelte Neled an. “Zwei Frauen, die auf der Flucht vor ihren Verfolgern waren und die einander nicht viel mehr zu bieten hatten als Entschlossenheit und ein gemeinsames Empfinden von Ungerechtigkeit aufgrund der Misshandlungen, die wir erleiden und bei anderen mitansehen mussten.”
Eryn spürte, wie die Spannung im Raum merklich zunahm, während alle darauf warteten, dass die Einzelheiten dieser Vereinbarung offengelegt wurden. Alle außer Malriel, die bereits Bescheid wusste.
Die Frau, die behauptete, nicht die Anführerin der Loman Ergen zu sein, fuhr fort: “Ich habe versprochen, Etor Gart in dem Glauben zu lassen, dass er sich unsere Unterstützung für den Krieg gesichert hat, für den Fall, dass er wahrhaftig beabsichtigt, uns für seine Zwecke zu benutzen, wie Neled es vorausgesagt hatte. Es war besser, ihn in dem Glauben zu lassen, wir würden auf seiner Seite in den Krieg ziehen und ihm später eine Lektion erteilen, als ihm eine Absage zu erteilen und ihn zu zwingen, sich eine andere Lösung einfallen zu lassen. Im Gegenzug versprach Neled, am Ende von Etor Garts Bemühungen zurückzukehren, ob diese schlussendlich erfolgreich waren oder nicht, und mit den Loman Ergen nach Kar zu marschieren, um unsere Brüder und Schwestern aus ihren Gefängnissen hinter den Mauern der Tempel zu befreien.”
Eryn spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Nach Jahrhunderten hatten die Loman Ergen beschlossen, sich ihren Unterdrückern entgegenzustellen anstatt weiterhin vor ihnen zu fliehen. Der Zeitpunkt dafür war hervorragend: Nun hatten sie zum ersten Mal Verbündete, die nicht nur Magier, sondern auch ausgebildete Krieger waren. Und die dank Etor Gart nun sogar wertvolle Kampferfahrung gesammelt hatten, die ihnen helfen würde, sich gegen die Reste von Pirinkars Armee zu behaupten. Die Frage war nur, ob es sich dabei noch um eine ernstzunehmende Macht handelte, auch wenn sie aus Nichtmagiern bestand. Eine ausreichend große Zahl fähiger Kämpfer war eine Gefahr für deutlich weniger Magier – vor allem, wenn sie über Geschosse mit goldenen Spitzen verfügten.
“Du wirst uns also bald verlassen, wenn ich das richtig verstehe”, wandte sich Golir an Neled, und sein Ton klang besorgt. “Es tut mir unendlich leid, das zu hören, zumal wir noch nicht sicher sein können, ob der bloße Sturz Etor Garts sämtlichen Feindseligkeiten ein Ende setzen wird.”
Enric lächelte leise. “Wenn sich die Loman Ergen mit den Bendan Ederbren vereinigen, um gegen Kar zu marschieren, wird die Regierung auf absehbare Zeit kaum in der Lage sein, weitere Angriffe auf uns in Betracht zu ziehen.”
“Wir könnten die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Krieges mit ihnen erheblich verringern”, formulierte Eryn etwas, das sie bereits vor nicht allzu langer Zeit auf dem Rückweg nach Takhan bereits gegenüber Enric und Ram’an erwähnt hatte, “wenn wir dafür sorgen, dass die Machthaber nicht geneigt sind, uns erneut anzugreifen.”
Der König hob die Brauen und sah sie an. “Betrügen mich meine Ohren, Lady Eryn, oder erlebe ich wahrlich den Tag, an dem Ihr den Vorschlag unterbreitet, die Invasion eines anderen Landes in Angriff zu nehmen?” Er schüttelte verblüfft den Kopf. “Du liebe Zeit, was haben wir nur aus Euch gemacht?”
“Ihr habt mich zu nichts gemacht, was ich nicht schon vorher war”, erwiderte sie, aus irgendeinem Grund irritiert über seine Worte. “Ich war nie ein Mensch, der bereit war, eine Bedrohung für Unschuldige hinzunehmen, und das gilt für beide Seiten. Ich möchte auch nicht, dass mein Sohn an einem Ort aufwächst, an dem Frieden ein zerbrechliches Konstrukt ist, das davon abhängt, von welcher Laune irgendjemand in Pirinkar gerade getrieben wird. Und ich billige auch nicht, wie Magier in Pirinkar unterdrückt, versklavt, gequält und verfolgt werden. Euer Einfluss hat lediglich dazu geführt, dass ich neue Ansätze zur Durchsetzung meiner Werte in Betracht ziehe.”
“Ansätze wie eine Invasion”, antwortete König Folrin mit einem Lächeln.
“Wenn wir die Einwohner von Pirinkar lediglich in ihrem Bestreben unterstützen würden, die Sklaverei zu beenden, anstatt dort einzumarschieren und das Land zu übernehmen, würde ich es kaum als Invasion bezeichnen”, meldete sich Enric zu Wort.
Der König warf ihm einen direkten Blick zu. “Ich verstehe.” Er hielt einen Moment inne, als überlege er, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte. “Gehe ich recht in der Annahme, Lord Enric, dass Ihr mir in Eurer Eigenschaft als Anführer des Ordens der Magier mitteilt, dass Ihr die Entsendung unserer Truppen nach Pirinkar befürwortet?”
Eryn hielt für einen kurzen Moment den Atem an. Enric hatte sich nie wirklich zu ihrer Aussage, gegen Pirinkar zu marschieren, geäußert, als sie nach der Schlacht zurückgeritten waren. Sie waren einfach eine Weile schweigend weitergeritten und hatten anschließend über andere Dinge gesprochen. Sie war also nicht sicher, mit welcher Antwort er nun aufwarten würde.
Enric hob sein Kinn leicht an. “So ist es.”
Stille trat ein. Eryn bemerkte, wie angespannt Horam und Neled den Austausch verfolgten. Den Orden an ihrer Seite zu haben würde ihre Erfolgschancen deutlich erhöhen.
Torka’na ergriff nun das Wort: “Wenn unser Hauptziel darin besteht, unser Land vor zukünftigen Angriffen zu schützen, können wir ebenso gut die gleiche Art von Barriere errichten, die unsere Vorfahren benutzt haben, um das Königreich Anyueel fernzuhalten. Immerhin haben wir wiederentdeckt, wie sich das bewerkstelligen lässt. Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Pirinkars ist eine prekäre Angelegenheit. Im Grunde genommen stellen wir uns auf die Seite jener, die bestrebt sind, einen Bürgerkrieg anzuzetteln. Sollten wir uns in der Position wiederfinden, die Verliererseite unterstützt zu haben, müssen wir mit Sicherheit mit den Feindseligkeiten rechnen, die vorher lediglich eine mögliche Option waren.”
Eryn biss sich auf die Lippe, um sich den Hinweis zu verkneifen, dass dies zwar der Sicherheit der westlichen Territorien dienen würde, aber wohl kaum der Sicherheit der in Kar unterdrückten Priester. Sie wusste, dass es der Triarchie in erster Linie um den Schutz ihres eigenen Volkes gehen musste. Torke’nas Argument war berechtigt; etwas anderes zu behaupten wäre sinnlos. Es nutzte auch nichts, sich über das zu ärgern, was Eryn als Gefühllosigkeit empfand. Torke’na hatte noch nie mit eigenen Augen erblickt, wie das Leben in Pirinkar für Magier aussah. Und selbst wenn sie es gewusst hätte – eine Entscheidung wie diese musste auf Vernunft und validen Argumenten beruhen, nicht auf bloßer Solidarität.
Malriel ergriff als nächstes das Wort. “Ich stimme zu, dass Pirinkar im Falle einer Niederlage wahrscheinlich Vergeltung üben wird. Ebenso ist es allerdings eine Tatsache, dass wir nicht sicher sein können, ob sie den gegenwärtigen Krieg als beendet betrachten oder nicht. Sie könnten die Niederlage ihrer Truppen als Vorwand für einen Vergeltungsschlag nutzen. Den Luxus, dass wir nun davon ausgehen, dass Frieden herrscht, können wir uns nicht leisten. Was eine weitere Barriere betrifft, muss ich zur Vorsicht mahnen. Etor Gart hat einen Weg gefunden, die Barrieren, die wir um die Stadt errichtet haben, zu überwinden. Wir müssen davon ausgehen, dass dies keine neue Entdeckung war, sondern eine in Pirinkar bekannte Technik, was bedeutet, dass sie in der Lage wären, selbst den mächtigsten magischen Schild zu überwinden, den wir errichten können.”
“Lord Enric”, begann der König, “was wäre, wenn ich anordne, dass der Orden nach Anyueel zurückzukehren und diesen Krieg als beendet zu betrachten hat?”
“Dem würde ich mich selbstverständlich beugen, Eure Majestät. Solange ich Euer Untertan bin und das Amt des Anführers des Ordens bekleide, werde ich mich Euren Wünschen fügen.” Enric ließ unausgesprochen, dass sich seine Amtszeit dem Ende zuneigte und dass ihn und Eryn danach nichts und niemand mehr davon abhalten konnte, den Bendan Ederbren und Loman Ergen ihre Unterstützung zu gewähren. Die geschürzten Lippen des Königs waren ein deutliches Zeichen dafür, dass die Botschaft angekommen war. Enric fuhr fort: “Ich bin mir sicher, dass die Westlichen Territorien es Euch nicht verübeln würden, falls Ihr beschließt, Euch um Euer eigenes Volk zu kümmern, nachdem Ihr Euer Versprechen, ihnen im Krieg beizustehen, erfüllt habt. Und ich bin ebenso zuversichtlich, dass Ihr nicht zögern würdet, wenn sich in der nächsten Zeit die Notwendigkeit ergeben sollte, zurückzukehren, um sie erneut zu verteidigen.”
Eryn musste die Art und Weise bewundern, wie sein Gehirn arbeitete. Er hatte geschickt angedeutet, dass er gegen Kar marschieren würde, sobald er sich aus der Umklammerung des Königs befreit hatte, und König Folrin auf die möglichen politischen Folgen einer Weigerung hingewiesen, Schritte zu unternehmen, die mancher als geeignet ansehen würde, den Konflikt mit Pirinkar auf eine dauerhaftere Weise zu beenden. Außerdem würde die Wiederaufnahme eines Krieges, den man von vornherein nicht richtig beendet hatte, die Beliebtheit des Königs bei seinem eigenen Volk nicht eben fördern.
Malriels Mundwinkel zuckten für einen kurzen Moment, dann nahm ihr Gesicht wieder seinen neutralen Ausdruck an. Natürlich fand die Königin der Finsternis Gefallen an einer solch hinterhältigen Antwort.
Der durchdringende Blick des Königs blieb auf Enric gerichtet, als er antwortete: “Natürlich werden wir auch weiterhin alle Maßnahmen unterstützen, die die Triarchie für notwendig erachtet, um den Frieden herzustellen und zu sichern.”
Ah, dachte Eryn, und jetzt hatte er die Entscheidung an die Triarchie delegiert.
Malriel lächelte ihn an. “Wir sind unendlich dankbar, das zu hören, Folrin. Doch da unser System etwas anders funktioniert als das von Anyueel, wo du die schlussendliche Entscheidungsinstanz bist, müssen wir den Senat darüber abstimmen lassen. Da sich derzeit nur ein Teil davon noch in Takhan befindet, werden wir noch mindestens ein oder zwei Tage warten müssen, bis die anderen mit ihren Familien aus den Bergen zurück sind.” Sie sah ihre beiden Kollegen an. “Ich schlage vor, dass die Triarchie diese Angelegenheit bespricht. Wir müssen entscheiden, ob wir uns alle einig sind, was getan werden muss, oder ob wir uns aufteilen und jeder dem Senat Argumente für seinen Standpunkt vortragen wird. Sollte sich der Senat gegen die Entsendung von Truppen in den Norden entscheiden, werde ich den Antrag stellen, dass diejenigen unserer Bürger, die sich der Sache unserer Freunde anschließen wollen, dies aus eigenem Antrieb tun können.”
Die Sache unserer Freunde, dachte Eryn. Eine nicht allzu subtile Erinnerung daran, dass die Westlichen Territorien zumindest den Loman Ergen etwas schuldete. Man mochte argumentieren, dass die Bendan Ederbren lediglich ihre Pflicht erfüllt hatten, nachdem man ihnen Schutz und eine neue Heimat gewährt hatte, als sie aus ihrem Herkunftsland geflohen waren. Dennoch war es Neleds Abkommen mit Horam, das einer entscheidenden Schlacht, deren Ausgang unklar gewesen wäre, ein schnelles Ende gesetzt hatte. Was bedeutete, der Krieg hätte sich in die Länge ziehen und vielleicht sogar in einer Niederlage enden können. Daher war durchaus legitim argumentierbar, dass Neled Unterstützung, wenn nicht gar eine Gegenleistung, geschuldet wurde.
Nun, zumindest war klar, welche Option Malriel bevorzugte. Und sie würde es sicher nicht versäumen, den Senat zu beeindrucken, ganz gleich, wo die beiden anderen Triarchen standen. Malriel hatte die Führung übernommen, als Golir sich der Herausforderung als nicht ausreichend gewachsen erwiesen hatte, sie hatte ihr Leben riskiert, um den Gefährten ihrer Tochter zu retten, als dieser oben in Pirinkar als vermisst gemeldet worden war, und es war ihre eigene Mutter gewesen, die den Kommandanten der Gegenseite auf höchst spektakuläre Weise niedergestreckt hatte – eine Geschichte, die noch lange nach Malhoras eigenem Ableben fortbestehen würde. Malriel selbst und später auch ihre Tochter hatten sich in den Norden begeben, um alles zur Vermeidung eines Krieges zu unternehmen, und Malriel hatte sowohl ihr Zuhause als auch eines der Anwesen ihres Hauses verloren – und beinahe auch ihre Mutter. Haus Aren hatte eine Zeit lang darauf hingearbeitet, den Krieg zu vermeiden, und dann mehr als seinen Teil dazu beigetragen, ihn zu gewinnen. Wenn Malriel von Haus Aren vor dem Senat sprach und ihm erklärte, dass sie nicht sicher sein würden, bis die Menschen, die Etor Garts Vorgehen billigten, zur Vernunft gebracht wurden, dann würde man ihr Gehör schenken.
Es war merkwürdig. Eryn fühlte sich seltsam beflügelt von der Vorstellung, nach Pirinkar zurückzukehren, wo sie eigentlich erwartet hätte, dass sie ein Ende dieser ganzen Angelegenheit herbeisehen und rasch in ihr altes oder vielmehr neues Leben zurückkehren würde. Doch die Angelegenheit war noch nicht hinreichend zu Ende gebracht worden. Nicht für sie selbst und ebenso wenig für die Loman Ergen oder Neled.
In Wahrheit standen Horam zwei Optionen offen – entweder in ein Leben im Verborgenen zurückzukehren, da es kaum eine Chance gab, dass sich irgendjemand in Kar verpflichtet fühlen würde, Etor Garts Versprechen einzuhalten, oder die Gelegenheit zu nutzen und die Regierung zu stürzen, jetzt, wo sie auf ausreichend Unterstützung zurückgreifen konnte für eine realistische Chance auf Erfolg.
Es war gut, dass Malriel sich dafür aussprach, den beiden Frauen beizustehen. Doch Eryn kam nicht umhin sich zu fragen, ob es dafür nicht einen Preis zu bezahlen gab. Malriel war erfahrungsgemäß keine Frau, die dafür bekannt war, ausschließlich von philanthropischen Motiven geleitet zu sein.
“Sollten wir in der Lage sein, euch bei der Einnahme von Kar von Nutzen zu sein”, wandte sich die führende Triarchin mit einem Lächeln an Horam und Neled, “sollten wir uns darüber unterhalten, ob ihr eure sehr fortschrittlichen Technologien und euer Wissen mit uns teilen wollt.”
Ah ja, dachte Eryn mit grimmiger Genugtuung darüber, dass sie Malriel richtig eingeschätzt hatte – da war er auch schon, der Preis.
* * *
“Wo ist Großmutter eigentlich?” erkundigte sich Eryn bei ihrer Mutter, als sie die Arbil Residenz verließen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Da die meisten Bewohner noch auf dem Weg zurück in die Stadt waren, brannten nur wenige Lichter. “Ich habe sie nicht gesehen, als ich mich vor ein paar Stunden zuhause umgezogen und gewaschen habe. Ich nehme an, sie hat sich bei uns einquartiert?” Wo sonst sollte sie unterkommen, nun wo der Familiensitz nicht länger stand? Auch eine Rückkehr zu ihrem eigenen Anwesen kam nicht in Frage, da das ebenfalls zerstört worden war.
“Sie sagte mir, sie wolle die Ruinen unseres Hauses inspizieren, um zu sehen, ob die unterirdische Struktur noch intakt ist.”
Eryn nickte. Das leuchtete ein. Das verborgene Gewölbe unter dem Gebäude war schließlich der Aufbewahrungsort für den Großteil des Goldes von Haus Aren. Und auch für die privaten Rücklagen des Oberhauptes, von denen im aktuellen Fall allerdings nicht mehr viel übrig war, nachdem das meiste davon vor einigen Jahren in den Bau eines Waisenhauses geflossen war…
Zwar stünde die Familie auch bei einem unwiederbringlichen Verlust der Rücklagen kaum am Rande des Bankrotts, doch der Bau eines neuen Wohnsitzes würde in diesem Fall dann vorerst wohl mit anderen Mitteln finanziert werden müssen.
Die zahlreichen Unternehmen und Produktionsstätten von Haus Aren boten ein verlässliches und sicheres Einkommen, so dass keines der Häuser zögern würde, einen Kredit zu gewähren. Allen voran Haus Vel’kim, ebenso auch Haus Arbil, sofern es ihren gegenwärtigen finanziellen Möglichkeiten entsprach. Ram’an hatte das Haus seit dem Tod seines Vaters rehabilitiert und mit klugen, umsichtigen Investitionen in eine finanziell stabile Situation geführt, dennoch würde es bis zur Wiederherstellung des ursprünglichen Wohlstandes noch einige Jahre dauern.
Und dann war da noch der Gefährte des zukünftigen Oberhauptes des Hauses, der eine solche Summe mühelos aufzubringen vermochte. Und das mehr als bereitwillig. Schließlich war er selbst Mitglied des Hauses und hatte die Absicht, in der neu zu errichtenden Residenz zu leben.
Trotzdem. Auf Hilfe angewiesen zu sein, war für kein Haus wünschenswert. Deshalb war die Frage nach den intakten Reserven unter dem Gebäude durchaus von Bedeutung.
“Der schlimmste denkbare Fall”, meinte Enric, “wäre eigentlich, dass das Gewölbe eingestürzt ist und wir es ausgraben müssen, um das Gold zu bergen. Es wäre uns nicht entgangen, wenn Etor Gart jemanden mit einer beträchtlichen Menge des Aren-Goldes nach Pirinkar zurückgeschickt hätte. Mehrere prall gefüllte Truhen sind schwer zu transportieren, selbst für Magier. Man bräuchte einen ganzen Konvoi dafür, da kein Wagen mehr als zwei Truhen auf einmal transportieren kann, wenn überhaupt so viele.”
“Er hätte das Gold holen und es irgendwo anders in dem Teil der Stadt verstecken können, den er kontrolliert”, widersprach Eryn.
“Warum sollte er so etwas tun? Das hätte ihm keinerlei Nutzen gebracht”, runzelte Malriel die Stirn.
Eryn zuckte mit den Schultern. “Um uns zu verhöhnen. Es hätte uns erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wenn wir es nicht wiederfänden. Ich würde es ihm durchaus zutrauen, das Gold zu verstecken, auch wenn er selbst keinerlei Nutzen daraus gezogen hätte.”
Enric nickte. Diese Überzeugung teilte er.
In stillem Einverständnis schlugen sie die Richtung ein, die zu den Aren-Ruinen und damit zu Malhora führte.
Eryn kaute einen Moment lang auf ihrer Lippe, dann sah sie ihre Mutter an. “Gestern hast du etwas erwähnt. Als wir auf der Lauer lagen, falls irgendwelche von Etor Garts Männern die Flucht ergreifen würden. Etwas, das Malhora getan hat, sei Grund für diese Distanz zwischen euch. Kannst du mir sagen, was zwischen euch beiden vorgefallen ist? Man hat mir immer wieder gesagt, es sei typisch für die Aren-Familie, dass Mütter und Töchter nicht miteinander auskämen, weil unsere Mütter unsere stärksten Widersacherinnen seien und uns so lehren, wie man eine starke Anführerin ist. Selbst wenn das wahr wäre und nicht nur ein weiterer Teil des Aren-Bildes, das alle hochhalten, muss es da trotzdem noch mehr zwischen euch beiden gegeben haben. Wirst du mir davon erzählen?”
Malriels Kiefermuskeln spannten sich sichtlich an, während sie weiterging und den Blick nach vorne gerichtet hielt. “Das war vor langer Zeit, Maltheá. Sogar noch vor deiner Geburt. Damals ist etwas vorgefallen, das mich schwer getroffen hat. Trotzdem würde ich mir nicht wünschen, dass dies deine Beziehung zu ihr zerstört. Ich bin froh, dass du und sie ein Maß an Nähe gefunden habt, das mir nicht gegeben war. Das missgönne ich euch beiden nicht, zumindest heute nicht mehr. Ich gebe zu, dass es für mich schwer zu mitanzusehen war, dass ihr beide euch so gut verstanden habt, während du meine Gesellschaft nicht einmal ertragen konntest.”
“Das ist schön und gut, Mutter, aber du solltest mich inzwischen gut genug kennen, um zu wissen, dass ich es nicht dulde, wenn man mir zu meinem eigenen Besten Informationen vorenthält.”
Enric nickte. “Das kann ich bestätigen.”
“Wenn meine Beziehung zu Malhora davon abhängt, dass ich nicht weiß, was sie dir angetan hat, dann ist sie ohnehin zerbrechlich. Und es ist nur eine Frage der Zeit. Jetzt wo ich weiß, dass es etwas herauszufinden gibt, werde ich nicht eher ruhen, bis ich es herausfinde.”
Die Triarchin seufzte müde. “Lass es vorerst gut sein, Maltheá. Eines Tages, wenn sich die Dinge wieder normalisiert haben, werden wir uns zusammensetzen und reden.”
Eryn knirschte mit den Zähnen. Wie ein Kind auf einen unbestimmten Tag in der Zukunft vertröstet zu werden, war frustrierend. Und es zeigte ihr, dass sich Malriel und sie aus der Perspektive ihrer Mutter nicht auf Augenhöhe gegenüberstanden. Das würde sich als interessant erweisen, sobald Eryn Haus Aren übernahm. Da Malriel eine Triarchin war, konnte sie nicht einfach auf ein abgelegenes Anwesen verbannt werden, wie es andere Häuser mit ihren ehemaligen Anführern zu tun pflegten. Sie sah in ihrer unmittelbaren Zukunft die Notwendigkeit voraus, dem ehemaligen Oberhaupt von Haus Aren stets aufs Neue ins Gedächtnis zu rufen, dass es nicht gut ankam, wenn sie ihrer Nachfolgerin über die Schulter blickte. Zumindest nicht unaufgefordert.
Enric nahm ihren Arm und zog sie etwas näher zu sich heran, so dass er murmeln konnte: “Denk an den Abend vor der Schlacht im Hügelland zurück.”
Sie blinzelte. Was für eine merkwürdige Sache, sie hier und jetzt daran zu erinnern. “Du meinst, in der Badewanne, als du und ich…?”
Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. “Nein, Liebste, nicht das. Das, worüber wir am Feuer gesprochen haben. Mit Golir.”
Eryn blieb plötzlich stehen und klatschte sich mit der Handfläche gegen die Stirn. Einmal mehr war sie dämlich gewesen. Sie verfügte bereits über alle nötigen Informationen, und es fehlte ihr allein an der Fähigkeit, die einzelnen Stücke miteinander zu verbinden. Zum Glück war Enric darin viel besser als sie. Ihn würde sie auf jeden Fall in ihrer Nähe behalten, sobald sie ein mächtiges Hausoberhaupt war.
Das Geräusch ließ Malriel ihren Kopf drehen. Ihre Augen verengten sich eine Spur. Offensichtlich ahnte sie, dass Eryn auf eine mögliche Erklärung gestoßen war.
“Omed von Haus Tokmar”, rief Eryn aus. “Dein Vater!” Sie verfluchte sich dafür, dass sie bei dieser Schlussfolgerung nicht früher angelangt war und erinnerte sich daran, dass sie sich sogar gefragt hatte, ob Malhoras sich Rolle beim Ableben ihres Gefährten irgendwie auf die Beziehung zu ihrer Tochter ausgewirkt haben mochte, ob dies vielleicht etwas mit der Distanz zwischen ihnen zu tun hatte.
Malriels Gesicht verriet ihr, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.
“Lass es gut sein, Maltheá. Ich werde nicht darüber sprechen. Wenn du deine Neugier befriedigen willst, schlage ich vor, du fragst deine Großmutter nach all dem.” Damit wandte sich Malriel um und beschleunigte ihre Schritte.
Nach einigen Minuten schweigenden Marsches erreichten sie den Hügel, auf dem bis vor kurzem noch ein prächtiges Bauwerk gethront hatte, das vom Erfolg des Hauses zeugte. Vor ihnen sahen sie mehrere brennende Fackeln, deren Licht schwach von den Trümmern reflektiert wurde. Malhora befand sich also noch immer dort oben.
Als sie die Ruinen praktisch erreicht hatten, fanden sie sie, die Scharfrichterin feindlicher Anführer, auf dem Boden kniend, während sie ein mächtiges Mauerstück von der unscheinbaren Tür entfernte, die den Eingang zu einem Raum markierte, der von innen wie ein Wurzelkeller aussah, in Wahrheit aber als Vorraum diente, der den Zugang zu einer geheimen Gewölbetür ermöglichte. Vorausgesetzt, man gehörte zu den wenigen Eingeweihten, die wussten, wonach sie suchen mussten.
“Ah, Kinder”, grinste die alte Frau und winkte sie näher heran.
Kinder, dachte Eryn mit einem nachsichtigen Lächeln. Sie selbst war keine große Freundin davon, von Malriel mit Kind angesprochen zu werden, und für ihre Mutter musste es noch irritierender sein, wenn man bedachte, dass sie Mitte fünfzig war. Im Moment wirkte Malhora wie eine rüstige Großmutter, verstaubt und aktiv, keineswegs wie die in Stoff gehüllte Verkörperung von Vergeltung mit einem bluttriefenden Dolch in einer Hand.
“Ich habe gute Nachrichten: Der Boden unter den Ruinen ist unversehrt, das Gewölbe wurde also weder entdeckt noch ist es eingestürzt. Die Reichtümer von Haus Aren sind in Sicherheit”, verkündete die alte Frau feierlich.
Malriel nickte, aber ohne zu lächeln. Es schien, als sei sie noch immer leicht erschüttert von dem Gespräch mit ihrer Tochter vor wenigen Minuten.
“Es ist eine Schande”, seufzte Malhora und sah sich um. “Es war ein beeindruckendes Gebäude. Ich selbst habe es im Laufe der Jahre mehrfach modernisieren lassen. Ich habe nie eine sentimentale Bindung an veraltete Dinge gehegt, wenn neue Entwicklungen und Entdeckungen mehr Komfort boten.”
“Ja”, murmelte Malriel, “sentimental warst du nie, das kann man dir kaum vorwerfen.”
Malhoras Augen verengten sich leicht. “Ich nehme an, wir sprechen hier nicht mehr über die Residenz. Heraus mit der Sprache, Malriel. Du weißt, ich habe wenig Geduld für kryptische Bemerkungen. Entweder du sagst, was du zu sagen hast, oder du hältst den Mund. Mit allem dazwischen verschwendest du meine Zeit.”
“Oh nein”, murmelte Enric. “Das sieht ganz danach aus, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen.”
Eryn nickte, fasziniert davon, wie sich die Atmosphäre plötzlich zu etwas gewandelt hatte, das sich dezent prekär anfühlte. Zwei furchterregende Frauen, stur, stolz, gefährlich und stark in ihrer Magie, standen inmitten der vom Feuer erleuchteten Trümmer dessen, was jede von ihnen viele Jahre lang als ihr Zuhause betrachtet hatte. Irgendwie drängte sich das Gefühl auf, als schreie diese dramatische Kulisse förmlich nach einer epischen Konfrontation. Und beide schienen in der richtigen Stimmung zu sein, um den Umständen Rechnung zu tragen. Niemand konnte einer Aren vorwerfen, sie würde sich eine fabelhafte Gelegenheit für einen Konflikt entgehen lassen.
“Ja”, erwiderte Eryn trocken, “gut, dass das Gebäude bereits in Trümmern liegt.”
Falls eine der beiden Frauen diese Bemerkung gehört hatte, verzichteten sie auf eine Reaktion.
Malriel hob den Kopf. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. “Auf unserem Weg hierher wollte deine Enkelin wissen, was genau du getan hast, das zu diesem Bruch zwischen dir und mir geführt hat. Möchtest du das beantworten, Mutter?”
“Ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage, Tochter. Aber du hast mir nie gesagt, was genau du mir vorwirfst.”
Malriels erwiderndes Lachen war bitter. “Ja, ich habe dich nie damit konfrontiert, nicht wahr? Ich war so überzeugt davon, dass es eine Beleidigung für dich gewesen wäre, etwas so Offensichtliches in Worte zu fassen.” Sie deutete auf ihre Tochter. “Sie hat es erraten, und es fällt mir schwer zu glauben, dass du, begabt mit einem der größten Köpfe unserer Zeit, das mehr als drei Jahrzehnte lang nicht vermocht hast.”
Malhora seufzte und wirkte plötzlich müde und von einem Moment auf den anderen deutlich älter. “Drei Jahrzehnte… Sag mir bloß nicht, dass es dabei um deinen Vater geht.”
“Warum sollte es nicht um meinen Vater gehen? Bist du enttäuscht, dass ich nicht so sorglos mit dem Töten anderer umgehe wie du?” Sie warf die Hände in die Luft und rief in den Himmel: “Malhora von Haus Aren, Schlächterin der Feinde ihres Volkes – und untreuer Gefährten!”
Malhora stand einige Sekunden lang still, bevor sie mit ruhiger Stimme, die im krassen Gegensatz zu Malriels Schrei stand, erwiderte: “Du bist eine Närrin, Malriel. Ich hätte nie gedacht, dass ich dir erklären muss, dass du nicht auf die Gerüchte hereinfallen sollst, die für die Öffentlichkeit geschaffen wurden. Gerüchte, die sowohl dem Ruf unseres Hauses als auch dem deines Vaters geholfen haben. Mehr als fünfunddreißig Jahre lang bist du einem Irrtum unterlegen. Und anstatt mich zu konfrontieren und die Sache mit einem Streit aus der Welt zu schaffen, hast du beschlossen, es köcheln zu lassen und zuzulassen, dass es uns entzweit. So habe ich dich nicht erzogen.”
Malriel sah aus, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten.
Eryn empfand ein gewisses Mitleid mit ihr, doch gleichzeitig tröstete sie die Tatsache, dass Malhora die gleiche Macht über ihre Tochter hatte wie Malriel über Eryn – die Macht, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie wäre klein und unsicher. Und im Fall von Malriel von Haus Aren wollte das durchaus etwas heißen.
Malhora schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, was ihre Tochter ihr gerade vorgeworfen hatte. “Du hast also wirklich gedacht, ich hätte deinen Vater getötet. Was für ein unfassbarer Schwachsinn.”
“Er hat dich betrogen!” rief Malriel, als ob sie verzweifelt versuchte, sich zu rechtfertigen. “Ein Mann, der einer mächtigen Aren untreu ist – das hat er sich selbst zuzuschreiben, nicht wahr? Er hat es gewagt, in den Armen einer anderen Frau etwas zu suchen, was er in deinen offensichtlich nicht gefunden hat!”
“Setz dich hin, du Idiotin”, knurrte Malhora.
Eryn zuckte leicht zusammen. Dieser Ausdruck war vermutlich etwas harsch, wenn man ihn auf eine Frau anwandte, die so aussah, als stünde sie kurz davor, die Fassung zu verlieren.
Malriel verschränkte nur die Arme und blieb stehen.
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern und nahm auf einem halbwegs eben aussehenden Stück Wand Platz. “Wie du willst. Welch Ironie, dass wir die Trümmer unserer Beziehung inmitten derer unseres Zuhauses besprechen.” Sie holte tief Luft, dann begann sie: “Du weißt, wie ich mit dir schwanger wurde – daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich habe deinen Vater benutzt, um mich aus einer Kommitment-Vereinbarung zu befreien, zu deren Einhaltung mich meine eigene Mutter gezwungen hätte. Dieser Ansatz, unsere jungen Leute selbst entscheiden zu lassen, ist moderner als zu meiner Zeit. Ich habe deinen Vater ausgewählt, weil er ein ansehnlicher, umgänglicher Mann war. Ich werde dich nicht anlügen und vorgeben, ich wäre in ihn verliebt gewesen. Es war eine Entscheidung, die ich mit klarem Verstand getroffen habe, nicht unter dem Einfluss einer flüchtigen Vernarrtheit. Und ich habe es nie bereut. Ich wusste schon viel länger als alle anderen von seinen Liebschaften.”
Malriel lächelte grausam. “Und natürlich hattest du keinerlei Einwände dagegen.”
“Warum sollte ich? Ich hatte ebenso meinen Anteil an Liebhabern. Wir waren uns einig, diskret zu sein, um unseren Ruf zu schützen. Und damit auch dich. Omed hat vielleicht nie mehr als körperliche Leidenschaft für mich empfunden, aber dich hat er wahrhaftig geliebt. Ich habe deinen Vater respektiert, Malriel. Ihm wurde ein Kind zuteil, das er keinerlei Absicht hatte zu zeugen, aber er vermittelte mir nicht ein einziges Mal das Gefühl, dass er mir das übel genommen hätte. Und ich weiß gewiss, dass er dir nie das Gefühl gegeben hat, unerwünscht zu sein. Wir haben uns sogar gelegentlich ein Bett geteilt.” Sie lächelte bei der Erinnerung daran. “Es war, als hätte ich eine Affäre mit meinem eigenen Gefährten. Manchmal haben wir zusammen ein Glas Wein getrunken und dann die Nacht im selben Bett verbracht. Unsere Beziehung war bis zum Schluss geprägt von Zuneigung, auch wenn wir nie ineinander verliebt waren. Dass du das Verhältnis zwischen deinem Vater und mir als weitgehend spannungsfrei und vergleichsweise harmonisch wahrgenommen hast, lag nicht an meiner Unwissenheit in Bezug auf seine Affären. Es war das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen Erwachsenen, das für alle Beteiligten von Vorteil war.”
Eryn starrte ihre Großmutter an, fasziniert von der Enthüllung solch unerwarteter Aspekte ihres Lebens. Auch Malriel schien ein wenig erschüttert zu sein, wahrscheinlich aufgrund der Erkenntnis, dass die Beziehung ihrer Eltern so vollkommen anders funktioniert hatte, als sie bisher dachte.
“Wie ist er dann gestorben?” Eryn konnte sich die Frage nicht verkneifen. “Wenn du ihn nicht umgebracht hast…”
“Du wirst das vielleicht nicht glauben, aber er starb eines natürlichen Todes”, seufzte Malhora traurig. “Unnötigerweise, wenn du mich fragst. Ich habe ihn ständig gedrängt, sich regelmäßig in der Klinik untersuchen zu lassen, zumal er reichhaltigem Essen und Wein nicht abgeneigt war. Aber er lachte nur und nannte mich übervorsichtig. Aber ich nehme an, er ist so gestorben, wie er es sich gewünscht hätte – in den Armen eines hübschen jungen Mädchens. Sie trafen sich in einem der Weinkeller, die seinem Haus gehörten. Sein Herz ließ ihn im Stich. Hübsch und jung mag seine kleine Geliebte gewesen sein, doch jemand mit einem klaren Kopf und grundlegenden Heilfähigkeiten hätte ihm in dieser Situation besser gedient. Das Mädchen rannte zum Oberhaupt seines Hauses und berichtete hysterisch, was geschehen war, anstatt einen Heiler aufzusuchen. Als sie im Weinkeller ankamen, war er bereits tot. Sie riefen mich an den Schauplatz. Ich hatte eine lange Diskussion mit dem damaligen Oberhaupt von Haus Tokmar. Wir waren uns einig, dass wir die Fakten rund um seinen Tod für die Öffentlichkeit anpassen mussten. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass das kleine Roal-Mädchen den Mund hält.”
Eryn hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. “Roal?”
Malhora schnaubte. “Du glaubst doch nicht wirklich, dass unser Groll gegenüber Haus Roal bis heute auf nichts anderem beruht als auf diesem kleinen Betrugsfall vor einhundertfünfzig Jahren, Maltheá? Mach dich nicht lächerlich.”
