„Intrigen“ – Der Orden: Buch 3

„Intrigen“ – Der Orden: Buch 3

Kapitel 1

Rückkehr nach Hause

Enric starrte grimmig auf das Meer hinaus. Nichts unterbrach die endlose, gerade Linie des Horizonts, der das hellere Blau des Himmels vom dunkleren des Wassers trennte. Es war keine Abwechslung in Sicht, die baldige Erleichterung in Form von Land versprach.

Bei seiner letzten Überquerung des Meers hatte er keine der Auswirkungen verspürt, unter denen die meisten anderen in seiner Gruppe, Eryn eingeschlossen, gelitten hatten. Seekrankheit wurde es genannt, erinnerte er sich. Aber es schien, als wäre sein Magen dieses Mal nicht immun gegen das ständige Schaukeln des Schiffes. Man hatte ihm mitgeteilt, dass der Körper sich nach ein paar Tagen daran gewöhnte, also erschien es ihm seltsam, dass er jetzt darunter litt, wo es ihm zuvor keinerlei Unannehmlichkeiten bereitet hatte.

Seine eigenen Beschwerden waren allerdings wesentlich weniger stark ausgeprägt als Eryns. Sie lag bewegungslos auf der Pritsche in ihrer Kabine, ihr Magen von allem befreit, was sich darin befunden hatte. Es war Pech, dass es keine Erleichterung brachte, die Symptome wegzuheilen. Solange sie auf See waren, würden sie immer wiederkehren.

Aber zumindest hatten sie bereits die Hälfte der Schiffsreise hinter sich; es dauerte nur noch einen weiteren Tag, bis sie das kleine Dorf Bonhet erreichten. Dort hatten sie damals das Schiff bestiegen, das sie in die Westlichen Territorien gebracht hatte. Das schien nun schon eine Ewigkeit zurückzuliegen. Er hatte große Pläne bezüglich des Dorfes und fragte sich, wie die Leute wohl darauf reagieren würden. In einer Hinsicht hatte Eryn vollkommen Recht: Die Bereitwilligkeit, sich Neuerungen zu öffnen, wurde nicht eben als Tugend erachtet – nicht in der Stadt Anyueel, und noch weniger an abgeschiedenen Orten wie diesem Fischerdorf.

Er spürte, wie sich die Spannung in seinem Magen legte und entschloss sich, nach Eryn zu sehen. Vielleicht konnte er sie überreden, sich von ihm für ein paar Stunden schlafen schicken zu lassen. Jetzt, wo Kilan und Grend nicht hier waren, die sie damit aufziehen konnten, dass sie den einfacheren Weg wählte. Der Unwille, sich den Sticheleien ihrer Mitreisenden auszusetzen, war der Grund, weshalb sie sein Angebot beim letzten Mal, als sie auf dem Weg nach Takhan gewesen waren, abgelehnt hatte.

Nachdem er allerdings die Tür zu ihrer kleinen Kabine geöffnet hatte, sah er, dass sie bereits, einen Arm schlaff nach unten hängend, eingenickt war. Sie konnte noch nicht lange schlafen. Der Tee, den er für sie zubereitet hatte, war noch immer warm. Vielleicht nicht länger als eine Minute oder zwei, in etwa so lange, wie es her war, dass sein Magen aufgehört hatte, sich zu beschweren.

Ein Gedanke durchzuckte ihn, und er sah mit gerunzelter Stirn auf sie hinab. Nein, das konnte nicht sein. Das wäre höchst unwahrscheinlich, sinnierte er. Und sicherlich war es nicht mehr als Zufall, nichts, das es rechtfertigte, irgendwelche voreiligen Schlüsse zu ziehen, ermahnte er sich. Aber er würde die Augen offenhalten, entschied er. Es war womöglich nicht mehr als ein Verdacht, aber es lohnte sich zweifellos, auf Nummer sicher zu gehen.

Er drehte sich um, verließ die Kabine und schloss die Tür vorsichtig hinter sich. Bald mussten sie die Barriere erreichen, und man hatte ihm gesagt, der Kapitän würde ihm zeigen, wie man sie überquerte. Damit wäre ein für alle Mal das Hindernis überwunden, welches das Königreich davon abhielt, zur See zu fahren.

* * *

Eryn erwachte, als eine warme Hand an ihrer Schulter rüttelte.

“Sind wir noch immer auf dem verdammten Schiff?”, murmelte sie mit geschlossenen Augen. “Falls ja, hast du hoffentlich eine gute Erklärung dafür, warum du mich geweckt hast.”

Enric lächelte zu ihr hinab. “Das Dorf ist bereits in Sicht, also liegt noch eine Stunde der Qual vor dir.” Eine Stunde, die ihm sicherlich ein paar interessante Einsichten bescheren würde.

“Das ist eine Stunde, die du mir ersparen hättest können!”, stöhnte sie. “Das machst du mit Absicht! Habe ich dir in letzter Zeit irgendetwas getan, das es rechtfertigen würde, dass du mich dermaßen quälst?”

Er gab vor, kurz nachzudenken. “Nein, nicht dass ich mich erinnern könnte. Aber es ist immerhin allgemein bekannt, dass ich eine Vorliebe dafür habe, hilflosen Frauen Agonien zu bereiten. Und jetzt steh auf, komm an Deck und schnappe ein wenig frische Luft. Das wird dir guttun.”

“Das soll wohl ein Scherz sein? Du weißt ganz genau, was passiert, wenn ich an Deck gehe! Warum tust du mir das an?”, klagte sie und spürte, wie sie auf die Füße gezogen und mehr oder weniger die Stufen hinauf und nach draußen gezerrt wurde. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit des Sonnenlichts, hob sie rasch eine Hand, um ihre Augen zu beschatten. Die steife Brise ließ sie frösteln, aber Enrics Arm um ihre Schultern zog sie an seinen warmen Körper.

“Wir müssen uns umziehen. Diese Kleidung ist für das Klima zuhause nicht wirklich geeignet”, murmelte er und beobachtete, wie sie die Wellen anstarrte, auf denen das Schiff auf und nieder schaukelte.

Sie schloss ihre Augen, und erneut wich ihr die Farbe aus dem Gesicht. Auch er spürte, wie das Gefühl von zuvor zurückkehrte und in ihm den Drang auslöste, sich an irgendetwas Festem anzuhalten, um seinen Magen davon zu überzeugen, dass diese Empfindung, nach oben und unten geschleudert zu werden, nichts anderes als eine ungerechtfertigte Überreaktion war.

Trotz der unangenehmen Empfindung lächelte er. Es schien, als stünde Eryn eine kleine Überraschung bevor, wenn auch keine, von der sie besonders angetan sein würde. Er war gespannt, wie lange es dauerte, bis sie es selbst herausfand.

* * *

“Da ist sie! Ich kann sie sehen!”, rief sie begeistert aus. “Niemals hätte ich gedacht, dass ich den Tag erlebe, an dem ich mich freue, sie zu erblicken!”

Enric blickte ebenfalls auf, als die verschwommenen Umrisse der Stadt Anyueel am Horizont auftauchten. “Es wärmt mein Herz, dass du so glücklich darüber bist, zurückzukehren, meine Liebste”, lächelte er und ergriff ihre Hand, um einen Kuss darauf zu drücken. Und das tat es tatsächlich. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie kein einziges Mal davon gesprochen, dass sie ihr kleines Haus in dem Dorf, in dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte, vermisste. Das musste bedeuten, dass sie ihr gemeinsames Haus hier in der Stadt als ihr Heim betrachtete. Zumindest hoffte er das.

Urban trottete neben den Pferden her und hob ihren Kopf, um zu Eryn aufzusehen, nachdem sie ihrer Freude darüber, Anyueel in der Ferne zu erkennen, Ausdruck verliehen hatte.

“Der Innenhof für sie sollte mittlerweile fertig sein”, bemerkte Enric mit einem kurzen Blick auf die Katze. “Bäume, Felsen, alles. Mit ein wenig Glück sind die Arbeiten am Durchgang zwischen den Gebäuden ebenfalls beendet. Andernfalls werden die Diener wohl ein wenig… nervös sein.”

Eryn zuckte mit den Schultern. “Warum sollten sie? Bislang hat sie noch nie jemandem etwas getan.”

“Trotzdem. Wir sprechen hier über ein wildes Tier. Und wenn sie auch noch nicht ganz ausgewachsen ist, so hat sie dennoch einen erheblichen Vorteil eingebüßt: Sie ist mittlerweile eher furchterregend als niedlich.”

“Wenn ein vierjähriges Mädchen keine Angst vor ihr hat, sollte man meinen, dass auch Erwachsene irgendwie mit Urban zurechtkommen werden”, strich sie hervor.

“Kinder in diesem Alter haben noch kein angemessenes Verständnis für Gefahr, Eryn. Obal hätte wohl ebenfalls versucht, ein komplett wildes Tier zu streicheln, wenn eines in der Nähe gewesen wäre. Vran’els Reaktion war wesentlich natürlicher. Und du musst auch bedenken, dass ein Teil meines Rufs in Takhan darauf basiert, dass ich die Straßen der Stadt mit einem recht imposant wirkenden wilden Tier durchstreift habe”, erklärte er.

Sie seufzte. “Na gut, ich beuge mich deiner überlegenen Weisheit. Wieder einmal. Hoffen wir also, dass der Durchgang fertig ist, oder wir werden uns für eine Weile selbst um das Kochen und Putzen kümmern müssen. Nicht, dass mich das allzu sehr stören würde – ich musste es immerhin für lange Zeit selbst tun, als ich noch allein lebte. Aber ich fürchte, dass uns dafür nicht allzu viel Zeit bleibt. Ich frage mich, wie es im Heilergebäude aussieht. Vollkommenes Chaos? Oder ist überhaupt niemandem aufgefallen, dass ich weg war? Ich weiß nicht, was schlimmer wäre.”

“Für dich? Letzteres wahrscheinlich”, lächelte er. “Ich werde langsam hungrig. Wir sollten die Stadt in ungefähr eineinhalb Stunden erreichen. Also am frühen Abend. Dann haben wir noch Zeit, heimzugehen, eine Kleinigkeit zu essen, uns zu waschen und in saubere Kleidung zu schlüpfen, aber mehr nicht.”

Sie zog die Stirn in Falten. “Dann besteht also überhaupt keine Chance, dass wir dem König morgen anstatt heute Abend unsere Aufwartung machen?”

“Nein. Er hat bereits länger als geplant auf uns gewartet – etwa zwei Wochen länger. Er will sichergehen, dass wir tatsächlich zurückgekehrt sind. Und so schnell wie möglich von den neuesten Ereignissen erfahren. Die letzte Nachricht, die er von mir erhalten hat, ist bereits einige Tage alt. Danach müssen wir noch zu Tyront. Er wird alles erfahren wollen, was ihm der König nicht mitgeteilt hat. Kilan war immerhin nur dazu angewiesen, den König zu informieren. Die Informationen, über die Tyront verfügt, sind also gefiltert.”

“Das wird also noch ein sehr langer Tag”, stöhnte sie. “Und ich wollte einfach nur in mein Bett fallen und den Schlaf nachholen, den ich in den letzten Nächten versäumt habe.”

“Ich bedaure, meine Liebste. Dafür stehen die Chancen in den nächsten paar Stunden eher schlecht.”

* * *

Die vier Wachen am Westtor verbeugten sich, als die zwei hochrangigen Magier an ihnen vorbeiritten. Seltsam, dachte Eryn, wie befremdlich dieses formelle Verhalten nach nur wenigen Wochen in Takhan nun auf sie wirkte.

Sie ritten durch die Stadt zu ihrem Haus, und Enric pfiff durch die Zähne, als er die Leute sah, die sich davor versammelt hatten.

“Sieh an. Es scheint, als hätte sich die Kunde unserer Ankunft verbreitet, nachdem man uns erspäht hat”, murmelte er.

Eryn trieb ihr Pferd an, bis sie nahe genug war, um abzusteigen. Sobald ihre Füße den Boden berührten, fand sie sich auch schon in einer festen Umarmung mit einem gewissen sechzehnjährigen Jungen.

“Endlich!”, flüsterte er. “Ich hatte solche Angst, dass sie dich nicht wieder fortlassen!”

Sie drückte ihn ebenfalls und bemerkte, dass seine Wangen nicht länger auf gleicher Höhe mit ihren eigenen waren. War es möglich, dass er in dieser kurzen Zeit ihrer Abwesenheit so in die Höhe geschossen war?

“Mir ging es genauso”, erwiderte sie. “Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, wieder hier zu sein.”

“Lass sie los, Vern”, tadelte Orrin milde, als er keinerlei Anstalten machte, sie wieder freizugeben. “Ein paar andere wollen sie auch gerne begrüßen.”

Mit offenkundigem Widerwillen löste Vern seine Arme von ihr, und kurz darauf presste ihr Orrin mit einer wesentlich festeren Umarmung die Luft aus den Lungen. Sie lächelte über diese für ihn ungewohnte körperliche Zurschaustellung von Zuneigung.

“Sieh dich an, du alter Weichling! In meiner Abwesenheit bist du ganz sanft geworden, weil du niemanden mehr zum Foltern und Antreiben hattest! Oder ist das Junars Einfluss?”, lachte sie und drückte ihn ebenfalls.

“Halt die Klappe”, knurrte er. “Wir waren krank vor Sorge um dich, nachdem wir erfuhren, dass man dich dort drüben irgendeines Verbrechens bezichtigt hatte. Das nächste Mal, wenn du dorthin gehst, werde ich dich ebenfalls begleiten. Ein Mann allein reicht eindeutig nicht aus, um dich im Auge zu behalten.”

“Das reicht, jetzt bin ich dran”, beschwerte sich Junar hinter ihnen, und Orrin trat zur Seite, damit sich die beiden Frauen als nächstes umarmen konnten.