Ihre Enkelin schüttelte verwirrt den Kopf. “Aber wenn du von der Affäre wusstest und kein Problem damit hattest – warum solltest du das Haus Roal dann verübeln? Oder ist das Ganze wieder nur für die Öffentlichkeit bestimmt?”
“Es gab hinterher einen handfesten Streit, aber nicht wegen der Affäre selbst. Vielmehr wegen der Art und Weise, wie seine Gespielin und infolgedessen ihr Haus sich nach dem Tod von Omed gebärdet haben. Ich und das Oberhaupt von Omeds Haus waren uns einig, dass wir, da es unwahrscheinlich war, dass die Affäre geheim gehalten werden konnte, etwas tun mussten, um den Ruf unserer beiden Häuser zu wahren. Den von Haus Tokmar, denn Omed hatte offiziell gegen die Bedingungen unseres Kommitments verstoßen, was bedeutete, dass sein Haus verpflichtet war, mir Schadenersatz zu leisten. Hätte ich auf mein Recht, eine solche Zahlung zu verlangen, verzichtet, hätte das merkwürdig ausgesehen. So wollte Haus Aren nicht wahrgenommen werden – verraten und nicht einmal bereit, eine Entschädigung dafür zu akzeptieren. Also sprengte ich mit der Erlaubnis von Haus Tokmar den Weinkeller mit Omeds Leiche in die Luft. Seine kleine Roal-Geliebte hatte keine Ahnung, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, und verbreitete überall das Gerücht, dass seine rachsüchtige Gefährtin ihn getötet habe, weil er außerhalb ihres kalten, lieblosen Bettes Befriedigung suchte. Und genau hier liegt der Grund für unseren Groll gegenüber Haus Roal – ihr Oberhaupt hat es nicht nur versäumt, sie zur Räson zu bringen, sondern hat sie sogar dabei unterstützt, eine gründliche Untersuchung gegen mich einzufordern und zu versuchen, mich wegen Mordes an meinem eigenen Gefährten verurteilen zu lassen. Omeds Hausoberhaupt und ich haben uns mit den Triarchen unterhalten und sie über die wahren Umstände informiert und sie gebeten, diese vertraulich zu behandeln.” Malhora hob die Hände. “Und das war alles, Malriel. Dein Vater starb eines natürlichen Todes, und ich habe einen Weinkeller in die Luft gejagt, um uns alle zu schützen. Es lag nie in meiner Absicht, dass die Leute sich fragen, ob ich ihn getötet habe oder nicht. Die Geschichte sollte lauten, dass ich von seinem Tod erfuhr und so wütend war, dass ich die Kontrolle über mich verlor. Aber diese idiotische Frau hat darauf bestanden, dass er noch lebte, als ich den Weinkeller in die Luft sprengte – und dabei unterschlagen, dass sie gar nicht in der Lage war, so etwas zu wissen, da sie nicht mehr vor Ort war, als ich eintraf.”
Malriel schloss die Augen. Schließlich nahm sie doch Platz, lehnte sich nach vorne, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Sie saß mehr als eine Minute lang in dieser Position, bevor ihre gedämpfte Stimme hinter ihren Händen hörbar wurde: “Und du hast nie daran gedacht, mir gegenüber irgendetwas davon zu erwähnen?”
Malhora blickte zum Himmel, als ob sie um Ratschläge für den Umgang mit ihrer unverbesserlichen Tochter bitten wollte. “Ich hätte es getan, wenn ich geahnt hätte, dass du eher auf das Geschwätz eines schwachsinnigen Mädchens hörst, als deiner eigenen Mutter zu vertrauen, dass sie nicht so etwas Törichtes anstellt wie deinen Vater umzubringen.”
Der Schmerz in der Stimme ihrer Mutter ließ Malriel aufblicken. “Was hätte ich denn denken sollen, Mutter?”
“Ich kann dir nicht sagen, was du hättest denken sollen, aber Denken wäre ein guter Anfang gewesen. Du hättest anfangen können, die Ungereimtheiten in den Aussagen dieser Frau vor dem Senat selbst zu untersuchen, anstatt ihr zu glauben, weil es so viel einfacher war, den Tod deines Vaters auf mich zu schieben, als dich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass das Leben manchmal grausam und ungerecht ist.”
Eryn erstarrte beim dem Anblick, wie Malriels Schultern zu zittern begannen, während stumme Tränen über ihr Gesicht liefen. Malriel von Haus Aren, die von ihren Gefühlen überwältigt wurde, nachdem ihr bewusst geworden war, dass sie ihre eigene Mutter dreieinhalb Jahrzehnte lang ohne triftigen Grund abgelehnt hatte. Was für ein Anblick!
Malhora betrachtete ihre Tochter, offensichtlich unsicher, wie sie auf diesen ungewöhnlichen Ausdruck von Trauer und Verletzlichkeit bei einer Tochter reagieren sollte, die so viele Jahre lang nie gewagt hatte, irgendeine Form von Schwäche zu zeigen.
Enric stupste Eryn in die Seite und flüsterte: “Sag etwas.”
Entsetzt blickte sie zu ihm auf. “Was soll ich denn sagen?”
“Sie sind beide hilflos, wie sie im Moment miteinander umgehen sollen. Was auch immer du sagen wirst, wird eine Erleichterung für sie sein”, beharrte er.
Eryn sah die beiden Frauen an. Er hatte Recht. Malhora sah aus, als wolle sie ihre Tochter umarmen, wagte es aber nicht, aus Angst, weggestoßen zu werden, und Malriel erweckte den Eindruck, als hätte sie genau diese Umarmung bitter nötig. Sie räusperte sich.
“Ich hoffe, ihr habt beide etwas daraus gelernt”, ermahnte sie die beiden streng und verschränkte die Arme. “Ihr seid beide Idioten! Ich meine – die eine von euch hegt aufgrund eines Gerüchts einen Groll und macht sich nicht die Mühe, ihre eigene Mutter damit zu konfrontieren, und die andere merkt, dass ihre Tochter sich von ihr entfernt, ohne nach den Gründen zu forschen. Die Schuld für diese unglaubliche Dummheit könnt ihr zu gleichmäßig zwischen euch aufteilen.”
Beide blickten mit einem Stirnrunzeln zu ihr auf.
Enric schüttelte schwach den Kopf. “In Ordnung, ich bekenne meinen Irrtum. Du hast es geschafft, sie beide zu verärgern. Was für eine Leistung.”
Eryn schnitt eine Grimasse. “Das funktioniert normalerweise!”
“Nur wenn man zwei Leute davon abhalten will, sich zu streiten, indem man ihre Wut auf sich selbst lenkt. Sie haben sich nicht gestritten. Bis berade eben waren sie noch nicht einmal wütend.”
“Also schön, oh großer Friedensbringer, was schlägst du dann vor? Eine Gruppenumarmung?”
Er grinste. “Das würde mir gefallen.” Kurzerhand schritt er auf die beiden Frauen zu und zog sie in eine Umarmung. Dann sah er seine Gefährtin an. “Kommst du?”
Eryn schüttelte den Kopf. “Nein. Ich will zuerst sehen, ob du das überlebst.”
Malriel seufzte und streckte ihre Hand aus. “Komm schon, Maltheá! Das ist eine derart absurde Situation, dass du dich ebenso gut anschließen kannst.”
“Genau”, mischte sich Enric ein. “Ohne dich werden sie keine Balladen über die Nacht singen können, in der ich auf den traurigen Überresten der Aren Residenz stand und die drei beeindruckendsten Frauen des ganzen Landes in meine Arme schloss.”
Sie musste grinsen und trat schließlich auf die seltsame Gruppe zu, spürte, wie sich warme Arme um sie schlossen und sie heranzogen.
Malhora, die noch ein paar Sekunden lang eine etwas steife Haltung beibehielt, entspannte sich schließlich und schüttelte den Kopf, soweit das möglich war. “Du bist ein sonderbarer Zeitgenosse, Enric von Haus Aren.”
“Sei nett zu ihm, Großmutter. Dank ihm gibt es neues Blut in der Aren-Linie. Ich wette, nach weiteren hundert Jahren hätte uns diese ganze Zuchtpolitik zusätzliche Ohren oder überschüssige Zehen beschert”, murmelte Eryn.
“Halt die Klappe, du vorlautes Ding, und sag mir lieber, wie du unsere Residenz wieder aufzubauen gedenkst.”
“Das werde ich – im Austausch dafür, dass du mir erzählst, wie du den Angriff auf dein Anwesen überlebt hast und bei einem Wüstenstamm gelandet bist.”
Sie lösten die Umarmung, und Malriel nickte, während sie sich lächelnd eine Träne von der Wange wischte. “Ja, ich muss zugeben, das würde mich auch sehr interessieren.”
Malhora zuckte mit den Schultern. “Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich wurde bei dem Angriff verletzt, konnte mich aber auf dem Dach verstecken. Als sie weg waren, habe ich mich so gut wie möglich geheilt und mich in die Wüste begeben. In der Nähe gibt es einen Brunnen, von dem ich weiß, dass die Wüstennomaden dort gerne ihre Wasservorräte auffüllen. Also habe ich gewartet, bis sie endlich auftauchten. Ich habe mit ihrem Häuptling ausgehandelt, dass er mir für eine Weile ein paar seiner jungen Männer überlässt, und dann habe ich mich auf die Suche nach dem Kerl gemacht, der die unter meinem Schutz Stehenden getötet hat, um es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.”
Eryn begann zu lachen. “Du hast einfach einen Wüstenstamm übernommen und hast dich auf die Jagd begeben?”
“Nicht den ganzen Stamm, nur einen Teil davon, und das auch nur für kurze Zeit”, berichtigte ihre Großmutter achselzuckend. “Sie waren willig genug, sich zu fügen, da ich regelmäßig mit ihnen Handel treibe und meine Türen für sie offen halte, wenn sie während eines Sandsturms in der Nähe sind und Schutz brauchen. Sie haben mir sogar ihren kleinen Trick beigebracht, wie man sich unter der Oberfläche bewegt. Dazu braucht man natürlich Magie, und einige von ihnen haben zumindest ein wenig davon. Wir sind ihm eine ganze Weile gefolgt, aber dann erreichte er Takhan, nachdem er sich von einem Teil seiner Truppe abgespalten hatte. Ich beschloss, abzuwarten und festzustellen, ob er versuchen würde zu fliehen. Zehn meiner Männer behielten die gesamte Umgebung der Stadt im Auge und informierten mich, sobald er aus der Barriere heraustrat. Und auf sandigen Untergrund.” Sie hob die Brauen. “Und nun zur Residenz.”
Eryn atmete aus, sah sich um und nahm den deprimierenden Anblick dessen, was ihr Zuhause hätte werden sollen, in sich auf. “Nun, ich werde sie natürlich wiederaufbauen lassen. Aber dieses Mal werde ich dafür sorgen, dass der Platz richtig genutzt wird. In diesen übermäßig ausgedehnten Gärten lassen sich problemlos zwei Wohngebäude unterbringen. Eines für das Oberhaupt des Hauses und das andere für den Fall, dass ein anderes Mitglied unserer Familie in den Rang eines Triarchen aufsteigt und eine Unterkunft benötigt, die diesem Status angemessen ist.”
Malriel starrte sie mit offenem Mund an. “Willst du mir sagen, Maltheá, dass du bereit bist, auf demselben Stück Land zu leben wie ich?”
Eryn lächelte, froh, dass es ihr gelungen war, ihre Mutter aus ihrer gedrückten Stimmung zu reißen. “Ja. Aber gib dich keinen Illusionen hin – dein Gebäude wird so weit wie nur irgendwie möglich von meinem entfernt sein. Wir werden uns einen Garten teilen, aber sicher keinen Haushalt. Und wenn du meinst, alle paar Tage einen deiner lästigen gesellschaftlichen Anlässe veranstalten zu müssen, dann sorge dafür, dass sie nicht in meine ruhige und harmonische Residenz überschwappen.”
Malriel bedurfte ein paar Augenblicke, um sich von dieser Ankündigung zu erholen, dann lächelte sie. “Soweit ich weiß, wäre das das erste ruhige und harmonische Aren-Zuhause überhaupt. Aber ich nehme deinen Vorschlag gerne an. Natürlich wirst du an meinen geselligen Zusammenkünften teilnehmen. Und zwar mit Freuden. Das Oberhaupt von Haus Aren wird sich nicht in seiner Höhle verkriechen, sondern seinen Pflichten nachkommen, zu denen auch die Pflege von Bündnissen mit anderen Häusern und anderen nützlichen Kontakten gehört.”
“Ich bin sicher, es wird mehr als genug Gelegenheiten geben, das zu diskutieren.”
Malriel lächelte. “Darauf darfst du dich getrost verlassen.”
“Wenn mir nicht gefällt, was du sagst, könnte ich dich allerdings rauswerfen.”
“Das wirst du nicht tun. Es würde auch bedeuten, deinen Vater hinauszuwerfen. Dazu wärst du niemals imstande.”
Eryn winkte ab. “Gewiss nicht. Er kann natürlich bleiben.” Sie spürte, wie das Geplänkel ihr eigenes Herz erleichterte, als ob das Festhalten an etwas, das ihr in den letzten Jahren so vertraut geworden war, seltsam tröstlich war, ungeachtet der Tatsache, dass der feindselige Unterton nun fort war. Malriels Miene verriet ihr, dass es ihr ebenso erging.
“Ich hatte gehofft, Haus Roal mit dem Bau beauftragen zu können.”
Malhora verschränkte die Arme. “Nein. Ich bin entsetzt, dass du das überhaupt in Erwägung ziehst, nachdem, was ich dir gerade offenbart habe.”
Eryn straffte die Schultern. Sie würde lernen müssen, sich gegen die beiden ehemaligen Oberhäupter von Haus Aren zu behaupten, wenn sie die Familie jemals so führen wollte, wie es ihr angemessen erschien. Und kein Zeitpunkt war dafür so geeignet wie die Gegenwart.
“Sie haben jetzt ein anderes Hausoberhaupt – und ich habe keinen Grund zu glauben, dass Amgil von Haus Roal unvernünftig ist. Ich werde ihm eine Möglichkeit anbieten, die Angelegenheit zu regeln, indem er einer Entschädigungszahlung für die Handlungen seines Hauses in der Angelegenheit mit meinem Großvater zustimmt. Wenn er sich darauf einlässt, kann er auch in Naturalien zahlen, indem er uns einen besonders vorteilhaften Preis für den Wiederaufbau unserer Residenz anbietet.”
“Meine Ehre wurde damals beleidigt”, schniefte Malhora. “Das ist nichts, was sich mit irgendeiner Menge an Gold begleichen lässt.”
Malriel rollte mit den Augen. “Was für eine unfassbare Behauptung, Mutter! Was willst du von ihnen, um das zu regeln? Eine öffentliche Entschuldigung?”
Eryn seufzte. Noch bevor sie offiziell das Amt übernahm, versprach ihre künftige Position bereits eine Herausforderung zu werden. “Ich werde sehen, was ich tun kann.”
“Fordere eine höhere Entschädigungszahlung, als du ursprünglich vorhattest”, schlug Malriel vor, “und biete dann an, sie im Gegenzug für eine öffentliche Entschuldigung zu senken.”
Eryn seufzte. “Ja, Mutter. Natürlich, Mutter. Danke für die Annahme, dass ich mit den elementarsten Verhandlungsprinzipien nicht vertraut bin. Du weißt, dass der zweite Wohnsitz noch nicht gebaut ist, und ich meine Pläne zu diesem Zeitpunkt problemlos ändern kann, nehme ich an? Vielleicht hat mein Gefährte ohnehin Vorbehalte dagegen, so nahe bei dir zu wohnen. Vor allem, wenn du nicht aufhörst, mich wie ein Kind zu behandeln.”
Malhora begann, die Fackeln zwischen den Trümmern zu löschen. “Lasst uns zu eurem Haus zurückkehren. Ich bin müde. Ich habe natürlich das große Schlafzimmer bezogen.”
Malriel grinste, während Eryn resigniert die Augen schloss. Diese Frau kannte keine Grenzen. Keine von beiden. “Natürlich, Großmutter.”
Sie musste dafür sorgen, dass Malhoras Anwesen so rasch wie nur irgendwie möglich wiederaufgebaut wurde.
Kapitel 2
Eine königliche Überraschung
Mit jeder verstreichenden Minute spürte Enric, wie seine Ungeduld ein Stück weit wuchs. Schon vor einiger Zeit hatten sie die ersten Schiffe am Horizont gesichtet, die nach mehreren Wochen die aus Takhan evakuierten Bewohner zurückbrachten. Darunter Pe’tala und damit auch ihr neugeborener Sohn – sofern er seinen Aufenthalt in dem zwar komfortablen, aber letztendlich doch etwas beengten Quartier nicht über Gebühr verlängerte.
Auf den Schiffen würden auch die Senatoren von Takhan zurückkehren, die nur einen Tag Zeit hatten, sich in ihren Wohnstätten einzufinden, bevor sie aufgerufen waren, sich gegen oder für den Einmarsch in Pirinkar zu entscheiden. In seiner Funktion als Anführer des Ordens stand es für ihn außer Frage, ob dies eine vernünftige Vorgehensweise war oder nicht. Die Bedrohung war noch immer nicht vollständig abgewendet, so dass die Rückkehr der Truppen nach Anyueel das Risiko eines weiteren Krieges in absehbarer Zeit in sich barg.
Doch als Vater war der Gedanke an eine verlängerte Trennung von seinem Sohn quälend. Der Anblick der zahlreichen Kinder und ihrer Wiedervereinigung mit ihren Familienangehörigen, während er sich selbst genau danach sehnte, erleichterte ihm die Sache nicht unbedingt.
Er und Eryn standen in der Menge, ausnahmsweise nicht in ihrer offiziellen Funktion als Ordensleitung, und das war eine Erleichterung. Die Triarchie und der König standen in der vordersten Reihe und waren die ersten, die die Rückkehrer willkommen hießen.
Valrad rieb sich eifrig die Hände. “Das erste Schiff sollte jeden Moment anlegen! Ich hoffe, unsere Familie ist an Bord! Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen und mich zu vergewissern, dass es ihnen allen gut geht. Und mein neuestes Enkelkind kennenzulernen.”
“Ja”, kommentierte sein Sohn, “das hoffe ich auch, sonst muss ich dich ausschalten, damit du nicht so ungeduldig herumzappelst.”
“Das kannst du natürlich versuchen, mein Sohn, aber da ich jetzt damit rechne und nebenbei auch stärker bin als du, könnte das zu einem anderen Ergebnis führen als dem, das du beabsichtigt hast”, drohte sein Vater, wandte sich aber sogleich wieder den herannahenden Schiffen zu.
“Ihr wisst nicht einmal, ob er schon auf der Welt ist”, bemerkte Eryn. “Pe’talas Bauch könnte immer noch riesig und sie selbst noch reizbarer sein als zuvor.”
“Welch erfreulicher Gedanke”, seufzte Rolan neben ihr, dem vor dieser Möglichkeit unverkennbar graute.
“Wenn das Kind noch immer nicht da ist, werde ich die Geburt einleiten”, erwog Valrad. “Ich missgönne einem Baby keine zwei zusätzlichen Wochen, wenn es sie braucht, aber alles, was darüber hinausgeht, führt nur zu Komplikationen während der Geburt.”
Enric lächelte milde. “Ich bezweifle kaum, dass Pe’tala es geschafft hätte, die Heiler um sie herum zu überreden, ihrem Sohn in diesem Fall einen freundlichen Schubs zu verpassen.”
Eryn erinnerte sich, dass Heiler auf so etwas für gewöhnlich nicht allzu freundlich reagierten. In ihrem eigenen Fall hatten die Überredungsversuche – und gelegentlich auch Drohungen – gegenüber ihren Heilerkollegen nicht den Zeitpunkt der Geburt betroffen, da Vedric ein wenig zu früh aufgetaucht war. Aber sie hatte hitzige Diskussionen darüber geführt, wie lange sie den goldenen Gürtel danach tragen sollte, damit sie nicht in Versuchung geriet, Energie und Substanz, die sie für das Stillen ihres Kindes brauchte, für die Beschleunigung eines Heilungsprozesses aufzuwenden, der gemächlich und in dem Zeitraum ablaufen sollte, den die Natur für angebracht hielt.
Enric fragte sich, wie Pe’tala auf die Nachricht reagieren würde, dass Malriel und Malhora vorerst, nämlich bis die neuen Aren-Residenzen bezugsfertig waren, ihr Zuhause teilen würden. Da die Vel’kim-Residenz die Heiler aus Anyueel beherbergte, gab es für Malriel und Valrad kaum einen anderen Ort, an dem sie unterkommen konnten. Zumindest nicht, wenn sie das Gerede der Leute vermeiden wollten. Malriel würde im Moment bei so ziemlich jedem Haus Unterschlupf finden, wenn sie bekannt gab, dass sie eine Bleibe benötigte – sogar bei den Häusern, die in Opposition zu Aren standen. Die derzeit mächtigste Person des Landes war jemand, dem jedes Hausoberhaupt und jeder Senator gefallen wollte – oder zumindest vermeiden wollte, ihren Unmut auf sich zu ziehen.
Aber wenn ihre eigene Tochter eine Residenz besaß, die geräumig genug war, um sie zusätzlich zu den beiden Familien, die sie bewohnten plus Malhora unterzubringen, würde es doch einen seltsamen Eindruck hinterlassen, wenn Malriel woanders logierte – ungeachtet dessen, wie angespannt die Situation mit drei Aren-Frauen unter demselben Dach mit der Zeit zwangsläufig werden musste.
Mit Malhora, das wusste Enric, hatte Pe’tala keine Schwierigkeiten. Malhora machte keine Unterschiede und behandelte Pe’tala mit der gleichen strengen Zuneigung wie ihre eigene Enkelin. Das Gleiche galt für deren Kinder.
Und auch wenn sich die Beziehung zwischen Pe’tala und Malriel im Laufe der letzten Jahre von offener Feindseligkeit zu einer Beziehung des Respekts und der vorsichtigen Zuneigung gewandelt hatte, war das Teilen eines gemeinsamen Haushalts doch noch einmal eine ganz andere Dimension.
“Wer wird es ihr sagen?” fragte Enric die Umstehenden.
“Wem was sagen?”, wollte Valrad verwirrt wissen. Allerdings war er der Einzige, dem unklar war, wer wovon unterrichtet werden musste.
Vran’el grinste. “Dass du und Malriel vorläufig in ihr Heim eingezogen seid.”
Der Heiler runzelte missbilligend die Stirn. “Ich glaube nicht, dass das Zusammenleben mit ihrem eigenen Vater und ihrer Stiefmutter eine dermaßen große Belastung für sie sein wird. Sie und Malriel haben sich in letzter Zeit ausgesprochen gut verstanden.”
“Das heißt aber nicht, dass das Zusammenleben deshalb besonders harmonisch sein wird”, widersprach Rolan.
Vran’el zuckte mit den Schultern. “Wahrscheinlich ist Pe’tala aber froh, in ein intaktes Haus in einer unbesetzten Stadt zurückzukehren und wird solche Kleinigkeiten wie einen ungebetenen Gast beiseite schieben.” Sein zweifelnder Ton verriet, dass er sich durchaus bewusst war, welch optimistischen Vorstellungen er sich hier hingab.
“Ja”, erwiderte Eryn langsam, “aber wir sprechen hier von Pe’tala. Sie wird unter Schlafentzug leiden, weil sie ihr Neugeborenes alle paar Stunden stillen muss. Von der verbleibenden Erschöpfung ganz zu schweigen. Kaum ein Zustand, in dem sie sich als übermäßig nachsichtig oder diplomatisch erweisen wird.”
“Ihr solltet euch schämen, eure Schwester so zu verleumden, wo ihr doch froh sein solltet, sie bald wieder bei euch zu haben”, tadelte Valrad, doch in seiner Miene lag ein Hauch von Sorge, der darauf hindeutete, dass er die Besorgnis seiner Kinder insgeheim teilte, sich aber verpflichtet fühlte, sein jüngstes Kind zu verteidigen.
Eryn und Vran’el warfen einander einen amüsierten Blick zu, enthielten sich aber in unausgesprochenem Einverständnis jeglichen Kommentars.
Sie alle beobachteten aufmerksam, wie das erste Schiff in den Hafen einlief und wenig später direkt vor ihnen am Pier anlegte. Die Minuten schienen sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, bis der Landungssteg geräuschvoll an seinen Platz geschoben wurde und die ersten Passagiere von Bord gehen konnten. Unter ihnen befanden sich bekannte Gesichter, nicht aber jene, nach denen sie Ausschau hielten.
Die Menschen um sie herum brachen in Jubel aus, sobald sie ihre Liebsten entdeckten, und drängten sich an denen vorbei, die noch immer angespannt warteten. Tränen flossen in Strömen, als Familienmitglieder einander in die Arme fielen, unsagbar erleichtert, einander lebend und unverletzt vorzufinden.
Nach einigen weiteren Minuten hatte der letzte Passagier den Steg überquert, so dass eindeutig feststand, dass Pe’tala und Intrea mit ihren Kindern nicht unter den Passagieren dieses Schiffes gewesen waren.
Sie folgten dem Hafen ein Stück weiter hinab zur nächsten Anlegestelle, wo gerade ein anderes Schiff vertäut wurde. An der Reling winkten Erwachsene aufgeregt, mehrere von ihnen mit Kindern auf einem Arm. Die Jüngeren, denen das Verständnis für die Situation noch fehlte, wirkten je nach persönlicher Veranlagung entweder verwirrt angesichts des ganzen Trubels oder ließen sich mitreißen und ritten auf der Welle der Ausgelassenheit und Freude.
“Siehst du sie?”, fragte Rolan und ließ seinen Blick über die Menschen schweifen, die begierig darauf warteten, von Bord zu gehen.
“Nein”, antwortete Eryn, ebenso ungeduldig.
Es erwies sich, dass auch dieses Schiff nicht das gesuchte war.
Sie bewegten sich zur nächsten Anlegestelle weiter flussabwärts, wo gerade ein weiterer Steg vorbereitet wurde, um ein Schiffsdeck mit der Anlegestelle zu verbinden.
“Da! Ich sehe sie!”, rief Rolan plötzlich, wobei er ungeduldig das nächste verfügbare Handgelenk packte, das er blind fand – jenes von Vran’el – und sich rücksichtslos an den Menschen vorbeidrängte, die sich in tränenreichen Umarmungen befanden, wobei er nicht einmal davor zurückschreckte, mitten durch wiedervereinigte Familien zu pflügen, die gezwungen waren, entweder flink zur Seite zu weichen oder zu Kolateralschäden zu werden.
Enric lächelte, als er sie entdeckte, wie sie an der Reling stand, in einem Arm etwas, das wie ein kleines Bündel aussah, das genau die richtige Größe für ein Baby hatte, während der andere Arm auf Rolan deutete. Direkt vor ihr war der Kopf eines Kindes erkennbar, das gerade groß genug war, um über das Geländer zu spähen. Ihre Tochter Zahyn, die aufgeregt auf und ab zu springen begann, als sie ihren Vater in der Menge entdeckte. Ihre Mutter drehte sich vorsichtig zur Seite, um den kleinen Jungen davor zu schützen, vor Aufregung von unten gestoßen zu werden.
Intrea, die direkt neben Pe’tala stand, zeigte auf Vran’el, woraufhin das Gesicht ihrer eigenen Tochter beim Anblick ihres Vaters aufleuchtete.
Rolan wurde plötzlich seltsam ruhig und schloss die Augen.
Enric legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Ist alles in Ordnung mit dir?”
Der jüngere Mann nickte. “Es geht ihnen gut. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Ich wurde von bösen Träumen geplagt, in denen die Geburt schief ging oder ihr Unterschlupf von feindlichen Truppen entdeckt wurde…” Er sah erschöpft aus, als sei es vor allem die Anspannung gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatte. Eine Anspannung, die nun von ihm abfiel und durch eine ungeheure Erleichterung ersetzt wurde, die auch mit dem Verlangen des Körpers nach etwas Ruhe einherging, jetzt, wo klar war, dass seine schlimmsten Befürchtungen unbegründet gewesen waren. Rolan richtete sich auf, eindeutig noch nicht bereit, diesem Verlangen nachzugeben. Er wollte seine kürzlich erweiterte Familie willkommen heißen.
Nach einer weiteren quälend langen Wartezeit schritt Pe’tala schließlich auf sie zu, wobei sie darauf achtete, nicht von den ungeduldigen Rückkehrern um sie herum angerempelt zu werden und ihr kostbares Bündel sicher zu transportieren.
Dann stand sie vor ihnen und lächelte ihren Gefährten an, der seine Arme mehrmals wortlos hob und senkte, während sich Feuchtigkeit zwischen seinen Augenlidern sammelte.
Pe’talas Gesichtsausdruck wurde weich, als sie ihren Sohn in Enrics Hände drückte. “Nimm ihn mir kurz ab, ja?”
Dann zog sie Rolan in ihre Arme, drückte ihn an sich und wurde ebenfalls fest umarmt.
“Ich habe mir solche Sorgen gemacht…”, flüsterte er.
“Und ich mir um dich”, erwiderte sie und drückte ihre Wange an seine. “Wir haben keine Nachricht von Takhan erhalten, und ich hatte Alpträume, dass du verletzt sein könntest…”
Rolan löste seine Umarmung lange genug, um seine Tochter mit einem Arm hochzuziehen, damit er sie beide gleichzeitig halten konnte.
Eryn schluckte angesichts der Freude und Erleichterung, des vollkommenen Glücks, und schob den Gedanken beiseite, was sie dafür geben würde, jetzt ihren eigenen Sohn in die Arme schließen zu können. Stattdessen betrachtete sie das Bündel in Enrics Armen.
“Meine Güte”, seufzte sie, “ich vergesse immer wieder, wie winzig sie anfangen. Sieh nur, wie viele Haare er schon hat!”
Valrad neben ihr war hin- und hergerissen zwischen dem Warten darauf, dass seine Tochter ihren Gefährten losließ, um ihren Vater zu begrüßen, und der Hinwendung zu diesem Enkelkind. Nach einigen Sekunden der Ungewissheit entschied er sich schließlich, das neueste Familienmitglied zu untersuchen.
“Gib ihn mir, ja?”, bat er Enric und lächelte, als sich die blauen Augen zu ihm erhoben und sich die kleinen rosafarbenen Lippen wie vor Erstaunen öffneten.
Vran’el hatte in der Zwischenzeit Intrea und Obal erreicht, hob seine Tochter in die Luft und bedeckte ihre Wangen und Stirn mit Küssen. “Mein kleiner Wildfang – ich bin so froh, dich endlich wiederzuhaben! Es war furchtbar ruhig und langweilig ohne dich in der Stadt!”
Das zwölfjährige Mädchen kicherte. “Aber du hattest doch Krieg hier! Ruhig kann es also gar nicht gewesen sein!”
Vran’el schüttelte den Kopf, sein Blick war todernst. “Nachdem ich an dich gewöhnt war, mein kleiner Wirbelwind, habe ich von der Aufregung des Krieges kaum etwas bemerkt.”
Intrea lächelte Vran’el an und küsste ihn auf die Wange, nachdem sie von ihren Familienmitgliedern, die zur Verteidigung Takhans geblieben waren, umarmt worden war. “Wie immer ein Charmeur, Vran. Ich bin so froh, dich unversehrt vorzufinden. Hast du den Feind im Alleingang in die Flucht geschlagen, mein tapferer Gefährte?”, erkundigte sie sich grinsend.
“Gewiss – in diesem Moment komponieren sie Balladen über meine Heldentaten”, erwiderte er und nahm eine Pose ein, die er für heroisch hielt, indem er mit erhobenem Kinn und aufgeblähter Brust in die Ferne blickte.
“Ist das wahr, Eryn?” rief Obal in Richtung ihrer Tante.
Eryn wackelte mit dem Kopf, um anzuzeigen, dass ihr Bruder vielleicht etwas übertrieben hatte. “Vielleicht nicht ganz allein. Wir haben ein wenig geholfen. Aber dein Vater war ein tapferer Mitstreiter, der keinerlei Furcht gezeigt hat. Du hast auf jeden Fall Anlass, stolz auf ihn zu sein.”
Zufrieden schlang ihre Nichte ihre Arme um ihren Vater, den Kriegshelden.
Pe’tala, Rolan und Zahyn hatten sich endlich voneinander gelöst und waren nun bereit, den Rest der Familie zu begrüßen.
Pe’tala umarmte ihre Schwester und seufzte. “Ich bin so erleichtert, dass Enric es geschafft hat, dass dir nichts passiert ist. Diese Idioten bestehen darauf, dich in die Schlacht zu schicken, obwohl das weder deinen Wünschen, noch deinen Fähigkeiten entspricht.”
Eryn antwortete nicht darauf, sondern genoss die Wärme und Nähe ihrer kleinen Schwester. Dies war kein guter Zeitpunkt um zu erwähnen, dass sie sich im Krieg deutlich tüchtiger erwiesen hatte als ihr lieb war.
“Ich gebe dir zehn Goldstücke, wenn du mir den goldenen Gürtel abnimmst”, flüsterte Pe’tala ihr ins Ohr.
Eryn lachte, zog sich zurück und schüttelte den Kopf. “Nein, Teuerste – Vaters Rache in Kauf nehmen zu müssen ist kaum zehn Goldstücke wert.”
“Wie viel Gold wäre es denn wert?”, fragte die jüngere Schwester mit einem schiefen Grinsen.
“Mehr als du besitzt, fürchte ich.”
Valrad, der seinen Enkel nur widerwillig an Rolan weitergegeben hatte, wandte sich seiner Tochter zu und zog sie in eine feste Umarmung. Doch nicht ohne sie zu belehren.
“Wenn man bedenkt, dass du eine Heilerin bist, Tala, sollte ich dich nicht daran erinnern müssen, warum das Tragen des goldenen Gürtels eine wichtige Vorsichtsmaßnahme für frischgebackene Mütter ist, die zufällig Magierinnen sind. Wie du sehr wohl weißt, gibt es eine gewisse Tendenz zu…”
Eryn lachte leise und zwinkerte ihrer Schwester zu. “Willkommen zurück.”
* * *
Angenehm gesättigt schloss Eryn die Augen und lehnte sich auf den Sitzkissen in ihrer Residenz zurück, zufrieden mit sich und der Welt. Um sie herum schnatterte das lebhafte Geschwätz ihrer Familie und Freunde, neben ihr Vern, der gerade mit Stift und Papier beschäftigt war und Pe’tala zeichnete, während sie ihren Sohn stillte.
Die Aromen der Mahlzeit, die sie gerade beendet hatten, hingen noch in der Luft. Ein wenig von dem goldenen Licht des Abends, das den weiten Raum durchflutete, drang durch ihre geschlossenen Augenlider, leicht rötlich gefärbt durch die winzigen Blutgefäße darin.
Im Hintergrund hörte sie das fröhliche Geschrei ihrer Nichten Zahyn und Obal, die trotz ihres Altersunterschieds immer noch gelegentlich ein Spiel fanden, das sie beide erheiterte. Sie stellte sich vor, dass Vedric draußen bei ihnen war, im Garten herumlief und sich hinter Büschen und Bäumen versteckte.
Die Rückkehr der Kinder in die Stadt ließ sie die Abwesenheit ihres Sohnes noch schmerzlicher spüren. Es war leichter zu akzeptieren, dass sie getrennt sein mussten, solange Takhan kein sicherer Ort war, doch das war jetzt nicht mehr der Fall. Die Kinder waren zurück. Alle außer Vedric.
Sie versuchte, sich einen Grund auszudenken, warum es vernünftig und logisch sein sollte, nach Anyueel zurückzukehren, bevor sie nach Pirinkar marschierte. Die Tatsache, dass es alles andere als vernünftig oder logisch war, erleichterte die Sache nicht. Es war nichts weiter als ein verzweifelter Versuch, ihren Sohn wiederzusehen.
Warme Finger schlossen sich um ihre Hand, und sie lächelte, weil sie spürte, wie Enrics bloße Berührung ihr immer noch Trost zu spenden vermochte.
Das Essen war lebhaft gewesen, da alle abwechselnd Pe’tala über die Geschehnisse des Krieges informiert hatten, bis hin zu den unglaublichen Ereignissen, die ihn beendet hatten. Nämlich das Auftauchen von angeblicher Verstärkung für Etor Gart, die sich dann als Neleds Verbündete herausgestellt hatte, und das Erscheinen von Malhora, die die dramatischste Rückkehr von den Toten vollzogen hatte, die auch nur entfernt vorstellbar war – indem sie den Schurken persönlich beseitigte. Und zwar nicht mit einem magischen Blitz aus der Ferne, sondern auf so persönliche und spektakuläre Weise, die den Stoff für Legenden bot.
Eryn fragte sich, ob Enric es vorgezogen hätte, den Mann persönlich ein Ende zu setzen. Hätte er es auf kurze und leidenschaftslose Weise getan? Sie vermutete es. Er war kein Mann, der sich am Leid eines anderen ergötzte, unabhängig davon, womit der Betreffende es verdient hätte.