Enric beobachtete die Szene, verblüfft von diesem Gefühl von Bedauern und Verlust, das er verspürte. Anders als in Takhan, wo er von einigen Leuten – sowohl Männern als auch Frauen – gedrückt und geküsst worden war, wagte es hier niemand, ihn zu umarmen. Zum ersten Mal in mehr als zehn Jahren fragte er sich, ob dieser Ruf, den er sich so sorgsam erarbeitet hatte, die Einsamkeit wert war, die damit einherging. Sein Aufenthalt in den Westlichen Territorien hatte ihn mit einer ganz anderen Art von sozialen Beziehungen vertraut gemacht. Einerseits gab es diejenigen, die mit Ehrfurcht zu ihm aufblickten – vorwiegend Leute, die er bei Verhandlungen kennengelernt hatte – und solche, die zwar angemessen beeindruckt von ihm waren, aber eher in privater Funktion mit ihm zu tun hatten und somit hinter diese offizielle Maske blicken konnten. Hier in Anyueel gab es kaum jemanden, der das wagte. Abgesehen von Tyront und dem König. Die beiden taten es allerdings nicht aus bloßer Geselligkeit, sondern weil er, genau wie die beiden, ein Teilnehmer an dem politischen Spiel war; und seine Mitspieler zu kennen war maßgeblich, um sowohl Überleben als auch Erfolg sicherzustellen.

Er blickte überrascht auf, als ihm jemand einen herzhaften Schlag auf die Schulter verpasste. Orrin nickte ihm zu.

“Es ist gut, euch beide wieder hier zu haben”, war alles, was er sagte, aber es klang aufrichtig.

“Es ist gut, wieder zurück zu sein. Endlich”, erwiderte Enric und lächelte dem Krieger zu. Wer hätte gedacht, dass Orrin der Einzige sein würde, der ihm zumindest ein wenig das Gefühl von Willkommensein vermittelte?

Im Hinterkopf überlegte er, ob er Anstrengungen unternehmen wollte, etwas daran zu ändern, ob er daran arbeiten wollte, hier in Anyueel Freundschaften zu etablieren. Konnte das überhaupt funktionieren? Die Leute hier waren weniger aufgeschlossen, weniger zwanglos, leichter eingeschüchtert von Rang und Macht. Er stellte sich vor, dass Eryn den Kontrast, hier wieder mit Lady angesprochen zu werden, jetzt noch stärker wahrnehmen würde. Aber sie hatte immerhin einige Menschen um sich, die davon ohnehin Abstand nahmen, da sie diese Leute nahe genug an sich herangelassen hatte, damit sie den Titel beiseite ließen.

In der gesamten Stadt gab es nicht mehr als vier Menschen, die davon absahen, Enric mit Lord anzusprechen. Tyront, dessen Gefährtin Vyril, Kilan und Eryn. Vor Eryn waren es nur zwei gewesen, da er in den letzten zehn Jahren keinen Kontakt mit Kilan gepflegt hatte.

Er bemerkte, wie Eryn verwirrt die Stirn runzelte, während sie mit Plia sprach und fragte sich, ob sie etwas von seinen Gefühlen aufgefangen hatte und sich nun wunderte, woher diese Melancholie kam, wenn sie selbst doch Freude und Erleichterung über ihre Rückkehr verspürte.

“Ist alles in Ordnung, Liebste?”, erkundigte er sich und legte einen Arm um ihre Schultern.

Sie nickte und pflasterte ein Lächeln auf ihr Gesicht, um ihre Verwirrung zu verbergen. “Ja, ich bin nur ein wenig erschöpft, das ist alles.”

Enric fiel auf, wie Junar, Vern und Plia um sie herum bei seinem Näherkommen einen kleinen Schritt zurücktraten.

Junars Augen wurden groß, als sich Urban einen Weg bahnte und ihren Kopf an Enrics Beinen rieb. “Seht euch die Katze an! In den letzten Wochen ist sie ordentlich gewachsen. Wenn sie noch größer wird, könnt ihr das nächste Mal auf ihr anstatt einem Pferd reiten.”

“Sie wird in den nächsten zwei oder drei Monaten womöglich noch ein wenig wachsen, aber das sollte es dann gewesen sein”, erklärte Enric und bückte sich, um die Wangen der Katze zu kraulen.

“Sieh mal einer an! Ihr habt es also geschafft, den Klauen des fremden Senats zu entkommen!”, rief eine amüsierte Stimme hinter ihnen.

Sie sahen, wie Kilan sich näherte. Die wenigen Leute um sie herum drehten ihre Köpfe, und Münder standen vor Staunen offen, als sich die beiden Männer herzlich umarmten. Lord Enric jemanden umarmen zu sen, war nicht gerade ein alltäglicher Anblick.

Kilan wandte sich daraufhin an Eryn. “Man warnte mich, dass du Ärger bedeutest. Aber ich wollte es nicht glauben. Das war wohl ein Fehler.”

Sie verdrehte die Augen. “Das sagt mir der Mann, der in meiner Stunde der Not auf das nächste Schiff gesprungen und davongesegelt ist.”

Seine Miene wurde ernst. “Glaub mir, das war eines der schwersten Dinge, die ich jemals in meinem Leben zu tun hatte. Ich hoffe, dass ich mich nicht so schnell wieder in so einer Situation finde. Aber ich hatte meine Befehle.”

“Das war nicht so gemeint, Kilan”, seufzte sie. “Dass du zurückgekehrt bist, war die einzig sinnvolle Option. Besonders, da der König über diese ganze Misere natürlich Informationen aus erster Hand benötigte.”

Er lächelte erleichtert und drückte ihre Hand. “Das ist wohl wahr. Aber beim nächsten Mal werden wir es einfach anstreben, dass dich niemand anklagt, was meinst du?”

“Ich tue mein Bestes, nur damit du glücklich bist”, grinste sie. “Aber ich hoffe, dass es so bald keine weitere Gelegenheit für uns geben wird, gemeinsam nach Takhan zu reisen, also musst du dich deswegen nicht sorgen.”

“Darauf würde ich nicht wetten, Eryn”, meinte er kopfschüttelnd.

“Warum nicht?”, fragte sie, dann runzelte sie die Stirn. “Du sagst mir doch nicht etwa, dass sie dich dorthin zurückschicken?”

“Nun, da gibt es eine offene Stelle als ständiger Botschafter in Takhan, da der Mann, der sich ursprünglich für den Posten beworben hat, sich anders entschied, nachdem seine Gefährtin aus dem Gewahrsam entlassen wurde”, lächelte er.

Das führte zu Erstaunen bei den Leuten um sie herum, und Eryn erinnerte sich daran, dass sie wahrscheinlich über die wichtigen Dinge, die vorgefallen waren, nicht Bescheid wussten. Da gab es einiges zu erklären, dachte sie und seufzte innerlich. Und das bedeutete, dass sie die Geschichte vom Tod ihres Vaters erneut würde erzählen müssen. Aber nicht heute.

“Was sind die Pläne für die nächsten paar Tage?”, warf Vern ein. “Auspacken? Geschenke unter deinen engsten Freunden verteilen?”, fügte er mit einem hoffnungsvollen Schimmer in den Augen hinzu.

Das brachte sie zum Lachen. “Nun, letzteres offensichtlich.” Ihre Miene wurde wieder ernst. “Heute Abend müssen wir an die oberen Ränge berichten, und morgen will ich mir ansehen, wie die Dinge im Heilergebäude stehen.”

“Der Rat der Magier will dich morgen womöglich ebenfalls sehen”, rief Enric ihr ins Gedächtnis.

“Ich habe darauf gezählt, dass du sie mit all den pikanten Details versorgst. Ich möchte wirklich, wirklich gerne zu meiner Arbeit zurückkehren”, sagte sie und hoffte, dass er ihr in dieser Sache entgegenkommen würde. Als er zustimmend nickte, lächelte sie.

“Ich werde versuchen, sie zu überzeugen, dass sie dich morgen nicht unbedingt zu sehen brauchen. Aber früher oder später wirst du dort auftauchen müssen.”

Sie nickte. “Fein, solange es nicht in den nächsten ein oder zwei Tagen ist. Da habe ich Wichtigeres zu tun.”

Orrin schnaubte. “Der Rat der Magier wird immens erfreut sein, wenn er erfährt, dass du ihn nicht als wichtig genug erachtest, um ihm eine oder zwei Stunden deiner wertvollen Zeit zu opfern.”

“Nun, von mir werden sie es nicht erfahren”, meinte sie schulterzuckend.

“Dir ist schon klar, dass ich selbst und Lord Orrin Mitglieder des Rats sind?”, fragte Enric. “Streng genommen hat der Rat somit also bereits davon erfahren.”

Sie lachte. “Aber ich vertraue darauf, dass meine zwei Lieblingsmitglieder mir deswegen keinen Ärger verursachen werden.”

Orrin grinste breit und legte einen Arm um ihre Schultern. “Vertrauen, mein Mädchen, ist ein Luxus, der dich verwundbar macht.”

Eryns Gesicht verfinsterte sich. “Ja, diese Lektion habe ich in der Fremde verinnerlicht”, sagte sie leise.

Orrin zog die Stirn in Falten. “Hm, es scheint, als hätte ich genau das Falsche gesagt. Es tut mir leid. Du wirst mir davon erzählen müssen. Bald.” Es war nicht direkt ein Befehl, aber auf jeden Fall mehr als eine höfliche Anfrage. Sie lächelte ihm zu und nickte. Es tat gut zu sehen, dass sich manche Dinge wohl niemals ändern würden. Ganz egal, wie weit ihr Rang sie emporhob, bei diesem Mann konnte sie sich stets darauf verlassen, dass er ihr sagte, was sie zu tun hatte.

“So, und jetzt gehen wir besser aus dem Weg und lassen sie nach ihrer Reise zu ihrem Heim zurückkehren. Sie haben noch Arbeit vor sich”, rief Orrin aus, woraufhin die beiden endlich die letzten paar Schritte zu ihrem Haus zurücklegen konnten.

* * *

Eryn runzelte verwirrt die Stirn, als eine der Palastwachen vor den Türen des Thronsaals ihnen bedeutete, ihm zu folgen, anstatt sie eintreten zu lassen.

“Nach der Richtung zu urteilen, wird uns der König in seinem Arbeitszimmer empfangen”, murmelte Enric. “Womöglich ein Zugeständnis daran, dass wir den ganzen Tag auf Reisen waren. Vorausgesetzt, er bietet uns einen Sitzplatz an”, fügte er trocken hinzu.

Sie nickte langsam. In einem Arbeitszimmer zu sitzen war definitiv ein ansprechenderer Gedanke als auf müden Beinen vor ihm stehen zu müssen. Sie war noch nie zuvor in seinem Arbeitszimmer gewesen und fragte sich, ob es aufgrund der Wichtigkeit des Mannes irgendwie besonders aussehen würde.

Die Wache verbeugte sich vor ihnen und entfernte sich, nachdem sie eine unauffällig aussehende Tür erreicht hatten.

“Das ist die richtige Tür? Bist du sicher? Sie wirkt unerwartet bescheiden”, kommentierte sie.

“Das ist schon der richtige Ort”, nickte Enric und klopfte an die Tür.

“Herein”, rief eine dumpfe Stimme dahinter. Sie traten ein und sahen sich Marrin gegenüber, der von seinem Platz hinter seinem Schreibtisch aufstand und zu Enrics Überraschung bei ihrem Anblick wahrlich erfreut wirkte.

“Lady Eryn, Lord Enric. Welch eine Erleichterung, Euch sicher zurück zu haben. Seine Majestät erwartet Euch”, lächelte er und zeigte auf eine Tür zu seiner Rechten.

“Danke, Marrin”, erwiderte Enric. “Wir sind froh, zurück zu sein.” Dann öffnete er die Tür und ließ Eryn zuerst eintreten. Marrin folgte ihnen in den Raum und schloss die Tür hinter sich, bevor er wie üblich zur Seite trat und mehr oder weniger mit seiner Umgebung zu verschmelzen schien – wie ein unauffälliges Möbelstück.

Eryn sah sich um und war beinahe ein wenig enttäuscht darüber, wie durchschnittlich das Zimmer wirkte mit seinen Büchern, Papieren und Schreibutensilien. Elegant, aber nicht aufwändiger als ihr eigenes Arbeitszimmer. Anders als der Thronsaal war das hier ein Arbeitszimmer und kein Ort für kühne Machtdemonstrationen.

Der König stand hinter seinem Schreibtisch und blickte, seinen Rücken ihnen zugewandt, zum Fenster hinaus. Er drehte sich um, als sie eintraten und sich verbeugten.

Eine Weile sah er sie an, bevor er nickte, offenkundig zufrieden mit dem, was er erblickte. “Die Delegation ist schlussendlich doch vollständig zurückgekehrt. Wir hatten schon begonnen, uns etwas zu sorgen.”

Eryn unterdrückte ein Schnauben. Er hatte sich gesorgt? Nicht halb so viel wie sie selbst, als sie sich mit der Bedrohung konfrontiert sah, zwei Jahre lang an diesem Ort festgehalten zu werden, dachte sie.

“Ich bedaure zu hören, dass meine Schwierigkeiten Euch Sorge bereitet haben, Eure Majestät”, erwiderte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ich versichere Euch, dass es nicht mit Absicht geschah.”

Der Monarch zog eine Braue hoch. “Ich sehe, dass Euer Aufenthalt in Takhan Eure Einstellung Autorität gegenüber kein bisschen verändert hat, Lady Eryn. Ich denke, wir können uns glücklich schätzen, dass Euer Gefährte an Eurer Seite war, oder das Ergebnis der Verhandlung wäre wohl weniger günstig ausgefallen.”

Der warnende Unterton in seiner Stimme ließ sie die Weisheit überdenken, ohne ausdrückliche Aufforderung zu sprechen. Also gut, dann also zurück zu dem, was sie vor ihrer Abreise praktiziert hatten: Enric würde das Reden übernehmen.

Sie wunderte sich über dieses leichte Gefühl von Missfallen, das sie verspürte und sah Enric an. Bildete sie sich das nur ein? Sie suchte in seinem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen, aber fand nichts – nur die übliche Gelassenheit und Kontrolle, die er in der Öffentlichkeit an den Tag legte. Also hatte wohl ihre Vorstellungskraft dieses Gefühl heraufbeschworen. Immerhin hatte sie ihn mittlerweile ziemlich gut kennengelernt. Natürlich würde er nicht gutheißen, wie sie gerade mit dem König gesprochen hatte. Interessant war allerdings, dass sie offenbar dazu übergegangen war, seine Gefühle nicht nur zu erahnen, sondern sich auch einredete, ein Echo davon zu verspüren.

“Ist alles in Ordnung, Lady Eryn? Ihr wirkt ein klein wenig abgelenkt”, bemerkte der König.

“Verzeiht, ich bin nur ein wenig müde. Es war eine lange Reise.”

“Dann darf ich Euch beide ersuchen, Platz zu nehmen und Eure müden Glieder auszuruhen”, lächelte er. “Ich muss sagen, dass Euer Anblick, ebenso wie Kilans nach seiner Rückkehr, etwas exotisch anmutet mit Eurer gebräunten Haut und Lord Enrics ausgebleichten Haaren. Wie seid Ihr mit dem Klima zurechtgekommen?”

Eryn lächelte höflich und wartete darauf, dass Enric antwortete. Er wollte jetzt tatsächlich über das Wetter reden? Wirklich?

“Für unsere Verhältnisse war es ungewöhnlich warm, aber nachdem wir unsere Garderobe den Bedingungen vor Ort anpassten, war es weitgehend angenehm. Die Einheimischen haben ihren Tagesablauf an das Klima angepasst und vermeiden es, zur heißesten Tageszeit draußen unterwegs zu sein. Das bedeutet, dass sie am Abend im Allgemeinen später zu Bett gehen”, erklärte Enric.

Oh, dachte sie. Die Wetter-Frage war also offensichtlich eine Einladung gewesen, über die Gebräuche zu sprechen anstatt nur bedeutungsloses Gerede von sich zu geben. Andeutungen, dachte sie müde. Warum konnten die Leute nicht einfach sagen, was sie wollten anstatt darauf zu bauen, dass ihr Gegenüber es erriet?

Sie spürte, wie Enrics Hand ihre ergriff und drückte. Ihr drängte sich der Gedanke auf, dass es als Warnung gemeint war. Aber weshalb? Sie zeigte keinerlei äußere Anzeichen ihrer Ungeduld, dessen war sie sich vollkommen sicher.

“Über die allgemeinen Entwicklungen bin ich mir natürlich dank Kilans Bericht nach seiner Rückkehr und auch der Nachricht, die Ihr mir nach der Entscheidung des Senats zukommen habt lassen, informiert. Aber da gibt es sicher noch einiges mehr. Eure Nachricht, die uns darüber in Kenntnis setzte, dass die Verhandlung zu Euren Gunsten endete und dass Ihr erst ein paar Tage später zurückkehren würdet, war recht knapp gehalten”, hörte sie ihn sagen, in seiner Stimme ein Anflug eines Tadels erkennbar.

Enric nickte. “Ihr vermutet richtig, Eure Majestät. Erlaubt mir, Euch detaillierter über die Vorkommnisse zu informieren. Ihr wisst über die Situation zwischen Ram’an und Lady Eryn Bescheid, nehme ich an?”

Der König nickte. “Falls Ihr seinen Anspruch auf sie aufgrund einer Vereinbarung zwischen ihren beiden Familien, als beide noch Kinder waren, meint, dann ja. Soweit ich das verstehe, wurde Lady Eryn für die Dauer des Verfahrens seiner Aufsicht unterstellt.”

Gut, dachte Eryn mürrisch, zumindest mussten sie hier nicht mehr in die Tiefe gehen, als absolut nötig war. Kilan hatte offensichtlich einen gründlichen Bericht abgeliefert.

“Ja”, bestätigte Enric. “Wenngleich der Senat so rücksichtsvoll war, dieses Arrangement in die Residenz der Familie von Lady Eryns Vater anstatt die von Ram’an zu verlegen.”

“Dies aufgrund einer recht eindrucksvollen Demonstration Eures Missfallens, sofern meine Informationen der Realität entsprechen?”, wollte der König mit einer hochgezogenen Augenbraue wissen.

“Das wurde wohl in die Überlegungen miteinbezogen, ja”, gab Enric unumwunden zu. “Ich selbst wurde beim stärksten der drei Triarchen untergebracht. Es scheint, als läge meine Stärke in den Westlichen Territorien ebenfalls ein wenig über dem Durchschnitt. Daher erachtete man es als weise, mich für die Dauer meines freiwilligen Aufenthalts ebenfalls unter Beobachtung zu stellen.”

“Man hätte Euch jederzeit abreisen lassen, wenn das Euer Wunsch gewesen wäre?”, erkundigte sich der König.

“Ich vertraue darauf, dass das der Fall gewesen wäre, ja”, nickte der Magier. “Schlussendlich denke ich, dass man es womöglich sogar vorgezogen hätte, wenn ich abgereist wäre. Man wusste nicht so recht, was man von mir zu erwarten hatte.”

“Soweit ich das verstanden habe, war es Lady Eryns eigene Mutter, die die Anschuldigungen vorbrachte. Ich gehe davon aus, dass dies die politische Landschaft maßgeblich verändert hat. Nach meinen Informationen hat sich Lady Eryn als die alleinige Erbin einer mächtigen Familie herausgestellt. Eine unbequeme Entwicklung, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt.”

Eryn lächelte grimmig. “Keine, die Euch irgendwelche weiteren Sorgen bereiten wird, Eure Majestät. Ich habe diesen Umstand nach der Verhandlung korrigiert, indem ich mich von Haus Aren lossagte und damit sämtliche Bande durchtrennte.” Sie warf ihrem Gefährten einen verärgerten Blick zu. “Oder zumindest dachte ich das zu diesem Zeitpunkt.”

Sie bewunderte die eiserne Kontrolle, mit der der König seine Gesichtszüge im Zaum hielt. Der einzige Hinweis auf seine Überraschung waren gespitzte Lippen.

“Ihr habt Euch also von einem mächtigen Haus losgesagt? Ich könnte mir vorstellen, dass Ihr damit einen beträchtlichen persönlichen Vorteil aufgegeben habt, wenn ich mich nicht irre. Der Status der Zugehörigkeit zu einem Haus reflektiert auch den sozialen Status einer Person, wie man mir zu verstehen gab. Besonders wenn es sich um einen Magier in den Westlichen Territorien handelt.”

“Das ist tatsächlich der Fall. Allerdings habe ich diesen Vorteil nicht wirklich aufgegeben, da ich anschließend in ein anderes Haus adoptiert wurde”, erklärte sie. So viel dazu, Enric das Reden zu überlassen.

Der König schwieg einige Augenblicke lang, dann lächelte er kaum wahrnehmbar. “Haus… Vel’kim, vermute ich? Die Familie Eures Vaters?”

“Ja”, bestätigte sie, etwas verdrossen über seine schnelle Auffassungsgabe. Warum war es nur dermaßen schwierig, ihn unvorbereitet zu erwischen? Nun, es blieb abzuwarten, wie sehr ihm Enrics kleines Spiel zusagen würde.

“Ich hätte gedacht, dass Ihr weniger willig sein würdet, Euch an eine andere Familie zu binden, wenn man bedenkt, was zwischen Euch und Eurer Mutter vorgefallen ist. Liege ich richtig, wenn ich davon ausgehe, dass es einen Grund für diesen raschen Anschluss an ein anderes Haus gab?”, fragte er.

Verdammt sollte er sein, dachte sie. Wie machte er das nur? Gab es da kein einziges Detail, das sie für sich behalten konnte? Diese Sache war zu eng verknüpft mit ihrer eigenen, persönlichen Geschichte mit Ram’an. Zu privat, als dass er es wissen sollte. Aber es ihm zu verschweigen, wenn er sie direkt danach fragte, kam einer Befehlsverweigerung gleich.

Sie atmete gleichmäßig aus. “Den gab es tatsächlich. Mein Cousin ist ein Rechtsgelehrter und vermutete, dass Ram’an plante, mich aufgrund eines altertümlichen aber noch immer rechtskräftigen Gesetzes als Mitglied seines Hauses zu beanspruchen. Die noch immer gültige Kommitment-Vereinbarung, die unsere Mütter abgeschlossen hatten, hätte ihm das ermöglicht.”

“Aber nur, sofern Ihr nicht bereits ein Mitglied eines anderen Hauses seid?”, fragte der König.

“So ist es”, nickte sie.

“Ihr erwähntet, dass Ihr dachtet, Eure Bindung an das Haus Eurer Mutter sei beendet. Dies vermittelt mir den Eindruck, dass dem nicht so ist?”

“Mit Eurer Erlaubnis würde ich vorschlagen, dass mein Gefährte dies näher ausführt. Ich denke, dass er die dahinterliegenden Motive… überzeugender darlegen kann als ich es vermag.”

Der fragende Blick des Königs wanderte zu Enric.

“Lady Eryn bezieht sich auf meine Zustimmung zu Malriels Begehren, mich als ihren Sohn in Haus Aren zu adoptieren”, sagte er langsam.

Eryn verspürte Triumph in sich aufwallen, als sich die Augen des Königs weiteten. “Wie bitte?”

Endlich! Es war also doch möglich, sogar diesen scheinbar kaltblütigen Kerl zu überraschen.

Der Monarch bedeckte einen Moment lang seine Augen mit einer Hand, bevor er seine Kontrolle wiedererlangt hatte. “Was Ihr mir also sagt, Lord Enric, ist, dass Ihr Euch in ein mächtiges Haus adoptieren habt lassen, um Lady Eryns Platz als Erbe auf den Titel des Oberhaupts einzunehmen? Dies bedeutet natürlich, dass Ihr Euch in der Folge freiwillig der dortigen Rechtsprechung unterworfen habt.”

“In der Tat”, bestätigte Enric. Eryn warf ihm einen kurzen Blick zu. Er wirkte vollkommen entspannt, weder seine Gesichtszüge, noch seine Haltung zeugten von irgendetwas anderem als Gelassenheit. Warum hatte sie dann den Eindruck, dass er angespannt war und sogar scheute, was auf ihn zukam?

“Lord Enric”, sagte der König langsam und sorgfältig, während er seine Finger miteinander verschränkte. “Das bedeutet, dass Ihr Euch nun sozusagen zum Diener zweier Herren gemacht habt. Soweit ich das verstehe, sind die Häuser in Takhan auch ein integraler Bestandteil des lokalen politischen Systems. Ihr seid hier bereits politisch involviert und werdet dies früher oder später nun auch in den Westlichen Territorien sein. Das bringt uns hier in eine sehr schwierige Situation, da wir wohl irgendwann zu einem Punkt gelangen werden, wo wir uns fragen müssen, wo Eure wahre Loyalität liegt.”

Oh nein, dachte Eryn, das klang, als wäre Enric in Schwierigkeiten. Das war kein gutes Vorzeichen.

“Wie steht es um Eure Absicht, die Position des Oberhaupts von Haus Aren zu übernehmen, Lord Enric? Habt Ihr irgendwelche Ambitionen in diese Richtung? Ich würde annehmen, dass dies eine maßgebliche Überlegung bei Eurer Adoption gewesen sein muss. Ich kann verstehen, weshalb Ihr für Malriel eine wünschenswerte Wahl wart. Ihr seid sowohl ein erfahrener Anführer mit beträchtlichem Einfluss und auch der Gefährte ihrer abtrünnigen Tochter. Damit wart Ihr für diese Position der offensichtliche Kandidat. Dennoch komme ich nicht umhin, mir die Frage nach Euren eigenen Beweggründen für diesen Schritt zu stellen.”

Enric tat einen tiefen Atemzug, bevor er antwortete: “Lasst mich Euch versichern, Eure Majestät, dass meine Loyalität beim Königreich und dem Orden liegt, genau wie zuvor. Mein Hauptgrund dafür, Malriels Bitte bezüglich der Adoption nachzukommen, war der, Lady Eryns neues Haus vor Schaden zu bewahren. Wie Ihr Euch aufgrund der Geschichte der beiden Häuser sicher vorstellen könnt, war Malriel recht ungehalten über die anstehende Adoption ihrer Tochter in das Haus des Mannes, der sie ihr vor so vielen Jahren gestohlen hatte. Malriels Bedingung dafür, ihnen nicht erheblichen Schaden zuzufügen, war meine Zustimmung, als eine Art… Entschädigung für ihren Verlust zu dienen.”

Der König betrachtete ihn einige Sekunden lang eingehend, bevor er lächelte. “Das scheint mir eine noble, selbstlose Geste, die der starken Bindung zu Eurer Gefährtin entspringt. Und dennoch drängt sich mir der Verdacht auf, dass Ihr selbst davon ebenfalls profitieren werdet.”

“Nicht nur ich selbst, Eure Majestät”, erwiderte er milde, “sondern wir alle. Der ständige Kontakt mit jemandem, der nicht nur ein hochrangiges Mitglied der Gesellschaft in Takhan, sondern auch des Senates ist, wird unsere politischen Verbindungen erheblich stärken.”

König Folrin nickte. “Richtig. Und dennoch hätte ich es vorgezogen, wenn Ihr diese Entscheidung nicht ohne meine Zustimmung getroffen hättet.”