Und sie selbst? Sie hatte davon geträumt, Etor Gart zu beseitigen. Auf unzählige unterschiedliche Arten. Ihn über eine Klippe zu stoßen, ihn in einem Fluss zu ertränken, ihn in einem luftdichten Schild zu ersticken, ihn mit einem mächtigen Magieblitz zu erschlagen, ihm aus einer Distanz, die nahe genug war, um ihm in die Augen zu sehen und den Schmerz darin zu erkennen, goldene Pfeile in die Brust zu schießen… Sie war froh, dass dieser Mann sein Ende gefunden hatte, ohne dass sie sich einem weiteren Abgrund annähern musste, der ihr das gesamte Ausmaß an Grausamkeit offenbart hätte, zu dem sie imstande war. Sie wusste, dass die Versuchung, jenen Mann zu foltern, der Enric diese furchtbaren Dinge angetan hatte, möglicherweise zu groß gewesen wäre, um ihr zu widerstehen.
Doch nun war er tot, und sie musste nicht länger mit sich ringen, ob sie ihn schnell töten und sich ihrer Rache berauben oder es hinauszögern und in den nächsten Jahrzehnten mit ihrer Tat leben sollte.
Sie öffnete die Augen wieder, und ihr Blick wanderte zu Malhora, die wie eine zufriedene Großmutter inmitten ihrer Familie thronte. Keine Spur mehr von der tödlichen Feindin, in die sie sich verwandelt hatte, als es galt, die unter ihrem Schutz Stehenden zu rächen, die zu Schaden gekommen waren. War sie nicht einen einzigen Moment lang versucht gewesen, seinen Todeskampf in die Länge zu ziehen, ihren Rachedurst durch seine Qualen zu stillen?
Malhoras Blick traf den ihren, und sie hob eine fragende Augenbraue. “Was geht dir durch den Kopf, Maltheá?”
Die Frage war in leisem Ton gestellt worden, doch die kleinen Unterhaltungen um sie herum verstummten, als ahnten alle Anwesenden, dass etwas Bedeutsames folgen würde.
Eryn empfand in der plötzlichen Stille um sie herum einen Hauch von Unbehagen. Sie hätte es vorgezogen, sich in einem privateren Rahmen darüber zu unterhalten. Aber sie befand sich unter Menschen, die sich um sie sorgten, sie liebten.
“Als du Etor Gart getötet hast, hast du ihm einen schnellen Tod gewährt.”
Ihre Großmutter lächelte leise. “Und du hättest das nicht getan?”
Für einige lange Momente begegneten sich ihre Blicke, dann senkte Eryn den ihren. “Ich weiß es nicht. Mein Wunsch ihn zu quälen wäre womöglich zu mächtig gewesen.”
Malhoras Gesichtsausdruck wandelte sich für einen Moment und drückte solch immensen Schmerz und Zorn aus, dass Eryn der Atem im Hals stecken blieb. Innerhalb eines Wimpernschlages war es vorbei, nicht mehr als eine kurze Sekunde, doch es sagte ihr alles, was sie wissen musste. Malhora hätte nichts lieber getan, als das Leiden dieses elenden Mannes hinauszuzögern, ihn zehnfach für das Elend und den Kummer büßen zu lassen, den er ihr und denen, die unter ihrem Schutz standen, zugefügt hatte und noch zufügen wollte. Ungeheure Charakterstärke und die Beherrschung ihrer eigenen Triebe, so erkannte Eryn, hatten Malhora zurückgehalten und ihr geholfen, das zu überwinden, was sie dem Mann, dessen Leben sie auszulöschen beschlossen hatte, ein klein wenig ähnlicher gemacht hätte. Sie hatte nicht zugelassen, dass Etor Garts Taten sie zu etwas formte, das sie nicht sein wollte, wollte nicht erlauben, dass er ihr Erbe korrumpierte, indem ihre Tochter und ihre Enkelin mitansehen mussten, wie sie sich in ein Monster verwandelte.
“Die Frage ist, welchen Preis du dafür zu zahlen bereit bist, dass du solchen Gelüsten nachgibst, Maltheá”, antwortete ihre Großmutter. “In was du dich durch sie verwandeln lässt.” Sie sah ihre Tochter an. “Malriel, ich hoffe, du erinnerst dich daran, was ich dir gesagt habe, was das Wichtigste an einer Position als Anführerin ist?”
Falls die mächtige Obertriarchin der Westlichen Territorien sich daran störte, dass man sie wie ein Schulmädchen aufforderte, ihr Wissen kundzutun, so zeigte sie es nicht. Stattdessen antwortete sie: “Führung beginnt bei einem selbst. Du kannst nicht erwarten, dass andere sich deinen Prinzipien beugen, wenn du selbst keine hast.”
Zufrieden lächelte Malhora. “Sehr wahr.” Sie wurde wieder ernst. “Diesen Mann zu töten war eine Notwendigkeit. Und genau so musste ich es behandeln. Manchmal mag es keinen anderen Weg geben, als Leiden zu verursachen, aber es darf nur sein, um noch größeres Leid zu verhindern. Du darfst niemals zulassen, dass es zu deiner eigenen Befriedigung geschieht. Ganz gleich, wie sehr du dich danach sehnst. Sobald du diesen Weg beschreitest, bist du nicht mehr geeignet, eine Anführerin zu sein.”
Orrin nickte anerkennend. “Wir sollten dich einladen, unsere jungen Ordensmitglieder zu unterrichten, Malhora.”
Eryn schluckte. “Was, wenn… was, wenn es sich als einfacher erweist, andere zu verletzen, als es sein sollte?”, zwang sie sich zu fragen.
Malhoras Augen verengten sich. “Dann musst du dich noch strenger im Griff haben, Kind.”
“Es gibt keinen Grund, dich über Gebühr zu sorgen, Maltheá”, fügte Malriel sanft hinzu. “Ich habe dich oben in Kar beobachtet. Und auch seither ständig. Du hast dich ausgezeichnet im Griff, Tochter. Und du selbst vertraust dir weniger als alle anderen, die dich kennen. Deshalb hast du auch das Heilen aufgegeben.”
“Wie war das?” erkundigte sich Pe’tala leise, aber scharf, und bedeckte sich, nachdem ihr Sohn nun schon zum zweiten Mal während des Essens eingeschlafen war.
Eryn atmete aus, denn sie wusste, dass ihre anfängliche Bemerkung gegenüber Malhora über die Gewährung eines schnellen Todes letztlich dazu führen musste, dass sie denjenigen, die ihr am nächsten standen, das dunkelste ihrer Geheimnisse verriet. Es war eine Entscheidung, die sie getroffen hatte, indem sie das Thema verfolgte. Jetzt musste sie im Grunde nur noch den Mut aufbringen, das zu bestätigen, was diejenigen, die es noch nicht wussten, nun ohnehin bereits zu vermuten begannen.
Den Mut, sich zu ihrem Handeln zu bekennen. Die Kraft, die Konsequenzen zu tragen, die darin bestanden, wie ihre Freunde und Familie sie von nun an sehen würden.
Sie spürte Malriels Blick auf sich und hob ihre Augen, um ihm zu begegnen. Ein schwaches Lächeln umspielte die Lippen ihrer Mutter.
Malhora hatte keine Angst davor, anderen zu zeigen, wozu sie fähig war, und Malriel ebenso wenig. Und Eryn war ihre Erbin, nicht nur eines Namens und einer Position, sondern von etwas, das mehr bedeutete als der Ruf, zu Wutausbrüchen und Familienfehden zu neigen – von einer Reihe von Werten und der Entschlossenheit, sich ihnen zu beugen, sie sich zu eigen zu machen und sie so zu führen, wie ein Ordensmagier gelernt hatte, ein Schwert zu führen. Das war es, was es wirklich bedeutete, Aren zu sein. Die Erkenntnis legte sich über sie und beruhigte ihre innere Anspannung, wie Wasser brennenden Durst stillt.
Sie hob den Kopf. Und sah ihre Schwester an, als sie sich an alle wandte: “Ich habe jemanden gefoltert. Zweimal. Um Informationen zu erhalten, die für den Schutz anderer wichtig waren. Dabei habe ich gegen die Grundsätze des Heilens verstoßen. Ich bin nicht stolz auf das, wozu ich fähig bin. Aber ich werde mich auch nicht dafür entschuldigen.” Dieser letzte Satz war eine Warnung gewesen.
Pe’tala sah sie an, dann nickte sie. “Also gut, Schwester. Ich behaupte nicht, dass ich in der Lage bin zu beurteilen, ob diese Situationen anders hätten gelöst werden können. Ich behaupte auch nicht, dass ich unter solchen Umständen anders gehandelt hätte. Dennoch stimme ich zu, dass du nicht länger eine Heilerin bist.”
Diese letzten Worte zu hören, war schmerzhaft. Eryn antwortete nicht. Bislang hatte sie sich vormachen können, dass dies nur ihre persönliche Meinung war, aber zu hören, dass Pe’tala ihr zustimmte, machte es zur Realität. Sie sah Valrad an, der ihr ein trauriges Lächeln schenkte, was bedeutete, dass er seiner jüngsten Tochter zustimmte.
Sie wusste, dass es eine Tatsache war, ohne darauf vorbereitet zu sein, wie sehr es schmerzte. Und sie erkannte, dass sie sich erst jetzt vollkommen davon verabschiedete, jemals wieder Patienten zu behandeln. Bis sie dem Oberhaupt der Heiler in ihrer zukünftigen Heimat ihre Taten gebeichtet hatte, hatte es noch immer die Möglichkeit gegeben, eines Tages zu dem Beruf zurückzukehren.
Sie stellte fest, dass da nicht nur Schmerz war, sondern auch ein Gefühl von tiefer Erleichterung und Freiheit. Sich anderen gegenüber verletzlich zu machen, war ein mächtiger Akt – einer, den nur die Starken wagten.
Enric hob ihre Hand zu seinem Gesicht und drückte seine Lippen auf ihre Handfläche. “Ich wäre heute vielleicht nicht mehr am Leben, wenn du dich entschieden hättest, an diesen Prinzipien festzuhalten, anstatt mit ihnen zu brechen und schließlich das Heilen aufzugeben. Das ist ein Opfer, das ich niemals vergelten kann. Ich kann mir nur vornehmen, es dich nie bereuen zu lassen.” Er blickte zu den anderen auf. “Die Bendan Ederbren haben einen Begriff für solche Leute. Sie sprechen von einem wahren Krieger. Im Gegensatz zu unserem Verständnis in Anyueel ist ein wahrer Krieger nicht jemand, der sich bereitwillig in die Schlacht stürzt, um sein Leben für sein Land zu geben, wenn es sein muss, und dabei möglichst viele Feinde mitnimmt. Es ist jemand, der sich den Notwendigkeiten beugt, auch wenn es ihn persönlich viel kostet. Sie glauben, dass ein solcher Mensch eine Seltenheit ist. Ich gebe zu, dass ich zuerst ein wenig eifersüchtig war, als sie Eryn zu einer wahren Kriegerin erklärten, aber nur so lange, bis ich verstand, was es wirklich bedeutet und wie gut es sie beschreibt.”
Eryn spürte, wie ihr Herz warm wurde bei diesen anerkennenden Worten, bei diesem Beweis für seine tiefe Zuneigung zu ihr.
“Das ist eure Chance”, verkündete sie und sah jeden von ihnen nacheinander an. “Wenn ihr etwas zu meinen Taten zu sagen habt, dann tut es jetzt.”
Stille trat ein, dann räusperte sich Vern und zuckte mit den Schultern. “Sollte ich jemals gefangen genommen und an einen unbekannten Ort verschleppt werden, könnt ihr meine Entführer gerne foltern. Ich will das nur angemerkt haben.”
“Dem schließe ich mich an”, fügte Vran’el hinzu, wodurch sich die Stimmung wieder etwas löste.
Sie hörten ein Klopfen an der Eingangstür, und Eryn zuckte zusammen. Unangenehme Nachrichten tauchten für gewöhnlich während der Mahlzeiten auf, auch wenn sie streng genommen bereits fertig gegessen hatten.
Enric sprang mit verdächtigem Schwung auf, sodass sich seine Gefährtin fragte, ob er jemanden erwartete.
Der Trubel, der beim Öffnen der Eingangstür von unten hörbar wurde, ließ vermuten, dass mehr als nur eine Person eingetroffen war.
“War das Ram’ans Stimme?”, fragte Vern.
“Und die von Golir, wenn ich mich nicht irre”, fügte Valrad hinzu.
Wenig später tauchte Enric wieder auf, hinter ihm tatsächlich Golir und Ram’an sowie Kilan.
Der Gastgeber lächelte und streckte Eryn seine Hand entgegen, um sie auf die Füße zu ziehen. “Meine liebste Gefährtin, es gibt eine Kleinigkeit, bei der es mir ein Bedürfnis ist, mich jetzt, da die unmittelbare Gefahr vorüber ist, darum zu kümmern. Ich möchte unser Kommittmentband dritten Grades wiederherstellen und habe mir erlaubt, unsere engsten Freunde und Familienmitglieder einzuladen. Golir hat sich erneut bereit erklärt, die Zeremonie durchzuführen. Vorausgesetzt, du hast keine Einwände. Das wäre sonst etwas peinlich für mich.”
Eryn starrte ihn einen Moment lang völlig überrascht an, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und sie zog seinen Kopf nach unten und küsste sein Gesicht. “Das fände ich ganz fantastisch.”
Golir sah zu Malriel und Vran’el. “Ich nehme an, die beiden haben die Erlaubnis ihrer jeweiligen Oberhäupter?”
“Natürlich”, stimmte Vran’el für seine Schwester zu.
Malriel bestätigte ihr Einverständnis für Enric mit einem huldvollen Nicken.
“Gut”, fuhr Golir fort. “Wir benötigen eine Menge Magie, die jene der beiden zu verbindenden Personen übersteigt. Was in diesem speziellen Fall keine Kleinigkeit ist. Wer von den Anwesenden möchte sich an der Herstellung des Bandes beteiligen, indem er seine Magie beisteuert?”
Jede einzelne Hand im Raum wurde erhoben. Der Triarch nickte. “Das sollte genügen. Auch wenn es ein wenig eng werden könnte. Gut, dann bitte ich alle, sich zu erheben. Wir sollten uns kurz fassen und die Zeremonie nicht zu sehr in die Länge ziehen, denn es ist bereits das dritte Mal, dass ich euch beide miteinander verbinde. In einem Bund, der eigentlich bis ans Ende eures Lebens bestehen sollte”, fühlte er sich bemüßigt zu betonen.
Eryn unterließ es, darauf hinzuweisen, dass dies kaum ihre Schuld war. Beim ersten Mal hatte Enric es aufgelöst, weil er nach Pirinkar gereist war, um Malriel zu retten, und beim zweiten Mal war es anlässlich des Krieges, den sie gerade gewonnen hatten.
Nachdem sie sich in einem Kreis aufgestellt hatten, der groß genug war, damit alle Platz fanden, aber klein genug, damit sie sich in der Mitte die Hände reichen konnten, sah Golir Eryn an.
“Ich nehme an, du bist bereit, den Bund einzugehen?”
“Das bin ich.”
“Enric, du auch?”
“Von ganzem Herzen.”
“Gut. Ich werde nun meine Magie fließen lassen, und alle anderen folgen meinem Beispiel. Lasst einfach eure Magie einfließen, ich werde sie entsprechend lenken und das Band schmieden.”
Einen Moment später spürte Eryn, wie Wärme in ihre Haut eindrang, durch die Hand, auf die Golir seine eigene gelegt hatte – und auf die auch alle anderen ihre platziert hatten.
Einige Sekunden später ließ die Wärme nach und Golir trat einen Schritt zurück und aus dem recht dicht gedrängten Kreis von Menschen heraus. “Es ist vollbracht. Ich gratuliere. Wieder einmal. Ich erwarte aufrichtig, dass es das letzte Mal sein wird. Ich hoffe, das erscheint nicht unhöflich, aber ich würde jetzt sehr gerne zu meiner Familie zurückkehren.”
Enric nickte. “Vielen Dank, Golir, dass du an deinem ersten Abend mit deiner Familie hierher gekommen bist. Es tut mir leid, dass ich dir einen Teil davon stehlen musste, aber ich war ungeduldig und wollte das erledigt haben.”
Golir lächelte. “Keine Sorge, Enric, es war mir ein Vergnügen.”
Als er weg war, räusperte sich Ram’an. “Ich habe ebenfalls nicht viel Zeit, da meine Töchter auf meine Rückkehr warten, aber ich denke, dieser Anlass rechtfertigt ein Glas des ausgezeichneten Weins, von dem ich weiß, dass Enric ihn hinten in seinem Keller versteckt. Dafür habe ich sicherlich ein paar Minuten Zeit.”
Enric seufzte in gespielter Resignation. “Offensichtlich habe ich ihn nicht gut genug versteckt, wenn du weißt, wo er zu finden ist, Arbil.”
* * *
Enric beobachtete von einem der Gästestühle im hinteren Teil des Senatssaals aus, wie sich sowohl die Senatoren, die während des Krieges in der Stadt geblieben waren, wie auch jene, die gerade erst zurückgekehrt waren, auf den Weg zu den ihnen zugewiesenen Plätzen begaben. Dabei hielten sie häufig inne, um Kollegen zu begrüßen, die sie eine Weile nicht mehr gesehen hatten, und freuten sich, sie lebend und unversehrt vorzufinden. Er bemerkte, dass sogar Senatoren aus verfeindeten Häusern ein Lächeln, ein Nicken und ein paar Worte austauschten. Der Krieg hatte erreicht, was in Friedenszeiten nur selten gelang – die Menschen gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinen. Das Hochgefühl eines gut geführten und gewonnenen Krieges machte die Menschen etwas zugänglicher, und das Gefühl von ‘wir’ und ‘sie’ verstärkte sich. Nichts verband die Menschen so stark wie ein rechtschaffener Grund, diejenigen abzulehnen, die nicht zu uns gehörten.
Enric wusste, dass dieses Gefühl in der nächsten Zeit nachlassen würde, da die Erinnerung an die äußere Bedrohung im Laufe der Zeit kaum mehr als das sein würde – eine Erinnerung. Sobald die Schäden in der Stadt und auf den Ländereien der Häuser behoben waren und alles wieder in gewohnten Bahnen verlief, und die Häuser und andere Geschäftsinhaber ihre Verluste wieder ausgleichen konnten, würden die Häuser wieder in erster Linie mit denjenigen verkehren, die ihren eigenen Interessen dienten, und sich an die kleinen Zwischenfälle und Beleidigungen erinnern, die sie veranlasst hatten, sich von bestimmten Personen und den mit ihnen verbundenen Kreisen fernzuhalten. Es würde nicht lange dauern, bis die Stadtmauer als einziges sichtbares Zeichen des Krieges zurückbleiben würde, und die neue Generation und die folgenden würden aufwachsen, ohne Takhan jemals als eine Stadt ohne Befestigungen kennengelernt zu haben.
Aber noch war die Zeit dafür nicht gekommen. Der Feind war noch frisch im Gedächtnis, und die Chancen standen gut, dass der Senat beschließen würde, dass der Krieg noch nicht zu Ende war, dass der endgültige Abschluss darin bestehen musste, Pirinkar klarzumachen, wie wenig wünschenswert ein weiterer Angriff – in ihrem eigenen Interesse.
Er wusste, dass die Chancen für eine Entscheidung zugunsten eines Angriffs auf Pirinkar gut standen – vor allem, wenn bekannt wurde, dass er selbst und Malriel dies unterstützten. Dennoch. Er hatte gelernt, sich nie zu sehr auf ein wünschenswertes Ergebnis zu verlassen. Sich vorschnell zurückzulehnen und darauf zu vertrauen, dass alles so laufen würde, wie er es sich vorstellte, konnte den Weg für unangenehme Überraschungen ebnen. Vor allem, wenn der König involviert war.
Ihm war klar, dass König Folrin, auch wenn er sich nicht offen gegen die Idee aussprach, die Weisheit einer Invasion in Pirinkar mit einer gewissen Skepsis beurteilte. Wofür er auch vernünftige Argumente vorbringen konnte. Sie wussten nur sehr wenig über die Verteidigungsanlagen von Kar – lediglich, dass das scheinbare Fehlen einer Stadtmauer nur irreführen sollte, denn die erste Reihe der Häuser, die wie Wohnhäuser wirkten, war in Wirklichkeit eine geschickt getarnte Festung mit einer Reihe von Kriegsmaschinen. Aber sie wussten nicht, wie groß Pirinkars Armee war, wie groß der Anteil, der in den Süden geschickt worden war – und wie viele davon noch übrig waren, um das Land zu verteidigen. Ein weiterer Punkt war, dass die Unterstützung von Neled und Horam bei ihrem Plan, die Priester aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, bedeutete, eine Seite in einem Bürgerkrieg zu unterstützen, was einen Verstoß gegen die Souveränität eines Landes darstellte. Dieser letzte Punkt war etwas, das König Folrin nur ungern auf sich nehmen würde, da er dies in Anyueel selbst unbedingt vermeiden wollte und daher zögerte, dies auch anderen aufzuerlegen.
Aus Enrics Sicht waren Souveränitätsvorstellungen jedoch kein gültiges Gegenargument mehr, wenn es um ein Land ging, das ohne eine echte Provokation einen Krieg gegen sie angestrengt hatte. Und er hatte noch weniger Verständnis für die königlichen Bedenken hinsichtlich der Bewahrung etablierter Machtstrukturen.
Eryn ließ sich auf einen Platz direkt neben ihm fallen und zeigte wie immer keinerlei Bedenken, wenn es darum ging, auf die Art von Eleganz zu verzichten, die sich Malriel zu eigen gemacht hatte.
“Sollten sie nicht schon angefangen haben?”, fragte sie und sah sich nach den Senatoren um, die sich noch immer unterhielten. “Wo ist diese übertriebene Pünktlichkeit, die sie normalerweise an den Tag legen?”
“Viele von ihnen sind gerade aus den Bergen zurückgekehrt”, erklärte Enric. “Man muss ihnen ein wenig Nachsicht entgegenbringen. Es sind schließlich außergewöhnliche Umstände. Bis vor kurzem wusste niemand, ob es jemals wieder eine Senatssitzung geben würde.”
“Ich weiß”, seufzte sie. “Aber im Moment wäre es mir lieber, wenn sie mit einer gewissen Eile vorgehen würden, denn ich möchte meinen Sohn wiedersehen. Und das wird nicht geschehen, bevor wir uns um Pirinkar gekümmert haben.”
“Vorausgesetzt, sie entschließen sich zu diesem Schritt”, fügte Enric bedächtig hinzu.
“Ja, das immer vorausgesetzt. Allerdings ist ihnen nicht mehr zu helfen, falls sie sich anders entscheiden.”
“Der König hat immer noch ein oder zwei gute Argumente dagegen.”
Eryn schnaubte. “So sehe ich das ganz und gar nicht. Er will nur nicht, dass die Leute auf die Idee kommen, dass der Umsturz existierender Herrschaftsverhältnisse manchmal eine gute Sache sein könnte. Vor allem nicht in einem Königreich, in dem Magier zwar nicht in der Weise unterdrückt werden, wie es in Pirinkar geschieht, aber dennoch gezwungen sind, dem Orden beizutreten.”
Enric lächelte. Da hatte sie nicht ganz unrecht. Ihm selbst und seinen Mitmagiern war beigebracht worden, dass die Zugehörigkeit zum Orden ein großes Privileg sei, und dass die Unterwerfung unter ein paar mickrige Regeln ein so winziges Zugeständnis sei, dass man es nicht einmal als Preis dafür ansehen könne. Aber die Freiheit, die die Magier in Takhan genossen, hatte die Magier in Anyueel dazu gebracht, darüber nachzudenken, warum sie selbst keine Wahl hatten, wo sie leben und welchen Beruf sie ausüben wollten. Zwei Punkte, die einen erheblichen Eingriff in die Willensfreiheit darstellten. Wenn man also genau diese Ordensmagier aussandte, um andere Anwender von Magie aus der Unterdrückung zu befreien, konnte das zu bestimmten Forderungen und Notwendigkeiten nach Veränderungen im Orden führen. Orrin würde in den kommenden Jahren zweifellos viel Freude bei der Führung dieser Institution haben.
“Du warst die Erste, die… überredet werden musste, dem Orden beizutreten. Alle anderen sind von sich aus eingetreten”, bemerkte Enric, aber eher um des Argumentes willen als um ihr zu widersprechen. Sie war tatsächlich in den Orden gezwungen worden, egal wie euphemistisch man es auch immer umschreiben wollte. Es hatte Verhandlungen gegeben, aber sie in Gold zu fesseln und an einen Ordensmagier zu binden um sicherzustellen, dass sie den Orden nicht verlassen konnte, hatte sicher nicht dazu beigetragen, Eryns Entscheidung zu einer freiwilligen zu machen. Für sie war es lediglich das geringere Übel gewesen.
“Ja, sicher”, knurrte sie, verstummte aber mit den anderen, als die drei Triarchen von rechts den Saal betraten und sich zügig auf das Podium und ihre Plätze zubewegten.
Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde Golir den mittleren Stuhl einnehmen, doch er zog ihn nur mit einer höflichen Geste für Malriel zurück. Malriel würde also vorerst weiter auf ihrem Platz bleiben. Aber der Krieg als solcher war schließlich noch nicht ganz vorbei.
Torke’na war erneut diejenige, die alle begrüßte und die Versammlung eröffnete.
“Willkommen zurück, geschätzte Kollegen! Ich kann meine Dankbarkeit und Erleichterung gar nicht in Worte fassen, dass wir alle wieder hier sind und in in einer Stadt zusammenkommen können, die zwar ein wenig Schaden genommen hat, aber lange nicht zerstört oder unbewohnbar ist. Ich bedaure, dass wir euch nicht mehr Zeit einräumen konnten, um euch wieder in euer Leben einzufinden, sondern dass wir euch hierher gerufen haben, kurz nachdem ihr entweder selbst zurückgekehrt seid oder eure Familien wieder willkommen geheißen habt. Es gibt jedoch eine wichtige Entscheidung zu treffen, und die Triarchie kann sie nicht ohne euch treffen. Wir haben eine schwierige Zeit hinter uns, doch manche meinen, dass die Herausforderung des Konflikts mit unserem Nachbarn noch nicht vorüber ist. Wir haben uns heute hier versammelt um zu entscheiden, ob die Gefahr eines weiteren Angriffs aus dem Norden groß genug ist, um einen so extremen Schritt wie die Invasion Pirinkars zu wagen.”
Eryn zuckte leicht zusammen. Der letzte Teil war ein klarer Hinweis darauf gewesen, dass Torke’na solche Pläne nicht befürwortete. Und dass sie als Erste gesprochen hatte, bedeutete, dass sie in der Lage gewesen war, den Leuten die Idee zu vermitteln, dass die Invasion ein zu extremer Schritt sei.
“Sie ist dagegen”, flüsterte sie Enric zu.
Er nickte. “Auf jeden Fall. Leider hatte ich keine Gelegenheit, vor der Versammlung mit Malriel zu sprechen. Ich weiß also nicht, wo Golir steht. Zwei Triarchen, die gegen den Plan sind, könnten die Überzeugung des Senats zu einer beachtlichen Herausforderung für Malriel machen.”
Torke’na allein wäre nicht in der Lage, den Senat umzustimmen, aber Golir war eine völlig andere Sache.
Malriel ergriff als Nächste das Wort, entschied sich jedoch, nicht von ihrer erhöhten Position aus zum Senat zu sprechen, sondern erhob sich von ihrem Stuhl, um in den Kreis in der Mitte des Raumes zu treten und dem Senat in die Augen zu blicken.
“Senatoren”, begann sie mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, “lasst mich ehrlich zu euch sein. Innerhalb der Triarchie gibt es unterschiedliche Meinungen; wir sind uns nicht einig, was die richtige Vorgehensweise ist. Aber das soll euch nicht beunruhigen, denn Meinungsvielfalt ist ein kostbares Gut, das wir in diesen Hallen immer respektiert haben. In einer Gesellschaft, in der wir gemeinsam entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen, in der wir uns entwickeln und wachsen wollen, kann ein Konsens niemals selbstverständlich sein, sondern muss durch harte Arbeit und Anstrengung erreicht werden. Heute sind wir hier, um eine solche Anstrengung zu unternehmen, und ich bin zuversichtlich, dass wir am Ende zu einer guten Entscheidung kommen werden. Wir haben beschlossen, euch die Vor- und Nachteile der einzelnen Optionen darzulegen und anschließend eine Diskussion zu führen, bevor wir darüber abstimmen. Ich muss mich dafür entschuldigen, dass wir euch nicht mehr Zeit einräumen können, um über diese wichtige Frage nachzudenken, denn die Zeit drängt. Ich bin dafür, nach Pirinkar zu gehen. Erlaubt mir darzulegen, weshalb.”
* * *
Die zwei Stunden hatten sich in die Länge gezogen, und Eryn fand die Besucherstühle von Minute zu Minute unbequemer und rutschte hin und her, um eine halbwegs erträgliche Position zu finden.
Malriel hatte ihre Argumente vorgetragen, dann hatte Torke’na gesprochen und auf die Nachteile hingewiesen. Beide hatten Gäste geladen, die vor dem Senat aussagen sollten. Malriel hatte Kommandantin Neled und Horam eingeladen, um über ihre eigenen Pläne zu sprechen und darüber, wie sie ihre Magierkollegen von dem Joch befreien wollten, unter dem diese seit Jahrhunderten litten. Nachfolgend war Enric aufgefordert worden, für den Orden zu sprechen. Und schließlich Orrin als Oberhaupt der Krieger.
Torke’na war nicht in der Lage gewesen, eine so beeindruckende Reihe von Unterstützern für ihre Seite zu mobilisieren, doch gab es eine Person, deren Worte sicherlich Gewicht haben würden: König Folrin. Er hatte betont, dass er weder dafür noch dagegen sei, Kommandantin Neled und Horam in ihren Bemühungen zu unterstützen, sondern sich der Entscheidung des Senats beugen würde, wie auch immer diese ausfallen möge. Um eine gewisse Balance herzustellen, hatte er jedoch beschlossen, einige Themen anzusprechen, die Beachtung verdienten, aber Gefahr liefen, vernachlässigt zu werden.
Die anschließende Diskussion begann höflich, wurde aber bald hitziger, und es kam häufig zu Ordnungsrufen, als die Emotionen überhand zu nehmen drohten und Stimmen erhoben wurden.
Malriel und Enric wurde unterstellt, nur zum Zweck eines Vergeltungsfeldzugs zu einer Invasion aufgerufen zu haben, und bereit zu sein, für ihren persönlichen Wunsch nach Rache alle in Gefahr zu bringen.
Die Gegner der Invasion wurden als Feiglinge und kurzsichtige Narren bezeichnet.
Ram’an wurde beschuldigt, sich allein deshalb auf die Seite von Haus Aren zu stellen, weil er noch immer Gefühle für die frühere – und zukünftige – Maltheá von Haus Aren hegte.
Mehrere Senatoren erklärten großspurig, dass sie sich weigern würden, Mitglieder ihres Hauses zur Teilnahme an einem solchen Unsinn zu zwingen – nur um es sich dann wieder anders zu überlegen, als man ihnen die schwerwiegenden Folgen einer Missachtung eines Senatsbeschlusses vor Augen führte.
“Entweder ich verschwinde hier auf der Stelle, oder ich lasse das Dach des Senats noch einmal einstürzen”, zischte Eryn leise. “Sie zanken sich wie kleine Kinder, anstatt wie Erwachsene darüber zu diskutieren! Ich bin froh, dass Vedric nicht hier ist, um das mit anzusehen – es wäre unmöglich, ihm hinterher Manieren beizubringen oder ihm zu erklären, warum Respekt eine wichtige Sache ist.”
“Du wirst eine von ihnen sein, sobald du Haus Aren übernommen hast”, erinnerte Enric sie sanft und fand, dass sich das hier nicht allzu sehr von einer Ratssitzung in Anyueel unterschied.
“Ich kann es kaum erwarten”, seufzte sie und schüttelte den Kopf.
Sie bewunderte, wie ruhig die Triarchen in der hitzigen und bisweilen alles andere als sachlichen Diskussion geblieben waren. Vor allem Malriel, die mehr als einmal persönlich angegriffen worden war, aber allen Anschuldigungen nur mit einer steinernen Miene begegnete und nicht so tief sank, die Verleumdungen zu würdigen indem sie sich verteidigte. Eryn vermutete jedoch, dass sie sich sehr genau merken würde, wer welche Äußerungen getätigt hatte. Und dass sie diese zu gegebener Zeit wieder aufgreifen und in ihre Überlegungen einbeziehen würde, wenn irgendwann in der Zukunft Anfragen an die Triarchie gestellt werden sollten. Eryn empfand bei diesem Gedanken eine grimmige Befriedigung und dachte darüber nach, wie sehr sich diese Vorgehensweise von dem unterschied, was der Orden als Reaktion auf einen verbalen oder sonstigen Angriff für angemessen hielt.
Wann immer eines der Ratsmitglieder sich geweigert hatte, ihr den Respekt zu erweisen, der ihr aufgrund ihres Ranges gebührte, hatten Enric und Tyront darauf bestanden, dass sie zeitnahe reagierte, um dem Ganzen ein Ende zu setzen und allen anderen zu signalisieren, dass dieses Verhalten inakzeptabel war und zu bestrafen sei. Sie fragte sich, ob dies einer der Aspekte war, die es Enric so schwer gemacht hatten, Oberhaupt eines Hauses und Senator in Takhan zu sein. Und ob sie selbst in absehbarer Zeit in der Lage sein würde, sich von den entschlossenen und schnellen Schritten zu distanzieren, die der Orden als Tugend erachtete.
Eine der drei Doppeltüren, die in den Senatssaal führten, wurde plötzlich geöffnet und ließ eine einsame Gestalt in das helle Mittagslicht treten, das von hinten hereinströmte. Die Erscheinung hielt einen Moment inne, als ob sie sich des Effekts bewusst war und ihn nutzte, dann setzte sie sich in Bewegung und schritt die Treppe hinab in Richtung des Tisches, an dem die Senatoren von Haus Aren saßen. Malhora vom Haus Aren.
Im Saal wurde es still, als alle auf die Frau blickten, die im Alleingang und ohne zu zögern den Mann erschlug, der ihnen allen so viel Kummer bereitet hatte. Die beiden Aren-Senatoren sprangen eilig auf und überließen Malhora die Wahl, auf welchem ihrer Stühle sie Platz nehmen wollte. Sie war zwar keine Senatorin, aber niemand in diesem Raum – die Triarchen eingeschlossen – würde es wagen, ihr vorzuschlagen, sie solle sich auf einen der Gästestühle setzen, wenn sie der Verhandlung folgen wolle.
Eryn verbarg ein Grinsen. Diese Frau wusste, wie man einen Auftritt hinlegte. Und von nun an würden die Leute sehr viel vorsichtiger sein, wenn sie entweder Haus Aren oder Malriel selbst irgendwelche niederen Beweggründe unterstellten.
Malhora nahm Platz und blickte dann auf, als bemerkte erst jetzt die Stille, die ihrer Ankunft gefolgt war.
“Bitte, lasst euch von mir nicht unterbrechen”, sprach sie, als hätte sie irgendetwas anderes als gebührend und angemessen erachtet.
Die Diskussion wurde langsam wieder aufgenommen, wenn auch von einer Minute auf die andere wesentlich unaufgeregter als zuvor.
“Es besteht die realistische Chance, dass sie erkannt haben, dass wir nicht so leicht zu besiegen sind”, meinte ein Senator von Haus Feral. “Wenn sie nicht die Absicht haben, erneut anzugreifen, dann wären wir die Aggressoren.”
Ohne Vorwarnung erschien ein Schild über Malriel, die immer noch im Kreis vor den Tischen stand. Auf ihm erschien ein Bild. Ein Gebäude, das vor seiner Zerstörung augenscheinlich ein beeindruckendes Anwesen gewesen war. Es folgten mehrere weitere Bilder, die jeweils lange genug gezeigt wurden, damit alle Anwesenden die Eindrücke aufnehmen konnten. Abgebrannte Bäume, vernichtete Ernten, zerstörte Nebengebäude. Und wie ein allgegenwärtiges Detail in all diesen Bildern waren Körper mit weit aufgerissenen Augen zu sehen, deren Gesichter in einem Ausdruck des unendlichen Entsetzens erstarrt waren.
Die meisten Senatoren erkannten die Überreste der Residenz von Malhora wieder, da ihnen einst das Privileg zuteil geworden war, an der jährlichen Jagd dort teilzunehmen. Es war also klar, wessen Erinnerungen sie gerade verfolgten.
Eryn zwang sich, die Augen nicht abzuwenden. Ein Teil von ihr fragte sich, wann Malhora die Zeit gefunden hatte, sich die Fähigkeit anzueignen, Bilder auf einem Schild darzustellen.