“Ich verstehe, Eure Majestät”, nickte Enric.

Der Monarch hob eine Braue. “Keine Entschuldigungen, dass die Zeit drängte, Lord Enric?”

Enric lächelte schwach. “Ich hatte den Eindruck, dass Ihr das nicht besonders schätzen würdet, Eure Majestät.”

Der König lehnte sich zurück und seufzte ausgiebig. “Das würde ich nicht, nein. Allerdings hält das die Leute im Allgemeinen nicht davon ab, mich damit zu ermüden. Gibt es sonst noch etwas, über das Ihr mich zu informieren wünscht? Vielleicht weshalb Eure Abreise um einige Tage verschoben wurde, nachdem das Verfahren zu Euren Gunsten ausging?”

“Der Grund dafür, Eure Majestät, war, dass Lady Eryn und ich in etwas eingetreten sind, das in den Westlichen Territorien als Kommitmentband dritten Grades bekannt ist”, erklärte Enric.

“Ihr seid heute voll von erstaunlichen Neuigkeiten”, kommentierte der König mit scharfer Zunge. “Ich bin über deren Natur informiert. Eine magische Bindung, die nur denen empfohlen wird, die einander wahrlich in großer Hingebung zugetan sind.” Sein Blick ruhte auf Eryn. “Ein Band, das freiwillig eingegangen werden muss, soweit ich das verstanden habe.”

Sie lächelte. “Ich versichere Euch, Eure Majestät, dass Lord Enrics Entscheidung, das Band auf meinen Antrag hin mit mir einzugehen, vollkommen freiwillig war. Ich habe auf keinerlei Nötigung zurückgegriffen.”

Der König betrachtete sie eindringlich, während er langsam nickte. “Ihr wart also diejenige, die den Wunsch äußerte, eine magische Bindung einzugehen?” Er bemerkte das kurze Aufflackern in ihren Augen und lächelte. “Dennoch komme ich nicht umhin zu denken, dass an der Sache mehr dran ist, habe ich Recht? Ihr wart es, die letztlich die Frage stellte, aber nicht diejenige, die zuerst fragte, nicht wahr?”

Sein Lächeln wuchs in die Breite, als sie verstimmt die Lippen zusammenpresste. “Ihr braucht darauf nicht zu antworten, Lady Eryn. Eure Reaktion ist aufschlussreich genug. Ich gebe zu, dass ich erfreut darüber bin, dass aus diesem Kommitment, in das ich Euch so eilig drängte, in nur wenigen Monaten so etwas Bedeutendes erwachsen ist. Auf beiden Seiten.” Er erhob sich von seinem Stuhl, woraufhin beide seinem Beispiel folgten. “Ich erwarte einen detaillierten Bericht von Euch, Lord Enric. Ich habe wenig Hoffnung, einen von Lady Eryn zu erhalten, nachdem ich von ihrer Abneigung gegen schriftliche Meldungen an ihre Vorgesetzten gehört habe”, fügte er spitz hinzu. “Fügt auch Informationen über die rechtliche Lage der neuen Familiensituationen von Euch beiden sowie über das magische Kommitment hinzu. Ich gehe davon aus, dass Ihr Euch damit vertraut gemacht habt, anstatt Euch einfach blind darauf einzulassen. Und nun dürft Ihr Euch zurückziehen. Lord Tyront ist zweifellos begierig darauf, von diesen höchst interessanten Entwicklungen zu erfahren.”

Eryn verbeugte sich, froh darüber, das erste der beiden Treffen hinter sich zu haben. Allerdings hatte sie wenig Hoffnung, dass die Zusammenkunft mit Lord Tyront sich als angenehmer erweisen würde.

* * *

König Folrin presste Daumen und Zeigefinger einer Hand auf seine Augen.

“Ich bin ratlos, ob ich Lord Enric bewundern oder verfluchen soll. Öffentlich muss ich ihn natürlich für seine Verdienste loben. Wir können unseren neuen Freunden jenseits des Meeres nicht den Eindruck vermitteln, ich würde seine Verbindung mit ihrer Gesellschaft nicht gutheißen, nicht wahr?”, seufzte er müde. “Ich brauche Informationen, Marrin. Wir haben die formelle Einladung erhalten, einen ständigen Botschafter in Takhan zu stationieren, und ich empfehle, dass dein Sohn so bald wie möglich von hier abreist und seine neue Position übernimmt. Wenngleich ich fürchte, dass die Art von Information, die ich von ihm brauche, seine eigene Loyalität auf die Probe stellen wird.”

Marrin hob fragend eine Augenbraue.

“Die Kommitmentbindungen. Dir ist natürlich klar, dass das Band, das wir unseren eigenen Magiern nach Beendigung ihres Trainings auferlegen, das ist, was dort als sogenanntes Kommitmentband zweiten Grades betrachtet wird. Ich könnte mir denken, dass man auch herausgefunden hat, wie sich dieser bindende Effekt aufheben lässt. Früher oder später wird das auch hier öffentlich bekannt werden und die Art der Bindung zwischen der Krone und dem Orden verändern. Bislang haben wir die Magier mehr oder weniger dazu gezwungen, sich an uns zu binden. Sollte sich die Bindung mühelos auflösen lassen, würde sich das zu einem freiwilligen Band wandeln”, erklärte der König mit einem düsteren Gesichtsausdruck.

“Ihr geht also davon aus, dass der Orden selbst nicht darüber im Bilde ist, wie sich die Bindung an die Krone aufheben lässt?”, erkundigte sich Marrin.

Der König lächelte seinen Berater an. “Du kennst mich zu gut, Marrin. Du hast natürlich Recht. Ich bin sicher, dass zumindest Lord Tyront in der Lage wäre, die Wirkung des Eids jederzeit aufzulösen. Womöglich sogar Lord Enric, besonders nach seiner Reise nach Takhan.”

“Falls Eure Annahmen also zutreffen, Eure Majestät, dann hätte der Orden das Band in der Vergangenheit ohnehin freiwillig aufrechterhalten”, strich der ältere Mann hervor.

“Das stimmt. Aber dessen wären sich nur die Anführer des Ordens bewusst, nicht aber die anderen Magier. Es scheint, als ob ein ausführliches Gespräch mit Lord Tyront längst überfällig ist. Aber zuvor werde ich ihm noch einen Tag oder auch zwei gönnen, um sich von den Neuigkeiten zu erholen, die er gleich von unseren beiden Reisenden erhalten wird”, meinte der König mit einem resignierten Lächeln.

* * *

Eryn ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett fallen und gab etwas nur gedämpft Vernehmbares von sich, das von der Matratze verschluckt wurde.

“Das war nicht unbedingt eine verständliche Aussage, meine Liebste. Versuch es noch einmal, ohne dass dein Mund in Stoffe eingegraben ist”, riet ihr Enric.

Sie hob den Kopf. “Ich sagte, dass diese zwei Vorladungen meine Freude über unsere Rückkehr beträchtlich vermindert haben. Ich fühle mich matt und erschöpft. Entkräftet. Wir hätten vorgeben sollen, dass wir erst morgen ankommen und den Abend stattdessen im Geheimen mit Orrin, Junar, Vern und Plia verbringen.”

Die Belustigung, die sie unerwartet überkam, ließ sie die Stirn runzeln, und sie hob ihren Blick zu seinem schiefen Grinsen.

“Weißt du”, sagte sie bedächtig, “irgendwie habe ich das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.”

Sie bemerkte, wie der Ausdruck in seinen Augen aufmerksamer wurde.

“Tatsächlich?”

Ihre Augen verengten sich. “Ja, tatsächlich. Und ich habe den Verdacht, dass du dir dessen sehr wohl bewusst bist. Was ist das hier? Ein kleines Spielchen, um zu sehen, wie lange ich brauche, um es herauszufinden?”

“Was denkst du denn, das nicht stimmen könnte, mein Schatz?”, fragte er sanft und lehnte sich mit verschränkten Armen an eine Kommode in seinem Rücken. “Was hast du denn herausgefunden?”

“Dass sich offenbar meine Wahrnehmung etwas verschärft hat, wenn es darum geht, deine Stimmungen einzuschätzen, denke ich”, sagte sie vorsichtig. “Ich frage mich, ob das daran liegen kann, dass ich mir endlich das ganze Ausmaß meiner Zuneigung zu dir eingestanden habe, oder ob das ein Nebeneffekt unseres Bandes ist.”

“Dann lass mich meine Eindrücke deinen hinzufügen”, bot Enric an. Das würde den Abend wohl noch weniger erfreulich machen für sie, dachte er. “Ich denke nicht, dass deine erste Vermutung der wahre Grund ist. Ich bin mir meiner Gefühle für dich schon seit einer Weile bewusst, habe aber erst kürzlich zum ersten Mal erlebt, was du gerade beschrieben hast.”

Sie nickte. “Dann ist es also das Band. Eine engere Verbindung als zuvor, das Bedürfnis, mehr miteinander zu teilen. Das könnte eine erhöhte Sensibilität für die Stimmungen des anderen mit sich bringen, vermute ich.”

Er seufzte. “Eryn, ich denke, es ist etwas mehr als das. Dieses Mal habe ich unter der Seekrankheit gelitten.”

“Ach ja?”, fragte sie.

“Nur solange du wach warst. Sobald du geschlafen hast, war sie weg”, fügte er leise hinzu.

“Nun, das ist bedauerlich für dich, aber ich sehe nicht…” Ihre Worte verstummten, als ihr die volle Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, klar wurde. Sie sprang vom Bett auf und schüttelte vehement den Kopf. “Nein! Sag mir, dass das nicht wahr ist!”

Er atmete langsam aus. “Wenn ich von dem Ausmaß an Panik in mir ausgehe, die ganz klar nicht meine eigene ist, würde ich sagen, dass es wenig Sinn macht, es abzustreiten.”

Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. “Aber Vran’el sagte, dass das kaum jemals vorkäme! Dass ich mir deswegen keine Sorgen machen müsste!”, klagte sie. “Warum? Warum ist da immer irgendetwas, das mir eine Ohrfeige verpasst, wenn ich mich entschließe, mich jemandem zu öffnen?” Die Flut an Ärger, die sie wie ein heißer Speer durchdrang, ließ sie nach Luft schnappen. Sie starrte zu Enric, der abgesehen von zusammengekniffenen Augen keinerlei Anzeichen von Aufruhr zeigte, während er noch immer vermeintlich gelassen an die Kommode gelehnt stand.

“Wie kannst du das in dir drin halten, ohne dass man etwas sehen kann?”, stöhnte sie und griff auf das zurück, was in der Vergangenheit halbwegs gut funktioniert hatte, wenn sie mit starken Gefühlen umgehen musste: Atmen.

Ein dünnes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. “Gut. Ein sehr effektiver und direkter Weg, um dir meine Ansichten mitzuteilen. Du hast gerade einen kleinen Eindruck davon erhalten, was in mir vorgeht, wenn du davon sprichst, dass du es bedauerst, dich an mich gebunden zu haben.”

“Das wollte ich damit nicht sagen! Ich bedaure es nicht, ich verspreche es!”, rief sie aus, erleichtert, als der Ärger, den er aussandte, merklich abflaute.

“Wir brauchen Hilfe in dieser Sache”, sagte er. “Wenn wir streiten, hat keiner von uns eine Chance, ruhig und vernünftig zu bleiben, wenn wir zusätzlich zu unseren eigenen Gefühlen auch noch die des anderen erfahren. Ich werde Valrad morgen eine Nachricht schicken und ihn ersuchen, uns sämtliche Information zukommen zu lassen, die er über diese geistige Bindung hat. Erwarte aber nicht zu viel. Du hast Vran’el gehört; da es nicht oft vorkommt, wurde auf diesem Gebiet nicht besonders viel geforscht.”

Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck entlockte ihm ein Seufzen, und er stieß sich von der Kommode ab, um sich zu ihr aufs Bett zu setzen. “Das muss nicht unbedingt eine Bürde sein, Liebste. Wir können Dinge auf eine Art und Weise miteinander teilen, die andere Menschen so nie erleben können. Die Schwierigkeit liegt einfach darin, dass wir erst lernen müssen, wie wir damit umgehen. Der Vorteil ist allerdings, dass es scheint, als würden nur starke Gefühle übertragen werden. Das ist eine ziemliche Erleichterung. Wir werden herausfinden müssen, ob Entfernung irgendeine Auswirkung auf die Stärke der Empfindungen hat. Vielleicht gibt es sogar eine Möglichkeit, ihre Wirkung zu reduzieren.”

Sie hob ihr Gesicht und nickte unglücklich. “Das wäre gut, ja. Dein Ärger gerade eben hätte mich beinahe in die Knie gezwungen. Meine Güte, ich hoffe, dass das auch mit positiven Gefühlen funktioniert.”

“Das tut es”, nickte er. “Ich habe deine Schadenfreue über die Überraschung des Königs gespürt, als ich ihm von meiner Adoption durch Haus Aren erzählte.”

Sie lachte zittrig. “Wenn man das als positives Gefühl bezeichnen möchte…”

Er lächelte. “Ich habe auch deine Freude darüber wahrgenommen, als deine Freunde bei unserer Rückkehr auf dich gewartet haben.”

Als sie zurückdachte, weiteten sich ihre Augen. “Dieses Gefühl von Bedauern, das ich nicht so richtig einordnen konnte… das warst du, nicht wahr? Warum?”

Es schien also, als würde das Band ihn ebenfalls dazu bringen, mehr von sich preiszugeben, als er es sonst getan hätte, sinnierte er. “Als ich sah, wie du empfangen wurdest, und das nachdem wir von einem Ort zurückkehrten, wo ich zum ersten Mal seit langer Zeit freundschaftlichen Umgang mit anderen Menschen gepflegt habe, wurde mir klar, dass ich hier nicht gerade als besonders gesellig bekannt bin.”

Sie blinzelte und dachte kurz nach. “Die Menschen hier sind zum Großteil entweder eingeschüchtert oder haben Angst vor dir. Genau wie ich selbst vor nicht allzu langer Zeit. Ich schätze, dass es hier nicht gerade einfach für dich sein kann, Kontakte zu pflegen”, räumte sie ein. “Komisch, ich hätte nicht gedacht, dass dich dieser Umstand besonders kümmert.”

Er schüttelte den Kopf. “Interessanterweise dachte ich das auch nicht.” Er ergriff ihre Hand und drückte sie. “Siehst du? Der intime Aspekt des Bandes funktioniert bereits.”

“Ja”, lächelte sie, “und ich bin froh zu sehen, dass es zur Abwechslung einmal nicht nur mich allein betrifft. Unsere üblichen Diskussionen über persönliche Dinge sind in der Regel eher einseitig und enden damit, dass du mich analysierst. Vielleicht wird es eine Erleichterung für mich sein, dass das von nun an in beide Richtungen geht.” Dann fügte sie zögernd hinzu: “Es wird also ab jetzt wirklich unmöglich sein, Geheimnisse vor dir zu bewahren, nicht wahr? Wenn ich mich schuldig fühle, weil ich dir etwas verheimliche, dann wirst du das sofort bemerken.”

“Darauf zähle ich”, sagte er mit einer hochgezogenen Braue. “Das ist eine Sache, die ich dir nun schon seit einiger Zeit abzugewöhnen versuche. Obwohl ich zugeben muss, dass du in Takhan bereits erste Anzeichen der Besserung gezeigt hast.”

“Welch hohes Lob”, murmelte sie. Dann kam ihr ein Gedanke, und sie kniff die Augen zusammen. “Du hast mich auf dem Schiff eine Stunde zu früh geweckt, um damit zu experimentieren, habe ich Recht? Du hast mich absichtlich leiden lassen, damit du deinen Verdacht bestätigen konntest! Du wusstest es zu diesem Zeitpunkt bereits!”

Er lächelte entschuldigend. “Würde es dich trösten, wenn ich dir sage, dass ich mit dir leiden musste?”

“Nein”, knurrte sie, dann zuckte sie die Achseln. “Nun, ein wenig. Wie sehr musstest du leiden?”

“Schrecklich”, erwiderte er aufrichtig. “Als ob mein leerer Magen drauf und dran war, sich ständig zu übergeben, ohne dass etwas anderes als bittere Flüssigkeiten da waren, die in meinem Hals brannten.”

Nachdenklich betrachtete sie ihn, dann nickte sie. “In Ordnung, das ist angemessen. Wie gehen wir mit diesem Geistesband nun um? Starke Gefühle zu vermeiden wird sich wohl etwas schwierig gestalten.”

“Ich bin es gewohnt, damit umzugehen, aber wie ich gesehen habe, musst du dich daran erst gewöhnen. Du hast schon Schwierigkeiten damit, deine eigenen Gefühle unter Kontrolle zu halten, also könnte es sich als große Belastung für dich erweisen, dass du nun auch meine wahrnimmst.”

Sie schluckte. “Was ist, wenn es keine hilfreichen Bücher darüber gibt, wie man damit umgeht?”

“Dann, meine Liebste”, meinte er und küsste ihre Hand, “wird sich deine enorme Begabung in der Kategorie der Entdecker zweifellos als nützlich erweisen. Du wirst die einzigartige Gelegenheit haben, zu experimentieren und damit Fachwissen zu einem Gebiet zu schaffen, das dir in beiden Ländern zu Ruhm und Ehre verhelfen wird.”

Er lächelte, als er einen Funken Interesse in ihren Augen aufblitzen sah.

 

Kapitel 2

Zurück an die Arbeit

Enric hielt ihre Hand in seiner, während sie auf ihrem Weg zum Heilergebäude durch die Straßen von Anyueel spazierten. Er war erleichtert, dass sie die für sie zweifellos erschütternden Neuigkeiten verhältnismäßig gut aufgenommen hatte. Er hatte über seinen eigenen Standpunkt zu dieser unerwarteten Entwicklung nachgedacht und war etwas besorgt, wie sie beide damit umgehen konnten, ohne sich mit unzumutbaren Nachteilen herumplagen zu müssen. Aber alles in allem betrachtete er es keinesfalls als den Fluch, für den Eryn es zu halten schien.

“Müssen wir Lord Tyront davon erzählen?”, unterbrach sie mit ihrer Frage seinen Gedankengang. Ihr Verstand befasste sich also ebenfalls mit dieser Angelegenheit. “Er war über deine Adoption ebenso unerfreut wie der König. Und anders als der König, hat ihm die Sache mit dem Kommitmentband überhaupt nicht gefallen. Wie nannte er es? Mit Magie herumspielen, für die uns das Verständnis fehlt?” Bei der Erinnerung an die üble Laune ihres Vorgesetzten verzog sie das Gesicht. Sie beneidete Enric nicht um die Pflicht, ihm heute bei der Ratsversammlung erneut zu begegnen.

“Damit sollten wir wohl noch eine Weile warten”, seufzte er. “Er muss erst einmal mit den Neuigkeiten klarkommen, die wir ihm bisher offenbart haben. Wir vermeiden es im Moment wohl besser, seine angeschlagenen Nerven zu überfordern.”

“Gut. Ich glaube nicht, dass ich in nächster Zeit noch einmal mit ihm zu tun haben will.”

“Gib ihm etwas Zeit, um sich mit der neuen Situation abzufinden. Obwohl er kein großer Freund von Überraschungen ist, braucht er nicht lange, um sich an sie anzupassen. Seine schlechte Laune dauert in der Regel nur kurz an.” Er hielt an, als sie das Heilergebäude erreichten. “Wir sind da. Willst du schon voller Ungeduld zurückkehren und deinen Kollegen zeigen, welche erstaunlichen neuen Dinge du gelernt hast?”, lächelte er und küsste sie auf die Stirn.

“Das wäre fabelhaft”, nickte sie. “Aber ich befürchte, dass es vorher noch einiges an Arbeit zu erledigen geben wird. Zum Glück ist heute kein Behandlungstag. Nicht, dass ich mit besonders viel Ruhe und Frieden rechne. Ich sorge mich ein wenig wegen der Dinge, die Plia gestern angedeutet hat, bevor wir zum Treffen mit dem König aufgebrochen sind.”

“Wie schlimm kann es sein? Das Gebäude steht immerhin noch. Kein verärgerter Mob hat es geplündert oder niedergebrannt.

“Sehr witzig”, knurrte sie und wollte gerade einen der beiden großen Türflügel aufziehen, als sie sich sanft zurück und in eine warme Umarmung gezogen fühlte.

“Sieh zu, dass du heute nicht zu lange arbeitest. Du sollst fit genug sein, um an einem Experiment teilzunehmen.”

Sie hob beide Augenbrauen. “Welches Experiment?”

“Mit dem Geistesband. Es geht darum, wie intensivere positive Gefühle übertragen werden.”

Ihre Augen verengten sich. “Drückst du dich so kunstvoll aus, um die Tatsache zu verbergen, dass es hier um Sex geht?”

Mit einem leisen Lachen schüttelte er den Kopf. “Ich wundere mich, dass du überhaupt fragen musst. Natürlich geht es darum.” Er beugte sich zu ihr hinab, um ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen zu drücken und wandte sich dann ab, um seinen Weg zum Palast fortzusetzen. Nach ein paar Schritten drehte er sich halb um und hob einen Finger. “Komm zu einer zivilisierten Zeit nach Hause, hörst du?”

Sie verdrehte die Augen und sah dann auf die Symbole auf ihrem Handgelenk hinab, die alle paar Schritte, die er sich von ihr entfernte, immer weiter verblassten. Als er um die nächste Ecke bog, verschwanden sie vollkommen.

Als sie ihre Hand hob, um die Tür aufzuschieben, wurde sie von innen geöffnet, und sie sah ein vertrautes Gesicht vor sich. Rolan.

“Lady Eryn”, seufzte er, und sie blinzelte bei der Erleichterung in seiner Stimme. “Ich bin so froh, dass Ihr zurück seid. Wirklich froh.”

“Rolan”, meinte sie mit einem unsicheren Lächeln. “Es ist gut, zurück zu sein.” Rolan war glücklich darüber, sie zu sehen? Das war ziemlich sicher kein gutes Zeichen. “Möchtest du mir sagen, was das Problem ist oder sollte ich mich dafür hinsetzen?”, sagte sie mit einem leicht ironischen Lächeln.

Er errötete. “Hinsetzen wäre wohl besser. Mit einem netten, warmen Getränk.”

“So schlimm?”, seufzte sie.

Darüber schien er ein paar Augenblicke lang nachzudenken, bevor er mit den Schultern zuckte. “Wisst Ihr, jetzt wo Ihr zurück seid, bin ich mir da nicht mehr so sicher.” Seine Stimme klang überrascht. “Interessant.”

In der Tat, dachte sie, sagte es aber nicht laut. Es schien als ob seine Zuversicht, dass sie eine Lösung parat hatte für welche Katastrophen auch immer eingetreten waren, für ihn ebenso überraschend kam wie für sie. Das musste ein Zeichen für Vertrauen sein, nicht wahr? Oder vielleicht einfach nur Verzweiflung. Nun, das würde sie bald genug herausfinden.

Sie sah sich unauffällig um, während sie Rolan zu der kleinen Küche folgte, um sich ein Getränk zu holen. Alles wirkte sauber, unbeschädigt und so, wie es sein sollte. Ihr Assistent wartete, bis sie eine Tasse mit Wasser gefüllt, einen Löffel mit fein gemahlenen Kräutern eingerührt und die Mischung mit einer Berührung ihres Fingers und ein wenig Magie erhitzt hatte, bevor er ihr voran die Treppen hinauf und zu ihrem Arbeitszimmer ging, um ihr die Tür aufzuhalten.

Wiedersehensfreude in Kombination mit beinahe erdrückender Zuvorkommenheit? Jetzt wurde es langsam so richtig schaurig, dachte sie.

Ihr Arbeitszimmer sah nicht besonders chaotisch aus, entschied sie. Nach einer Abwesenheit von mehr als sechs Wochen war es etwas unaufgeräumter – mit Papieren, die herumlagen – als sie es hinterlassen hatte, aber nichts, das ihr einen Schock versetzte oder sie zurückschrecken ließ.

Sie ging zu ihrem Tisch und stellte die Tasse darauf ab, bevor sie sich in den Sessel sinken ließ, ausatmete und zufrieden lächelte.

“Jetzt bin ich zurück. So richtig.” Sie bedeutete Rolan, sich ebenfalls zu setzen. “Also gut – schockiere mich. Was ist alles schiefgelaufen?”

“Vern”, sagte ihr Assistent bedächtig.

“Vern ist schiefgelaufen?”, fragte sie sanft nach.

Rolan dachte kurz nach, dann kam er offenkundig zu dem Schluss, dass der Ausdruck passend war. “Ja, ich denke, so könnten wir es nennen.”

“Also gut”, sagte sie langsam, “könntest du hierzu ein wenig mehr sagen? Ein paar mehr Details wären hilfreich.”

“Er kam mit den anderen Heilern nicht besonders gut zurecht”, erklärte ihr Assistent.

“Was meinst du damit? Heraus damit, Rolan! Das ist richtig mühsam!”, rief sie ungeduldig aus.

Unglücklich verzog er das Gesicht. “Vern scheint gewisse tyrannische Qualitäten entwickelt zu haben. Die Heiler waren kurz davor, offen gegen ihn aufzubegehren. Ich hatte schon Angst, dass ich hier bald allein mit einem Haus voller Patienten dastehen würde und die Heiler die Arbeit verweigern.”

Ein Tyrann? Vern? Nun, sinnierte sie, wenn sie davon ausging, wie er sich bei den Verhandlungen verhalten hatte, war das womöglich nicht so unwahrscheinlich. Da gab es definitiv eine diesbezügliche Neigung diese Richtung.

“Ich verstehe. Was war deiner Ansicht nach der Grund für solch ein Verhalten?”

“Jugend. Mangel an Erfahrung. Idiotie.” Rolan rang die Hände. “Ich weiß es nicht!”

“Denk nach”, sagte sie sanft. “Ich brauche einen neutralen Standpunkt. Sag mir, was du denkst.”

“Eine Stimme der Vernunft”, murmelte er und schüttelte den Kopf. “Das scheint mir Luxus bei all dem Durcheinander, das wir hier in den letzten Wochen hatten.” Er räusperte sich und blickte wieder auf. Mit Erleichterung sah sie, dass in seinen Augen nun weniger Verzweiflung und mehr Fokus erkennbar waren.

“Er war mit der Doppelbelastung überfordert, einerseits eine Gruppe mit Leuten anzuführen, die wesentlich älter waren als er selbst und bei denen er darum kämpfen musste, ernstgenommen zu werden, und andererseits in seiner anderen Funktion noch zu heilen und zu unterrichten. Er hat lange Nächte hier verbracht und sich um den Papierkram gekümmert, ist zuweilen darüber verzweifelt”, erklärte er, das Mitgefühl in seiner Stimme klar erkennbar.

“Wie bist du mit ihm zurechtgekommen?”

“Gut genug. Ich habe versucht, ihm so viel abzunehmen, wie ich konnte, aber meine eigene Erfahrung, wenn es darum geht, Leute anzuführen oder zu heilen und unterrichten, ist nicht eben erwähnenswert. Das Einzige, womit ich ihn unterschützen konnte, waren die Schreibarbeiten.” Er seufzte. “Und auch damit, ihn aus dem Schutzraum herauszulassen, als sie Tür blockierten, während er noch drin war.”

“Sie?”, fragte sie. “Die Heiler?”