“Das ist wahr, mein junger Freund”, erklang Malhoras Stimme in der Stille, die erneut eingetreten war. Ihre sanfte Stimme bildete einen seltsamen Kontrast zu den grausigen Bildern, die sie durch ihre Magie mit ihnen teilte. “Doch die Frage ist, was das größere Risiko darstellt – zu hoffen, dass auch ohne irgenwelche Vorkehrungen zur Gewährleistung eurer Sicherheit keine eurer Ländereien das gleiche Schicksal erleidet wie meine eigenen, oder zu handeln und dafür zu sorgen, dass Pirinkar auf seiner Seite der Berge bleibt.”
“Die Leute da oben abzuschlachten ist dafür auch keine Garantie”, wagte sich ein besonders mutiger Senator vor. “Ganz im Gegenteil – das könnte sie dazu verleiten, sich zu rächen und anzugreifen, obwohl sie das ursprünglich nicht getan hätten.”
“Entschlossenes Handeln bedeutet nicht, dass wir uns auf eine Mission begeben, ihr Land zu plündern und niederzubrennen”, erwiderte Eryn darauf.
Alle Augen waren nun auf sie gerichtet.
“Meine Güte, Haus Aren trägt viel zur heutigen Versammlung bei”, witzelte das Oberhaupt von Haus Finran, “vor allem diejenigen, die nicht wirklich Mitglieder des Senats sind und daher eigentlich nicht das Recht haben zu sprechen, sondern von denen erwartet wird, dass sie still zuhören, ohne zu unterbrechen.”
Eryn lächelte nachsichtig. “Die Tatsache, dass du mich bereits als Mitglied von Haus Aren ansiehst, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt noch zu Haus Vel’kim gehöre, zeigt mir, dass du dir meiner Absicht bewusst bist, Haus Aren zu übernehmen und noch früh genug in deinen erlauchten Kreis einzutreten. Ihr mögt nun beschließen, mir wegen einer Formalität das Wort zu verbieten, aber ich rate euch, daran zu denken, dass es ein Zeichen der Wertschätzung für die Institution wäre, der ich angehöre und die euren Sieg ermöglicht hat – indem sie das Leben ihrer Mitglieder für euch aufs Spiel gesetzt hat. Und auch ein Zeichen des Respekts für eure zukünftige Kollegin.” Sie verschränkte die Arme und wartete. Hatte sie sich wirklich gerade auf den Orden berufen, um das Wort ergreifen zu dürfen? Sie unterdrückte ein Schaudern.
Vran’el räusperte sich. “Ich bitte um die Erlaubnis, Maltheá von Haus Vel’kim vor dem Senat das Wort zu erteilen. Ich denke, dass ihre einzigartige Position als hochrangige Vertreterin des Ordens, als zukünftiges Oberhaupt des Hauses und auch als jemand, der die Prinzipien des Helfens und nicht des Abschlachtens vertritt, es sicherlich wert sein wird, dass man ihr zuhört.”
Eryn war froh, dass ihr Bruder das Wort ergriffen hatte. Sonst hätte Ram’an es mit absoluter Sicherheit getan. Aber es sah erheblich besser aus, wenn ihr eigenes Hausoberhaupt um Erlaubnis bat, sie sprechen zu lassen.
Malriel drehte sich um und blickte zu den beiden anderen Triarchen auf. “Darf ich euch ersuchen, über diese Anfrage zu entscheiden? Ich fürchte, es hat wenig Sinn vorzugeben, als sei ich nicht zu Maltheás Gunsten befangen.”
Torke’na und Golir tauschten einen kurzen Blick aus, dann nickte Torke’na Eryn zu. “Du magst sprechen, Maltheá.”
Eryn erhob sich von ihrem Platz. “Trotz einiger Dinge, die ich getan habe, trotz der Menschen, die ich im Kampf getötet habe, bin ich kein Freund von unnötigem Blutvergießen. Unnötig bedeutet für mich, jemanden zu töten, der nicht darauf aus ist, mein eigenes Leben zu beenden. Und das ist derzeit in Pirinkar nicht der Fall. Ich schlage nicht vor, dorthin zu gehen, um ein Massaker zu begehen, sondern um dazu beizutragen, Umstände zu schaffen, unter denen wir sicher sein können, dass unsere Nachbarn nicht nur vorsichtig sind, wenn es darum geht, uns anzugreifen, sondern sich aktiv dagegen entscheiden – oder besser gesagt, es gar nicht erst in Betracht ziehen. Solche Umstände könnten geschaffen werden, indem wir Kommandantin Neled und Horam bei ihrem Vorhaben unterstützen. Die Magier oder Priester, wie man sie dort nennt, zu befreien, bedeutet, Menschen ein Mitspracherecht einzuräumen, die uns nicht als ihren Feind betrachten werden. Wir wollen keine Leute an der Macht haben, die Etor Garts Pläne entweder unterstützt oder zumindest geduldet haben. Und selbst wenn es uns nicht gelingt, ihre Führer zu stürzen, würden wir ihnen zeigen, dass wir uns nicht zurücklehnen, nachdem wir angegriffen wurden, sondern dass wir eine Kraft sind, mit der man rechnen muss – ein Land, das nicht willens ist, eine solche Behandlung einfach hinzunehmen. Keine Reaktion zu zeigen würde ihnen signalisieren, dass es nichts zu verlieren gibt, wenn sie uns angreifen – unabhängig davon, ob sie Erfolg haben oder nicht. Wir wollen ihnen zu verstehen geben, dass sie mehr zu verlieren als zu gewinnen haben, wenn sie gegen uns marschieren.” Eryn sah den Senator an, der darauf hingewiesen hatte, dass er wahlloses Abschlachten nicht unterstützte. “Ich stimme dir zu – Töten ist eine schreckliche Sache, und wer mich persönlich oder vom Hörensagen kennt, dem sollte meine Haltung in dieser Frage bewusst sein. Wir haben es sogar unterlassen, feindliche Soldaten im Kampf zu töten, wann immer es möglich war. Aus diesem Grund haben wir derzeit eine beträchtliche Anzahl von Gefangenen in unserem Gewahrsam. Gefangene, die wir als Geste des guten Willens in ihre Heimat zurückbringen wollen. Und als Mittel in einer Verhandlung nutzen wollen, von der ich zugeben muss, dass ich nicht erwarte, dass sie vollkommen friedlich verlaufen wird. Ich kann euch jedoch versichern, dass ich in meiner derzeitigen Funktion als zweite Befehlshaberin des Ordens weder dafür stehe, Zivilisten durch einen Angriff auf ihre Hauptstadt zu schaden, noch dafür, ihre Soldaten zu töten, wenn es einen anderen Weg gibt. Ebenso wenig bin ich allerdings bereit, eine solche Bedrohung für das Volk, das mir am Herzen liegt, zu akzeptieren.”
Torke’na nickte. “Ich danke dir, Maltheá.” Dann sah sie die Senatoren an. “Gibt es sonst noch einen Beitrag in dieser Angelegenheit? Wenn nicht, werden wir mit der Abstimmung fortfahren.” Als keine weiteren Wortmeldungen folgten, fuhr sie fort: “Handzeichen, wenn ihr für den Angriff auf Pirinkar stimmt.”
Achtzehn von vierundzwanzig Händen hoben sich, und Eryn ließ sich auf ihren Stuhl sinken und atmete aus. Das war eine klare Mehrheit – vor allem, da Golirs und Malriels Hände ebenfalls erhoben waren, was bedeutete, dass jeder von ihnen zwei Triarchenstimmen hinzufügte, anstatt nur die Stimme eines Senators.
Torke’na zeigte keine Anzeichen von Enttäuschung oder Ärger über das Ergebnis, sondern fuhr mit ihrer gewohnt kontrollierten Stimme fort: “Der Senat hat eine Entscheidung getroffen. Wir werden Vergeltung üben.”
“Das hätte nicht dermaßen schwierig sein sollen”, bemerkte Eryn leise, während sich um sie herum das übliche Gemurmel erhob. “Es war eine ziemlich offensichtliche Entscheidung, wenn du mich fragst.”
Enric zuckte mit den Schultern. “Von deinem Standpunkt aus mag sie offensichtlich sein, aber wir sollten nicht vergessen, dass wir uns immer noch in einem Land befinden, das schon lange keine Kriegsvorbereitungen mehr für nötig gehalten hat und daher kaum erpicht darauf ist, in so kurzer Zeit einen weiteren Krieg zu beginnen. Das Ergebnis ist eigentlich ein gutes. Ein klares Bekenntnis statt einer knappen Entscheidung.” Als Torke’nas Stimme über das Getümmel hinweg ertönte, um zu verkünden, dass die Versammlung nun beendet sei, stand Enric auf. “Komm, lass uns sehen, wie die Triarchie weiter vorgehen will. Ich denke, dass wir in den kommenden Nächten nicht viel Schlaf bekommen werden. Es gibt eine Menge vorzubereiten.”
Er wollte die wenigen Stufen zu Malriel hinabsteigen, die immer noch im Kreis stand, umgeben von mehreren Senatoren.
“Lord Enric, Lady Eryn”, veranlasste eine vertraute, schneidende Stimme sie, sich umzudrehen. König Folrin bedeutete ihnen, sich ihm zu nähern. “Die Triarchie wird Euch in Kürze über unser nächstes Treffen informieren. Ich schlage vor, dass Ihr in der Zwischenzeit zu Eurer Residenz zurückkehrt.”
Beide sahen ihn verdutzt an.
“Ist alles in Ordnung?” fragte Eryn vorsichtig.
“Gewiss, meine Lady. Ich verabschiede mich für den Moment von Euch.” Damit wandte er sich ab und schritt auf die Triarchie zu.
“War das eben ein Befehl?” fragte Eryn, unsicher.
“Ich denke schon, ja”, antwortete Enric langsam und sah dem Monarchen nach, wie er sich von ihnen entfernte.
“Warum schickt er uns nach Hause?” Ihre Augen verengten sich. “Er will uns aus irgendeinem Grund aus dem Weg haben.”
“Das ist durchaus möglich”, räumte ihr Gefährte ein. “Aber da wir einen Befehl erhalten haben, haben wir kaum eine andere Wahl. Komm.”
Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Residenz erreicht hatten, und Eryn seufzte erleichtert auf, als sie das Gebäude betraten und die unerbittliche Mittagshitze draußen ließen.
Ein Geräusch aus dem oberen Stockwerk ließ sie verstummen und einen Blick tauschen. Einen Moment später erwachten sie gleichzeitig aus ihrer Starre und eilten die Treppe empor, begierig zu sehen, ob ihre Ohren sie getäuscht hatten.
Das hatten sie nicht.
Direkt vor ihnen, auf den Sitzkissen, saß ihre Nichte Zahyn und spielte ein Brettspiel. Mit ihrem Cousin Vedric.
Seine Augen weiteten sich, als er seine Eltern erblickte, die ihn anstarrten, als wären sie über seinen Anblick zutiefst erstaunt.
“Da seid ihr ja!”, rief er, der Vorwurf in seiner Stimme unüberhörbar.
Eryn atmete aus und sank auf die Knie, als ihr plötzlich schwindelig wurde. “Vedric?”, flüsterte sie, als könne sie nicht glauben, dass ihr sehnlichster Wunsch soeben ohne jede Vorwarnung oder vernünftige Erklärung erfüllt worden war.
Einen Moment später wurde sie durch die Kraft von Vedrics Umarmung nach hinten gestoßen. Nur Enrics schnelles Eingreifen verhinderte, dass ihr Kopf auf dem Steinboden aufschlug. Dann war auch er auf den Knien, schlang die Arme um seine Gefährtin und seinen Sohn und fragte sich für eine kurze Sekunde, ob es sich dabei um eine Art Illusion handelte, in der er gefangen war, eine Blase, die gleich platzen würde, um ihn in einem Kerker zurückzulassen, frierend und hungrig. Das hier entbehrte immerhin jeglicher Plausibilität.
“Warum bist du hier?”, fragte er seinen Sohn, ohne von seiner Familie abzulassen.
“Weil der König gesagt hat, dass wir kommen dürfen”, berichtete er und löste seine Arme viel früher vom Hals seiner Mutter, als sie bereit war, ihn loszulassen. Stattdessen klammerte er sich nun an seinen Vater.
Eryn und Enric wechselten einen verwunderten Blick.
“Deshalb hat er uns gerade nach Hause geschickt!”, hauchte sie und fühlte sich schuldig, weil sie ihm unlautere Motive unterstellt hatte, obwohl er in Wahrheit so etwas Unglaubliches für sie getan hatte.
“Ah, da seid ihr ja!”, rief eine weitere unerwartete Stimme fröhlich.
Enric benötigte einen Moment, um sie zu erkennen, denn die Vorstellung, sie hier an diesem Ort zu hören, war eine so seltsamer Bruch mit dem für ihn gewohnten Kontext.
Langsam drehte er sich um. “Mutter?”
* * *
Enric lächelte über das Bild, das sich ihm bot. Pe’tala saß auf Kissen auf der Terrasse, die in den späten Morgenstunden noch im Schatten lag, und stillte ihren kleinen Jungen, der in diesem Stadium seiner Entwicklung kaum andere Prioritäten als Schlafen, Essen und… nun ja, Verdauen hatte.
Neben ihr saßen Gerit und Malriel und beobachteten das Treiben im Garten mit einem nachsichtigen Lächeln.
Seit seiner Ankunft am Vortag hatte Eryn jede einzelne Minute mit ihrem Sohn verbracht, abgesehen von dem Treffen mit der Triarchie und dem König am Abend, bei dem die weiteren Schritte bezüglich Pirinkar besprochen worden waren. In diesem Moment spielte sie mit ihm und ihrer Nichte Verstecken und verbarg sich hinter einem Gebüsch, während Zahyn einen Bereich absuchte, wo Vedric auf einem niedrigen Ast hockte und wahrscheinlich jeden Moment entdeckt werden würde.
Enric wusste, dass dieser sorglose Zeitvertreib, das ausgelassene Herumtollen, seiner Gefährtin ebenso gut tat wie den Kindern, wahrscheinlich sogar noch mehr.
“Ich habe Orrin und seine Familie eingeladen, mit uns zu Mittag zu essen”, informierte er drei der vier Frauen, die derzeit unter seinem Dach lebten. Seine Nichte nicht mitgerechnet.
Seine Mutter und sein Sohn waren nicht die einzige Familie, die der König nach Takhan hatte bringen lassen. Junar und Téa waren unter ihnen, ebenso wie Familienmitglieder der gefallenen Soldaten. Und seine eigene Gefährtin, Königin Del’na’bened von Anyueel. Heute Abend veranstaltete die Triarchie ein Bankett im Senatssaal, um die Königin gebührend willkommen zu heißen.
Zuvor jedoch mussten er und Eryn noch eine Sache erledigen, eine schwierige Aufgabe, vor der ihm regelrecht graute. Sie mussten Vyril gegenübertreten und ihr die Einzelheiten des Todes ihres Gefährten schildern. Der König hatte es auf sich genommen, sie schriftlich über Tyronts Ableben zu informieren, als er sie einlud, nach Takhan zu kommen, um seine sterblichen Überreste abzuholen, doch er hatte nicht dargelegt, wie genau sich die Dinge zugetragen hatten. Das oblag Eryn, da sie diejenige war, die es aus nächster Nähe miterlebt hatte.
Eine weitere Sache, die Enric Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass Eryns Beliebtheit bei den Ordensmitgliedern zu schwinden schien, seit Etor Gart vor aller Ohren verkündet hatte, sie sei der Grund, weshalb Tyront sein Leben geopfert hatte. Ordensmagier waren trotz ihrer privilegierten Stellung nicht weniger anfällig für Klatsch und Tratsch als alle anderen Menschen. Enric hatte die Information erhalten, dass unschmeichelhafte Spekulationen und Anschuldigungen im Umlauf waren. Dass Eryn endlich einen Weg gefunden habe, den Mann loszuwerden, der sie vor Jahren gezwungen hatte, dem Orden beizutreten. Eine andere Variante war, dass sie ihrem Gefährten den Weg an die Spitze geebnet hatte. Abgesehen von der Behauptung, Enric würde seine Gefährtin für eine derart ungeheuerliche Tat benutzen, war er bestürzt darüber, dass es unter ihren Untergebenen tatsächlich Leute gab, die ihr eine solche Ehrlosigkeit unterstellten, nach allem, was sie für das Königreich und auch in diesem Krieg geleistet hatte.
All diese Anschuldigungen würden sich in Luft auflösen, sobald bekannt wurde, dass Eryn und Enric den Orden für immer verlassen und nach Takhan umziehen wollten, womit klar wäre, dass sie in keiner Weise von Tyronts Tod profitieren würden. Aber bis dahin mussten sie eine Institution leiten, in der einige ihrer Mitglieder begonnen hatten, das Vertrauen in ihre Vorgesetzten zu verlieren. Dies waren keine idealen Voraussetzungen für einen bevorstehenden Feldzug.
Er rang mit sich, ob er Eryn darüber informieren sollte. Wieder einmal sah er sich zwischen den beiden Rollen in ihrem Leben gefangen. Objektiv gesehen war sie seine rechte Hand, und er konnte ihr diese Art von Informationen nicht einfach vorenthalten, zumal sie selbst davon betroffen war. Jedoch als ihr Gefährte wusste er, welche Art von Schmerz er ihr damit bereiten würde. Diese Anschuldigungen, das wusste er, würden bei ihr auf fruchtbaren Boden fallen.
“Du siehst besorgt aus, mein Junge”, bemerkte Gerit leise und streckte ihm ihre Hand entgegen.
Er zwang sich zu einem Lächeln und drückte sie. “In meiner Position gibt es immer etwas, worüber man sich Sorgen machen kann, Mutter.”
“Du zerbrichst dir doch nicht den Kopf über das Wiedersehen zwischen Eryn und Junar, oder? Ich bin sicher, dass sie sich freuen werden, einander zu treffen, egal, was zu Hause zwischen ihnen vorgefallen ist.”
Enric unterdrückte ein Seufzen. Er war nicht wirklich beunruhigt, dass es während des Essens zu Auseinandersetzungen kommen könnte, sondern eher über die Distanz und Höflichkeit zwischen den beiden Frauen. Er schob den Gedanken beiseite und weigerte sich vorerst, sich im Geiste weitere problematische Situationen auszumalen.
Er zog seine Mutter an der Hand und lud sie ein: “Ich fange jetzt an, unser Essen zu kochen. Willst du mir dabei helfen? Ich könnte dir etwas über die hiesige Küche und die Zutaten beibringen, die hier verwendet werden. Wie du weißt, ist es bei uns üblich, dass der Gastgeber für seine Gäste kocht, anstatt das den Dienern zu überlassen. Es wird als Privileg betrachtet.”
Gerit nickte eifrig. “Dann wird es mir eine Ehre sein, dir bei dieser wichtigen Aufgabe meine helfende Hand zu reichen.”
* * *
“Eryn! Eryn! Eryn!” rief Téa an der Treppe zum Hauptraum und rannte auf die Person zu, die sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. “Sieh dir meine neuen Kleider an! Die sehen genauso aus wie deine!” Sie wirbelte herum und demonstrierte stolz ihre neue kleidsame Eleganz, die ihr die Schnitte und Stoffe aus den Westlichen Territorien verliehen.
Eryn grinste und nickte anerkennend. “Das tun sie wirklich! Und du siehst darin sehr gut aus – fast wie eine Eingeborene mit deinem braunen Haar.”
Erfreut über das Kompliment, wandte sich Téa sofort in Vedrics Richtung und lief auf ihn zu, als wäre ihr letzter Kontakt schon Monate und nicht erst einen Tag her.
Eryn machte sich darauf gefasst, Junar zu begrüßen, jetzt, da ihre Tochter nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Mit einem leicht angespannten Lächeln begrüßte sie die Schneiderin und ihren Gefährten. “Junar, Orrin, ich freue mich sehr, dass ihr hier seid. Wollt ihr nicht Platz nehmen und mir sagen, was ich euch zu trinken anbieten kann?”
Junar antwortete mit einem Lächeln, das genau so herzlich aussah, wie es gemeint war – nämlich überhaupt nicht. “Und wir danken euch für die freundliche Einladung in euer reizendes Haus. Ich nehme ein Glas von dem gelben Saft, wenn du welchen hast.”
“Wasser für mich”, fügte Orrin hinzu, ein wenig resigniert, als hätte er auf eine etwas weniger zurückhaltende Begrüßung zwischen den beiden Frauen gehofft.
Eryn teilte dieses Gefühl bis zu einem gewissen Grad. Ihre eigenen früheren Versuche, sich Junar zu nähern, waren mehrmals zurückgewiesen worden, so dass sie nicht wirklich die Kraft hatte, diesen in ihren Augen vergeblichen Kampf fortzusetzen. In letzter Zeit hatte es so viele Kämpfe gegeben, und es würde wahrscheinlich noch mehr geben, sobald sie sich nach Pirinkar wagten. Sie hatte keinerlei Lust, sich in einen weiteren Konflikt zu stürzen, der so wenig Aussicht auf Erfolg bot. Und Junar schien nicht genug Freude darüber zu empfinden, Eryn lebendig und gesund wiederzusehen, um den Groll zu überwinden, den sie während des vergangenen Jahres angesammelt hatte.
Plötzlich fühlte sich Eryn des Ganzen überdrüssig. Nach allem, was sie in letzter Zeit durchgemacht hatte, schien dies eine so unbedeutende, unnötige Sache zu sein, mit der sie sich nicht belasten wollte. Sie würde Junar die angemessene Höflichkeit und Gastfreundschaft erweisen, und sei es nur um Orrins willen. Junar hatte aus irgendeinem Grund beschlossen, dass sie keine Freunde mehr sein konnten, und sich sogar geweigert, den Grund dafür zu nennen, also würde Eryn es akzeptieren und keine Energie mehr darauf verschwenden, sich darüber zu grämen. Junar hatte sich von einer guten Freundin in jemanden verwandelt, dem sie einst nahe gestanden hatte, aber nicht mehr als das. Damit war sie eine Person weniger, die sie nach ihrem Weggang von Anyueel vermissen würde.
Sie spürte, wie diese Entschlossenheit, diese Bereitschaft, etwas zu akzeptieren, was sie bisher als unreifes und unfaires Verhalten abgelehnt hatte, ihr das Herz etwas leichter werden ließ, und sie fand, dass es nun etwas weniger beschwerlich war, Junar anzulächeln, als sie ihr das Getränk servierte.
“Was ist denn mit euch beiden los?” flüsterte Pe’tala, als Eryn sich neben sie auf die Kissen gesetzt hatte, scharfsinnig wie eh und je.
“Manche Dinge dauern einfach nicht für immer an”, antwortete ihre ältere Schwester leichthin, nicht gewillt, diese private Angelegenheit vor so vielen Anwesenden zu diskutieren. Nicht, dass Pe’tala, neugierige Nervensäge, die sie war, aufgeben würde.
Enric kam aus der Küche und brachte einen Stapel leerer Schüsseln.
Er grüßte die Neuankömmlinge und runzelte dann die Stirn. “Wo ist Vern?”
“Er untersucht die Gefangenen um festzustellen, ob sie medizinische Versorgung benötigen”, erklärte Orrin. “Viele von ihnen sind von der Hitze etwas überwältigt. Er sollte in Kürze zu uns stoßen.”
Valrad und Malriel betraten den Raum und trugen jeweils eine dampfende Schale zu dem niedrigen Tisch inmitten der Kissen, bevor sie ebenfalls Platz nahmen und die Gäste mit einem Lächeln begrüßten.
“Junar”, begrüßte die Triarchin sie, “wie schön, dich nach all dieser Zeit wiederzusehen. Téa hat sich zu einer so lebhaften jungen Dame entwickelt. Es wärmt mir das Herz, sie in diesen entzückenden Kleidern zu sehen, die du ihr genäht hast und die an ihren Geburtsort erinnern.”
Téa stürmte in diesem Moment auf ausgesprochen undamenhafte Weise in den Raum, als sei sie entschlossen, Malriel zu beweisen, dass ihre Einschätzung nicht der Wirklichkeit entsprach. Sie klatschte aufgeregt in die Hände, als sie die Schüsseln entdeckte, und rief über ihre Schulter: “Vedric, komm! Das Essen ist endlich fertig! Es wird auch Zeit!”
Sie erweckte den Anschein, als hätte sie schon eine Ewigkeit gewartet, obwohl sie tatsächlich gerade erst eingetroffen war.
Pe’tala, die sich bei spitzen Bemerkungen kein Blatt vor den Mund nahm, wenn sie es für angemessen hielt – was in jeder gegebenen Situation eher die Regel als die Ausnahme war – zog die Augenbrauen hoch. “Charmant. Téa, ich bitte dich zu bedenken, dass jemand Zeit und Energie aufgewendet hat, um für dich ein schmackhaftes Essen zuzubereiten. Dankbarkeit wäre also eine angemessenere Reaktion als sich darüber zu beschweren, dass es nicht schon auf dem Tisch stand, als du eingetroffen bist.”
Eryn war hin- und hergerissen zwischen der Zustimmung zu Pe’talas Direktheit und der Unruhe angesichts der Reaktion, die dies auslösen würde. Junar war nicht unbedingt jemand, der in der Vergangenheit besonders gut auf Kritik am Verhalten ihrer Tochter reagiert hatte.
Junar antwortete mit einem schmalen Lächeln. “Danke für den Hinweis, Pe’tala. Ich frage mich allerdings, wo deine eigene Tochter im Moment ist? Ich hätte gedacht, dass jemand, der so viel Wert auf gutes Benehmen legt wie du, seinem eigenen Kind nahelegen würde, so viel Rücksicht zu üben, dass es pünktlich zu den Mahlzeiten erscheint, anstatt anderen aufzubürden, dass sie warten müssen.”
Wie aufs Stichwort kam Zahyn aus der Küche und setzte mit äußerster Vorsicht einen Fuß vor den anderen, um kein Wasser aus der Karaffe zu verschütten, die sie trug.
“Was soll ich sagen? Ich sollte mich schämen”, lächelte Pe’tala sanft und fügte dann hinzu: “Möchtest du etwas von dem Wasser, das meine rücksichtslose Tochter gerade für uns alle bringt?”
Junars Gesicht verfärbte sich rot, nachdem ihr Angriff so spektakulär fehlgeschlagen war. Alle anderen am Tisch vermieden es sorgsam, sie anzusehen.
Eryn war in einer Mischung aus widersprüchlichen Gefühlen gefangen. Sie war überrascht und bestürzt über Junars Verhalten gegenüber Pe’tala, das eindeutig allem entbehrte, was man von einem Ehrengast in den Westlichen Territorien erwartete. Zwar ließe sich argumentieren, dass Pe’tala eine Grenze überschritten hatte, indem sie ein Kind zurechtwies, das nicht ihr eigenes war. Da Junar selbst allerdings keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich selbst darum zu kümmern, hatte sich Pe’tala die Freiheit genommen, die Regeln in ihrem eigenen Haus durchzusetzen. Eryn empfand jedoch auch Bedauern für Junar, weil sie plötzlich nicht länger zu den Menschen zu passen schien, mit denen sie sich vor sieben Jahren angefreundet hatte, als sie all die Monate in Takhan verbracht hatte. Und Traurigkeit über die Feindseligkeit gegenüber Pe’tala, die als eine Art Substitut für Eryn herhalten musste.
Es war unverkennbar, dass keiner der Anwesenden von ihrem Verhalten besonders angetan war. Malhoras Lippen waren missbilligend zusammengepresst, Valrad strahlte Unbehagen aus, Malriel verbarg ihre Bestürzung hinter einer höflichen Maske, Rolan hatte ein plötzliches Interesse an seinem Getränk entwickelt, Gerits Stirn war in Sorgenfalten gelegt, und Orrin wirkte hilflos – ein Gefühl, das er verabscheute. Und dann war da noch etwas anderes. Zorn, der Eryns Brust von innen her erwärmte. Allerdings nicht ihr eigener.
Sie sah zu Enric, der das Essen austeilte. Es gab kein sichtbares Zeichen einer Emotion, keine Anspannung in seinen Schultern, kein Zucken der Lippen oder zusammengekniffene Augen. Nur die ersten zarten Anzeichen in ihrem Kopf, dass das Geistesband sich allmählich wieder etablierte. Schade nur, dass dies die erste Emotion war, die sie durch die Verbindung wahrnahm.
Vedric kletterte über die Kissen, um sich neben seine Mutter zu setzen, und grinste zu ihr hoch, glücklich, wieder mit seinen Eltern vereint zu sein. Eryn strich mit einer Hand über sein dunkles Haar und fand, dass es unbedingt geschnitten werden sollte. Viele Geschäfte hatten bereits wieder geöffnet, ebenso die Märkte. Vielleicht würde sie ihn in den nächsten Tagen zu einem Friseur bringen. Oder sie würde Enric mit ihm losschicken. Er konnte sich ebenfalls die Haare schneiden lassen und gleichzeitig etwas wertvolle Zeit mit seinem Sohn verbringen.
Das Gespräch während des Essens plätscherte gemächlich vor sich hin. Gelegentlich wurde sogar versucht, Junar einzubeziehen, die jedoch nur mit einsilbigen Antworten oder höflichem Lächeln reagierte und sich weigerte, aktiv daran teilzunehmen. Es war offensichtlich, wie deplatziert sie sich fühlte. Eryn fragte sich, ob sie dieses Beisammensein als einen Preis betrachtete, den sie für das Wiedersehen mit ihrem Gefährten zahlen musste.
Als alle mit dem Essen fertig waren, zupfte Vedric am Ärmel seiner Mutter. “Können wir bald in ein Teehaus gehen? In das, in dem du dich manchmal mit Ram’an triffst?”
Eryn lächelte. “Das würde ich gerne. Wir müssen sehen, ob es schon wieder geöffnet ist. Wenn ja, können wir morgen Nachmittag vor meinem Treffen mit der Triarchie und König Folrin hingehen.” Sie sah Junar an. “Vielleicht hat Téa Lust, uns zu begleiten? Ich könnte mir vorstellen, dass sie diese Erfahrung genießen würde.”
Junar bedachte sie erneut mit einem höflichen Lächeln. “Das ist sehr freundlich von dir, aber wenn sie möchte, werde ich sie selbst mitnehmen.”
“Was ist los mit dir, Junar?” erkundigte sich Pe’tala barsch. “Ich erkenne dich kaum wieder.”
“Du bist unhöflich, Tala”, murmelte Eryn, die nicht gewillt war, eine angespannte Situation in einen offenen Konflikt zu verwandeln. Wenn es zu einer Konfrontation mit Junar kommen musste, dann brauchte sie dafür keine Zeugen. Und ganz gewiss würde sie ihn nicht ihre Schwester an ihrer Stelle ausfechten lassen.
Doch ganz so einfach ließ sich Pe’tala nicht zum Schweigen bringen.
“Und du findest, dass mehr als eine unhöfliche Person auf einmal zu viel ist?”, erwiderte sie, verschränkte die Arme und funkelte Junar an. “Du hast genug Zeit hier verbracht, um zu wissen, welch hohen Stellenwert wir Gastfreundschaft beimessen – und was wir als angemessenes Verhalten bei unseren Gästen ansehen. Es ist keineswegs das, was du gerade an den Tag legst!”
Die drei Kinder starrten die drei Frauen abwechselnd an.
“Können wir das bitte nicht hier austragen?” zischte Eryn und wünschte, sie könnte ihre Schwester einfach mit einem Magieblitz zum Schweigen bringen und die Sache damit beenden. Damit würde sie die Situation allerdings lediglich eskalieren.
Pe’tala presste einen Moment lang die Lippen aufeinander, augenscheinlich alles andere als zufrieden, aber sie nickte. “In Ordnung, Schwester. Ich werde deine Wünsche respektieren. Für den Moment.” Ihr feindseliger Blick richtete sich wieder auf Junar. “Eryn ist mehr als einmal in die Schlacht gezogen – unter großen persönlichen Opfern, möchte ich hinzufügen – weshalb sie wahrscheinlich ein so großes Bedürfnis nach Frieden hat, zumindest in ihrem Haus. Deshalb werde ich nichts weiter sagen.”
“Ja, und dass sie in die Schlacht gezogen ist, ist auch anderen teuer zu stehen gekommen”, konterte Junar. “Frag Vyril!”
Das Schweigen, das zuvor lediglich angespannt gewesen war, wandelte sich nun zu etwas Unheilvollem.
“Verzeihung?” fragte Malriel leise.
Junar reckte ihr Kinn in die Höhe. “Jeder weiß, dass Lord Tyront noch leben würde, wenn sie nicht gewesen wäre! Jeder im Orden redet davon – dass dies ihre Chance war, ihn endlich aus dem Weg zu räumen und ein Mitspracherecht bei all den Dingen zu haben, die er verweigert hat! Ihre Chance, die Macht zu ergreifen! Die Magier haben kein Vertrauen mehr in sie, sie glauben, sie hat es mit voller Absicht getan!”
Eryn schloss die Augen und atmete tief durch, als der unerwartete schmerzliche Stich sie erschütterte. Als sie sie wieder öffnete, sah sie, wie Enric mit den Zähnen knirschte und Orrin einen Blick zuwarf, der keiner näheren Deutung bedurfte. Es war ein unausgesprochener, aber dennoch klarer Befehl, seine Gefährtin sofort zu entfernen oder die Konsequenzen zu tragen. Eryn spürte, wie sein Zorn in ihr brodelte und darum flehte, herausgelassen zu werden. Sie wusste, dass dies nur ein Bruchteil dessen war, was er im Moment fühlen musste, dass das Geistesband noch nicht zu seiner früheren Stärke zurückgekehrt war.
Orrin nickte fast unmerklich, dann stemmte er sich in die Höhe. Sein Gesicht war eine starre Maske, ein Versuch, seine eigene Bestürzung zu verbergen. Obwohl Eryn nicht wusste, über wen – Pe’tala, weil sie so heftig reagiert hatte? Junar für ihr feindseliges Verhalten? Enric, weil er ihn vor die Tür setzte? Eryn aus irgendeinem anderen Grund?
“Téa, wir gehen”, informierte der Krieger seine Tochter. Seine Stimme war sanft, aber bedrohlich. Es war die Art von Stimme, die Gehorsam verlangte oder versprach, andernfalls im Handumdrehen von sanft auf durchsetzungsfähig umzuschlagen.
Seine Tochter war jedoch entweder zu jung, um auf solche Feinheiten zu reagieren, oder sie hatte einfach beschlossen, sie auf eigene Gefahr zu ignorieren und ihre eigenen Wünsche über die Anordnung ihres Vaters zu stellen.
“Ich will nicht weg!”, jammerte sie. “Wir sind doch gerade erst gekommen! Ich will draußen im Garten spielen!”
Orrin warf ihr einen langen Blick zu, aber es schien, dass die Disziplin, die er ihr einst beigebracht hatte, während seiner Abwesenheit von Anyueel und unter der nachsichtigen Obhut ihrer Mutter ihren Einfluss auf sie verloren hatte.
“Lass sie hier und geh. Sofort.” Jedes von Malhoras Worten war wie ein Peitschenhieb. “Und bring deine Gefährtin nicht noch einmal hierher zurück. Sie ist nicht länger willkommen.”
“Großmutter”, sprach Eryn ruhig und kämpfte um Fassung. Sie wollte nicht, dass die Kinder mitansehen mussten, wie Junar aus diesem Haus verbannt wurde, schon gar nicht ihre kleine Namensvetterin. “Das hier ist mein Haus. Du wirst stets willkommen sein an jedem Ort, den ich mein Zuhause nenne, aber du kannst nicht entscheiden, wem der Zutritt verwehrt werden soll.”
Enric erhob sich. Seine imposante Größe wirkte jetzt in seinem kalten Zorn noch beängstigender. “Aber ich kann es. Junar, anders als dein Gefährte und deine Tochter, bist du in meinem Haus von nun an nicht länger ein willkommener Gast.”
Junar starrte ihn an und ihre Lippen teilten sich, als wolle sie etwas erwidern, aber es kam nicht ein Wort hervor. Orrin nahm ihre Hand und zog sie mit sich zur Treppe.
“Nein – Mutter! Geh nicht!” jammerte Téa plötzlich, als ihre Eltern die Treppe hinabstiegen.
“Aber sie muss! Sie war böse!” erklärte Vedric streng mit verschränkten Armen und zeigte wenig Mitgefühl oder Erbarmen für die missliche Lage seiner Freundin. Er war sich nicht ganz sicher, was genau soeben vorfallen war, aber ihm war klar, dass es etwas Gravierendes sein musste, wenn sein Vater Junar mitteilte, dass sie nie wieder in sein Haus zurückkehren sollte.
“Sie war nicht gemein!” beharrte Téa, hin- und hergerissen zwischen den Optionen, mit ihrem Fuß aufzustampfen, um ihrer Aussage mehr Nachdruck zu verleihen, und ihren Eltern hinterherzulaufen.
“Das war sie sehr wohl!” widersprach Vedric und schrie fast. “Sie hat gesagt, meine Mutter hat Lord Tyront getötet!”
Eryns Herz raste, und sie wünschte sich, alle würden den Mund halten und ihr etwas Zeit geben, um mit dieser Situation zurecht zu kommen. Mitanhören zu müssen, wie Vedric und Téa nun denselben Streit zwischen sich ausfochten, war eine grässliche Sache.