Rolan nickte.

“Was haben sie sonst noch getan?” Sie spürte Ärger in sich aufsteigen über die Dämlichkeit Erwachsener, die einen jungen Mann, dem sie einige Jahre voraus waren, piesackten, anstatt ihm ihre Unterstützung angedeihen zu lassen.

“Absichtlich falsch verstandene Anweisungen, soweit ich das mitbekommen habe. Versteckte Kleider. Verschlossene Arbeitszimmertür. Zweimal.”

Eryn schloss die Augen und dämpfte den Drang nieder, jemandem wehzutun. Als sie sie wieder öffnete, war der Ausdruck darin stählern. “In Ordnung. Sag mir, was er getan hat, um diese Dinge zu provozieren. Normalerweise sind sie nicht dermaßen dumm.”

“Er schrie sie häufig an. Ließ sie länger bleiben, gab ihnen mehr zu lernen, als sie bewältigen konnten. Es scheint, dass er einen etwas zügigeren Lernfortschritt gewohnt ist.”

Ja, dachte sie, und sie hatte es stets den Vorteil genutzt, dass er klug, interessiert und ein sehr schneller Lerner war. Hatte sie ihn unabsichtlich dazu ermutigt, dass er dachte, das sei die Art und Weise, wie auch jeder sonst unterrichtet werden sollte? So schien es wohl.

“Zuerst versuchten sie, mit ihm zu reden”, setzte Rolan fort. “Aber sie stellten Forderungen, worauf er nicht besonders gut reagierte.”

Sie dachte zurück an Verns Umarmung. Die Panik in seiner Stimme, als er ihr sagte, dass er Angst gehabt hatte, dass man sie nicht mehr aus Takhan abreisen lassen würde. Offensichtlich steckte da etwas mehr dahinter, als dass er sie einfach nur als Freundin vermisst hatte.

“Meine Güte”, seufzte sie. “Es sieht also so aus, als würde ich damit anfangen müssen, diese Kluft zu reparieren. Sie müssen in der Lage sein, wieder professionell miteinander zu arbeiten. Und Vern ist ihnen noch immer weit genug voraus, um sie gelegentlich zu unterrichten oder zumindest ihre Arbeit zu überwachen. Ich muss sie dazu bringen, dass sie einander wieder respektieren. Irgendwelche Vorschläge?”

Rolan setzte sich etwas aufrechter hin. Ihr entging nicht, dass er es sehr schätzte, nach seiner Meinung gefragt zu werden. Sie versuchte sich zu erinnern. Hatte sie sich niemals zuvor die Mühe gemacht, ihn zu fragen? Es schien, als ob Verns Führungsansatz nicht der einzige war, der eine Kurskorrektur erforderte, dachte sie.

“Ich denke, was beiden Seiten in den letzten Wochen gefehlt hat, ist Wertschätzung”, wagte er sich vor und wartete auf ihre Reaktion.

“Wertschätzung? Ihnen also sagen, dass sie gute Arbeit geleistet haben?”

Er nickte. “So in der Art, ja.”

“Gut, das bekomme ich hin.” Sie trank die Tasse aus. “Hast du irgendwelche Informationen betreffend Trainingsfortschritt, Inventar und Behandlungen für mich?”

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sah sie ihn lächeln und konnte nicht anders, als den Anblick genießen. Nicht ein einziges Mal hatte er es in der Zeit ihrer Zusammenarbeit bisher versäumt, ein Blatt Papier mit Listen, Zahlen oder was auch immer sonst darauf vorzulegen. Das war es, worin er gut war. Nun würden sie sich seinem Fachgebiet zuwenden.

* * *

Eryn war gerade damit fertig, den Bericht über die Art und Mengen der Medizin, die den Patienten während ihrer Abwesenheit verabreicht worden war, durchzulesen, als es an ihrer Tür klopfte. Auf ihre Einladung hin trat eine Palastwache in Livree ein.

Oh nein, dachte sie. Bloß keine Vorladung vom König oder dem Rat. Nicht jetzt, wo es so vieles gab, um das sie sich zu kümmern hatte. Jedoch schien er keine schriftliche Nachricht bei sich zu tragen, also war er zweifellos hier, um sie anzuweisen, mit ihm zu kommen.

Bevor er sprechen konnte, seufzte sie: “König oder Rat?”

Der Bote blinzelte. “Der Rat der Magier, Lady Eryn.”

“Jetzt gleich oder habe ich noch Zeit, vorher ein paar Dinge zum Abschluss zu bringen?”

Er verzog mitfühlend das Gesicht. “Jetzt sofort, befürchte ich.”

Sie schob ihren Stuhl zurück. “Aber natürlich. Was denn sonst? Dann geh voraus. Ich schätze, dir wurde aufgetragen, nicht ohne mich von hier wegzugehen.”

Er nickte und wartete, bis sie ihre Robe übergezogen und zurechtgerückt hatte, bevor er vor ihr die Stufen hinabstieg.

Enric hatte sie gewarnt, dass man sie bald sehen würde wollen, aber sie hatte gehofft, dass er sich für den Moment allein um das, was auch immer sie brauchten oder wissen wollten, kümmern konnte. Bei allem, was Handel oder Politik betraf, wäre er auf jeden Fall der Richtige, um ihre Neugier zu befriedigen. Sie hielt an und atmete aus. Aber einen Bereich gab es, wo sie die Ansprechpartnerin war. Heilung und alles in Verbindung damit. Natürlich. Sie wollten über die Barriere in ihren Köpfen sprechen. Das war die wahrscheinlichste Erklärung.

Der Bote drehte sich zu ihr um und wartete geduldig, bis sie weiterging. Als sie die Türen der großen Ratshalle erreicht hatten, verbeugte er sich vor ihr und verschwand. Sie klopfte dreimal, woraufhin die Tür augenblicklich geöffnet wurde. Sie trat ein und stand sofort im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sowohl der zwölf Ratsmitglieder als auch eines exaltierten Besuchers in diesen Hallen: des Königs.

Der Rat saß um den weitläufigen Tisch herum, der Stuhl des Anführers des Ordens ein wenig aufwändiger gearbeitet als die der anderen. Der Thron des Königs stand abseits, als ob er in diesen Hallen nur die Rolle eines Beobachters einnahm.

Zwölf Mitglieder, sinnierte sie. Genau die gleiche Anzahl wie die der Häuser in Takhan. Es war das erste Mal, dass ihr dieser Zufall auffiel. Seltsam, mit welchen Dingen der Verstand aufwartete, wenn er der unmittelbaren Realität entfliehen wollte. Sie wusste, dass sie nicht in Schwierigkeiten war, und doch war es nicht besonders angenehm, vor dem Rat und dem König zu stehen.

“Meine Herren”, sprach sie, bevor jemand die Chance hatte, sie anzusprechen, “hier bin ich. Halten wir das hier kurz, in Ordnung? Wie Ihr Euch zweifellos denken könnt, gibt es da jede Menge Arbeit, um die ich mich nach meiner Rückkehr kümmern muss.”

Sie sah, wie ein paar von ihnen belustigte oder verärgerte Blicke austauschten. Orrin hob eine Braue, eventuell eine Warnung, während Enric leicht amüsiert wirkte und Lord Tyront ihr einen Blick zuwarf, der zwar nicht gerade feindselig, aber definitiv wenig herzlich war. Die Miene des Königs war so unergründlich wie auch sonst in der Regel.

Vielleicht war es nicht besonders ratsam gewesen, den Gruß so zu formulieren, überlegte sie. Andererseits war es auch nicht gerade rücksichtsvoll gewesen, sie so kurzfristig herzubeordern. Soweit es sie betraf, waren sie nun quitt.

“Lady Eryn”, sagte Tyront pointiert, “erlaubt mir, Euch im Namen des Rats wieder unter uns willkommen zu heißen, selbst wenn unsere Aufforderung, zu uns zu kommen, Euch im Augenblick eher ungelegen zu kommen scheint.”

Sie zuckte mit den Schultern. “Ich danke Euch. Solange das hier nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt, werden sich die Unannehmlichkeiten in Grenzen halten, würde ich sagen.” Bescheuert, schalt sie sich. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass sie ihn ständig provozieren wollte? Sie dachte zurück an die Worte des Königs vom Vorabend darüber, dass ihr Aufenthalt in der Fremde ihre Einstellung Autorität gegenüber nicht verändert hatte.

Tyront nahm einen tiefen Atemzug und lächelte sie kühl an. “Dann wird der Rat sein Bestes tun, um Eure wertvolle Zeit nicht ungebührlich zu verschwenden, Lady Eryn.”

Darauf antwortete sie nicht, sondern wartete nur, dass er fortfuhr. Die Aussage mochte harmlos scheinen, aber sein Tonfall zeigte eindeutig, dass er alles andere als glücklich war, also war es wohl weiser, ihre Zunge für den Moment im Zaum zu halten und sich darauf zu beschränken, nur dann zu sprechen, wenn sie angesprochen wurde. Eine Strategie, deren Vorteile Enric ihr nun schon seit einer Weile ans Herz zu legen versuchte.

“Ihr könnt Euch womöglich denken, weshalb wir Euch rufen ließen”, setzte er fort. Sie bemerkte, dass er ihr keinen Sitzplatz anbot. Kleine Vergeltungsmaßnahmen. Also musste sie dort stehen, als wäre sie eines Vergehens angeklagt. Es erinnerte sie an den Tag, als sie und Vern in seinem Arbeitszimmer gestanden hatten, nachdem ihre ungenehmigten Unterrichtsstunden in magischem Kampf aufgeflogen waren. Und an den Senat in Takhan, wo sie während des Verfahrens vor den Repräsentanten der Häuser stehen hatte müssen. Sie schob die Bilder zur Seite und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

“Ich gehe davon aus, dass Ihr mit mir über die Barriere in Euren Köpfen reden wollt”, wagte sie sich vor. Sie sah, wie Tyront leicht überrascht nickte. Also hatte er nicht damit gerechnet, dass sie den Grund tatsächlich vermutete und wollte sie als Bestrafung für ihr Verhalten schlecht aussehen lassen. Charmant. Enrics zustimmendes Grinsen war kaum mehr als eine Andeutung, aber für das geschulte Auge klar erkennbar.

“In der Tat. Soweit ich das verstehe, wurde Euch das Wissen gewährt, wie sich die Barriere aufspüren und entfernen lässt. Euch wurde zudem gezeigt, wie es gemacht wird von…” Er hielt inne, offensichtlich nicht sicher, wie er die Familiensituation bezeichnen sollte, in der sie sich nach ihrer Adoption befand.

“Von Valrad”, vervollständigte sie seinen Satz. “Ja. Er war so freundlich, mir zu zeigen, wie es geht, indem er mich bei der Entfernung von Enrics Barriere instruierte.”

Sie sah, wie sich ein breites Lächeln auf Lord Woldarns Gesicht ausbreitete. “Dann haben wir nun zwei Magier, die in der Lage sind, magisch begabte Töchter zu zeugen. Und wie günstig, dass sie auch noch Gefährten sind.”

Eryn starrte ihn kühl an. “Euer Eifer, diese neue Entwicklung mit offenen Armen zu begrüßen, ist verständlich, mein Lord, aber ich versichere Euch, dass ich nicht die Absicht habe, eine Großfamilie zu starten, um in dieser Angelegenheit den Wünschen anderer entgegenzukommen.”

“Verzeiht”, sagte er beschwichtigend und hob beide Hände, “das wollte ich damit nicht sagen, Lady Eryn, seid versichert. Ich meinte nur, dass, egal wie viele Kinder Ihr und Lord Enric zu haben beabsichtigt, wir uns alle darauf freuen, ihre Entwicklung zu verfolgen – besonders, falls es darunter Mädchen gibt.”

Enric schloss für einen Moment die Augen. Darauf würde es ebenfalls keine besonders wohlwollende Antwort geben, und er bezweifelte, dass Tyront in der Laune war, im Moment noch weitere Unverschämtheiten von ihrer Seite in Kauf zu nehmen. Deshalb erhob er seine Stimme, bevor Eryn darauf antworten konnte.

“Lord Woldarn, ich schätze Euer Interesse an unseren Fortpflanzungsplänen sehr, würde aber meinen, dass dies hier kaum das richtige Umfeld für solch eine Diskussion ist”, kommentierte er trocken und ließ keinen Zweifel daran, dass er es keineswegs schätzte.

Das brachte ihm ein paar Lacher ein, und Lord Woldarn lehnte sich mit verschränkten Armen und einem missmutigen Gesichtsausdruck zurück.

“Lady Eryn”, kehrte Lord Tyront wieder zum ursprünglichen Thema zurück, “wir haben Euch rufen lassen, um Euch über unsere Entscheidung zu informieren, dass Ihr die Barriere in den Köpfen sowohl von Magiern als auch Nichtmagiern entfernen sollt, sobald es Euch möglich ist.”

Sie schluckte. “Bei allen?”

“Vorzugsweise, ja. Ich stelle mir vor, dass dies einige Zeit in Anspruch nehmen wird, die Ihr lieber auf andere Angelegenheiten verwenden würdet, aber Ihr werdet sicher verstehen, dass dies bald erledigt werden sollte”, zeigt er auf.

Eryn atmete aus und nickte. “Das tue ich, ja. Allerdings weiß ich nicht, wie lange ich dafür brauchen werde, jede einzelne Barriere zu entfernen. Ich habe das bisher erst einmal gemacht, und dabei hatte ich Hilfe. Wie soll das funktionieren? Soll ich an jede Tür klopfen und den Leuten sagen, sie sollen mich einen Blick in ihren Kopf werfen lassen? Was ist, wenn sich jemand weigert? Nicht jeder fühlt sich damit wohl, jemand Fremden Dinge in seinem eigenen Kopf tun zu lassen, die er nicht versteht”, wies sie hin.

“Es wird einen königlichen Befehl geben, dem sich die Leute fügen werden”, steuerte ein weiteres Ratsmitglied bei.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. “Wirklich? Wir zwingen sie dazu? Oder Ihr wollt mich dazu bringen, sie zu zwingen? Was soll ich denn machen, wenn sie sich rundheraus weigern? Ihnen eins überziehen und dann ohne ihre Zustimmung fortfahren?” Sie verschränkte die Arme. “Das widerspricht den Prinzipien des Heilerberufs. Ich habe nicht die Absicht, diesen Befehl irgendjemandem aufzuzwingen, der nicht zustimmt. Weiters werde ich meinen Heilern nicht zeigen, wie es gemacht wird, falls Ihr beabsichtigt, sie an meiner statt unter Druck zu setzen.” Mit trotzig erhobenem Kinn blitzte sie die Ratsmitglieder an.

Enric sah, wie Tyront bei der unverfrorenen Verweigerung eines königlichen Befehls erblasste, besonders da derjenige, der ihn erlassen hatte, anwesend war. Sie waren noch nicht einmal einen ganzen Tag lang zurück, und schon war sie wieder dabei, sich Ärger einzuhandeln. Diese Frau hatte wirklich ein Talent dafür. Es war allerdings ein Pech für den Orden und den König, dass sie einen erheblichen Vorteil auf ihrer Seite hatte. Wenn sie sich weigerte, die Barriere zu entfernen, hatten sie niemanden sonst, der es tun würde oder konnte. Und einen Heiler aus den Westlichen Territorien anzufordern, der sich darum kümmern sollte, weil Eryn es ablehnte, würde gar nicht gut aussehen. Dann war da auch noch die Frage, ob man sich dort unter diesen Umständen ebenfalls weigern würde. Es konnte sehr gut sein, dass man dort beim Heilen die gleichen Prinzipien zur Anwendung brachte, denen Eryn folgte.

Alle sahen auf, als sie die ruhige Stimme des Königs vernahmen.

“Lady Eryn. Ich darf Euch versichern, dass niemand beabsichtigt, die strengen ethischen Grundsätze zu verletzen, die Ihr für Eure Arbeit als notwendig erachtet. Ich bin sicher, dass wir uns gerade deswegen alle sicherer dabei fühlen, uns in Eure fähigen Hände zu begeben. Welche Herangehensweise würdet Ihr in dieser Angelegenheit als angemessen erachten, meine Lady?”

Gut, überlegte Enric, es schien, als wäre der König zum gleichen Schluss gelangt. Aber das war keine große Überraschung. Er hatte eine gewisse Begabung dafür, schnell zu reagieren.

Enric beobachte Eryn, wie sie einen Moment lang die Möglichkeiten abwog, bevor sie sich an den König wandte. “Ich schlage vor, die Entfernung der Barriere freiwillig zu machen, Eure Majestät. Wenn wir bekannt machen, dass die dies vollkommen gefahrlos erfolgt und wir den wahrscheinlichen Vorteil betonen, dass weibliche Magier geboren werden könnten, könnte das den Großteil der Menschen dazu veranlassen, zuzustimmen. Die Leute könnten zur Klinik kommen, um die Entfernung vornehmen zu lassen. Es könnte auch sein, dass ein Steuererlass für dieses Jahr helfen könnte, sie zu überzeugen…”

Der König zog eine Braue hoch. “Ein faszinierender Vorschlag, den ich auf jeden Fall in Betracht ziehen werde. Ihr habt Euch also entschieden, die Stätte Klinik zu nennen?”

Hatte sie das? Sie dachte kurz nach und erkannte dann, dass es stimmte. “Ja, es scheint, als hätte ich das”, sagte sie langsam.

“Allerdings nicht ganz bewusst, wie es scheint”, bemerkte der König. “Ein Begriff, den ihr zweifelsohne von unseren neuen Freunden im Westen übernommen habt.” Er sah die Ratsmitglieder an. “Ich gehe davon aus, dass der Rat der Magier keinen Einwand dagegen hat, die Barriere seiner Mitglieder so bald wie möglich entfernen zu lassen?”

Köpfe wurden geschüttelt.

“Wie Ihr seht, Lady Eryn, müssen die anwesenden Magier nicht genötigt werden. Darf ich es Euch somit auferlegen, dies gleich hier und jetzt zu erledigen? Lasst mich der Erste sein, bei dem Ihr es durchführt, um als gutes Beispiel voranzugehen.”

Sie schluckte und nickte, nicht sicher, wie sie fortfahren sollte. Sollte sie sich dem Thron nähern? Benötigte sie dafür eine Einladung? War das gerade eben eine gewesen?

König Folrin erhob sich und bedeutete ihr näherzutreten. “Wo müsst Ihr mich dafür berühren, Lady Eryn?”

“Irgendwo an Eurem Kopf wäre gut. Die Stirn beispielsweise”, antwortete sie und ging die paar Schritte auf ihn zu, bis sie direkt vor ihm stand.

“Zieht Ihr es vor, dabei zu sitzen oder zu stehen?”, erkundigte er sich weiter.

“Da ich nicht sicher bin, wie lange es dauern wird, wäre es mir lieber, dabei zu sitzen, wenn das in Ordnung ginge.”

“Aber natürlich”, nickte der König höflich und ergriff ihre Hand, um sie zu einer kleinen Bank vor einem der vielen Fenster zu führen. Die war kaum breit genug, um zwei Leuten Platz zu bieten, bemerkte sie mit leichtem Unbehagen. Sie waren also wieder zurück bei seinen Spielchen, wie es schien. Allerdings bezweifelte sie, dass es besonders klug von ihm war, ihr Unbehagen zu vermitteln, während sie im Inneren seines Kopfes arbeiten sollte, ohne dort irgendwelchen Schaden anzurichten.

Er wartete darauf, dass sie Platz nahm und setzte sich dann ein wenig näher zu ihr, als nötig gewesen wäre, bevor er ihre Hand nahm und sie auf seine Stirn legte.

“Ich bin bereit, wenn Ihr es seid, meine Lady.”

Sie nickte und schloss die Augen, sich seines Blicks auf ihr nur zu bewusst. Sie kämpfte die Nervosität nieder und fand diesen Ort des Friedens und der Stille in sich. Erst dann ließ sie die Magie ihren Arm entlang und von ihrer Handfläche in seinen Schädel fließen. Da dies nun bereits das dritte Mal war, dass sie danach suchte, fand sie den Punkt einigermaßen rasch. Es schien umso einfacher zu werden, je öfter sie es tat. Genau wie Valrad sie angewiesen hatte, ließ sie, indem sie Magie zuführte, die Größe der Barriere langsam und vorsichtig anwachsen, bis sie aufgelöst werden konnte, ohne beim umliegenden Gewebe irgendwelche Schockreaktionen auszulösen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der nervenaufreibende Blick des Königs noch immer auf sie gerichtet. Sie nickte und entfernte ihre Hand von seiner Stirn. “Es ist vollbracht. Die Barriere in Euch ist nun beseitigt.”

König Folrin lächelte beifällig. “Gut gemacht.” Dann stand er auf und wandte sich an den Rat.

Tyront hatte sich bereits von seinem Stuhl erhoben. Er wusste immerhin, was von ihm erwartet wurde. “Ich bin der Nächste.” Er kam mit forschen Schritten auf sie zu und nahm den Platz ein, den der König gerade eben geräumt hatte. Seine Haltung war so ruhig und selbstbewusst wie immer, aber sie sah die Warnung in seinen Augen. Es sah also so aus, als wäre ihm nicht ganz wohl bei dem Gedanken, ihr Zugriff zu seinem Kopf zu erlauben.

“Sorgt Euch nicht, Lord Tyront”, sagte sie so leise, dass nur er sie hören konnte. “Ich verspreche, es wird nicht wehtun. Ich werde mich benehmen; keine Alpträume oder Bilder von riesigen Katzen, die Euch durch die Straßen jagen.”

Er erwiderte nichts darauf, sondern zog nur eine Braue hoch, als sie ihre Hand hob, um sie auf seine Stirn zu legen.

* * *

Tyront gesellte sich zu seinem Stellvertreter, der an eine Säule gelehnt stand, während er seine Gefährtin auf der kleinen Bank dabei beobachtete, wie sie mit vor Konzentration gerunzelter Stirn arbeitete.

“Kilan sagte uns, dass ihre Familie in den Westlichen Territorien für ihre Unbeherrschtheit berüchtigt ist”, bemerkte er. “Wie bedauerlich, dass nicht jemand mit mehr Sanftmut seinen Weg hierher gefunden hat.”

Enric lächelte nur. Es schien, als hätte Tyront, genau wie Enric erwartet hatte, seinen Ärger über die Neuigkeiten der Adoption vom Abend zuvor überwunden.

“Ich muss sagen, dass ich mit dem, wie sich die Dinge bislang entwickelt haben, recht zufrieden bin. Außerdem musst du zugeben, dass wir von ihrem Wissen profitiert haben. Nach mehr als dreihundert Jahren werden wir wieder weibliche Magier haben. Dass wir ihr Temperament aushalten müssen, ist ein kleiner Preis dafür, würde ich sagen”, merkte er an.

Tyront seufzte. “Du hast Recht, und das wissen wir beide. Allerdings schätze ich es nicht besonders, dass du die Stimme der Vernunft bist, wenn ich stattdessen einen mitfühlenden Zuhörer brauche, um meine Frustration loszuwerden, mein lieber Junge.”

“Mein lieber Junge”, wiederholte Enric mit einem leichten Kopfschütteln. “Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Wann wirst du aufhören, mich so zu nennen?”

“Wenn unser Altersunterschied zu schrumpfen beginnt oder du meine Position übernimmst”, erwiderte Tyront selbstgefällig.

“Wenn ich deine Position übernehme? Das würde bedeuten, dass du tot wärst”, strich Enric hervor.

“Das würde mich auf jeden Fall davon abhalten, dich länger mit mein lieber Junge anzusprechen, oder etwa nicht?”

“Es würde dich von einer Menge Dinge abhalten, würde ich meinen”, entgegnete der jüngere Mann trocken.

“Sehr richtig. Aber dann ist da noch die Frage, ob du überhaupt zur Verfügung stündest, um meine Nachfolge anzutreten mit deinem neuen Status als Erbe eines Hauses in Takhan, ist es nicht so?”

Ah ja, dachte Enric grimmig – sie waren also wieder bei diesem Thema angelangt. Natürlich ließ es sich auf lange Sicht nicht vermeiden; er stand nun für zwei Positionen, die einander mehr oder weniger – schon allein aus geographischen Gründen – ausschlossen, an zweiter Stelle.

“Ich rechne nicht damit, dass ich mich in absehbarer Zukunft in diese Verlegenheit kommen werde”, sagte er in dem Versuch, seinen Vorgesetzten zu besänftigen. “Ich bin zuversichtlich, dass es ausreichend Gelegenheit geben wird, um im Laufe der Zeit ein fähiges Oberhaupt für Haus Aren zu finden. Malriel ist noch keine Fünfzig, also bezweifle ich, dass sie ihre Position in nächster Zeit aufgeben wird. Oder du deine.”

Das schien Tyront bis zu einem gewissen Grad zu beschwichtigen. “Das mag zutreffen. Aber wenngleich das keine Angelegenheit ist, die uns jetzt im Augenblick betrifft, bedeutet das nicht, dass wir dafür keine Lösung finden müssen. Im Moment sieht es so aus, als wäre die Nachfolge im Orden gefährdet.” Sein Blick wanderte zu Eryn, die gerade an Lord Poron arbeitete. “Nummer drei”, murmelte er. “Abgesehen von der Tatsache, dass sie den Orden wahrscheinlich auflösen oder in ultimatives Chaos stürzen würde, ist das nicht einmal das Hauptproblem, da du sie ohnehin mit nach Takhan nehmen würdest. Damit bleibt Lord Poron, bei dem ich mir wünschen würde, dass er ewig lebt, der aber trotzdem zwanzig Jahre älter ist als ich und mich sehr wahrscheinlich nicht überleben wird, um meine Position zu übernehmen.”

“Dann also Orrin”, lächelte Enric. “Nun, das wäre eine gute Wahl. Abgesehen davon, dass er sich einfach weigern würde. Er ist zu ehrlich, zu direkt für diesen politischen Tanz.”

Tyront atmete hörbar aus. “Ich hoffe, du siehst, in welche Situation du mich mit deiner ritterlichen Geste gebracht hast, indem du den Platz deiner Gefährtin in ihrer alten Familie eingenommen hast, um ihre neue zu beschützen.”

Enric nickte verständnisvoll. “Ich darf dich meines Mitgefühls versichern.”

“Ich würde lieber hören, wie du mir versicherst, dass du eine Lösung für dieses Dilemma findest. Glaub bloß nicht, dass das allein mein Problem ist, Enric.”

“Davon würde ich nicht einmal träumen. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit eines weiteren unerwarteten Zuwachses in unseren hohen Rängen”, sagte der jüngere Mann fröhlich.

“Hör bloß auf, mich aufzumuntern”, knurrte Tyront. “Wenn es irgendeine Gerechtigkeit in dieser Welt gibt, werde ich mich mit so etwas kein drittes Mal herumplagen müssen.” Er sah erneut zu Eryn hin. “Ist sie noch immer so entschieden dagegen, Kinder zu bekommen? Sie ist immerhin mit dir in dieses magische Band eingetreten.”