“Vedric, ich weiß es zu schätzen, dass du mich so eifrig verteidigst. Aber es hat keinen Sinn, sich zu streiten. Das ist keine Sache zwischen dir und Téa, sondern zwischen ihrer Mutter und mir. Keine von uns möchte, dass ihr beide da hineingezogen werdet.”
Vedric stieß die beschwichtigende Hand seiner Mutter von sich und ignorierte ihre Versuche, ihn zur Vernunft zu bringen.
“Aber sie hat es getan! Jeder weiß es!” schrie Téa.
“Halt die Klappe, du Dummkopf!” brüllte Vedric und sprang auf. Einen Moment später wurde er mit voller Wucht in die Kissen zurückgestoßen, als zwei magische Blitze aus seinen Handflächen schossen, von denen einer ein Fenster zerschmetterte und der andere Téa genau an der Schulter traf, sodass sie zu Boden sackte.
Nach einem Moment entsetzter Stille, den alle Anwesenden teilten, brach hektische Betriebsamkeit aus.
Valrad beugte sich eilig zu dem Mädchen hinunter, um den Schaden zu beurteilen. Eryn zog ihren Sohn in ihre Arme und hielt seine Handflächen zu Boden gerichtet, falls seine unbändige Wut noch nicht abgeklungen war.
Hastige Schritte waren von der Treppe aus zu hören, als Orrin und Junar zurückkehrten, nachdem sie vernommen hatten, was ganz eindeutig der Einschlag eines magischen Blitzes gewesen war.
“Mein Baby!” kreischte Junar und stolperte fast über ihre eigenen Füße, als sie ihre Tochter in Valrads Armen erblickte. “Was hast du getan?”
“Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Junar, es geht ihr gut”, erklärte Valrad mit einer entspannten, sanften Stimme, die ihm seit vielen Jahren gute Dienste leistete, wenn Patienten und Angehörige beruhigt werden mussten.
Kurzerhand zog Junar ihre bewusstlose Tochter in die Arme und verließ fluchtartig den Raum. Orrin, der müde und resigniert aussah, folgte ihr, und wenig später hörten sie, wie sich die Eingangstür unten mit einem Knall schloss.
Einige Augenblicke lang saßen sie alle schweigend da und tauschten Blicke aus.
Dann seufzte Valrad. “Was für ein Zeitpunkt für deine Magie, um sich zu manifestieren, mein Junge.”
Gerit fügte mit einem zittrigen Lachen hinzu: “Genau wie sein Vater. Er schlug damals seinen jüngeren Bruder bewusstlos, und wir hatten nicht den Luxus, einen Heiler in der Nähe zu haben, so dass wir uns stundenlang Sorgen machen mussten, ob Noren jemals wieder aufwachen würde.”
“Sitzt nicht so herum”, forderte Malhora mit einem breiten Grinsen im Gesicht, “bringt den Wein! Wenn die Magie in einem Kind erwacht, ist das ein Grund zum Feiern!”
Rolan nickte. “Ich könnte ein Glas gebrauchen, um ehrlich zu sein. Mir ist vorhin fast das Herz stehen geblieben!”
Eryn zwang sich zu einem Lächeln. Ihr war nicht nach Feiern zumute, nachdem die Feindseligkeiten zwischen ihr und Junar einen neuen Höhepunkt erreicht hatten und sie erfahren musste, dass die Mitglieder des Ordens Tyronts Tod im günstigsten Fall für ihre Schuld und im schlimmsten Fall für ihre Absicht hielten.
“Es tut mir so leid”, flüsterte Vedric, der mit geweiteten Augen auf dem Schoß seiner Mutter herumzappelte. “Ich wollte ihr nicht wehtun! Oder das Fenster zerbrechen!”
“Keine Sorge”, beruhigte ihn Eryn. “Es war ein Versehen. Du hast ihr nicht wirklich wehgetan, du hast sie nur schlafen geschickt. Und wir werden das Fenster einfach reparieren lassen.”
Er starrte stumm vor sich hin, während er sich mit dem auseinandersetzte, was er gerade getan hatte. Dann veränderte sich seine Miene und wurde nachdenklich. “Bin ich jetzt ein Magier?”
Enric setzte sich neben ihn und gab Pe’tala ein Zeichen, Platz zu machen. “Das bist du, mein Sohn. Und ein mächtiger noch dazu. Lass das, was gerade passiert ist, deine erste Lektion im Umgang mit Magie sein – benutze sie mit besonderer Vorsicht, damit niemand aus Versehen verletzt wird.”
Pe’tala grinste. “Obwohl ich das Ziel passend finde. Da die Mutter nicht im Raum war, kam das Mädchen als Empfängerin seines allerersten magischen Blitzes sicher am besten in Frage.”
Verärgert schüttelte Eryn den Kopf über ihre Schwester. “Das ist nicht witzig. Du wärst nicht so unbekümmert, wenn sein Blitz Zahyn und nicht Téa getroffen hätte. Und Téa ist kaum Schuld an den… Trugschlüssen ihrer Mutter.” Sie sah Enric an. “Stimmt es, was Junar gesagt hat? Denken sie, ich hätte ihn getötet, um die Kontrolle über den Orden zu erlangen?”
Er zwang sich zu nicken. Auch wenn er in Erwägung gezogen hätte, ihr das zu verschweigen, um ihr den Schmerz zu ersparen, brachte er es nicht über sich, sie auf ihre ausdrückliche Nachfrage hin anzulügen. “Einige scheinen das zu glauben, ja.”
Sie schluckte. “Und warum hast du es bisher versäumt, mir diese Kleinigkeit mitzuteilen? Warum wurde ich mit einer solchen Tatsache völlig unvorbereitet konfrontiert?”
“Ich hatte vor, es dir zu sagen, bevor wir uns auf den Weg zu Vyril machen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir jemand zuvorkommt und du es auf diese Weise erfährst.” Er sah Vedric an und lächelte. “Wir werden anfangen müssen, die Kontrolle über deine Magie zu trainieren. Du wirst ein ungeheuer mächtiger Magier sein, doch mit großer Kraft kommt auch große Verantwortung.”
Vedric nickte und rümpfte die Nase. Verantwortung. Schon wieder dieses Wort. Er wusste in etwa, was es bedeutete – und dass es Schuld daran war, dass viele vergnügliche Dinge ruiniert wurden und er einige unangenehme Dinge ertragen musste. Zum Beispiel, sich zu entschuldigen. Was in der Regel die unangenehme Folge davon war, dass er sich etwas Vergnügliches gegönnt hatte – und somit traf es ihn gleich doppelt.
“Es hätte weitaus schlimmer kommen können”, bemerkte Rolan mit einem für ihn ungewöhnlichen Anflug von Optimismus. “Er hätte stattdessen den König ausschalten können.”
Enric nickte. “Da hat er nicht ganz Unrecht.” Er stand auf und streckte die Hand nach seinem Sohn aus. “Komm mit mir in den Garten, ja? Ich möchte dir gerne ein paar Dinge zeigen.”
Er empfand ein Gefühl der Ruhe und Zufriedenheit, als er die kleine, warme Hand seines Sohnes in der seinen spürte und mit ihm zur Terrassentür ging.
An den Vorfall, den seine Mutter erwähnt hatte, erinnerte er sich noch gut. Nachdem er seine Magie mehr als zwei Jahre lang im Verborgenen hielt, hatte er bei diesem einen Mal die Kontrolle über sie verloren und damit bei seinen Eltern und allen anderen in seiner Umgebung Panik und Angst ausgelöst. Angst vor dem, wozu er noch fähig sein mochte. Sein Vater hatte ihn angebrüllt, dabei aber einen Abstand gewahrt, den er fälschlicherweise für sicher hielt. Und ihn in sein Zimmer eingesperrt, bis die Kutsche aus der Stadt eintraf, die Enric zum Orden der Magier brachte und ihn im Alter von zwölf Jahren seinem Zuhause entriss. Es war ein alles andere als harmonisches Zuhause und ein sicherer Hafen, aber das einzige, das er damals gekannt hatte.
Für seinen eigenen Sohn würde alles ganz anders verlaufen, und er dankte den Sternen, dass Vedrics Magie in einer Situation zum Vorschein gekommen war, in der er von Menschen umgeben war, die ihn liebten und Erfahrung mit solchen Dingen hatten. Und er war froh, dass es genau zu diesem Zeitpunkt geschehen war, kurz nach dem Wiedersehen mit seinen Eltern, so dass sie für ihn da sein und ihn in diesem wichtigen Lebensmoment anleiten konnten.
Anders als Enric selbst würde Vedric nicht gezwungen sein, sich jahrelang zu verstecken und sich zu fragen, was genau mit ihm nicht stimmte. Er würde lernen, mit seiner Magie umzugehen, sich das Wissen aneignen, das er brauchte, um sie richtig zu nutzen – und das alles, ohne von seinen Eltern getrennt und gezwungen zu werden, sich einer Institution anzuschließen, die in ihm in erster Linie einen Aktivposten für den Krieg sah.
Er setzte sich ins Gras, klopfte auf einen Platz neben sich und wartete, bis Vedric seinem Beispiel gefolgt war. Das erste, was er seinem Sohn beibringen würde, war nicht das Errichten von Schutzschilden. Oder seine Muskeln für Stärke oder Schnelligkeit zu verstärken. Das Erste, so beschloss er, würde etwas Unterhaltsames sein. Etwas, bei dem er sich nicht zurückzuhalten brauchte.
Er hob die Hand und ließ einen Blitz aus Magie in die Luft steigen. Einen Moment später explodierte er. Da es Tag war, waren die berstenden Lichter vor dem hellen Himmel noch nicht zu erkennen. Das würde sich in der Nacht ändern. Dann würde das, was jetzt nur ein lautes Geräusch erzeugt hatte, eine hübsche Lichteruption sein, die einem kleinen Jungen große Freude bereiten würde.
Vedric sah mit großen Augen zu. “Kann ich das auch?”
Enric lächelte. “Ich weiß es nicht. Kannst du?”
Kapitel 3
Schwierige Gespräche
Neben seinem eigenen Unbehagen spürte er durch ihr Band auch Eryns noch ausgeprägteres. Er war unendlich froh, dass ihre Verbindung mit jeder Auflösung und Wiederherstellung ihres Bandes schneller zurückkehrte, als würde ein fehlendes Stück in ein Loch mit genau der richtigen Form zurückfallen – mühelos und ohne Reibung. Doch in diesem Moment beschloss er, sich besser abzuschirmen.
Enric selbst hegte immer noch Schuldgefühle wegen Tyront. Nach zwei Jahrzehnten Freundschaft – mit gelegentlichen Spannungen – waren die jüngsten Entwicklungen nicht eben förderlich für ihre Beziehung als Ganzes gewesen. Aber vor Eryns Ankunft in der Stadt hatte es auch nicht allzu viel Anlass für Streit gegeben. Tyront war ein eifriger Akteur des politischen Spiels gewesen, um seine Machtbasis zu erhalten und auszubauen, während sich Enric in dieser Hinsicht nur im erforderliche Minimum involviert hatte, um seine Aufgaben in einem Amt erfüllen zu können, das er nie angestrebt hatte. Enric hatte seine Befriedigung in seinen geschäftlichen Unternehmungen als Gegengewicht zu den trockenen politischen Intrigen gesucht, so dass die beiden Männer nie wirklich Widersacher in diesem Machtspiel gewesen waren. Das war für eine harmonische Beziehung zweifellos förderlich gewesen. Enric hatte keinerlei Ambitionen zur Übernahme des Ordens gehegt – ganz im Gegenteil. Es gab gewisse Freiheiten, die er sich nur leisten konnte, weil die volle Verantwortung für den Orden auf anderen Schultern als seinen eigenen lastete.
Tyront hatte auf Maßnahmen zurückgegriffen, vor allem in Bezug auf Eryn, die seine und Enrics Freundschaft nachhaltig beeinträchtigt und sie am Ende sogar so weit geschwächt hatten, dass nicht mehr viel von ihr übrig geblieben war. Doch seine letzte Tat, das Opfern seines eigenen Lebens, um das ihre zu retten – wie dumm auch immer die Entscheidung gewesen sein mochte, sie in diese Schlacht überhaupt erst mitzunehmen – hatte ihn in Enrics Augen von allem entlastet, was er sich vorher ihr gegenüber hatte zu Schulden kommen lassen.
Er versuchte, sich einzureden, dass es möglicherweise am besten war, so wie die Dinge jetzt standen. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, wie Tyront darauf reagiert hätte, wenn ihm die Verantwortung für den Orden entzogen worden wäre. Welche Erklärung sich der König auch immer einfallen hätte lassen, um die Öffentlichkeit in dem Glauben zu lassen, es handele sich um etwas anderes als einen Vertrauensentzug, für Tyront wäre es jedenfalls eine enorme Schande gewesen, das erste Oberhaupt zu sein, das auf diese Weise abgesetzt wurde. Es hatte in der Vergangenheit Attentate auf Ordensführer gegeben, sei es durch Ratsmitglieder, ehrgeizige Untergebene oder sogar Könige. Doch kein einziger Ordensführer war jemals seines Kommandos enthoben worden und durfte – oder war wohl eher gezwungen – am Leben bleiben, um einer Zukunft ohne die gewohnte Macht entgegenzusehen. Zumindest nahm Enric an, dass König Folrin die Absicht hatte, Tyront am Leben zu lassen. Er wollte glauben, dass sie alle nun in zivilisierteren Zeiten lebten.
Eryns eigene Beziehung zu Tyront, so wusste Enric, war schon immer zwiespältig gewesen. Wie ein Pendel waren die Spannungen zwischen den beiden zeitweise so gut wie nicht vorhanden, nur um bei der nächsten Gelegenheit wieder in die Höhe zu schnellen. Genau wie Enric selbst war auch Tyront zunächst einer ihrer Bewacher, und die Tatsache, dass er die Institution geleitet hatte, der beizutreten man sie gezwungen hatte, hatte ihren Eindruck diesbezüglich im Laufe der Jahre nur verändert, jedoch niemals wirklich aufgelöst. Tyront hatte sie zwar hin und wieder beschützt, aber nur in dem Maße, wie es seinen eigenen Zielen diente. Wenn es stattdessen in seinem Interesse lag, sie zu benutzen, dann hatte er genau das getan.
Doch es lag nicht in Eryns Natur, einen Groll gegen einen toten Mann zu hegen, um ihre eigenen Schuldgefühle in Bezug auf die Umstände seines Todes zu mildern. Enric wünschte, sie würde nur dieses eine Mal diesen Weg wählen, um sich ihr eigenes Leben ein wenig leichter zu machen. Doch gleichzeitig wusste er, dass dies völlig untypisch wäre und wahrscheinlich ein noch größerer Grund, sich um sie zu sorgen.
Sie kamen zum Stehen und starrten auf die Tür der Botschafterresidenz, in der sich sowohl das Königspaar als auch Vyril aufhielten.
“Jemand sollte anklopfen”, meinte Eryn.
“Ja, ich nehme an, das würde helfen”, erwiderte er, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, den Worten die Tat selbst folgen zu lassen.
Sie hörten Schritte von drinnen, dann wurde die Tür aufgezogen, und Kilan sah sie mit ernster Miene an.
“Wollt ihr reinkommen, oder braucht ihr noch eine Minute?”, fragte er sanft, sichtlich im Wissen um ihren inneren Kampf.
“Nein, danke, wir sind bereit”, erwiderte Enric. Seine Hand auf Eryns Rücken schob sie vorwärts, so dass sie keine andere Wahl hatte, als einen Schritt nach vorne zu tun. Auch wenn Kilan ein langjähriger Freund war, so war er doch im Moment noch ein Untergebener, was bedeutete, dass es nicht angebracht war, in seinem Beisein Schwäche zu zeigen. So weit war die Ausbildung des Ordens in seinem Denken noch präsent.
“Wie geht es ihr?” murmelte Eryn, wohl wissend, dass sie damit nicht die intelligenteste aller Fragen stellte.
“Gefasst”, antwortete der Botschafter, “ruhig.” Er ging voraus und die Treppe hinauf. “Sie erwartet euch in meinem Arbeitszimmer.” Er hielt inne und drehte sich um. “Bedient euch ruhig aus dem Schrank, falls ihr einen steifen Drink braucht.”
Enric drückte Kilans Schulter, dann legte er die letzten Schritte bis zur Tür des Arbeitszimmers zurück und klopfte.
“Kommt herein”, antwortete Vyrils gedämpfte Stimme.
Sie folgten der Aufforderung und schlossen die Tür hinter sich wieder. Vyril stand vor dem Fenster und blickte hinaus, ohne sich umzudrehen. Trotz der Wärme war sie in eines ihrer Kleider aus Anyueel gewandet. Sie besaß keine Kleidung, die für das Wüstenklima geeignet war, doch Junar hätte ihr gewiss umgehend etwas genäht, hätte Vyril darum gebeten. Aber im Moment hatte sie andere Sorgen als ihre Garderobe.
Enric und Eryn standen vor dem Schreibtisch und warteten schweigend, bis Vyril bereit war, sich ihnen zuzuwenden. Zwei weitere Minuten verstrichen, bis sie sich schließlich zu ihnen umdrehte.
Ihr Gesicht wirkte blass und hager, als hätte sie sich seit dem Erhalt der schrecklichen Nachricht nicht wirklich um regelmäßige Nahrungsaufnahme gekümmert. Sie sah erschöpft und unsagbar traurig aus, doch ihre Augen waren trocken. Möglicherweise waren keine Tränen mehr übrig.
Eryn spürte, wie ihre eigenen Augen zu brennen begannen. Sie würde nicht weinen, schwor sie sich. Sie würde Vyril nicht in die unmögliche Lage bringen, jemand anderen trösten zu müssen, während sie selbst von Trauer überwältigt war.
“Ich bin froh, euch beide zu sehen”, begrüßte Vyril sie schließlich mit rauer Stimme, die klang, als sei sie in letzter Zeit nicht oft benutzt worden. Sie räusperte sich. “Ich weiß, es muss schwer für euch sein, hier zu stehen.”
Sie lächelte und trat auf Enric zu, wobei sie ihre Hand an seine Wange legte. “Er war so stolz auf dich. Auf den großartigen Mann, zu dem du dich entwickelt hast. Gegen Ende waren die Dinge zwischen euch beiden nicht mehr so, wie sie einmal waren, aber ich möchte, dass du weißt, dass er in dir den Sohn gesehen hat, der ihm niemals vergönnt war. Du hast es geschafft, eine Leere in seinem Herzen zu füllen, als wir nicht in der Lage waren, eigene Kinder zu haben. Er war nicht immer sanft zu dir, manchmal sogar grausam, aber ich weiß, dass das nicht seiner wahren Natur entsprach. So wurde er selbst erzogen und ausgebildet. Der ewige Kampf um die Macht war das, was ihm als würdige Aufgabe für sein Leben vermittelt worden war. Aber dank dir hatte er begonnen zu verstehen, dass es noch mehr als das gab. Du hast ihn dazu gebracht, über Dinge, die er für in Stein gemeißelt gehalten hatte, hinauszuschauen.”
Enric schloss die Augen und drehte seinen Kopf leicht, damit er ihre Handfläche küssen konnte. “Es tut mir so leid, Vyril”, murmelte er, unfähig, mit bedeutsameren Worten aufzuwarten. Was konnte man auch sagen? Die Worte klangen selbst für seine eigenen Ohren banal, doch ihm fiel nichts ein, das seine wahren Gefühle angemessener zum Ausdruck gebracht hätte.
Vyril zog ihre Hand zurück und sah Eryn an. “Und du, meine Liebe, warst seine größte Herausforderung. Er war so froh, dass Enric eine so tiefe Bindung zu dir aufgebaut hat, und machte sich Sorgen, ob du das mit der Zeit erwidern würdest. In einer Welt, in der die Erlangung von Informationen nur eine Frage der Fähigkeit ist, mit Gold zu bezahlen, hast du es geschafft, ihn zu überraschen. Regelmäßig. Er gab stets vor, über jede einzelne deiner Entdeckungen oder Ideen beunruhigt zu sein, aber in Wahrheit liebte er sie, weil sie ihn dazu zwangen, seinen wendigen Verstand richtig zu gebrauchen, während er normalerweise durch die Leitung des Ordens unterfordert war. Nach so langer Zeit war dies für ihn kaum mehr als Routine. Ich habe ihn nie so lebendig erlebt wie in der Zeit seit deiner Ankunft in der Stadt. Ich weiß, er hatte eine seltsame Art, es zu zeigen, aber er schätzte dich sehr. Ich will nicht sagen, dass deine regelmäßigen Abwesenheiten nicht förderlich dafür waren, die Lage zwischen euch beiden zu entspannen, aber nach ein oder zwei Monaten begann er schon, euch beide zu vermissen und freute sich auf eure Rückkehr.”
Eryn spürte, wie das Festhalten an ihrem Vorsatz, nicht zu weinen, fast unmöglich wurde, und verschloss kurzerhand ihre Tränenkanäle mit Magie. Sie hatte mit Wut, unvorstellbarem Kummer, Vorwürfen, vielleicht sogar mit Nichtbeachtung gerechnet, doch die Güte, mit der Vyril ihnen begegnete, war so viel schwerer zu ertragen. Schließlich musste sie von den Gerüchten gehört haben.
“Es ist nicht wahr, was sie sagen”, flüsterte Eryn, “ich wollte nicht, dass er ums Leben kommt.”
Vyril nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und trat einen Schritt näher, so dass sich ihre Stirne berührten. “Ich weiß, Kind. Wer so etwas behauptet, hat keine Ahnung, wer du bist und wofür du stehst. Damals hättest du nicht einmal diese Apotheker hinrichten lassen. Ich weiß, du wolltest nie, dass er stirbt, nur um dich vom Einfluss des Ordens zu befreien.”
Eryn verspürte bei diesen Worten eine so tiefe Erleichterung, dass ihre Knie nachgeben wollten.
Vyril trat einen Schritt zurück und ging auf einen Stuhl zu, auf den sie sich setzte. Eryn bemerkte das Glas auf der Fensterbank, das halb voll war mit etwas, das wie ein starkes Getränk aus dem Schrank aussah, den Kilan ihnen angeboten hatte. Eryn nickte in Richtung des Glases.
“Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich…?”
Vyril schüttelte den Kopf. “Nein, Liebes. Bediene dich. Ich selbst bin im Moment jenseits von solch belanglosen Sorgen wie der richtigen Tageszeit zum Trinken. Ich fürchte, ich bin im Begriff, in eine eher ungesunde Gewohnheit zu verfallen, aber im Moment kümmert mich das wenig.”
Sie gab Enric ein Zeichen, er möge ihr das Glas von der Fensterbank reichen, und er folgte der Aufforderung bereitwillig.
Sie starrte auf den kunstvoll geknüpften Teppich an der Wand und fuhr fort: “Wisst ihr, wenn ich zurückblicke, dann habe ich vermutlich nicht damit gerechnet, Tyront lebend wiederzusehen, nachdem er an Bord dieses Schiffes gegangen war.”
Die Worte ließen Eryn mitten im Einschenken erstarren. Was?
Enrics Augen verengten sich, aber keiner von beiden drängte sie zum Weitersprechen. Sie würde fortfahren, sobald sie dazu bereit war.
Vyril blickte zu Enric auf. “Er wusste von den Plänen des Königs, ihn zu ersetzen.” Sie nahm einen kleinen Schluck aus ihrem Glas. “Nicht offiziell, natürlich. Es war alles Teil des Spiels, das die beiden seit mehr als zwanzig Jahren spielten. König Folrin versteckte Informationen, von denen er wollte, dass Tyronts Spione sie finden, an einem Ort, der nicht gerade offensichtlich oder leicht zugänglich war, wo sie aber dennoch von Leuten mit den Fähigkeiten, für die Tyront bezahlte, gefunden werden konnten.” Sie lächelte schwach. “Der König hatte sogar vor, Tyront selbst auf sein Amt verzichten zu lassen, damit er sein Gesicht nicht verliert. Dann hätte Tyront das Leben wählen können, das er sich gewünscht hätte. Er hätte um Kilans Position als Botschafter in Takhan bitten oder ein Berater des Königs werden können. Oder einfach einen Platz auf dem Lande wählen können, um ein Leben weit abseits all dieser Verpflichtungen und politischen Spiele zu genießen. Aber das war nicht Tyront. Er sah nur die Schande darin, ersetzt zu werden, damit leben zu müssen, als unzulänglich betrachtet zu werden.”
Eryn schloss die Augen. Tyront war sich dessen also wahrhaftig bewusst gewesen. Und Vyril schien zu glauben, dass er den Krieg als bequemes Mittel zum Selbstmord benutzt hatte. Auf eine Weise, die kein schlechtes Licht auf seine Gefährtin werfen würde. In der Schlacht fallen. Mit all dem Ruhm, den die Menschen mit dieser Art von Tod zu verbinden pflegten. In der Schlacht gefallen, vom Feind niedergestreckt, sein Leben für genau das hingegeben, wofür der Orden ursprünglich gegründet worden war.
“Er hätte nicht gewollt, dass die Leute dir die Schuld an seinem Tod geben, Eryn, oder dass sie über solch unschmeichelhafte und völlig unwahre Motive spekulieren. Leider neigen die Menschen dazu, Fakten zu ignorieren und versäumen zu bedenken, dass sie nicht im Besitz von allem sind, was wissenswert ist. Stattdessen schenken sie eifrig jeder Unterstellung Glauben, die gerade den größten Unterhaltungswert hat. Der Orden ist da keine Ausnahme – egal wie groß seine Anstrengungen sind, die Magier auszubilden.”
Eryn schluckte bei der Bemerkung, dass Ordensmagier kaum mit dem Ziel ausgebildet wurden, ihnen eigenständiges Denken beizubringen, sondern eher mit dem Wissen, das sie brauchten, um nützliche – und vor allem gehorsame – Werkzeuge zu sein.
“Die Tatsache, dass sie ihren Fehler erst erkennen werden, wenn ihr beide den Orden verlassen habt und gänzlich nach Takhan umgezogen seid, ist im Moment natürlich ein schwacher Trost für euch”, fuhr Vyril fort. “Leider könnt ihr es ihnen jetzt nicht mitteilen, denn das sähe aus, als würdet ihr den Orden in einer Zeit der Not im Stich lassen. Ich habe gehört, dass ihr gegen Pirinkar marschieren werdet. Dafür seid ihr auf die Loyalität des Ordens angewiesen. Sie über eure Rolle bei Tyronts Tod spekulieren zu lassen, ist immer noch das kleinere Übel anstatt ihnen zu sagen, dass ihr im Begriff seid zu gehen.”
Enric beobachtete Vyril neugierig. Seit er sie kannte, hatte sie es immer vermieden, sich zu den politischen Vorgängen rund um den Orden zu äußern. Er – das große strategische Genie, für das ihn die Leute und bis zu einem gewissen Grad auch er selbst hielten – hatte den Fehler gemacht, zu glauben, dass sie entweder nicht interessiert war oder dass Tyront sie so gut behütet hatte, dass sie kaum mit den Geschehnissen um sie herum in Berührung kam. Aber ihre einsichtsvollen Worte soeben hatten ihn eines Besseren belehrt – sie war weder uninformiert, noch unfähig, etwas beizutragen. Sie hatte sich lediglich dafür entschieden, nichts beizusteuern – trotz ihrer Fähigkeit, die Vorgänge mit so wenig offensichtlicher Anstrengung treffend zu analysieren.
Er bedauerte, dass er sich irgendwie nie die Zeit genommen hatte, sie genauer zu betrachten, mehr in ihr zu sehen als die Frau in Tyronts Schatten, die ihm ein angenehmes Heim bieten wollte, in das er sich nach einem weiteren Tag anstrengender Ordensarbeit zurückziehen konnte. Sie war die besonnene, wohlberatene Art von Frau, die immer unterschätzt wurde, weil sie so ruhig war, obwohl sie es sicherlich wert war, dass man ihr zuhörte. Allerdings bot das Königreich Anyueel kaum ein Umfeld, in dem intelligenten Frauen auf einer Ebene Gehör geschenkt wurde, auf der sie Einfluss auf die Staatsgeschäfte hatten. Zumindest nicht direkt. Ihre einzige Chance, etwas beizutragen, bestand darin, auf eher verborgene Maßnahmen zurückzugreifen, etwa einen einflussreichen Gefährten zu finden und ihm ins Ohr zu flüstern.
Abgesehen von gelegentlichen Königinnen war Eryn die einzige Frau, der diese Art von Macht jemals zuteil geworden war, und das war allein ihrer Magie zu verdanken.
“Du brauchst dich nicht über die Art und Weise zu grämen, wie er gestorben ist, Eryn”, fuhr Vyril fort. “Es gab mehrere Aspekte. Es ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Zum einen hätte er unter keinerlei Umständen deinem Gefährten gegenübertreten wollen, nachdem er deinen Tod zugelassen hat. Zum anderen hast du einen Sohn, der auf dich angewiesen ist. Und drittens hatte er es noch nicht aufgegeben, dass Enric in Anyueel bleibt und den Orden übernimmt. Er wusste, dass dies niemals geschehen würde, sobald der Krieg erst vorbei war und ihr beide Anyueel für immer verlassen habt.” Sie sah Enric an. “Seine einzige Chance war, dich zu zwingen, den Orden schon vorher zu übernehmen, damit du erkennst, wie gut du dieser Herausforderung gewachsen bist. Er rechnete damit, dass du nicht mehr zurücktreten würdest, wenn du erst einmal an der Macht wärst.” Sie lächelte. “Dieser Plan hat nicht funktioniert, oder? Das hatte ich auch nicht erwartet. Du bist immer noch entschlossen, Anyueel zu verlassen. Ich glaube, er war so geblendet von dem, was er sich wünschte, dass er nicht bedacht hat, dass du nie wirklich Ambitionen in dieser Richtung hattest. Doch in all den Jahren warst du so gut als seine rechte Hand, dass es ihm entfallen sein muss. Er hätte es als ultimatives Versagen seinerseits betrachtet, sein Amt abzugeben, ohne seine Pflicht getan zu haben, indem er für einen würdigen Nachfolger sorgt.”
Eryn schnitt bei diesem letzten Satz eine Grimasse und warf den Kopf in den Nacken, um die starke Spirituose auf eine entschieden weniger damenhafte Weise als Vyrils zierliche Schlucke hinunterzukippen.
“Es wird einen würdigen Nachfolger geben”, erklärte sie und kümmerte sich in diesem Moment wenig darum, dass sie diese Information eigentlich nicht nach eigenem Gutdünken verbreiten sollte.
“Orrin, natürlich”, nickte Vyril, indem sie Eryn vorgriff. “Stimmt. Ich habe das Gefühl, dass Tyront ihn immer unterschätzt hat. Ich habe gesehen, wie Orrin sich einen Ruf aufgebaut hat. Nicht als ein Gegner, mit dem man auf dem politischen Spielfeld rechnen muss, als jemand, der so weit vom Alltag entfernt ist, dass seine Persönlichkeit schwer zu fassen ist, sondern als ein Mann mit Prinzipien, hart wie Stahl, unbestechlich und selbstlos. Einem solchen Mann werden die Menschen folgen. Er ist ein so enormer Gegensatz zum König.” Sie hielt einen Moment inne und blickte auf und um sich. “Obwohl ich so etwas wahrscheinlich nicht sagen sollte, da es impliziert, dass ich Seine Majestät unterstelle, er sei für weit weniger bewundernswerte Eigenschaften bekannt. Wenn es um einen Mann geht, von dem ich weiß, dass er überall Informanten hat und der in diesem Moment sogar unter demselben Dach wie ich weilt, ist man gut beraten, sich etwas besonnener auszudrücken.”
Enric ging vor ihr in die Hocke und nahm ihre beiden Hände in seine. “Sag mir, was ich für dich tun kann. Ich würde alles tun.”
Sie hob ihre Hand und ließ ihre Finger durch sein goldenes, von ein paar nur aus nächster Nähe erkennbaren silbernen Strähnen durchzogenes Haar gleiten.
“Das werde ich. Obwohl du natürlich weißt, dass ich gut versorgt bin. Dafür hat Tyront gesorgt. Und der Orden würde mich auch nicht in Lumpen sehen wollen. Das wäre nicht gut für seinen Ruf. Ich denke darüber nach, aus dem Palast auszuziehen und vielleicht von nun an im Waisenhaus zu wohnen. Wenn man von Kindern umgeben ist, bleibt nur wenig Zeit, um die Gedanken schweifen zu lassen. So muss ich mich meinem Kummer nur nachts stellen, bis er irgendwann erträglich wird.”
“Du musst uns regelmäßig besuchen kommen”, schlug Enric vor. “Ich würde deine Gesellschaft sehr schätzen.”
“Das würde ich gerne. Ich habe noch nicht viel von Takhan gesehen, aber es scheint ein anmutiger und exotischer Ort zu sein. Allerdings bin ich im Moment nicht in der richtigen Verfassung, um das angemessen zu würdigen.” Sie erhob sich. “Aber ich weiß, dass ich das vielleicht in einem Jahr sein werde.”
Enric nutzte die Gelegenheit, um sich ebenfalls aufzurichten. “Werden wir dich heute Abend beim Bankett sehen?”
Vyril schüttelte den Kopf. “Nein. Ich bin zwar eingeladen, aber ich habe beschlossen, nicht zu gehen. Die Zeiten, in denen ich an solchen Anlässen teilgenommen habe, in offizieller Funktion zu sehen war, gelächelt und als Lockvogel fungiert habe, um bestimmte Leute mit irgendwelchem belanglosen Geschwätz abzulenken, damit Tyront mit anderen Leuten sprechen konnte, sind vorbei. Zumindest diesen Teil werde ich nicht vermissen. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen, wen ich vor den Kopf stoßen könnte, denn jetzt gibt es keine Konsequenzen mehr, die das politische Gleichgewicht stören oder Tyronts Pläne gefährden könnten.”
Eryn staunte über die Einblicke, die Vyril in ihr Leben an Tyronts Seite gewährte, und war dankbar dafür, dass ihre eigene Rolle an Enrics Seite sich davon so stark unterschied.
“Dann musst du uns bald bei uns zu Hause besuchen”, beharrte Eryn. “Und du musst dich von mir in ein Teehaus ausführen lassen. Ich werde dir zumindest ein paar der netteren Dinge hier zeigen und alles tun, was ich kann, um dich zu überreden, bald wieder hierher zurückzukehren.”
Vyril nickte. “Natürlich.” Es war offensichtlich, dass ihre Kräfte zu schwinden begannen und es ihr von Minute zu Minute mehr Mühe bereitete, ihre tapfere Fassade aufrechtzuerhalten. “Danke, dass ihr mich besucht habt. Wir werden uns bald wiedersehen.”
Sie verließen Kilans Arbeitszimmer und schlossen leise die Tür hinter sich. Kilan trat an sie heran und wandte sich an Eryn. “Seine Majestät fragt, ob du ein paar Minuten für ihn hast.”
“Tut er das. Und wenn ich antworten würde, dass ich in Wirklichkeit keine Zeit habe? Dass ich einfach nur von hier weg will, weil ich gerade mit der Frau gesprochen habe, deren Gefährte sein Leben gegeben hat, um meines zu retten, und dass ich ein wenig mit meinen Gedanken allein sein möchte?”, fragte sie, wohl wissend, dass es zwecklos war, doch getrieben von dem Bedürfnis, ihrer Frustration Luft zu machen.
Kilan schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. “Dann muss ich dich daran erinnern, dass die Bitte eines Königs kaum jemals eine Bitte ist, egal wie höflich er sie formuliert.”
Enric drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Ich werde im Hauptraum auf dich warten. Kilan kann mir Gesellschaft leisten. Sei vorsichtig. Du weißt, wie gerne er verwundbare Gefühlszustände für seine Zwecke ausnutzt.”
* * *
Noch immer erschüttert von dem Gespräch mit Vyril, betrat Eryn das Hauptschlafzimmer, das sie von ihrem eigenen Aufenthalt hier vor einigen Jahren mit Botschafter Enric von Anyueel in Erinnerung hatte. Sie würde also den Monarchen in seinem Schlafgemach aufsuchen. Großartig. Es schien, als würden sie sich nicht länger mit solch nebensächlichen Überlegungen wie Angemessenheit aufhalten. Allerdings musste sie zugeben, dass die Auswahl an Zimmern etwas begrenzt war. Vyril hielt sich immer noch im Arbeitszimmer auf, und der König wollte offensichtlich etwas Privatsphäre haben, weshalb er sich nicht im Hauptraum unterhalten wollte. Außerdem besaß die Residenz keinen richtigen Garten, sondern nur einen Innenhof, so dass auch kein Spaziergang außerhalb des Gebäudes zur Auswahl stand.
Sie klopfte an und trat ein, ohne zu warten, bis sie hineingerufen wurde. Es war kleinkariert, das war ihr bewusst, doch solche kleinen Akte der Rebellion wirkten Wunder für ihren Seelenfrieden. Vorausgesetzt, sie ereigneten sich ohne Zeugen. Andernfalls konnte es sich der König nicht leisten, ihr diesbezüglich mit Nachsicht zu begegnen, sondern musste sie entsprechend maßregeln.
“Kommt doch herein,” kommentierte König Folrin trocken, als sie die Tür hinter sich schloss. “Ich erschaudere, wenn ich daran denke, was für ein Verhalten ich von Euch zu erwarten habe, wenn Ihr nicht länger meine Untertanin seid.”
Eryn lächelte strahlend. “Da ich davon ausgehe, dass Ihr mich dann nicht länger als solche behandelt, werde ich Euch mit der gleichen Höflichkeit behandeln, die Ihr mir entgegenbringt.”
In eine vergleichsweise einfache dunkelgrüne Tunika und hellbraune Hosen gekleidet, trat er auf sie zu und musterte sie. “Ihr seht etwas verärgert aus. Ich nehme an, Euer Gespräch mit Vyril kein einfaches.” Es war keine Frage. Lediglich eine seiner kleinen Beobachtungen, die kaum Antwort oder sonstige Bestätigung erforderten.
“Was kann ich für Euch tun, Eure Majestät?”, fragte sie höflich und wollte damit signalisieren, dass sie nicht länger als unbedingt nötig zu verweilen gedachte. Dieser Tag war bis jetzt alles andere als erfreulich verlaufen, und das bevorstehende Bankett am Abend würde auch nicht gerade zu ihrer Entspannung beitragen.
“Ihr könnt mir erzählen, wie es Euch im Moment ergeht.”
Eryn verschränkte die Arme. “Weil Ihr Euch vergewissern wollt, dass ich mich in einer Verfassung befinde, die mich für Eure geplanten Manipulationsversuche empfänglich macht?”
“Euer Misstrauen verwundet mich zutiefst”, seufzte er und platzierte eine Hand auf seinem Herzen.
“Ein bisschen mehr nach rechts.”
“Verzeihung?”
“Das Herz. Entgegen der landläufigen Meinung befindet es sich nicht ganz so weit links. Es liegt mehr in der Mitte der Brust. Ich finde, darauf sollte ich hinweisen.”
Er hob eine Augenbraue. “Dann nehme ich das zur Kenntnis und bedanke mich dafür, dass Ihr die Akkuratheit meiner dramatischen Gesten erhöht habt.”
“Stets zu Euren Diensten”, erwiderte sie mit einer kleinen Verbeugung.
“Lasst uns darauf zurückkommen, wie es Euch derzeit ergeht. Wie ich höre, hattet Ihr bisher einen durchaus schwierigen Tag. Eure Auseinandersetzung mit Junar während eines Essens, das, wie ich annehme, als geruhsame Mahlzeit gedacht war, dann das unerwartete Hervorbrechen der Magie Eures Sohnes und schließlich die Begegnung mit Vyril. Letztere war, wie ich annehme, so ruhig und zivilisiert, wie Vyril sie zu gestalten vermochte. Sie ist eine wahre Lady, selbst wenn sie in ihrem Kummer ertrinkt. Und ich bin mir gewiss, dass sie sich nicht so weit herablassen würde, den Spekulationen über das Ableben ihres Gefährten Glauben zu schenken, die derzeit im Orden so populär sind.”
Eryn atmete aus. Und beschloss dann, selbst eine Frage zu stellen. Dies kam ihr langsam wie eine seiner kleinen Lektionen in politischer Strategie vor, und bei solchen Gelegenheiten erwartete er sogar, dass sie sich aktiv beteiligte.
“Ihr habt dafür gesorgt, dass Tyront erfährt, dass Ihr ihn ersetzen wollt. Warum eigentlich? Wolltet Ihr, dass er einen glorreichen Tod in der Schlacht sucht, um Euch die Mühe zu ersparen, ihn seines Amtes zu entheben?”
Der König schien diese Frage vorausgesehen zu haben. Er trat an einen kleinen, runden Tisch mit zwei bequem aussehenden Stühlen direkt vor dem Fenster. Eryn vermutete, dass der König sie herbringen hatte lassen, da Kilan vermutlich nicht die Gewohnheit pflegte, Gäste in seinem Schlafzimmer zu empfangen. Zumindest nicht die Art von Gäste, die sich lieber an einen Tisch setzen, als es sich auf dem Bett bequem zu machen.
“Das war keineswegs mein Wunsch. Doch ich kannte Lord Tyront schon lange und ahnte, dass dies die Art von Ende sein könnte, die er selbst bevorzugen würde. Die Leitung des Ordens war viele Jahre lang sein wichtigster Lebensinhalt. All seine Energie war diesem Ziel gewidmet. Ihm diese Position zu entziehen, bedeutete für ihn viel mehr, als es für, sagen wir, Euren Gefährten der Fall wäre. Lord Enric hat dem Orden nie mit der gleichen ungeteilten Aufmerksamkeit gedient wie sein früherer Vorgesetzter. Er verfolgte persönliche Interessen, zerstreute sich in zahlreichen Unternehmungen, wagte sich immer wieder in neue Gefilde, wenn er ein weiteres zu seiner Zufriedenheit gemeistert hatte oder es ihn nicht entsprechend herausforderte. Und sein Leben wurde durch seinen Sohn und seine geschäftlichen Interessen hier in Takhan zusätzlich bereichert. Anders als Lord Tyront war er also keineswegs auf den Orden angewiesen, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Beraubt man einen Mann dessen, kann ihn das in eine schwere Krise stürzen.”
“Und dennoch habt Ihr Euch entschlossen, die Sache weiterzuverfolgen, obwohl Ihr wusstet, welche Auswirkungen das haben könnte.”
“Ich wünschte, ich könnte mir den Luxus leisten, meine Entscheidungen ausschließlich auf das emotionale Wohlbefinden jedes einzelnen meiner Untergebenen zu stützen. Ihr, meine liebe Eryn, werdet mit der Zeit lernen, dass dies nicht möglich ist, wenn Ihr erst einmal Haus Aren übernommen habt. Manchmal gilt es Opfer zu bringen, um das übergeordnete Wohl zu sichern.” Er hielt inne und wartete. “Wollt Ihr nicht Platz nehmen? Oder möchtet Ihr mir zu verstehen geben, wie dringend Ihr diesen Raum verlassen wollt? Mit mir allein in meinem Schlafzimmer zu sein, beunruhigt Euch nicht, hoffe ich? Ihr könnt versichert sein, dass meine… Neigungen Euch gegenüber von vor einigen Jahren sich zu etwas gewandelt haben, das Ihr als deutlich weniger bedrohlich ansehen würdet. Und selbst wenn das nicht der Fall wäre, würden mein Respekt und meine Zuneigung zu meiner Gefährtin es mir unmöglich machen, diesbezüglich irgendwelche Handlungen zu setzen. Nehmt also Platz, damit wir unser Gespräch in einer entspannteren Atmosphäre fortsetzen können.”
Eryn setzte sich. Irgendetwas an seinen Worten verärgerte sie, aber sie wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Er hatte angedeutet, dass sie dachte, er fühle sich immer noch zu ihr hingezogen. Was nicht der Fall war. Seit jenem schicksalhaften Tag, an dem er sie geküsst hatte, hatte er ihr keinen Grund zu der Annahme gegeben, dass er in ihr mehr als eine vergnügliche Zerstreuung sah.
“So eingebildet bin ich nicht”, erwiderte sie schließlich ein wenig verärgert. “Der Grund dafür, dass ich mich kurz fassen möchte, ist nicht, dass ich glaube, dass Ihr mich auf dieses Bett werfen wollt, sondern weil ich weiß, dass ich mich derzeit in einem anfälligen Geisteszustand befinde für das Spiel, das Ihr vermutlich mit mir zu spielen gedenkt.”
Er lachte. “Gut gesagt, Eryn. Es freut mich zu sehen, dass Ihr aus der Vergangenheit gelernt habt. Doch ich kann Euch versichern, dass ich nicht hier bin, um Euch für einen meiner finsteren Pläne zu benutzen. Ihr habt mein Wort.”
Eryn schürzte ihre Lippen. Sein Wort. Sie wusste, dass er es nicht leichtfertig gab, aus dem simplen Grund, weil er es sich nicht leisten konnte, es zu brechen. Sie spürte, wie sie sich ein wenig entspannte.
“Ich will nicht, dass Ihr mich für grausam und gleichgültig gegenüber dem Schicksal haltet, das Lord Tyront für sich selbst gewählt hat. Ich trauere um ihn. Wir sind nun schon seit geraumer Zeit denselben Weg gegangen. Mal waren wir Verbündete, mal Gegner. Dennoch haben wir einander stets mit dem Respekt behandelt, der dem jeweils anderen gebührte. Jeder von uns war sich bewusst, dass wir beide darauf bedacht waren, das zu tun, was wir letztlich als das Beste für das Königreich ansahen, auch wenn wir uns nicht immer über die Mittel einig waren, die letztlich zu diesem Ziel führen würden. Es war dieser Respekt vor ihm, der mich dazu veranlasste, ihn über meine Pläne zu seiner Absetzung von seinem Amt zu informieren, damit er seine Wahl treffen konnte. Ich bin mit seiner Entscheidung nicht zufrieden, will aber zugeben, das ich so etwas erwartet hatte.”
“Er hätte sich zumindest für Umstände entscheiden können, die meinem Seelenfrieden weniger abträglich sind.” Die harschen Worte entwichen Eryns Mund, bevor sie sie zurückhalten konnte. Sie schloss die Augen. “Können wir vergessen, dass ich das gesagt habe?”, fragte sie mit wenig Hoffnung, dass er ihrer Bitte nachkommen würde. Bei ihrer Ankunft hatte er sich erkundigt, wie es ihr erging, und bis jetzt war sie ihm eine Antwort schuldig geblieben. Dies war die ehrlichste Antwort, die er sich erhoffen konnte.
“Ich nehme an, das hätte er ebenfalls vorgezogen”, antwortete der König und ignorierte ihren Wunsch, ihre Worte zu revidieren. “Wie ich Lord Tyront kenne, hat er nicht einfach die erste Gelegenheit ergriffen, sein Leben zu lassen, um das Risiko, den Krieg zu überleben, zu verringern. Ich nehme an, dass er ursprünglich die Absicht hatte, mehr zum Gesamtergebnis beizutragen. Wie habt Ihr persönlich sein Verhalten in der Schlacht wahrgenommen?”
Sie benötigte einige Sekunden, um über diese Frage nachzudenken. Als sie zurückblickte, sah sie vor ihrem inneren Auge, wie er seinen Männern voran auf den Feind zugerannt war, sein Schwert im Anschlag. Er hatte sich nicht dafür entschieden, zurückzubleiben und alles von der Stadtmauer aus zu dirigieren. “Wagemutig. Bereit, Risiken einzugehen.”
“Sind das Attribute, die Euch üblicherweise in den Sinn gekommen wären, wenn man Euch vor dem Krieg aufgefordert hätte, Lord Tyront zu beschreiben?”
Ohne zu zögern schüttelte sie den Kopf. Definitiv nicht. “Nein.”
“Ein Mann, der nicht nur glaubt, dass er nichts zu verlieren hat, sondern aktiv versucht, das Überleben zu vermeiden, ist in einem Kampf wesentlich unvorsichtiger, wenn es darum geht, sich zu schützen”, wies der König auf das Offensichtliche hin. “Er hat sich nicht entschieden, sein Leben zu opfern, um das Eure zu retten, möchte ich vermuten. Er hat lediglich in der neuen Rücksichtslosigkeit für seine eigene Sicherheit gehandelt, die er sich angeeignet hatte. Ich glaube nicht, dass er die Absicht hatte, Euch mit seinem Opfer Kummer zu bereiten, weder persönlich im Sinne von Schuldgefühlen noch für Euren Ruf aufgrund von Spekulationen über etwaige Ambitionen Eurerseits, sein Leben zu beenden.”
Eryn seufzte. “Natürlich nicht.” Sie kam sich dumm vor, weil sie so etwas laut ausgesprochen hatte, sodass er es mitanhören konnte. Doch wie es gelegentlich mit solchen ungeplanten Äußerungen der Fall war, hatte sie etwas erkannt, dessen sie sich nicht bewusst gewesen war – dass neben ihren Schuldgefühlen auch ein gewisser Groll gegen Tyront in ihr brodelte. Was nicht gesund war, wenn man sich vor Augen führte, dass das Ziel dieser Gefühle verstorben war und nicht als Gegenpart für die Lösung dieses Problems zur Verfügung stand.
Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht. “Ihr seid gut mit solchen Dingen. Ihr könntet Iklan Konkurrenz machen. Solltet Ihr jemals beschließen, dass Ihr keine Lust mehr habt, ein König zu sein, wendet Euch an ihn. Ich bin sicher, er hätte Verwendung für Euch.”
“Ein wirklich verlockender Vorschlag. Ich werde ihn in Betracht ziehen, sollte ich des Regierens jemals überdrüssig werden. Die Trauer und die Schuldgefühle sind etwas, mit dem Ihr selbst zurechtkommen müsst. Doch das Problem, die Loyalität des Ordens zu bewahren, ist eine dringendere Angelegenheit, die eine sehr reale Gefahr für unseren bevorstehenden Feldzug darstellt. Wir können es uns nicht leisten, dass die moralische Integrität der Ordensführer in Frage gestellt wird. Das mindert die Bereitschaft der Soldaten, ihren Befehlen zu folgen.”
Eryn ließ den Kopf zurücksinken und starrte auf die kunstvoll bemalte Decke. Verschiedene Muster, bestehend aus komplizierten blumenartigen Ornamenten, die sich immer wieder ineinander verschlangen, bis die Augen des Betrachters zu verschwimmen begannen bei dem Versuch zu bestimmen, wo ein Element endete und das nächste begann.
“Ihr könntet Enric und mich mit unmittelbarer Wirkung aus dem Orden entlassen und Orrin sofort die Leitung übernehmen lassen”, schlug sie vor.
“Auf keinen Fall”, erwiderte König Folrin. “Das wäre weder in meinem noch in Eurem Interesse. Der Orden würde von einem weiteren Wechsel an der Spitze in einer so kritischen Phase nicht profitieren. Und es käme einem Schuldeingeständnis gleich. Schlimmer noch – entließe ich Euch aus Euren Ämtern, würde ich offen kommunizieren, dass ich Euch dessen für schuldig erachte, was so viele glauben wollen. Und das würde nicht einfach verschwinden, nachdem Ihr den Orden verlassen habt und hierher gezogen seid, ganz gleich, was Eure früheren Verdienste sind oder die Tatsache, dass Ihr ein Abkömmling von Haus Aren seid. Alles, was Ihr in den letzten Jahren erreicht habt, all das Gute, das Ihr für diejenigen vollbracht habt, die es jetzt so eilig haben, Euch zu verurteilen, wird im Angesicht der Anschuldigungen verblassen.”
Eryns Kiefermuskeln verkrampften sich. Sie wollte vor Frustration schreien. Er hatte Recht. Der Orden war Veränderungen unterworfen gewesen, die seinen Mitgliedern im Laufe der Zeit und auch in Zukunft mehr Freiheit gewähren würden – Veränderungen, für die sie selbst gekämpft hatte. Und jetzt drehten sich die Nutznießer ihrer Bemühungen bei der ersten Gelegenheit um und zeigten mit dem Finger auf sie – ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihren Ruf zerstörten, obwohl sie nicht einmal den allergeringsten Beweis vorliegen hatten.
“Es ist schmerzhaft, nicht wahr?” Die Stimme des Königs war sanft. “Das war etwas, das ich in meinen ersten Jahren auf dem Thron nur sehr schwer begreifen konnte. Gerade die Menschen, nach deren Wohlergehen man strebt, sind diejenigen, die einen am liebsten fallen sehen würden – ohne erkennbaren Grund. Sie würden einen in den Staub treten, rücksichtsloser als selbst die eigenen Feinde. Die menschliche Natur ist eine seltsame Sache, nicht wahr? Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb Haus Vel’kim nie die Führung des Landes angestrebt hat – ihre Nähe zu den Menschen aufgrund ihrer Neigung zum Heilen bringt sie in so engen Kontakt mit der menschlichen Natur in ihrer unverfälschten Form, dass sie beschlossen, dass es die Mühe nicht wert ist.”
Eryn lächelte leise. Diese Erklärung würde Valrad mit Sicherheit zurückweisen. Er würde darauf bestehen, dass die wahre Motivation hinter dieser Zurückhaltung etwas Edelmütiges war, etwa der Drang, den Menschen auf eine unmittelbarere Weise zu dienen, den Bedürftigen näher zu sein, als es der Posten eines Triarchen ermöglichte.
“Was schlagt Ihr stattdessen vor, um uns zu rehabilitieren?”
“Daran arbeite ich. Ich möchte es zuerst mit der Königin besprechen und ihre Meinung dazu hören.”
“Es freut mich zu sehen, dass Ihr das Prinzip des gemeinsamen Regierens mit so wenig Aufwand anzunehmen scheint, nachdem Ihr all die Jahre die ultimative Macht allein in Euren Händen hattet.”
Er nickte. “Ich gebe zu, das ist wahr. Aber ich denke, dass es umso einfacher ist, die Macht zu teilen, wenn man die richtige Person an seiner Seite hat. Del’na’bened passt hervorragend zu meiner Persönlichkeit und meiner Position.”
Eryn hob die Brauen. “Das ist gefährlich nahe an einer Liebeserklärung. Es ist gut, dass Malriel so gut für Euch gewählt hat.”
“In der Tat. Ich werde für immer in ihrer Schuld stehen. Obwohl ich darauf hinweisen sollte, dass die Entsendung meiner Truppen zu ihrer Hilfe sicherlich dazu beigetragen hat, diese Schuld etwas zu reduzieren.”
“Sind wir jetzt fertig? Falls nicht, ist es mir ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass es in diesem Land aufgrund der Hitze üblich ist, einem Gast etwas zu trinken anzubieten. Selbst diejenigen, die man lieber mit einer Schaufel schlüge, als sie zu bewirten.”
“Verzeiht meine Nachlässigkeit”, entschuldigte sich König Folrin und stand auf, um den Raum zu verlassen und wenig später mit einem Tablett mit einer Karaffe Wasser und zwei Gläsern zurückzukehren.
Sie nahm die Gläser und füllte beide. Nun, das beantwortete zumindest ihre Frage, ob sie fertig waren oder nicht. Aber sie hatte das Gefühl, dass er vorerst nicht weiter über Tyront sprechen wollte.
“Apropos Gäste, die man am liebsten mit einer Schaufel erschlüge, wie Ihr es in Eurer von mir so geschätzten Offenheit so treffend formuliert habt…”
Nachdem sie das Glas zur Hälfte geleert hatte, stellte Eryn es auf den kleinen Tisch. “Ihr bezieht Euch ganz offensichtlich auf Junar. Ihr habt bereits erwähnt, dass Ihr wisst, was heute Morgen passiert ist. Wer hat Euch davon berichtet? Malriel?”
Er nickte zur Bestätigung. “Ja. Sie kam vor kurzem für einen schnellen Besuch vorbei.”
“Mir war nicht bewusst, dass meine persönlichen Probleme mit einer Frau, die ich einst als Freundin betrachtet habe, eine derart wichtige Angelegenheit sind. Eine, die sogar mein König als bedeutsam betrachtet.”
“Das ist nicht mehr nur eine rein persönliche Angelegenheit, Eryn.”
Dreimal, zählte sie im Stillen. So oft hatte er sie seit ihrer Ankunft ohne ihren Titel angesprochen.
“Wie das, teuerster Folrin?”
“Weil Ihr ein hochrangiges Mitglied des Ordens seid und Junar die Gefährtin der Nummer Fünf und des Oberhauptes der Krieger ist. Der Bruch zwischen Euch ist einigen Leuten bekannt, wenn auch nicht allen. Doch so wie die Dinge zwischen Euch beiden stehen, ist dies nur eine Frage der Zeit. Und gerade jetzt ist ein schlechter Zeitpunkt, um eine solche Tatsache publik zu machen.”
Eryn öffnete den Mund, um zu fragen, wovon er genau sprach, hielt sich aber zurück. Er hatte Recht – sie hatte nicht bedacht, dass sich die Dinge seit den Anfängen ihrer Freundschaft erheblich verändert hatten. Damals war Junar eine unbekannte Näherin gewesen, ein Mitglied der Arbeiterklasse ohne jegliche Verbindungen zu den höchsten Kreisen des Königreichs. Und Eryn eine Gefangene ohne Einfluss oder auch nur die Freiheit zum Durchschreiten der Stadttore. Damals waren die Dinge persönlich. Aber jetzt waren sie viel mehr als das. Junar war mit dem Mann verbunden, der in naher Zukunft zum zweitmächtigsten Mann des Königreichs avancieren würde. Und Eryn befand sich bereits in genau dieser Position – zusätzlich zu ihrem eigenen hohen Rang. Orrin war als enger Freund und Unterstützer Eryns bekannt – und wenn Junar öffentlich ihr Misstrauen bekundete, würden die Leute sofort annehmen, dass dies auch Orrins eigene Position widerspiegelte. Wenn die Menschen dachten, sie hätte Orrins Unterstützung verloren, wäre das ein schwerer Schlag in ihrer gegenwärtigen Situation.
Eryn spürte, wie sich ihre Brust zusammenzog. Von einem Moment zum nächsten war Junar plötzlich gefährlich geworden. Das Problem war, dass sie keine Ahnung hatte, wie Orrin reagieren würde, wenn bekannt wurde, dass Junar an Eryns Unschuld bezüglich Tyronts Tod zweifelte. In der Vergangenheit hatte er sich zurückhaltend gezeigt, war seinem Wunsch gefolgt, Streitigkeiten zu vermeiden, die seiner Meinung nach mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Eryn nahm ihm das nicht übel. Geteilte Loyalitäten waren eine schwierige, zermürbende Sache. Allerdings barg dies die Gefahr, dass er sich weiterhin für diesen Weg entschied, solange seine Gefährtin betroffen war.
“Ich würde ja versuchen, das zu ändern, wirklich”, flüsterte sie. “Aber ich wüsste nicht, wie. Ich habe das Gefühl, dass Junar sich schon seit einiger Zeit von mir entfernt hat, dass es kaum mehr als einer vermeintlichen Beleidigung bedurfte, um auch das letzte Band zwischen uns zu zerschneiden. Das alles ist für mich nicht greifbar, und ich habe keine Ahnung, wie ich es reparieren kann. Nach allem, was zwischen Junar und mir passiert ist, weiß ich nicht einmal, ob ich das überhaupt noch möchte.”
König Folrin beobachtete sie eine Weile, dann bot er ihr an: “Ich könnte Euch vielleicht behilflich sein, wenn Ihr es hören wollt. Zumindest, was die Ursache für die Kluft zwischen euch beiden angeht.”
Sie blinzelte. Gab es irgendetwas, für das er sich nicht interessierte oder über das er keine Informationen sammelte? Aber andererseits war ihr gerade klar geworden, dass ihre Beziehung zu Junar schon lange nicht mehr so unerheblich für ihr Umfeld war, wie sie gedacht hatte. Natürlich hatte er das frühzeitig erkannt und seine Spione entsprechend instruiert – was bedeutete, dass er inzwischen wohl im Besitz einer ansehnlichen Sammlung an Details war.
“Nur zu. Ich bin ganz Ohr”, lud sie ihn ein, resigniert darüber, dass sie nun höchstwahrscheinlich einige Neuigkeiten über ihre frühere Freundschaft erfahren würde. Es war gut, dass sie den Punkt hinter sich gelassen hatte, an dem eine solche Absurdität, wie vom König eine weitere intime Erkenntnis über sich selbst vermittelt zu bekommen, sie beunruhigt hätte.
“Die Antwort ist eigentlich recht einfach. Ich gehe davon aus, dass Ihr selbst zu gegebener Zeit darauf kommen würdet, jetzt, da Ihr Euch und Junar nicht mehr als die einzigen Akteure oder vielmehr Interessenten an Eurer Freundschaft betrachtet. Ihr wisst, in welchen Kreisen sich die Ratsmitglieder und deren Gefährtinnen bewegen. Sie zeichnen sich durch Opportunismus und somit durch das Streben nach vorteilhaften Allianzen aus. Diese reichen von lukrativen Geschäftsbündnissen bis hin zu persönlichen Beziehungen unter den Gefährtinnen der Machthaber. Sogar bis hin zu Beziehungen unter den Dienern und Zulieferern der Reichen und Mächtigen, aber das ist für den vorliegenden Fall nicht relevant. Man stelle sich nun eine Frau vor, die aus bescheidenen Verhältnissen stammt und der es durch bestimmte Umstände gelungen ist, in diese Kreise vorzudringen. In Kreise, deren elitärer Charakter naturgemäß mit einem sehr begrenzten Zugang verbunden ist. Was wäre Eurer Meinung nach eine logische Reaktion solcher Kreise auf einen Neuankömmling, den sie kaum für würdig halten, den sie aber nur schwer oder gar nicht wieder loswerden können?”
“Ablehnung”, murmelte Eryn und erinnerte sich daran, dass dies damals durchaus ein Problem für Junar gewesen war. Deshalb hatte sie bestimmte Veranstaltungen gemieden oder nur dann besucht, wenn Eryn mit ihr gemeinsam dort aufgetaucht war. Aber Eryn war gezwungen gewesen, Anyueel jedes Jahr für sechs Monate zu verlassen, was bedeutete, dass Junar allein zurückgeblieben war, anfällig für alle hinterhältigen Angriffe und Intrigen, die sich diese Frauen ausgedacht hatten. War es das, was Junar letztlich so sehr verändert hatte? Die Bitterkeit, die aus dem Gefühl resultierte, immer wieder zurückgelassen zu werden, ohne den Schutz ihrer mächtigen Freundin?
“Genau. Ablehnung erzeugt den starken Wunsch, akzeptiert zu werden, vor allem, wenn man niemanden hat, an den man sich wenden kann. Ständige Kritik und Ablehnung können dem menschlichen Geist Schlimmes zufügen. Er beginnt, den Dingen, die andere behaupten, Wahrheit zuzuschreiben. Wenn wir etwas oft genug hören, beginnen wir es irgendwann zu glauben – trotz unserer ursprünglichen Überzeugung, dass es unwahr ist.”
Eryn war dieses Konzept bekannt. Es war ein Grund, warum positive Bestätigung und Aufmerksamkeit bei der Erziehung eines Kindes so essenziell waren. Ein Kind, das wusste, dass es geliebt und anerkannt wurde, würde mit der Zeit aufblühen. Während ein anderes, das damit aufwuchs, dass ihm gesagt wurde, es sei wertlos und unzulänglich, sich zu einem Erwachsenen entwickeln würde, dessen Selbstwertgefühl genau darauf basierte.
Der Gedanke, dass Junar eine solche Behandlung erfahren hatte, ließ sie erschaudern.
Der König fuhr fort: “Als diese Frauen schließlich merkten, dass Junar gekommen war, um zu bleiben, änderten sie ihre Strategie. Nachdem sie Junar lange genug mit Unfreundlichkeit traktiert hatten, damit sie glaubte, sie hätte es verdient, war es nicht schwer, sie zu ködern. Je stärker die Ablehnung, desto stärker der Wunsch, ihr zu entkommen und als würdig angesehen zu werden. Die Möglichkeit, sich plötzlich den eigenen Angreifern anschließen zu dürfen, ist nichts weniger als ein wahr gewordener Traum.”
Eryns Herz hatte begonnen, in ihrer Brust zu hämmern. Warum hatte sie nichts von alledem mitbekommen? Immerhin war sie die Hälfte der Zeit vor Ort gewesen!
“Ah, ich kann die Frage in Euren Augen so deutlich lesen, als hättet Ihr sie ausgesprochen. Ich versichere Euch, dass es keinen Grund gibt, Euch Vorwürfe zu machen. Ihr habt die unglückliche Neigung, die Verantwortung für alles und jeden in Eurer Umgebung übernehmen zu wollen. Lasst mich Euch sagen, dass dies keine gesunde Einstellung ist. Sie waren scharfsinnig genug, um ihre Bemühungen hauptsächlich in Eurer Abwesenheit fortzusetzen. Das war die Zeit, in der Junar am empfänglichsten dafür war. Die Trennung von euch beiden war ein wichtiges Ziel. Zunächst war es ein Mittel, um Junar verwundbarer zu machen, aber mit der Zeit wurde ihnen klar, dass Orrin in der Zukunft des Ordens eine wichtige Rolle spielen würde, was bedeutete, dass auch Junars Einfluss zunehmen musste. Zu diesem Zeitpunkt diente Eure Distanzierung von Junar einem anderen Zweck – einem von ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich als enge Freundin von ihr zu etablieren, um Euch zu ersetzen und von dieser Position zu profitieren. Nach mehreren Jahren dieses Spiels bedurfte es schließlich nur noch eines geringfügigen Meinungsunterschieds zwischen euch beiden, um Junar glauben zu machen, dass alles, was man ihr über Euch erzählt hatte, wahr sei.”
Eryn knirschte mit den Zähnen und spürte, wie die Benommenheit allmählich durch Zorn ersetzt wurde. “Was haben sie ihr über mich erzählt?”
“Kleinigkeiten hier und da, zuerst nur Andeutungen, aber mit der Zeit immer dreistere Kritik und schließlich offene Lügen. Dass Ihr Junar benutzt und bei Lord Orrin platziert habt, um sie zu einem wertvolleren Werkzeug für Euch zu machen. Dass Ihr dafür gesorgt habt, dass sie schwanger wurde, um ihre Beziehung zu Lord Orrin zu festigen. Dass Ihr ihr Eure moralischen Werte aufzwingt, weil Ihr sie für nicht viel mehr haltet als für die Gefährtin Eures Untergebenen, die dankbar sein sollte für jede Führung, die sie von einem höheren Wesen wie Euch erhalten kann. Dass sie für Euch ein bequemes Mittel ist, um eine Dienerin zu behalten, die Eure Befehle ausführt und weiterhin Eure Kleider herstellt. Soll ich fortfahren? Ihr wirkt ein wenig aufgewühlt. Atmen, Eryn. Ich möchte weder, dass Lord Enric hier hereinstürmt, weil er vermutet, dass ich wer weiß was mit Euch anstelle, noch würde ich es begrüßen, wenn dieses ansprechende Gebäude mich unter sich begrübe.”
Sie schüttelte den Kopf und spürte, wie ihre Unterlippe zitterte. Diese niederträchtigen, heimtückischen, unmöglichen Aasgeier!
“Es gibt noch etwas, was sie ihr gesagt haben. Etwas, das für sie besonders schwer zu verkraften gewesen sein muss. Man ließ sie glauben, dass Lord Orrins persönliches Interesse an Euch anfangs deutlich weniger harmlos gewesen sei, dass er Euch begehrte. Besonders hinterhältig war es, ihr mitzuteilen, dass er am Abend Eurer Verlobung sogar im Begriff war, Euch für sich zu beanspruchen. Nur das Eingreifen von Lord Tyront hat ihn davon abgehalten. Der letzte Teil von Lord Orrins beabsichtigter Intervention ist die Wahrheit – doch wie Ihr und ich wissen, geschah dies aus ganz anderen Gründen, als mit dem Motiv, Euch für sich zu gewinnen. Er erkannte lediglich, dass Ihr unter Zwang standet und wollte die Zeremonie lange genug hinauszögern, um einen Ausweg zu finden. Eine weitere Tatsache ist, dass Lord Enric eine Zeit lang ziemlich eifersüchtig auf Lord Orrin war, wie Ihr zweifellos wisst. Obwohl wir Eurem Gefährten verzeihen mögen, dass er damals von der Angst angetrieben wurde, Euch zu verlieren. Dass seine Gedanken von Eifersucht getrübt wurden, ist das, was einige Jahre später mit Junar geschah. Jede spielerische und freundliche Interaktion zwischen Lord Orrin und Euch wurde plötzlich zu einer Bedrohung für ihre Beziehung. Vor allem, als Malriel Lord Orrin bat, nach Takhan zu kommen, um Euren Sohn zu beschützen. Ihr dürft den Sternen danken, dass Vedric seinem Vater stark genug ähnelt, als dass sich glaubwürdig behaupten ließe, er sei in Wahrheit Lord Orrins Sohn. Andernfalls würde ich es diesen reizenden Damen durchaus zutrauen, Junar diesen Gedanken in den Kopf zu setzen und zuzusehen, wie er sich entfaltet. Der menschliche Verstand ist eine wunderbare Sache. Er kann im Laufe der Zeit trainiert und gezwungen werden, sich eine bestimmte Art des Schlussfolgerns und Denkens anzueignen. Aus diesem Grund neigen verschiedene Berufsgruppen dazu, ein Problem auf eine bestimmte Art und Weise anzugehen, die der Denkweise entspricht, in der sie ausgebildet wurden. Deshalb machen Euch Eure Fähigkeiten in unterschiedlichen Disziplinen zu einer so begabten Frau, Eryn. Aber vergebt mir, ich schweife ab. Ich wollte darauf hinweisen, dass Junars Verstand mit der Zeit von ganz allein auf bestimmte Verdachtsmomente gestoßen sein muss. Vormals harmlose Dinge müssen sich plötzlich in Hinweise auf ein weiteres finsteres Motiv Eurerseits verwandelt haben – jedes Grinsen eine Beleidigung, jeder vorsichtige Blick eine Kritik, jeder Witz oder Scherz, den Ihr mit Lord Orrin geteilt habt, ein Beweis für sein glühendes Verlangen nach Euch. Und so neigte sich die Waage.”
“Und warum, wenn ich so kühn sein darf, so etwas zu fragen”, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, “habt Ihr es nie der Mühe wert gefunden, mich über solche Dinge zu informieren? Warum habt Ihr zugesehen, wie eine enge Freundin von mir gegen mich aufgewiegelt wurde, anstatt mich zu warnen? War es so unterhaltsam, dabei zuzusehen? Oder profitiert Ihr in irgendeiner Weise von dem Ende meiner Freundschaft mit Junar?”
Irgendwie wurde die Liste der Leute, denen sie an den Kragen wollte, von Minute zu Minute länger. Jetzt befand sich sogar ein König auf der Liste.
“Wie hättet Ihr auf eine solche Warnung von mir reagiert, frage ich Euch?”, meinte er ruhig. “Hättet Ihr ihr sofort Glauben geschenkt? Oder hättet Ihr mich eher verdammt, weil ich Eure Freundin ausspioniert habe? Und mich beschuldigt, ihre Intelligenz zu beleidigen, indem ich ihr unterstellte, sie würde wirklich auf ein solches Komplott hereinfallen, selbst wenn es so etwas Lächerliches gäbe? Hättet Ihr von mir verlangt, dass ich meine Observierung unverzüglich einstelle? Und mein Interesse an Eurer Freundin auf meinen Wunsch zurückgeführt, Informationen zu sammeln, mit dem einzigen Ziel, Euch zu benutzen?”
Eryn wollte aus ganzem Herzen widersprechen. Es tat fast weh, wie sehr sie ihm vorwerfen wollte, dass er sich gründlich irrte. Und es tat noch viel mehr weh, dass sie es nicht konnte, weil er so absolut und vollkommen Recht hatte. Sie wäre wütend geworden, aber auf ihn und nicht auf die fraglichen Frauen. Solange ihre Freundschaft mit Junar intakt war – oder zumindest so lange, wie sie den Eindruck hatte, dass sie es war – hätte alldem keinem Glauben geschenkt.
“Nun gut, nehmen wir an, Ihr hättet Recht und ich hätte in dieser Weise reagiert. Aber eine negative Reaktion meinerseits war für Euch noch nie ein Grund, mir unangenehme Informationen vorzuenthalten. Ganz im Gegenteil. Es macht Euch Freude, mich zu beobachten und zu analysieren, vor allem in meinen weniger kontrollierten Gemütszuständen. Es muss also mehr dahinterstecken.” Sie verengte ihre Augen und starrte in die seinen. “Ihr wolltet, dass ich diesen Verlust erleide, weil Ihr glaubt, dass ich auf diese Weise meine Lektion am effektivsten lerne. Damit ich begreife, dass meine Vorstellung von der Abscheulichkeit, zu der normale, scheinbar harmlose Menschen fähig sind, viel zu naiv ist.”
“Das ist alles zutreffend”, gab der König ungerührt zu. “Doch wenngleich ich dies ursprünglich als reine Bildungsmaßnahme gedacht hatte, erfordern der Tod Lord Tyronts und der Schaden, den Junar anrichten könnte, indem sie ihr Misstrauen gegen Euch öffentlich macht, ein sofortiges Handeln von Eurer Seite.”
Eryn stieß ein hohles Lachen aus. “Gewiss. Denn vor Eurer Enthüllung war ich bereit, sie gewähren zu lassen, zu akzeptieren, dass ich nichts dagegen unternehmen kann, mich zurückzuziehen und meine Wunden zu lecken. Aber jetzt nicht mehr. Das ist nicht das erste Mal, dass Ihr meine Empörung nutzt, um mich zu lenken und zum Handeln zu bringen.” Sie erhob sich von ihrem Stuhl. “Es wird Euch freuen zu hören, dass ich zu handeln gedenke. Ich bin genau in der richtigen Stimmung dafür. Ich weiß noch, wie Ihr mir offenbart habt, mit offenen Karten zu spielen und trotzdem zu gewinnen, sei die Meisterklasse. Glückwunsch! Ein weiterer Sieg für Euch.”
“Nicht so schnell!”, befahl der König barsch und hielt sie davon ab, sich abzuwenden und zur Tür zu stürmen. Er erhob sich von seinem eigenen Stuhl und trat auf sie zu. “Ihr müsst in der Tat handeln. Und Euer Zorn gibt Euch die Energie, die Ihr für diese Konfrontation braucht, auf die Ihr Euch sonst nur widerwillig eingelassen hättet. Doch ich erwarte von Euch, dass Ihr Euren Zorn für Eure Zwecke einsetzt, anstatt Euch von ihm auffressen zu lassen und etwas Unüberlegtes zu tun. Das ist ein Luxus, den Ihr nicht besitzt. Ihr seid noch immer die Nummer Zwei im Orden, und als solche befehle ich Euch, ihn und seinen Ruf zu schützen und ihn für die vor uns liegende Aufgabe funktionsfähig zu halten. Ihr werdet Lord Enric als Begleitung mitnehmen. Das ist ein Befehl. Ihr dürft Euch nun entfernen. Wie ich sehe, haben wir nach all den Jahren immer noch diese kleine Schwierigkeit mit Eurer Unfähigkeit zu warten, bis ich Euch entlasse.”
Ohne ein Wort oder eine Verbeugung wirbelte sie herum und riss die Tür so fest auf, dass die Scharniere beinahe zu Bruch gingen.
“Enric!”, rief sie. “Seine Majestät empfiehlt freundlicherweise, dass wir einen kleinen Gesellschaftsbesuch absolvieren.”
Ihr Begleiter erhob sich mit einer einzigen fließenden Bewegung von den Sitzkissen. Er hatte den Zorn schon seit einigen Minuten durch das Geistesband empfangen und war darauf gefasst, dass ihr Erscheinen mit einer außerordentlich üblen Laune einhergehen würde. Aber das war ganz eindeutig keine Gemütsverfassung, um sie auf jemanden loszulassen.
“Du sollst aber niemanden in seinem Namen ermorden, oder?”, fragte er nur halb im Scherz.
“Nein, aber vielleicht ändere ich meine Meinung darüber während des Besuchs”, knurrte sie, “Du bist aufgerufen mitzukommen und genau das zu verhindern.”
“In Ordnung, das kann ich tun. Wen werden wir mit unserem Besuch beglücken?”
“Junar.”
Er stieß langsam die Luft aus. Nun, das zumindest versprach interessant zu werden.
* * *
Es hatte Haus Tokmar nur wenige Tage abverlangt, seine Hauptresidenz nach den Schäden, die sie während der Kampfhandlungen erlitten hatte, wieder instand zu setzen. Das Oberhaupt des Hauses war mit seiner Familie zurückgekehrt und hatte großzügig angeboten, Orrin und seine Familie für die Dauer ihres Aufenthalts bei sich zu aufzunehmen.
Wäre er allein, so hätte das Oberhaupt der Krieger bei den Soldaten Unterkunft bezogen, doch in Anwesenheit seiner Gefährtin und seiner Tochter war dies unmöglich. Bei Eryn und Enric unterzukommen, kam ebenfalls nicht in Frage, und das aus mehr als einem Grund. Da Pe’tala und die Kinder zurück waren und auch Malhora, Malriel und Valrad dort wohnten, beherbergte die Residenz bereits eine ganze Reihe von Bewohnern. Und dann war da noch die Kleinigkeit, dass Eryn und Junar aus irgendeinem Grund nicht miteinander auskamen, den Orrin immer noch nicht richtig erfassen konnte. Einmal hatte er Junar darauf angesprochen, aber seine Gefährtin hatte ihm etwas entgegengeschleudert und war schließlich in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Weinend. Er hatte nicht noch einmal nachgefragt. Doch nach dem Mittagsmahl vor ein paar Stunden wusste er, dass er dem Sturm trotzen musste, den ein erneuter Ausforschungsversuch voraussichtlich auslösen würde. Die Situation wurde allmählich unerträglich, und er war mit seiner Geduld fast am Ende.
Es klopfte an der Tür des Gästezimmers, das dem er und Junar bewohnten. Er ließ den Bericht, den er gerade las, sinken.
“Orrin?”, erkundigte sich eine Stimme. Weiblich, jung. Die jüngste Tochter von Uvel, dem Oberhaupt von Haus Tokmar.
“Ja, Neád?”, rief er aus.
“Du hast Besuch”, informierte sie ihn durch die geschlossene Tür.
Er stand auf, öffnete die Tür und blickte auf die hübsche Sechzehnjährige herab. “Danke.”
Auf dem Weg zum Hauptraum runzelte er die Stirn beim Anblick der Gruppe von Leuten, die dort warteten. Sie verhießen keine guten Nachrichten. Zumindest Eryn nicht. Sie versprühte Ärger. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb ihr Begleiter sie so genau im Auge behielt. Außerdem waren Golir und Iklan anwesend. Der Triarch wirkte verwirrt, als wäre er hierher gerufen worden, ohne dass man ihm mitgeteilt hätte, was es damit auf sich hatte. Und der Heiler legte eine fröhliche Neugier an den Tag, als wüsste er auch nicht genau, was er zu erwarten hatte, freute sich aber darauf, es herauszufinden.
Eryns Blick blieb an Orrin hängen. “Wo ist Junar?”, fragte sie ohne Begrüßung, ihr barscher Tonfall schon beim ersten Wort deutlich.
“Draußen im Garten mit Téa”, antwortete Orrin, dessen Besorgnis mit jeder Sekunde wuchs. “Ist irgend etwas nicht in Ordnung?”
“Ja”, antwortete sie nur, ohne eine weitere Erklärung abzugeben, und wandte sich dann an Uvels Tochter. “Wie viele von deiner Familie sind derzeit zu Hause?”
“Nur ich und mein Bruder”, antwortete das Mädchen. “Meine Eltern sind in der Residenz der Landreds, um dort vor dem Bankett noch etwas zu trinken.”
“Gut.” Eryn zog zwei Goldstreifen aus einer Tasche. “Nimm deinen Bruder und Téa und geht in ein Teehaus eurer Wahl. Kauft, was immer ihr wollt. Bleibt mindestens zwei Stunden weg. Ist das möglich?”
Neád nickte, leicht verwirrt, aber keineswegs ablehnend gegenüber einer Einladung in ein Teehaus. Sie lief los, um an eine Tür zu klopfen, woraufhin ein junger Mann erschien, der knapp älter war als sie selbst. Er hörte ihr einen Moment lang zu, zuckte dann mit den Schultern und folgte ihr in den Garten.
Es dauerte nicht lange, bis Junar durch die Terrassentür in den Hauptraum stürmte. Der unerwartete Anblick der Neuankömmlinge ließ sie einen Moment innehalten, dann marschierte sie auf ihren Gefährten zu und verlangte zu wissen: “Sie sagen, sie wollen Téa in ein Teehaus ausführen – was hat das alles zu bedeuten?” Sie deutete mit dem Kinn auf Eryn. “Will sie das? Hat sie jetzt auch noch das Sagen in unserer Familie? Darf sie entscheiden, mit wem unsere Tochter ausgeht? Nachdem sie sie erst vor ein paar Stunden niedergestreckt hat?”
“Wäre es dir lieber, wenn sie bleibt?” fragte Eryn kühl. “Ich bin sicher, sie wird ihren Freunden eine tolle Geschichte erzählen können, wenn ihr wieder in Anyueel seid.”
Junar sah Golir an, dann Iklan. “Was soll das hier?”
Eryn ignorierte sie und gab Neád und ihrem Bruder, der Téas Hand in der seinen hielt, ein Zeichen, zur Treppe und nach draußen zu gehen. Erst als sich die Eingangstür mit einem hörbaren Geräusch geschlossen hatte, trat Eryn auf Junar zu.
“Ich hatte gerade ein höchst aufschlussreiches Gespräch mit König Folrin und kann es kaum erwarten, meine neuen Erkenntnisse mit dir zu teilen.”
“Ich habe überhaupt kein Interesse an deinen Erkenntnissen, also kannst du genauso gut gehen und mich in Ruhe lassen”, zischte Junar. “Ich habe genug von deinen Machtspielchen! Verschwinde!”
“Worum geht es hier, Eryn?” Orrin schloss sich seiner Gefährtin mit der Forderung nach einer Erklärung an.
Eryn wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. “Orrin, du musst mir vertrauen. Ich schwöre dir, dass ich ihr nichts antun werde. Aber wir haben hier eine Situation, die eingedämmt werden muss. Und ein Problem, das schon seit geraumer Zeit dringend angegangen hätte werden müssen. Sie wird protestieren und vielleicht sogar versuchen zu fliehen, aber du musst mich fortfahren lassen.”
Der Krieger sah ihr einen langen Moment in die Augen, presste dann die Lippen aufeinander und nickte kurz. “Lass mich das nicht bereuen.”
“Das werde ich nicht”, versprach sie.
“Orrin!” wimmerte Junar, “Du kannst ihr nicht trauen! Wenn du all die Dinge wüsstest, die ich…”
“Ja, Junar”, unterbrach Eryn sie, “tatsächlich bin ich deshalb hier – um über die Dinge zu sprechen, von denen du überzeugt bist, sie über mich zu wissen. Ich bin sehr daran interessiert, darüber etwas zu erfahren.”
Junars Augen weiteten sich vor Panik. “Orrin! Du musst mich beschützen!”
“Das wäre nicht sehr sinnvoll, fürchte ich”, zuckte Eryn mit den Schultern. “Du weißt doch, dass ich stärker bin als er. Aber ich kann dich beruhigen – derjenige, der dafür verantwortlich ist, dich vor allen bösen Anwandlungen zu beschützen, die mich spontan überkommen könnten, ist Enric. Und die Tatsache, dass wir auch einen Triarchen und einen angesehenen Heiler hier haben, sollte dir zeigen, dass ich kaum vorhabe, dir Schaden zuzufügen. Und wenn dir das nicht Beruhigung genug ist, kannst du dich darauf verlassen, dass man mich im Anschluss zumindest streng bestrafen würde.” Eryn deutete auf die Sitzkissen hinter Junar. “Warum setzt du dich nicht?”
Junar verschränkte die Arme und blieb mit starrem, feindseligem Blick stehen.
“Na gut, dann steh, wenn du das vorziehst. Aber du wirst mir erlauben, mich zu setzen.” Eryn wählte ein buntes Kissen und lehnte sich zurück. Mit einer trägen Bewegung ihrer Finger zog sie Barrieren vor jedem Fenster und jedem Ausgang hoch, um Junar an einem vorzeitigen, unerwünschten Abgang zu hindern.
“Im Moment machst du keinen besonders kooperativen Eindruck, und da ich nicht die Absicht habe, dich einem gewaltsamen Verhör zu unterziehen, schlage ich Folgendes vor: Ich werde reden, während du zuhörst. Und wenn ich fertig bin, tauschen wir.”
“Ich habe nicht die geringste Absicht, zu…”
“Junar – bitte. Ich habe Orrin versprochen, dir nichts zuleide zu tun. Dazu stehe ich. Aber ich muss dir sagen, dass ich die Beeinträchtigung deiner Stimmbänder für eine kurze Weile nicht als Leid für dich ansehen würde. Entweder hältst du den Mund oder ich bringe dich dazu.”
Die Schneiderin presste die Lippen zusammen und hielt sich mit einer Hand die Kehle zu, als ließen sich ihre Stimmbänder auf diese Weise irgendwie schützen.
“Wo war ich? Ah, ja – eine Geschichte. Ich muss dich warnen – es ist keine fröhliche Geschichte. Nun, vielleicht am Anfang. Aber sie wird schnell genug düster. Das Gute daran ist, dass das Ende noch nicht feststeht, es also noch Hoffnung gibt. Bist du bereit? Ich verstehe diesen tödlichen Blick als Aufforderung, anzufangen. Also, legen wir los. Vor einigen Jahren wurde in einem nicht allzu weit entfernten, aber dennoch nicht gerade um die Ecke liegenden Königreich eine Frau gefangen genommen. Nicht, weil sie etwas verbrochen hatte, sondern weil sich herausstellte, dass sie nicht aus der Gegend stammte. Als man dann auch noch herausfand, dass sie Magie beherrschte, eine Fähigkeit, die man bei Frauen für unmöglich hielt, wurde sie freundlich gebeten, ihren Aufenthalt in der Hauptstadt des Königs zu verlängern. Freundlich gebeten ist ein Euphemismus dafür, dass man sie in goldene Fesseln legte und sie im Schwertkampf ausbilden ließ, weil man dachte, es wäre eine feine Idee, sie in ihrem Verein für kleine Jungen zu haben. Da sie nicht wusste, ob sie jemals wieder freigelassen werden würde, ertrug sie die Hiebe mit den Schwertern und die Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit. Nur zwei Dinge hielten sie davon ab, wahnsinnig zu werden – die Aussicht, eines Tages ihren Entführern zu entkommen, und die beiden Freunde, die sie gefunden hatte. Der erste Freund war ein Junge mit gutem Herzen und dem erstaunlichen Talent, die wunderbarsten Bilder zu malen, die man sich vorstellen kann. Und der zweite war eine Frau mit der Fähigkeit, aus einfachen Stoffballen die unglaublichsten Kleider zu zaubern. Ihr Leben war nicht immer glücklich verlaufen, doch sie hatte sich in ihrem Herzen immer noch genug Güte bewahrt, um aus einer Geste der Dankbarkeit für die Heilung ihrer Schwester eine Freundschaft mit einer Gefangenen entstehen zu lassen. Die Magierin war überglücklich, denn sie erlebte zum ersten Mal in ihrem Leben das Geschenk, nicht nur einen, sondern zwei Freunde zu haben, wo sie doch mehr als zwei Jahrzehnte lang gezwungen gewesen war, sich von allen Menschen fernzuhalten, um das Geheimnis ihrer Magie zu wahren. Die Freundschaft zwischen der Magierin und der Schneiderin wuchs stetig und verband sie mit einem Band, das beide sehr schätzten. Doch die Dinge begannen sich zu ändern. Die Magierin wurde in das Land geschickt, aus dem sie ursprünglich stammte, und traf dort auf eine Familie, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte und die sie so verzweifelt zurückhaben wollte, dass sie versuchte, sie zum Bleiben zu bewegen. Hin- und hergerissen zwischen den beiden Ländern, wurde sie schließlich gezwungen, zwischen ihnen hin- und herzureisen und ihre Zeit zu gleichen Teilen aufzuteilen. Die beiden Frauen wussten es noch nicht, aber dieses Arrangement sollte sich als das Hindernis erweisen, an dem ihre Freundschaft zerbrechen würde. Es geschah nicht mit einem Schlag, sondern allmählich im Laufe der Zeit. Denn jedes Mal, wenn die Magierin mit ihrer Familie das Königreich für mehrere Monate verlassen musste, musste die Schneiderin bei den anderen Frauen zurückbleiben, von denen sie ohne eigenes Verschulden abgelehnt wurde. Sie schikanierten und beleidigten sie, gaben ihr das Gefühl, nicht würdig zu sein, zu ihnen zu gehören, in den Kreis aufgenommen zu werden, den sie für so erlaucht hielten. Jedes Mal, wenn die Magierin in das Königreich zurückkehrte und die beiden Freundinnen wieder vereint waren, zogen sich die böswilligen Frauen wieder zurück und warteten geduldig, bis die Magierin wieder abreiste, um erneut ihr Gift zu verbreiten. Die Schneiderin war eine sanftmütige Seele, die unter dieser Behandlung litt, bis sie zu resignieren anfing und den Worten Glauben schenkte, die sie über sie sagten und sie glauben ließen, sie sei weniger würdig als die anderen. Sie sehnte sich nach einem Zeichen der Anerkennung, und in der Abwesenheit der Magierin fühlte sie sich so verloren und allein, dass sie sogar nach einem Gefühl der Zugehörigkeit unter den gemeinen Frauen suchte. Da der Gefährte der Schneider ein mächtiger und angesehener Mann war, begannen sie zu begreifen, dass es auf Dauer nicht zielführend war, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Es war viel erfolgversprechender, sie bei sich aufzunehmen und ihren Einfluss zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Also begannen sie, sie zu einer von ihnen zu machen. Doch dazu musste sie ihre Verbindung zu der Magierin kappen, die bisher nur hilflos zugesehen hatte, wie sich ihre Freundin immer weiter von ihr entfernte, ohne zu wissen, was die Kluft zwischen ihnen immer weiter vergrößerte. Die bösen Frauen waren listig in ihren Bemühungen. Sie erzählten der Schneiderin Lügen. Und in Lügen verpackte Wahrheiten. Alles, um sie dazu zu bringen, die Gültigkeit des Freundschaftsbandes zwischen den beiden Frauen in Frage zu stellen. Für nichts davon gab es Beweise, und doch gelang es ihnen, in der Schneiderin den Samen des Zweifels zu säen. Sie fütterten sie mit immer mehr Unwahrheiten, bis die Saat aufging und die Frau sogar in ihrem eigenen Kopf begann, diese Lügen und diesen Verrat zu vermuten, wo es in Wahrheit keine gab.”
Eryn hielt inne und sah Junar an, die mit aufgerissenen Augen und wer atmend dastand.
“Hör auf damit”, flüsterte sie, dann wandte sie sich an ihren Gefährten und flehte: “Orrin! Bitte!”
Doch die Augen des Kriegers hatten sich verengt, und sein eindringlicher Blick sprang von Eryn zu Junar und wieder zurück. “Welche Lügen?”, fragte er nur.
Eryn blickte zur Decke empor. “Dass die Magierin die Schneiderin nie wirklich als ihre Freundin betrachtet, sondern sie lediglich als Spielball für ihre eigenen Zwecke benutzt hat. Sie schaffte es, sie emporzuheben, indem sie dafür sorgte, dass sie mit einem hochrangigen Magier verbunden wurde. Dann plante sie insgeheim, ihre Bindung zu festigen, indem sie ihnen ein Kind aufzwang. Sie erzählten ihr, dass ihr Gefährte sich in Wahrheit nach der Berührung der Magierin sehnte, was in der Schneiderin die Angst weckte, ihren Geliebten zu verlieren, und sie mit Eifersucht erfüllte. Jede Interaktion zwischen ihrem Gefährten und der Magierin wurde in ihren Augen zum Beweis für deren heimliche Liebe.”
Orrins Gesichtsausdruck hatte sich verfinstert, als er sich langsam Junar zuwandte. Er bewahrte den Abstand zwischen ihnen, als könnte er sich selbst nicht trauen, dass er ihr nichts antun würde.
“Ist das wahr, Junar? Hat man dir solche Dinge über mich erzählt? Dinge, die du freiwillig glaubst?” Sein Ton war so leise, dass nur die völlige Stille im Raum das Verstehen der Worte ermöglichte.
Junars Mund öffnete und schloss sich einige Male, aber es kam kein Wort heraus.
“Ich verstehe”, kommentierte der Krieger und drehte sich um, um zur Treppe zu gehen. Ein starker Blitz aus einer Handfläche ließ Eryns Schild zusammenbrechen. Er war nicht besonders stark, denn sein Zweck bestand darin, eine Nichtmagierin am Fortgehen zu hindern.
“Orrin”, hauchte Junar und wollte ihm nachlaufen, aber Eryn errichtete eilig einen weiteren Schild direkt vor ihr, um sie zurückzuhalten. “Nein, du bleibst. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Enric, bitte geh Orrin hinterher.”
“Lass mich raus!” jammerte Junar. “Ich muss ihm folgen! Ich muss mit ihm reden, es ihm erklären!”
“Du hast es bereits so lange versäumt, mit ihm zu reden”, erwiderte Eryn unbarmherzig. “Ich bin sicher, das kann noch eine halbe Stunde warten. Außerdem habe ich den Eindruck, dass er gerade jetzt eine Auszeit von dir braucht. Lass uns zu unserer Geschichte zurückkehren, ja? Bist du sicher, dass du dich nicht setzen willst?”
“Ich will mich nicht setzen!”, schrie sie Eryn an. “Ich muss hinter Orrin her! Lass mich gehen!” Sie wirbelte zu Golir herum. “Golir! Du bist stark – bitte hilf mir! Hol mich hier raus! Bitte!”
Der Triarch sah besorgt aus und wusste offensichtlich nicht, wie er reagieren sollte. Junar befand sich ganz eindeutig in großer Aufregung und wurde festgehalten, doch Eryn hatte ihm mitgeteilt, dass sie ihn hier brauchte, um eine erhebliche Gefahr für die Loyalität des Ordens gegenüber seinen Anführern und damit für einen erfolgreichen Abschluss ihres Feldzugs gegen Pirinkar zu beseitigen. Bis jetzt verstand er nicht, wie genau die Vorgänge an diesem Ort darauf Einfluss haben sollten, aber er war Malriels Tochter den Vertrauensvorschuss schuldig.
“Ich denke, du solltest sie anhören, Junar”, antwortete der Triarch leise.
“Ich will nichts mehr von ihren Lügen hören”, schluchzte die Schneiderin.
Eryn auf den Sitzpolstern klatschte zweimal in die Hände. “Golir, das war dein Stichwort. Ich entschuldige mich dafür, dass ich mich in meiner Botschaft an dich etwas kryptisch ausgedrückt habe. Der Grund, warum du hier bist, ist, einen Lügenfilter auf mich anzuwenden und Junar damit zu beweisen, dass meine Geschichte keinerlei Lügen enthält.” Als Junar sie anstarrte, fügte sie hinzu: “Ich bin davon ausgegangen, dass du diese Aufgabe weder Enric noch Ram’an anvertrauen würdest, die zwar beide stärker als ich sind, mir aber auch sehr nahe stehen. Bleibt noch Golir, der keinen Grund hat vorzugeben, ich würde die Wahrheit sprechen, wenn es nicht der Fall ist. Falls du Golir nicht für eine verlässliche Person hältst, um die Wahrheitssperre anzuwenden, rate ich dir, einen guten Grund zu finden, um seine Integrität in Frage zu stellen. Immerhin ist er ein verdammter Triarch.” Sie hob ihre Hand in Richtung Golir und wartete, bis er sie in die seine genommen hatte und seine Magie einsetzte, um den Wahrheitsblock zu errichten. “Nun, Junar, das ist deine Gelegenheit. Frag los. Ich kann dich nicht anlügen, sondern nur die Antwort verweigern. Was an sich schon aufschlussreich genug sein kann, wenn du die richtigen Fragen stellst. Ich bin jetzt in deinen Händen.”
“Woher weiß ich überhaupt, dass das funktioniert?” fragte Junar in misstrauischem Tonfall.
Iklan trat eifrig vor. “Ich glaube, ich kann dir hier helfen, wenn du es erlaubst.” Er lächelte Eryn an. “Du bist für deinen Sohn eine Vereinbarung für ein Kommitment mit der jüngsten Tochter von Haus Arbil eingegangen. Trägst du dich mit der ehrlichen Absicht, alles in deiner Macht Stehende zu tun, um die Erfüllung dieser Vereinbarung zu unterstützen?”
Eryn starrte ihn verblüfft an. “Du bist hier, um zu helfen, verdammt!”
“Ich helfe doch!”, protestierte der Heiler.
“Nein, du bringst mich in Schwierigkeiten! Wir befinden uns in der Gegenwart eines Triarchen, falls dir das entgangen sein sollte!”
Iklan grinste. “Genau aus diesem Grund nehme ich an, dass du deine vermutlich kontroverse Antwort lieber für dich behalten möchtest. Gibt es einen besseren Weg, die Wirksamkeit des Lügenfilters zu demonstrieren, als eine Wahrheit zu erzwingen, die du sonst vor einem Triarchen nicht preisgeben würdest?”
Eryn schloss für einen Moment die Augen und seufzte. “Du bist ein brillanter Mann, Iklan, aber im Moment mag ich dich nicht besonders. So sei es denn. Nein, ich habe nicht die Absicht, meinen Sohn zu überreden, sich aus keinem anderen Grund als dem des finanziellen Wohlstands und der Erzeugung starker Nachkommenschaft mit einer Frau verbinden zu lassen.”
Golir schürzte die Lippen. “Das bedeutet, dass du bei der Triarchie eine Kommitmentvereinbarung eingereicht hast, die du mit voller Absicht brechen wirst. Ich denke, wenn das alles vorbei ist, werden du, Ram’an und ich uns hinsetzen und ein langes Gespräch führen.”
Eryn knirschte mit den Zähnen, dann sah sie zu Junar auf. “Zufrieden?”
Die Schneiderin nickte und kam näher. “War irgendetwas an deiner Geschichte falsch, absichtlich irreführend oder übertrieben?”
“Nein”, antwortete Eryn sofort.
Junar schluckte. “Woher hast du diese Informationen?”
“Das sagte ich bereits – ich hatte ein Gespräch mit dem König. Er hat mir von all dem erzählt. Jeder weiß, dass er ein dichtes Netz von Spionen hat, die jeden Happen an Informationen sammeln, den er für nützlich halten könnte.”
“Der König spioniert mir nach?”
“Ja.”
“Warum?”
“Weil du die Gefährtin eines wichtigen Ordensmagiers bist. Des nächsten Ordensführers, um genau zu sein.” Und drei weitere Personen, die beiläufig über diese kleine Tatsache informiert wurden…
Junar starrte sie an. “Was?”
“Orrin wird befördert werden, sobald der Krieg vorbei ist.”
“Aber… aber… was ist mit Enric?”
“Enric und ich sind dabei, nach Takhan umzuziehen. Ich trete erneut Haus Aren bei und werde dessen Oberhaupt.”
Es folgten ein paar Sekunden, während derer die Schneiderin diese Neuigkeit verdaute. “Du wirst Anyueel für immer verlassen? Und auch den Orden?”
“Ja. Nun, ich werde natürlich für gelegentliche Besuche zurückkehren. Aber Enric, Vedric und ich werden für immer nach Takhan umziehen.”
“Aber der Tod von Tyront…” Nun nahm Junar endlich Platz. “Warum ihn töten, wenn du nicht einmal im Orden bleibst?”
Eryn atmete langsam aus. “Junar, ich sage dir das mit dem höchsten Maß an Respekt, das mir derzeit möglich ist – nämlich gar keinem: Du bist offensichtlich von allen guten Geistern verlassen. Sonst würdest du begreifen, dass es absolut keinen Sinn macht, dass ich Tyronts Tod geplant haben soll, wenn weder ich noch mein Gefährte in der Lage sind, davon zu profitieren. Ganz zu schweigen davon, dass ich die Tatsache, dass du mir einen kaltblütigen Mord zutraust, nicht besonders schmeichelhaft finde.”
“Hast du jemals ein Verlangen nach Orrin verspürt?” fragte Junar nun scharf.
“Ja, öfter, als ich zählen kann.” Als Junar nach Luft schnappte, fügte Eryn hinzu: “Das Verlangen, ihn zu erdrosseln, zu treten, aus dem Fenster zu werfen… im Grunde die ganze Palette an Gewaltfantasien, die eine Gefangene hegt, wenn sie sich Tag für Tag zahlreiche blaue Flecken einhandelt.”
“Was ist mit Orrin?”
“Ich kann nicht für Orrin sprechen, aber ich kann dir sagen, dass ich nie auch nur einen einzigen Moment den Eindruck hatte, dass er ein unangemessenes Interesse an mir hat. Er behandelt mich so sehr wie eine Tochter, dass mein eigener Vater eifersüchtig war, als er uns zum ersten Mal zusammen sah.”
Junars Gesicht war eine Maske des Elends.
“Obwohl wir beide wissen, dass es nach Orrins Reaktion vorhin ziemlich überflüssig war, mir diese Fragen zu stellen”, fügte Eryn hinzu.
“Ich würde ihm nachgehen, aber jemand hält mich in diesem Raum gefangen!” zischte Junar.
“Ja. Weil du und ich mit dem hier noch nicht fertig sind.”
“Was soll ‘das hier’ denn sein? Willst du mich etwa zwingen, mich bei dir zu entschuldigen? Das werde ich nicht! Einiges von dem, was sie mir erzählt haben, mag falsch gewesen sein, aber anderes, was ich selbst bemerkt habe, ist es ganz sicher nicht! Du hast mich immer dafür verurteilt, wie ich meine Tochter erziehe! Nur weil ich nicht so streng und unbarmherzig mit meiner Tochter umgehe, wie du es mit deinem Sohn tust!”
“Deine Tochter hat keine Manieren und nimmt wenig Rücksicht auf die Wünsche anderer Menschen – das ist eine Tatsache. Aber das ist nicht mein Problem, sondern deins und mit der Zeit auch ihr eigenes. Wenn du glaubst, dass du den perfekten Weg gefunden hast, um ein Kind zu erziehen, dann mach nur weiter! Wer bin ich, dass ich dir sagen könnte, was du tun sollst? Ich erlaube mir jedoch, von ihr zu verlangen, dass sie sich in meinem Haus an bestimmte Regeln hält, so wie dies auch für jedes andere Kind, das mich besucht, gilt.”
“Deine Grausamkeit gegenüber deinem eigenen Sohn wird ihn eines Tages zu einem gewalttätigen Mann machen – einem äußerst gefährlichen Mann mit seinen immensen magischen Kräften!”
Eryn ließ ihren Kopf nach hinten kippen. “Bist du ganz allein auf diese wunderbare Theorie gekommen oder haben dich deine intriganten Freundinnen entsprechend beraten?” Sie runzelte die Stirn, als Junar nur die Lippen zusammenpresste, ohne zu antworten. Eryn starrte sie an. “Du machst wohl Witze! Sag mir nicht, dass du Ratschläge zur Kindererziehung von Frauen annimmst, die vielleicht eine halbe Stunde am Tag damit verbracht haben, ein wenig mit ihren Kindern zu spielen und dann die eigentliche Arbeit an Dienerinnen delegiert haben? Ist das wirklich die Quelle, aus der du deine Informationen beziehst? Es ist leicht, ein nachsichtiger Spielkamerad für seine Kinder zu sein, wenn die Dienerinnen diejenigen sind, die streng sein müssen, wenn sie ihnen beibringen, keine Steine gegen Fenster zu werfen, die Hände vom Feuer fernzuhalten oder sich vor dem Schlafengehen ordentlich zu schrubben. Das ist nicht die Art von Mutter, die ich bin – und du bist es auch nicht! Wenn wir die gesamte Arbeit alleine machen, müssen wir sie auch disziplinieren!” Sie warf die Hände in die Luft. “Das ist lächerlich! Ernsthaft, warum diskutiere ich das überhaupt mit dir? Mach mit deiner Tochter, was du willst! Es gibt etwas viel Wichtigeres, worüber ich sprechen sollte. Nämlich, dass die Tatsache, dass du dein Gehirn ausgeschaltet hast, um andere für dich denken zu lassen, dich in der gegenwärtigen Situation gefährlich macht. Wenn du nicht den Mund hältst über die Dinge, von denen man dir erzählt, dass ich sie getan habe, um die teuflischen Pläne voranzutreiben, die ich anscheinend umzusetzen gedenke, wird der Orden bald im Chaos versinken, weil die Magier Enric und mir nicht mehr vertrauen. Wenn du den Orden und die Menschen, die er schützen soll, nicht schätzt, dann denke wenigstens an deinen Gefährten. Bedenke, dass er wahrscheinlich nicht einen Trümmerhaufen übernehmen will.”
“Was? Ich…”
“Du bist derzeit eine Belastung, Junar! Für deinen Gefährten, für den Orden und für die Westlichen Territorien! Wenn du etwas Dummes sagst, dann wird man annehmen, dass Orrin diese Meinung teilt.” Auf Junars erschrockenen Blick hin fügte sie hinzu. “Ich kenne das Gefühl, glaub mir. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu lernen, dass ich mich nicht so leicht von Leuten manipulieren lassen darf, die mich gegen Enric benutzen wollen. Aber als Gefährtin des zukünftigen Ordensführers ist das etwas, was du lernen musst! Und zwar möglichst sofort. Als erstes musst du dich vom Einfluss dieser Frauen befreien! Sie sind genauso schlimm wie ihre Gefährten, bei denen man allerdings darauf vorbereitet ist, ihnen zu misstrauen.”
“Ich… ich… das ist alles zu viel!” Tränen liefen Junar über die Wangen. “Du sagst, sie haben mich die ganze Zeit angelogen… aber… was, wenn… ich meine…”
Eryn befreite sich aus Golirs Griff. “Danke, Golir, du warst eine große Hilfe.” Dann sah sie Iklan an. “Ich glaube, jetzt bist du an der Reihe. Kannst du ihr dabei helfen, ihr Gehirn wiederzufinden?” Sie klopfte mit den Fingerknöcheln gegen Junars Kopf. “Es müsste noch irgendwo da drin sein.”
“Das war extrem unsensibel”, jammerte Junar zwischen immer heftigeren Schluchzern.
Eryn nickte und erhob sich. “Ja, ich weiß. Es war ein langer Tag, und ich muss noch eine langweilige Abendveranstaltung hinter mich bringen. Dafür muss ich mir meine ganze Sensibilität aufsparen. Sprich mit Iklan. Wenn dir jemand helfen kann, zu dir selbst zu finden, dann ist er es. Ich schlage vor, dass du dich für das heutige Bankett entschuldigst. Ich muss nach Hause und mich in die Lady verwandeln, von der jeder weiß, dass ich es nicht bin. Auf Wiedersehen, Junar.”
Sie flüchtete geradezu aus dem Haus und spürte, dass sie erst wieder richtig atmen konnte, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Das war intensiv und anstrengend gewesen. Außerdem hatte sie keine Ahnung, ob Junar am Ende zur Vernunft kommen würde oder ob sie es vorzog, wieder in diesen zerstörerischen, aber bequemen Zustand zu verfallen, sich von anderen leiten zu lassen.
Sie hoffte, dass Enric noch bei Orrin war. Der Krieger neigte dazu, sich zu betrinken, wenn er schwierige Nachrichten hörte. Da er im Gegensatz zu Junar nicht den Luxus hatte, sich von dem langweiligen Abendessen freizumachen, musste er sich entweder in Zurückhaltung üben oder auf nicht allzu sanfte Weise ausgenüchtert werden.
* * *
“Ist dir aufgefallen, dass es viel einfacher wird, sich zu betrinken, je älter man wird?” sinnierte Enric, während er auf ein kleines, buntes Glas mit winzigen künstlerischen Gravuren starrte. Es handelte sich um ein Etablissement der gehobenen Klasse, in dem die Gläser teuer waren, denn die Getränke waren kostspielig genug, um die Kosten für das gelegentlich durch eine unkoordinierte Bewegung zerbrochene Stück zu decken.
Er erinnerte sich dunkel daran, dass das winzige Glas vor einem Moment noch voll gewesen war.
“Ja”, erwiderte Orrin, “und wenn du das bemerkt hast, kannst du davon ausgehen, dass mir das schon vor langer Zeit aufgefallen ist. Ich bin einige Jahre älter als du.”
“Weißt du, ich glaube, der Altersunterschied wird weniger signifikant, je älter man wird”, trug Enric weise bei und konzentrierte sich darauf, seine Zunge dazu zu bringen, die Worte richtig zu formen. Er war stolz darauf, dass signifikant überhaupt nicht undeutlich geklungen hatte.
“Ist das so?”
“Sicher. Weißt du noch, als ich dein Schüler war? Zwanzig Jahre waren damals ein enormer Unterschied. Sie haben den Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem ausgemacht. Heutzutage sind wir beide erwachsen und haben eine Familie. Im Orden waren Alter und Erfahrung nie ein wichtiges Kriterium für die Vergabe hoher Ränge. Welche Rolle spielt es also in unserem Fall?”
“Sich zu betrinken ist heute viel preiswerter als früher”, stellte Orrin fest und schloss damit den Kreis zu Enrics früherer Bemerkung.
“Im Allgemeinen ist das doch gar nicht so schlecht, oder? Ich meine, das ist gespartes Geld und kommt somit der Familie zugute.”
“Ja, die Familie…” Orrin lehnte den Kopf zurück und leerte sein eigenes kleines Glas. “Genau die Leute, die die Macht haben, dich mit ein paar Worten zu vernichten.”
Durch den Dunst des Alkohols erkannte Enric, dass es ihm gelungen war, was er eigentlich erreichen wollte – nämlich Orrin dazu zu bringen, über dieses Thema zu sprechen. Bei Orrin erforderte das immer ein gewisses Maß an Zeit und Geduld. Und einen Grad der Berauschung, der ihn in einen Zustand versetzte, in dem er nicht mehr so wortkarg war wie sonst und in dem er sich wohl genug fühlte, um seinen Kummer zu teilen.
Er wog seine Möglichkeiten ab. Im Idealfall würde er sich eine Minute Zeit nehmen und in der Toilette verschwinden, um zumindest einen Teil des Alkohols loszuwerden und mit ein wenig Heilmagie einen klaren Kopf zu bekommen. Doch damit war die Gefahr verbunden, dass Orrin bei seiner Rückkehr nicht mehr gesprächig sein würde.
Also würde er bleiben und sein Bestes tun, um ein halbwegs sinnvolles Gespräch mit dem Krieger zu führen, in der Hoffnung, dass er sich hinterher an das meiste davon erinnern konnte.
Er hob die Hand, um den Blick einer der adretten Kellnerinnen zu erhaschen, die darauf bedacht waren, ihre wohlhabenden Gäste mit allem zu versorgen, was sie wünschten.
“Ja, Enric?”, fragte ihn eine Schönheit mit dunkelgrünen Augen mit einem verführerischen Lächeln. “Was kann ich für dich tun?”
Beeindruckend, dachte Enric. Sie machten sich sogar die Mühe, die Namen ihrer Gäste herauszufinden.
“Eine Karaffe Wasser, bitte. Und alles, was ihr auf Lager habt, um den Leuten beim Ausnüchtern zu helfen.”
“Kommt sofort.” Sie berührte leicht seinen Unterarm und hob eine anzügliche Augenbraue. “Wir könnten deinen leicht beschwipsten Zustand aber auch nutzen, wenn du das möchtest. Wir haben sehr gemütliche kleine Zimmer im hinteren Bereich.”
Enric starrte sie einen Moment lang an. “Ich wusste gar nicht, dass ihr diese Art von Dienstleistung hier anbietet!”
“In manchen Fällen können wir das”, säuselte sie. “Kann ich dich für meine Gesellschaft erwärmen, Enric? Ich war noch nie mit einem hellhaarigen Mann zusammen.”
“Du kennst meinen Namen. Weißt du zufällig auch, mit wem ich verbunden bin?”, fragte er beiläufig und fand diese Unterhaltung äußerst amüsant.
“Nein… ich gebe zu, ich weiß es nicht. Man nennt uns nur die Namen unserer Gönner”, antwortete sie.
“Du hast sicher schon von Maltheá von Haus Aren gehört, nehme ich an?”
Die junge Frau schluckte. “Aren? Malriels Tochter?”
“Genau die. Ihre Großmutter, Malhora, hat einen Weinkeller in die Luft gesprengt, als sie ihren betrügerischen Gefährten dort vorfand”, informierte er sie.
Das Lächeln der Kellnerin hatte einen etwas kränklichen Ausdruck angenommen. “Dann werde ich mich wohl besser damit begnügen, dir etwas zu trinken zu servieren.”
Enric nickte bedächtig. “Eine sehr umsichtige und lebenserhaltende Entscheidung.”
Orrin schnaubte, nachdem die junge Frau eilig abgezogen war, als befürchte sie, Enric könnte es sich anders überlegen und noch auf das doch recht riskante Angebot eingehen.
Da der Krieger schwieg, überlegte Enric, wie er auf das Thema Junar zurückkommen sollte und wie sehr ihr Misstrauen gegenüber ihrem Gefährten Orrin erschüttert hatte.
“Ich erinnere mich, wie ich Eryns Zellentür abschließen ließ und ihre Habseligkeiten in mein Quartier im Palast brachte. Das war ein paar Tage vor unserem Kommitment auf diesem Ball. Aber sie zog bei dir ein und nicht bei mir, und ich war so eifersüchtig, dass ich dich am liebsten erwürgt hätte.”
“Ein törichter Gedanke. Ich hatte niemals irgendwelche derartigen Absichten.”
“Das weiß ich jetzt. Aber damals habe ich beobachtet, wie sich ihr Hass auf dich in etwas ganz anderes verwandelt hat, wie sie zu dir gerannt ist, als sie eine Bleibe brauchte. Und mein Neid und meine Eifersucht taten ihr Übriges. Genau wie in Junars Fall, obwohl es so aussieht, als hätte sie viel Hilfe dabei gehabt, zu diesem Schluss zu kommen.”
Mit einem dankbaren Lächeln erhielt er von einem jungen Mann eine gebogene Glasflasche mit Wasser und ein passendes Glas sowie ein weiteres kleines Glas, das dem bereits vor ihm stehenden ähnelte. Der Inhalt allerdings roch und sah deutlich anders aus. Wie eine Art Kräutermischung. Er zuckte mit den Schultern und kippte es hinunter. Immerhin hatte er etwas bestellt, das ihm helfen sollte, nüchtern zu werden. Die zähflüssige Substanz schmeckte bitter und hinterließ auf dem Weg zu seinem Magen ein leichtes Prickeln, was darauf schließen ließ, dass bei ihrer Herstellung irgendeine Art von Magie zur Anwendung gekommen war.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er die Wirkung zu spüren begann. Zunächst verspürte er einen kurzen Anflug von Übelkeit, der aber schon einen Moment später wieder verschwunden war und ihn mit einem heftigen Verlangen nach Wasser zurückließ. Als sich sein Kopf nicht länger benebelt anfühlte, zwang er sich, Wasser in ein Glas zu schenken, anstatt die Flasche einfach an die Lippen zu heben und sie in einem Zug zu leeren. Das war ein mächtiges Gemisch, dachte er, und fragte sich, ob die Urheber vielleicht bereit wären, ihm das Rezept für eine großzügige Summe zu überlassen. Das war etwas, das er auf jeden Fall in Anyueel vermarkten konnte.
“Ich hatte keine Ahnung, dass sie so behandelt wird”, murmelte Orrin und starrte mit leerem Blick vor sich hin. “Sie hat nie etwas gesagt. Aber sie hätte zumindest nicht glauben dürfen, was sie über mich geredet haben. Ich habe ihr nie einen Grund gegeben, an meiner Zuneigung oder Treue zu zweifeln. Sie hätte mich damit konfrontieren müssen.”
Enric zuckte mit den Schultern und füllte sein Wasserglas nach. “Ich weiß nicht. Viele Menschen würden lieber davon absehen, die Person direkt anzusprechen, von der sie vermuten, dass sie sie betrogen hat.” Erfreut stellte er fest, dass er wieder in der Lage war, ausgefeiltere Formulierungen zu benutzen. Allerdings musste er aufpassen, dass er Orrin nicht verlor, der für einen Fremden zwar nicht betrunken wirkte, aber für Enrics geschultes Auge durchaus Anzeichen von Alkoholeinfluss erkennen ließ. Wie beispielsweise ausladendere Handgesten.
Der Krieger presste die Handballen beider Hände gegen seine geschlossenen Augen. “Ich habe mit dem Gedanken gespielt, sie zu verlassen.”
Enric nahm einen weiteren Schluck Wasser, um seinen Schock zu überspielen. Orrin war ihm immer als besonders solider Mann erschienen, als jemand, der es eher vorzog zu leiden, als das zu missachten, was er als seine Pflicht ansah.
“Ich habe keine Angst davor, Téa allein großzuziehen. Das habe ich schon einmal geschafft.” Er atmete aus und ließ seine Hände wieder sinken. “Es gab so viele Situationen, in denen ich keine andere Möglichkeit sah, als zu schweigen, nachdem Junar wieder einmal etwas Unverschämtes gesagt hatte. Ich weiß, dass ich den Eindruck erweckt haben muss, dass ich ihr zustimme. Schweigen hat den Nebeneffekt, dass es manchmal als Zustimmung fehlinterpretiert wird. Ich habe es gehasst. Es war sogar noch unangenehmer als die Diskussionen mit Junar zu Hause, die nach jedem solchen Vorfall folgten. Dennoch war ich hin- und hergerissen, ob ich meiner Gefährtin beistehen oder mich auf Eryns Seite stellen sollte, die gewöhnlich das Ziel ihrer hasserfüllten Bemerkungen war. Eryn hat mir mein Schweigen nie übel genommen, hat mich nicht dafür verurteilt, dass ich Junar nicht öffentlich ermahnt habe. Zumindest nicht offen. Ich möchte gar nicht daran denken, wie enttäuscht sie wahrscheinlich war. Auf jede einzelne dieser Begebenheiten ist ein Streit gefolgt, sobald Junar und ich allein waren.”
Enric hörte schweigend zu, betrübt darüber, dass Orrins Beziehung zu seiner Gefährtin in den letzten Jahren so sehr gelitten hatte, dass er sogar in Erwägung zog, sie zu verlassen. Und er bedauerte, dass ihm das entgangen war. Orrin war immer ein verschlossener Mensch gewesen, der sich nur unter besonders schwierigen Umständen öffnete. Eryn war diejenige, die den besseren Einblick zu haben schien, doch das änderte sich, nachdem Junar mit ihr gebrochen hatte.
“Und jetzt bin ich wieder einmal hin- und hergerissen.” Er hob sein Glas über seinen Kopf, ohne aufzublicken, in der Gewissheit, dass ihn sicher jemand bemerken würde. Kaum zehn Sekunden später wurde sein leeres Glas gegen ein volles ausgetauscht. “Ich bin erleichtert, endlich zu wissen, was hinter all dem steckt. Und ich bin wütend darüber, was sie Junar angetan haben, wie sie sie behandelt haben. Sie hat mir gegenüber nie etwas davon erwähnt. Das macht mich wütend auf Junar. Einmal, weil sie mir nicht genug vertraut hat, um mit mir über den Kummer zu sprechen, den sie ihr bereitet haben, und noch mehr, weil sie diese ungeheuerlichen Dinge über mich und Eryn geglaubt hat. Ich möchte glauben, dass ich Junar nie einen Grund gegeben habe, an meinen Gefühlen für sie zu zweifeln.”
“Es ist nicht ganz so einfach, fürchte ich”, seufzte Enric. “Du und ich, wir sind in einer Welt aufgewachsen, wo selbst denen zu vertrauen, die man für Freunde hält, ein Luxus ist, den man sich gut überlegen muss. Auf Eryn und Junar trifft das nicht zu. Eryn musste das rasch lernen, und das tat sie auch. Nicht ohne Rückschläge, wie du nur zu gut weißt. Das Problem ist, dass du davon ausgegangen bist, dass Junar von diesen Spielen verschont bleibt, weil sie nicht direkt in all das verwickelt ist. Ich gebe zu, ich selbst bin ebenfalls verblüfft, wozu die Gefährtinnen unserer edlen Kollegen fähig sind. Ich konnte Eryn wenigstens im Umgang mit den Ratsmitgliedern helfen, aber mit den Frauen dahinter wäre ich überfordert gewesen. Du solltest Junar nicht böse sein, dass sie ihren Intrigen zum Opfer gefallen ist, sondern überlegen, wie du ihr helfen kannst, sich aus diesem Sumpf zu befreien. Die Dinge werden nicht gerade einfacher für sie werden, wenn du den Orden erst übernommen hast.”
Orrin nickte mürrisch. “Ja, du hast Recht. Es ist nicht fair, ihr die Schuld zu geben. Doch was soll ich deiner Meinung nach tun? Sie in politischer Strategie unterweisen lassen?”
Enric schürzte die Lippen, als er über diese Idee nachdachte, obwohl Orrin sie eindeutig nicht ernst gemeint hatte. “Weißt du, das ist eigentlich gar kein so schlechter Gedanke. Wer weiß? Als Gefährtin des künftigen Ordensführers wird der König ihr vielleicht selbst die eine oder andere Lektion erteilen, so wie er es mit Eryn getan hat.”
“Ich sollte zu ihr zurückkehren. Es gibt vieles, worüber wir reden müssen.”
“Nicht heute Abend, fürchte ich. Wir haben kaum Zeit, uns für das Festmahl fertig zu machen.”
Der Krieger starrte ihn an. “Wir können heute Abend nicht zu dem Bankett gehen! Ich bezweifle ernsthaft, dass Junar dazu in der Lage ist, nachdem Eryn mit ihr fertig ist.”
“Deshalb hat sie auch Iklan mitgebracht. Er wird sich um Junar kümmern. Wir werden sie entschuldigen. Aber du mußt dabei sein. Du bist eine Schlüsselfigur bei all dem, und die Leute müssen sich daran gewöhnen, dich zu sehen. Wenn du meine Nachfolge antrittst, sollte das neue Oberhaupt des Ordens ein Gesicht sein, das den wichtigen Leuten hier bereits bekannt ist, und nicht nur den Soldaten, die du in die Schlacht geführt hast. Das Bankett ist eine ideale Gelegenheit dafür.”
Orrin schnitt eine Grimasse. “Ich bin nicht in der Verfassung, an einem solchen Abend teilzunehmen. Sieh mich an!”
Enric hob erneut einen Arm, um einen Angestellten dieses Etablissements herbeizurufen, und nur einen Moment später erschien vor ihm derselbe junge Mann wie zuvor. Von der jungen Dame, die ihm zuvor ihre Gesellschaft angeboten hatte, war nichts mehr zu sehen.
“Noch so ein ernüchterndes Gebräu für meinen Freund hier”, befahl er, und wenig später wurde Orrin ein weiteres kleines Glas gereicht. Bevor der Mann wieder gehen konnte, ergriff Enric seinen Unterarm. “Ich habe mich gefragt, ob der Besitzer dieses charmanten Lokals hier bereit wäre, über eine Kopie des Rezepts für dieses sehr hilfreiche Getränk zu verhandeln. Ich bin bereit, einen guten Preis zu zahlen.”
“Ich fürchte, sie wäre dazu nicht in der Lage, selbst wenn sie es wünschte”, antwortete der Kellner mit sichtlichem Bedauern. “Wir mischen es nicht selbst, sondern lassen es uns regelmäßig von unserem Lieferanten zustellen.”
“Und wer ist dieser Lieferant?”
“Das wäre Haus Vel’kim.”
Enric lachte amüsiert auf. Ja, natürlich. Heilende Kräuter und Magie. Das hätte er sich denken können.
Er gab ein großzügiges Trinkgeld und erhob sich von seinem Kissen. “Ich danke dir.”
“Sie haben das Rezept noch nie verkauft, soweit ich weiß”, warnte der junge Mann. “Und sicher nicht, weil es an Interessenten mangelt.”
Orrin kippte ein Glas Wasser hinunter, dann antwortete er: “Ich glaube, sie sind im Begriff, eine Ausnahme zu machen.”
Enric nickte. Entweder das, oder Vran’el würde einen höheren Preis für bestimmte Waren aus Anyueel zahlen müssen, mit denen sein Haus gerne handelte.
* * *
“Ihr seid spät dran”, kritisierte Eryn den Ordensleiter und das Oberhaupt der Krieger, ohne ihre Lippen zu bewegen, während sie ihr Lächeln aufrechterhielt. “Keine gute Sache in diesem Land.”
“Die Wahl war entweder das oder betrunken und verschwitzt aufzutauchen”, konterte Enric. “Aber da das Festessen noch nicht begonnen hat und Orrin und ich sehr wichtige Personen sind, wird man uns vermutlich verzeihen.”
“So funktioniert das hier nicht, und das weißt du auch. Je höher deine Position in der Gesellschaft ist, desto eher wird von dir erwartet, dass du ein Vorbild für die Einhaltung der lokalen Werte bist.”
Er seufzte. “Ich nehme alles zurück.” Er hob ihre Hand an seine Lippen. “Verzeih uns, oh Hüterin des angemessenen Verhaltens, zu der du plötzlich mutiert bist.”
“Enric, Orrin.” Malriels Stimme veranlasste sie, sich umzudrehen. Sie trug eines von Eryns Kleidern und begrüßte die Neuankömmlinge mit einem Lächeln, das nicht bis zu ihren Augen reichte. “Wie schön, dass ihr euch uns anschließt. Ich habe mich schon gefragt, welche dringenden Angelegenheiten euch aufgehalten haben mögen.” Der Stachel war besser versteckt als in dem deutlicheren Vorwurf ihrer Tochter, aber dennoch nicht zu überhören.
Einen Augenblick später ertönte der Gong, der das Ende des zwanglosen Beisammenseins der Gäste ankündigte und ihnen signalisierte, dass sie sich in den Nebenraum begeben sollten, in dem man das Abendessen auftragen würde.
Orrin hob seinen Arm, damit Eryn ihn ergreifen konnte, während Malriel den von Enric akzeptierte.
“Wie geht es dir?” fragte Eryn den Krieger leise, während sie zu den Doppeltüren schlenderten, die von zwei Dienern offen gehalten wurden.
“Ich erfreue mich bester Gesundheit”, antwortete er mit übertriebener Förmlichkeit. “Und selbst?”
Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. “Zwing mich nicht, dir wehzutun. Wie ging es Junar, nachdem du von der Sauftour zurückgekehrt bist, auf der dich mein Gefährte begleitet hat?”
“Sie hat sich noch mit Iklan unterhalten, als ich zurückkam. Das ist ein gutes Zeichen, nehme ich an.”
“Auf jeden Fall. Iklan hat eine Art, die Dinge hervorzuholen, die man lieber für sich behalten oder nicht wahrhaben will.”
Sie näherten sich den Sitzgelegenheiten. Anders als bei ihrem allerersten Bankett hier vor mehr als sieben Jahren waren die Kissen und Tische nicht in Form eines Halbmondes angeordnet, sondern in Form des Buchstabens U.
“Gibt es jemanden, den du meiden oder neben dem du sitzen möchtest?” fragte Orrin.
“Bring mich da rüber, zu dem Mann in der schwarzen Tunika.”
“Welcher? Es gibt zwei.”
“Der mit den silbernen Stickereien an den Ärmeln und um seinen Hals.”
Der Krieger runzelte die Stirn. “Moment… Ist das nicht das Oberhaupt von Haus Roal?”
“Ja, genau der.”
“Ich glaube nicht, dass du dich zu ihm setzen solltest. Du erinnerst dich doch daran, dass sein Haus und dasjenige, das du übernehmen sollst, nicht gerade freundschaftlich miteinander verkehren? Willst du Malriel wieder provozieren? Ich dachte, ihr beide würdet euch jetzt gut verstehen.”
Eryn seufzte. “Warum fragst du mich überhaupt, wo ich sitzen möchte, wenn du nicht bereit bist zu tun, was ich sage?”
“Vielleicht hatte ich für heute genug Aufregung und würde einen ruhigen Abend ohne Feindseligkeiten vorziehen.”
“Ich verspreche, dass ich nicht die Absicht habe, Malriel Kummer zu bereiten. Dies ist lediglich eine günstige Gelegenheit, um Amgil von Haus Roal beiläufig darauf hinzuweisen, dass es vielleicht einen Weg gibt, die Spannungen zwischen unseren Häusern zu unserem beiderseitigen Vorteil beizulegen.”
“Also gut. Lass Malriel aber unbedingt wissen, dass es nicht meine Idee war, mich neben ihn zu setzen, sondern dass ich hier nur deine Anweisungen befolgt habe.”
“Sag mir nicht, dass du Angst vor der zierlichen, eleganten Malriel hast, mächtiger Krieger?”, kicherte sie.
“Vor etwa einer Stunde hat sich ein hübsches kleines Ding Enric angeboten. Er ließ den Namen Aren fallen, und das arme Ding floh und kehrte nicht mehr zurück. Ich werde sicher nicht den Fehler machen, mich mit denen anzulegen.”
Eryn wollte gerade fragen, in welchem Lokal sie getrunken hatten, in dem solche Optionen auf der Getränkekarte standen, schluckte aber ihre Frage herunter, da sie nun nahe genug waren, um von anderen Gästen gehört zu werden.
Ihr Blick fiel auf das Oberhaupt von Haus Roal, das ihre Annäherung mit einer Mischung aus Neugierde und Besorgnis beobachtet hatte.
Sie lächelte ihn an. “Amgil, erlaubst du mir, mich zu dir zu setzen?”
Er legte den Kopf schief. “Es wäre mir ein Vergnügen, Eryn. Oder wünschst du nun wieder mit Maltheá angesprochen zu werden?”
“Eryn wird für den Moment ausreichen.”
Eryn ignorierte die überraschten Blicke um sie herum. Sie hatte sich tatsächlich entschlossen, sich zu den eingeschworenen Feinden von Haus Aren zu setzen, obwohl es noch genügend andere Plätze gab. Auch wenn sie offiziell kein Mitglied des Hauses war, so sollte sie als ehemaliges Mitglied doch genug Respekt davor zeigen, um sich nicht mit jenen einzulassen, zu denen das Haus Abstand bewahrte.
“Darf ich fragen, welchen glücklichen Umständen ich das Privileg verdanke, heute Abend deine Gesellschaft genießen zu dürfen?”
Sie lächelte Amgil an und dachte, dass es ihr zum Vorteil gereichen könnte, so viele Zeugen zu haben. Vorausgesetzt, er war mehr an einem lukrativen Arrangement interessiert, als diese Gelegenheit zu nutzen, um allen zu zeigen, dass er keine Angst davor hatte, die Tochter der mächtigen Malriel zu verärgern. Was in Anbetracht der Umstände nicht allzu schlau wäre. Malriel war noch nie in ihrem Leben so mächtig gewesen wie zu diesem Zeitpunkt, und die anderen Anführer der Häuser verkehrten nur ungern mit Verbündeten, die nicht zumindest ein Mindestmaß an Besonnenheit an den Tag legten.
“Ich habe an meine Zusammenarbeit mit deinem Bauunternehmen vor einigen Jahren gedacht.”
Er nickte. “Das Waisenhaus. Ich erinnere mich selbstverständlich.”
“Ich war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und jeder, mit dem ich spreche, bestätigt, dass dein Haus die beste Qualität bietet, wenn es um Bauarbeiten geht.”
Amgil lächelte milde. “Ich verstehe. Und da sowohl die Aren Residenz als auch Malhoras Anwesen wieder aufgebaut werden müssen, möchtest du die Dienste des besten Anbieters, den du finden kannst, in Anspruch nehmen. Und vielleicht die Gelegenheit nutzen, um allen – auch oder gerade deinen Vorgängerinnen – zu zeigen, dass du keine Angst hast, von ihren Prinzipien abzuweichen und neue Wege einzuschlagen?”
Eryn seufzte innerlich. Alle ahnten also schon, was noch nicht offiziell war: dass sie im Begriff war, Haus Aren zu übernehmen. Und wenn man bedachte, dass er mit seiner Vermutung richtig lag, machte es wenig Sinn, etwas anderes zu behaupten. “Es mag dich enttäuschen, aber meine Motivation ist etwas weniger kompliziert. Ich möchte lediglich Zugang zur besten Qualität haben, die es gibt, anstatt mich mit der zweitbesten zu begnügen. Warum sollte ich Nachteile in Kauf nehmen, die sich aus Konflikten ergeben, an denen weder du noch ich selbst je persönlich beteiligt waren? Du bist dir aber ebenso wie ich bewusst, dass mir ein kleines Hindernis im Weg steht. Oder besser gesagt, in unserem Weg, denn auch dein Haus würde davon profitieren.”
“Du spielst nicht zufällig auf die Rolle an, die mein Haus in Bezug auf gewisse Anschuldigungen bezüglich des Todes deines Großvaters gespielt hat, oder etwa doch?” Er warf einen kurzen Blick in Richtung der Stelle, an der Malriel saß, als wolle er herausfinden, ob sie wusste, was ihre Tochter im Schilde führte.
Eryn spürte, wie die Stimmung leicht kippte. Sein Verhalten hatte sich auf subtile Weise verändert. Es war mehr ein Gefühl als etwas, das sie genauer hätte benennen können.
“Stimmt”, bestätigte sie ruhig und wartete auf das, was als Nächstes kommen musste.
“Soweit ich weiß, war das Verhalten meines Hauses in dieser Angelegenheit nicht zu beanstanden. Es wurde ein Verbrechen begangen, und wir haben darauf bestanden, dass es untersucht wird – unabhängig davon, ob ein Oberhaupt eines Hauses das Vergehen begangen hat. Ich weiß, dass Haus Aren dazu eine andere Auffassung hatte – und sehr wahrscheinlich immer noch hat. Ich erinnere mich, dass die Akten des Falles anscheinend… irgendwann verloren gegangen sind.”
Ihre Augen verengten sich. Sie war sich ihrer Zuhörerschaft bewusst. Alle hier wussten mit Sicherheit oder vermuteten zumindest stark, dass sie im Begriff war, die Leitung von Haus Aren zu übernehmen, so dass es eigentlich keine Rolle spielte, dass sie derzeit noch nicht in dieser Funktion agierte. Was immer sie jetzt tat oder sagte, würde Konsequenzen für ihr Haus haben, so dass es kaum einen Unterschied machte, ob sie bereits eingesetzt worden war oder nicht. Sie war gerade herausgefordert worden, und ihre Reaktion darauf würde darüber entscheiden, ob einige der anwesenden Oberhäupter von Häusern, die diesem kleinen Wortwechsel jetzt gespannt zuhörten, auch in Zukunft bereit sein würden, ihre Beziehungen zu Haus Aren aufrechtzuerhalten oder nicht.
“Wie wäre es mit einer kleinen Wette, Amgil?”, antwortete sie ruhig und mit einem leisen Lächeln.
“Eine Wette, kleine Maltheá?” Jetzt provozierte er sie, indem er sie zuerst fragte, welchen Namen er benutzen sollte, nur um dann zu dem anderen zu wechseln.
“Du bist vielleicht zehn Jahre älter als ich? Nicht, dass ich irgendeinen Altersunterschied für bedeutend genug hielte, um mich von jemandem herablassend behandeln zu lassen.” Sie warf einen trägen Blick in Malriels Richtung, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen. Sie hatte oft genug bewiesen, dass sie nicht einmal bereit war, sich von der mächtigen Malriel von Haus Aren mit Herablassung behandeln zu lassen.
“Ich entschuldige mich”, erwiderte Amgil mit einem Lächeln und zeigte sich wieder charmant. “Dann erzähl mir von der Wette, die du im Sinn hast.”
“Wenn ich dir beweise, dass das Verhalten meiner Großmutter in Bezug auf das Ableben ihres Gefährten über jeden Zweifel erhaben war und dass dein damaliges Oberhaupt des Hauses nur aufgrund der unbegründeten und unwahren Behauptungen einer jungen Frau gehandelt hat, wirst du dich öffentlich entschuldigen und Wiedergutmachung in Form eines großzügigen Rabatts auf den Bau von drei Aren-Anwesen leisten.”
Seine Augen verengten sich. “Wenn du solche Beweise in der Hand hast, warum hat Malhora sie nicht schon vor fünfunddreißig Jahren vorgelegt?”
“Wer sagt, dass sie es nicht getan hat? Nimm meine Wette an, Amgil, und ich werde dir alles sagen, was du wissen willst, um deinen Fehler zu erkennen.” Sie beugte sich zu ihm, nah genug, um den schwachen Duft seiner Seife zu riechen. “Du hast jetzt keine andere Wahl. Du kannst meiner Herausforderung nicht aus dem Weg gehen, ohne wie ein Feigling dazustehen. Außerdem biete ich dir nichts Geringeres als die Wahrheit an. Und solltest du dich weigern, sie zu prüfen, weil du fürchtest, dass das fragwürdige Verhalten deines Vorgängers aufgedeckt wird, wird das deinem Ruf weit mehr schaden, als wenn du mutig das Risiko eingehst, dass er sich geirrt haben könnte und tust, was angemessen ist – nämlich Haus Aren zu entschädigen. Du weißt, dass mein Angebot mehr als großzügig ist.” Sie lehnte sich wieder zurück. Laut genug, damit die interessierten Zuhörer sie hören konnten, fragte sie: “Was sagst du, Amgil? Haben wir eine Wette? Oder hast du Grund, die Wahrheit zu fürchten?”
“Gewiss nicht, Maltheá. Ich freue mich darauf, die von dir versprochenen Beweise vorgelegt zu bekommen.”
Eryn hob ihre Hand und lud ihn ein, sie zu ergreifen. “Es wird mir ein Vergnügen sein. Sollen wir die Vereinbarung besiegeln?”
Einen Moment später lag Amgils leicht kühle Hand auf der ihren, dann floss Magie, um ein Kommitment erster Ebene zu errichten, mit dem sie einander versicherten, dass beide Parteien die ehrliche Absicht hatten, die Wette zu ehren.
Nachdem dies geschehen war, lehnte sich Eryn mit allen Anzeichen von Zufriedenheit zurück und erlaubte Amgil, ihr eine Portion des Essens zu reichen, das die Diener zu bringen begonnen hatten.
Er hielt die Schüssel noch einen Moment länger fest, als sie danach griff, um sie entgegenzunehmen. “Warum willst du drei Gebäude errichten lassen, Maltheá, wenn nur zwei zerstört wurden?”
“Auf unserem kleinen Hügel hier in Takhan wird es zwei Wohnsitze geben statt eines einzigen”, erklärte sie.
Er lachte aufrichtig und amüsiert. “Ich würde dir schon allein deshalb einen beträchtlichen Preisnachlass gewähren, um beobachten zu können, wie das Zusammenleben von dir und Malriel in so unmittelbarer Nähe verläuft.”
Eryn zog die Schale an sich, als er sie endlich losließ, und widerstand dem Drang, ihm den Inhalt über den Kopf zu kippen.
* * *
“Malriel sieht ein wenig angespannt aus, wie ich nicht umhin komme zu bemerken”, kommentierte Vran’el mit einem Anflug von unangebrachter Heiterkeit. “Aber ich muss sagen, dass sich Eryn gut genug geschlagen hat. Ich gehe davon aus, dass sie wirklich im Besitz der Beweise ist, die sie angeblich vorlegen kann? Alles andere wäre immens töricht gewesen. Wir schätzen das Selbstvertrauen unserer Hausoberhäupter, aber nicht, wenn es auf Treibsand aufbaut.”
Enric nickte. “Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Inzwischen solltest du wissen, dass deine Schwester keine leeren Versprechungen macht. Oder Drohungen, was das betrifft.”
Es gab mehr als eine Möglichkeit, Amgil gegenüber Malhoras Unschuld zu beweisen. Die erste war, Malhora einem Wahrheitsfilter zu unterziehen. Das würde ihr zwar keineswegs zusagen, aber sie würde dem wahrscheinlich zustimmen, da eine Verweigerung der Kooperation zur Bestätigung eines Abkommens, das die zukünftige Anführerin ihres Hauses eingegangen war, den Namen Aren beflecken würde. Die Chancen standen jedoch gut, dass dies nicht notwendig sein würde. Es war zwar zutreffend, dass man die Akten vor dreieinhalb Jahrzehnten hatte verschwinden lassen, aber er bezweifelte sehr, dass sie vernichtet worden waren. Es war viel wahrscheinlicher, dass sie weggeschlossen waren – beispielsweise in dem Kellergewölbe unterhalb der Aren Residenz, das glücklicherweise von der oberirdischen Zerstörung verschont geblieben war.
“Es gibt etwas, das ich dich fragen wollte”, wandte er sich an den Bruder seiner Gefährtin. “Orrin und ich haben ein Lokal gleich hinter der alten Künstlerakademie besucht. Dort wurde uns ein sehr interessantes Gebräu serviert. Eines, das unsere Köpfe in kürzester Zeit wieder klar hat werden lassen. Es war, als würden wir innerhalb weniger Minuten sämtliche Phasen der Ausnüchterung durchlaufen – und das bei nur sehr leichten Symptomen. Mir wurde gesagt, dass Haus Vel’kim der Lieferant ist. Warum habe ich davon nichts gewusst? Und warum habe ich dich mehr als einmal unter den Folgen von übermäßigem Alkoholgenuss leiden sehen, wenn du im Besitz eines solchen Rezeptes bist?”
Vran’el lachte leise. “Ja, es ist fantastisch, nicht wahr? Ich bin erst vor kurzem über diesen kleinen Schatz gestolpert. Ich habe vor etwa zwei Jahren begonnen, die alten Unterlagen aus der Zeit meines Vaters als Oberhaupt des Hauses durchzusehen. Detaillierte Aufzeichnungen über Verträge, Berichte von jedem unserer Unternehmen, angenommene und abgelehnte Projekte… Unter letzteren fand ich einen Brief, der das Rezept enthielt. Eine meiner vielen Cousinen hatte es sich ausgedacht und es Vater als Geschäftsmöglichkeit präsentiert. Er hat es abgelehnt. Du weißt ja, wie er darüber denkt, die unangenehmen Folgen von übermäßigem Trinken wegzuheilen und die Leute lieber darunter leiden zu lassen, damit sie ihre Lektion lernen. Wenn man alt genug ist, um zu trinken, ist man auch alt genug, um die Konsequenzen zu tragen”, ahmte er seinen Vater nach.
Valrad, der nicht weit von ihm entfernt saß, drehte den Kopf und warf seinem Sohn einen skeptischen Blick zu, da er offensichtlich seine eigenen Worte wiedererkannte und nicht besonders erfreut darüber war, sie mit diesem genervten Unterton zitiert zu hören.
“Du solltest vielleicht etwas leiser sprechen”, murmelte Enric.
Vran’el zuckte mit den Schultern. “Zum Glück bin ich zu alt für Ausgangsverbote. Also, wo war ich?”
“Valrad hat den Vorschlag deiner Cousine abgelehnt.”
“Ah, ja. Wie du dir sicher vorstellen kannst, war ich begeistert. Ich habe mich mit ihr in Verbindung gesetzt und sie gebeten, den drei Häusern, die entsprechende Etablissements betreiben, ein paar Flaschen als Kostprobe zur Verfügung zu stellen.” Er schmunzelte. “Alle drei wollten das Rezept sofort kaufen, und dann kamen noch weitere Angebote dazu. Ich habe natürlich abgelehnt und stattdessen begonnen, Kaufverträge auszuhandeln. Der große Vorteil ist, dass jeder es anwenden kann, ohne einen Magier zur Hand zu haben – oder darauf angewiesen zu sein, dass dieser bereit ist, zu helfen, anstatt einem mit einem Anflug von Überlegenheit beim Leiden zuzusehen.” Er blickte mit missmutiger Miene in die Richtung seines Vaters.
“Ich stimme zu, das ist ein sehr nützliches Mittel. Deshalb wollte ich mit dir über den Kauf des Rezepts sprechen. Natürlich nicht für den ausschließlichen Gebrauch. Oder besser gesagt, nur für den exklusiven Gebrauch in Anyueel. Ich wäre bereit, einen guten Preis zu zahlen und biete dir darüber hinaus eine Gewinnbeteiligung an.”
Vran’el grinste. “Und warum sollte ich ein solches Angebot annehmen, wenn ich mein wundersames Heilmittel genauso gut an die Händler von Anyueel verkaufen und sowohl mein Rezept als auch den gesamten Gewinn behalten könnte, anstatt nur einen Anteil daran zu erhalten?”
Enric lächelte. “Weil ich auch nach meinem Weggang aus Anyueel einige meiner Geschäfte dort weiterführen und ein gutes Verhältnis zu König Folrin pflegen werde. Ich kann dir versichern, dass du auf unüberwindliche Hindernisse stoßen wirst, wenn du versuchst, in diesen Markt einzutreten. Zum Beispiel das Problem, jemanden zu finden, der deine Produkte transportiert, da ich derzeit noch im Besitz des einzigen Reedereibetriebs in Anyueel bin und einen Anteil an allen Unternehmen in Takhan besitze, die nach Anyueel verschiffen. Und selbst wenn es dir gelänge, jemanden zu finden, der deine Ware nach Anyueel bringt, würdest du feststellen, dass der Hafen sich weigert, deine Fracht zu übernehmen. Ich habe den Wiederaufbau des Hafens finanziert, nachdem wir den Handel mit eurem Land aufgenommen haben, also habe ich auch dort einen gewissen Einfluss.”
“Verdammt noch mal, Enric! Gibt es irgendetwas, wo du nicht mit drinhängst?”
Enric schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. “Derzeit? In dem Verkauf deines Zaubertranks, aber ich hoffe, dass ich das ändern kann. Was soll es denn nun sein, Vel’kim? Eine profitable Zusammenarbeit mit mir oder ein frustrierender Alleingang? Falls du dich für Letzteres entscheidest, mach dich darauf gefasst, dass einige deiner anderen Produkte aus Anyueel erst mit einer gewissen Verzögerung eintreffen werden. Und auf unvorhergesehene Preissteigerungen.”
“Ich kann nicht glauben, dass du mich auf diese Weise erpresst! Deine eigene Familie!”
“Du hast die Wahl, Vran. Du kannst erhobenen Hauptes beschließen, nicht so tief zu sinken, dass du dich erpressen lässt. Du musst nur bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. In Gold.”
Vran’el seufzte und schüttelte den Kopf. “Na gut, hier ist mein Angebot: Ich behalte das alleinige Eigentum an der Rezeptur und werde die Produktion ausweiten. In Anyueel ist das ohnehin nicht möglich, denn ihr braucht frische Kräuter, die nur in warmen Gefilden wachsen. Sie wären mehr oder weniger unbrauchbar, wenn man sie mehrere Tage lang transportierte. Du wirst als Vermittler fungieren und für deine Mühe einen großzügigen Anteil am Gewinn erhalten.”
Enric lehnte sich zurück. “Das klingt doch schon wesentlich vielversprechender, mein Freund. Du wirst sehen – wir werden bald in jedem Haushalt eine Flasche davon haben.”
Das Oberhaupt von Haus Vel’kim schnaubte. “Das wäre ein wahrgewordener Albtraum für meinen Vater. Also legen wir los!”
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