“Ja, das ist sie. Und wenn ich zuvor bei Lord Woldarns Frage nicht eingegriffen hätte, hätte sie ihre Ansichten dazu ohne Zweifel in recht farbenfrohen Worten kundgetan. Denkst du darüber nach, meine Nachkommen nach Takhan zu schicken, damit sie Haus Aren übernehmen?” Er schüttelte den Kopf. “Das würde nicht ganz so einfach funktionieren. Gemäß ihren Gesetzen wären unsere Kinder Mitglieder von Haus Vel’kim. Kinder, die wir allerdings wohl niemals haben werden”, fügte er in einem Tonfall hinzu, auf den hin Tyront seine Augen zusammenkniff.

“Darüber bist du nicht allzu glücklich, was?”, fragte er behutsam nach.

Enric seufzte. “Ich respektiere diese Entscheidung. Und ich war mir darüber im Klaren, bevor ich das Kommitmentband mit ihr eingegangen bin. Ich beschwere mich also nicht. Es ist immerhin nicht so, als wäre ich ohne sie drauf und dran gewesen, eine Familie zu gründen. Wenn sich die Frage stellt, ob ich entweder Kinder haben werde oder Eryn behalten kann, brauche ich über die Antwort nicht einmal nachzudenken.”

Der ältere Mann nickte langsam. “Ich verstehe. Wie bedauerlich, dass dies die Optionen sind.”

Lord Poron trat zu ihnen und lächelte. “Ich habe es hinter mich gebracht. Es scheint, als hätte ich nun die Fähigkeit, magische Töchter zu zeugen”, lachte er. “Meine Aurna wird sich sehr amüsieren, wenn sie das erfährt.”

“Es ist mehr die Geste, die zählt”, meinte Tyront. “Wir müssen sagen können, dass der gesamte Rat der Magier die Barriere entfernen ließ – sonst könnten wir es kaum rechtfertigen, wenn wir andere dazu anhalten, wenn es nicht jeder einzelne von uns ebenfalls tut.”

Lord Poron winkte ab. “Keine Beschwerden von meiner Seite, Lord Tyront. Es war interessant mitanzusehen, obwohl Lady Eryn mir immer wieder sagte, ich solle aufhören, jeden ihrer Schritte zu verfolgen und unbequeme Fragen zu stellen, die ihre Konzentration störten.”

“Nun, ich würde meinen, dass es womöglich nicht die schlaueste Idee ist, eine Heilerin abzulenken, die sich im Inneren Eures Kopfes zu schaffen macht”, zeigte Enric auf. “Aber ich bin sicher, dass es mehr als genug Gelegenheiten geben wird, sich anzusehen, wie es gemacht wird, wenn sie die Barrieren im Heilergebäude entfernt.”

Ihre Haltung wurde etwas aufrechter, als der König auf sie zutrat.

“Lord Enric, Ihr seid Euch gewiss über den Brauch im Klaren, dass die Krone denjenigen, die sich um das Königreich verdient machen und seinen Dank verdienen, einen Gefallen gewährt?”

Enric lächelte flüchtig. “Ich gestehe, dass ich mir dessen bewusst bin, Eure Majestät.”

“Dann gehe ich weiterhin zweifellos recht in der Annahme, dass Ihr bereits etwas im Sinn habt, das Ihr mir zu diesem Zweck näherbringen wollt?”

“Da gibt es in der Tat eine Idee, die ich sehr gerne mit Euch diskutieren würde, Eure Majestät.”

“Sehr gut”, lächelte der König. “Dann schlage ich vor, dass wir uns bald treffen, um uns darum zu kümmern. Benötigt Ihr Zeit, um Euer Vorhaben im Detail auszuarbeiten?”

“Nein, wie es der Zufall will, ist alles vorbereitet.”

“Ausgezeichnet. Ich muss sagen, dass das nicht gänzlich unerwartet kommt.” Der König nickte den drei Magiern zu. “Entschuldigt mich nun. Ich muss Euch nun verlassen.” Er wartete, bis sich die Magier vor ihm verbeugt hatten, bevor er sich entfernte.

“Also, was wird es denn werden?”, fragte Lord Poron neugierig.

“Nichts, das ich verbreiten möchte, bevor es bewilligt wurde”, meinte Enric mit einem leisen Lachen. “Das soll angeblich Unglück bringen.” Er sah zu Eryn hinüber. “Es sieht so aus, als hätte sie hier noch eine Weile zu tun. Das bedeutet, dass ihre Arbeit unerledigt liegen bleibt und sie heute Abend nicht besonders entspannt sein wird. Ich gehe davon aus, dass ich sie nach Hause schleifen muss, bevor sie wieder auf ihrem Schreibtisch einschläft.”

“Das ist die Kehrseite daran, wenn man mit solch einer wichtigen Frau verbunden ist, Lord Enric”, lachte Lord Poron. “Der wichtigsten, die wir derzeit haben.”

* * *

Eryn kehrte in ihr Arbeitszimmer zurück und ließ sich in den Sessel plumpsen. Zwei Stunden waren vergangen. Zwei Stunden, die sie wesentlich besser nutzen hätte können, als die Barrieren des Königs und der Ratsmitglieder zu entfernen. Aber zumindest hatte sie ihre Fertigkeiten durch die Übung ein wenig verbessert. Zum Ende hin war sie schon wesentlich schneller gewesen als zu Beginn. Sobald sie mit dem Letzten von ihnen fertig war, war sie mehr oder weniger aus der Ratshalle geflohen, als erste Versuche folgten, sie in Gespräche zu verwickeln.

Sie hatte gesehen, wie Enric auf einer Seite gestanden hatte und zuerst mit Lord Tyront und dann auch mit Lord Poron gesprochen hatte. Später war Orrin noch dazugestoßen. Nur kurze Zeit nach dem Entfernen von Lord Tyronts Barriere hatte sie einen überraschenden Anfall von Melancholie verspürt, der nicht von ihr gekommen war. Sie fragte sich, was die beiden Männer wohl besprochen hatten, das in ihrem Gefährten solch ein Gefühl auslöste.

Ein Klopfen ertönte an der Tür, die ihr Arbeitszimmer mit Rolans verband, und sie rief ihn zu sich. Er steckte seinen Kopf herein.

“Vern hat nach Euch gesucht. Ich sagte ihm, dass ich ihm Bescheid gebe, sobald Ihr zurück seid. Er ist jetzt in Plias Labor”, berichtete ihr Assistent.

Seufzend stand sie auf. “In Ordnung, dann hole ich ihn besser. Es sieht nicht so aus, als würde ich heute irgendetwas erledigen können. Ich frage mich, warum ich dermaßen optimistisch war.”

Sie trat in den Korridor hinaus und klopfte an Plias halboffene Tür.

“Plia?”, rief sie aus. “Mir wurde gesagt, Vern sei hier.” Als sie eintrat, sah sie, wie Plia ein Bündel getrockneter Kräuter inspizierte, das höchstwahrscheinlich von den Kräutersammlern geliefert worden war, und Vern in einem der Bücher auf dem Tisch neben ihr herumblätterte.

“Ich habe es dir ja gesagt”, verkündete er dann triumphierend, “die Blüten müssen vor dem Trocknen gepflückt werden!”

Beide blickten auf, als Eryn eintrat.

“Da bist du ja!”, beschwerte sich Vern. “Ich warte hier schon seit mehr als einer halben Stunde auf dich! Wo warst du nur? Ich hätte gedacht, dass du nach deiner Reise genug Arbeit hast, um nicht einfach mitten am Tag fortzulaufen!”

Sie schnaubte. “Sag das nicht mir, sondern dem Rat der Magier! Die dachten, dass jetzt eine prima Zeit wäre, um mich eine Kleinigkeit für sie erledigen zu lassen. Plia, ich hoffe, er hält dich nicht von der Arbeit ab? Wirf ihn einfach hinaus, wenn er dich nervt.”

“Nein”, lächelte das Mädchen, “tatsächlich hat er mir sogar sehr geholfen. Es hilft, dass er dir dabei zur Hand gegangen ist, die Bücher zusammenzustellen; er findet die Dinge darin viel schneller als ich.”

Vern legte das Buch zur Seite und winkte Plia zum Abschied zu, bevor er Eryn in ihr Arbeitszimmer folgte. Sobald die Türe ins Schloss fiel, veränderte sich seine Haltung vollkommen. Er ließ seine Schultern hängen, und seine Miene wurde unglücklich und besorgt.

“Was ist los?”, fragte sie sofort. “Das ist keine gute Reaktion darauf, dass du mein Zimmer betrittst.”

“Ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Ich schätze, dass du bereits das eine oder andere gehört hast. Wie ich mich um alles hier gekümmert habe, hat sich nicht gerade als großer Erfolg erwiesen”, murmelte er. “Ich habe versagt.”

Eryn sah ihn an und überlegte, wie damit umzugehen war. Mitgefühl würde sie im Augenblick bei ihm nicht weiterbringen. Sein Selbstwertgefühl war jetzt gerade niedrig, und wenn sie ihn behutsam anfasste, würde er das nur als Bestätigung auffassen. Eine Freundin war nicht das, was er im Augenblick brauchte. Er brauchte eine Vorgesetzte.

Sie griff nach ein paar Blättern Papier und gab vor, sie durchzusehen, bevor sie verwirrt aufblickte.

“Ich habe mir die Berichte, die Rolan mir bei jeder Gelegenheit mit so viel Eifer nachwirft, durchgesehen, und es scheint, dass es in den letzten Wochen eine zunehmende Anzahl an Patienten gab, die mit weitgehend guten Ergebnissen behandelt wurden.” Sie zog eine Liste hervor. “Hier steht, dass die Qualität der Kräuter und Medizin angemessen war, also keine Beschwerden von dieser Seite. Die Beschwerden, die gemacht wurden – alle vier – wurden rasch aus der Welt geschafft. Das Geld ist nur so hereingeflossen und wurde ordnungsgemäß aufbewahrt, die Patientenberichte wurden fertiggestellt, und ich bin nicht zu vollkommenem Chaos und Durcheinander zurückgekehrt.” Sie legte die Papiere zur Seite. “Ich habe gehört, dass du Ärger mit den Heilern hattest, aber da die Heilerdienste durchgehend und mit dem von mir verlangten Standard bereitgestellt wurden, betrachte ich den Ausdruck versagt hier nicht als angemessen.”

Er blinzelte mehrmals und runzelte die Stirn. Als er zum Sprechen ansetzte, hob sie einen Finger, um ihn zu stoppen.

“Ich bin sicher, dass die Zeit, in der du die Verantwortung für alles hier tragen musstest, nicht eben entspannend und unkompliziert war, sondern voller Herausforderungen, besonders persönlicher Natur. Aber das hat dich weder davon abgehalten, die Dienste am Laufen zu halten, noch hast du alles hingeschmissen und bist abgehauen, wenngleich die Meisten das zweifellos verstanden hätten. Also, wie auch immer du selbst deine Leistung beurteilen magst, rational betrachtet ist versagt jedenfalls nicht zutreffend. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, musst ich mich darauf verlassen können, wie du Situationen beurteilst.” Sie lehnte sich zurück und legte ihre Fingerspitzen genau so aneinander, wie sie es Lord Tyront hatte tun sehen. Oh Mann. Imitierte sie ihn jetzt tatsächlich?

“Ich würde dich darum ersuchen, noch einmal nachzudenken und mir dann eine realistische Beurteilung dessen zu geben, was in meiner Abwesenheit vorgefallen ist.” Sie war stolz darauf, wie kühl ihre Stimme klang. Die Aussage klang wie der Befehl, der sie tatsächlich auch war.

Vern richtete sich auf, und auf seinem Gesicht blieb nur ein unsicherer Ausdruck zurück, als wüsste er nicht genau, wie er mit Eryn als Authoritätsperson umgehen sollte, wenn sie viel eher in ihren explosiven, verärgerten oder ausgelassenen Stimmungen kannte.

Seine Augen wanderten einige Sekunden lang suchend über den Boden, bevor er zu sprechen begann. “Die Behandlung der Patienten hat gut funktioniert; ich habe ein Rad eingeführt, wo jeder der Lehrlinge zuerst mit mir arbeitete, bevor er wieder mit einem anderen Lehrling zusammengespannt wurde. Um die komplizierteren Behandlungen habe ich mich selbst gekümmert, während die anderen die weniger aufwändigen Dinge geheilt haben und angewiesen waren, bei Fragen zu mir zu kommen.” Dann hielt er inne und dachte erneut kurz nach, bevor er fortsetzte: “Die Kräuterversorgung war zu Beginn etwas unstet, aber Plia hat sich etwas ausgedacht, um vorauszuplanen, welche Medizin sie braucht und hat die Kräutersammler entsprechend angewiesen. In manchen Fällen war die Qualität ein Problem, besonders wenn es um die Kräutersammler geht, die nicht mit uns auf der Exkursion waren. Aber Plia war sehr streng, wenn es darum ging, die Materialien anzunehmen, also hat sich das gebessert.” Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

“Was noch?”, forderte Eryn ihn auf.

“Rolan hat sich um alles Verwaltungstechnische gekümmert, und obwohl ich es zu Beginn etwas schwierig fand, mit ihm auszukommen, hat sich herausgestellt, dass dieser Ort hier ohne ihn mehr oder weniger dem Untergang geweiht ist. Zumindest, wenn du nicht hier bist.”

Sie unterdrückte ein Lächeln und verzichtete darauf, ihm zu sagen, dass es diesbezüglich keinen großen Unterschied machte, ob sie hier war.

“Ohne ihn wäre ich komplett und vollkommen verloren gewesen. Wirklich. Ich denke, ich verdanke ihm meine geistige Gesundheit. Oder was davon noch übrig ist”, seufzte Vern.

Gut. Zumindest sah er, dass auch etwas Positives gelaufen war, dachte sie. Es war Zeit, das anzusprechen, was nicht so gut funktioniert hatte.

“Was war das Problem zwischen dir und den anderen Heilern?”, erkundigte sie sich milde.

“Ich weiß es nicht, es war einfach…”, begann er und brach sofort ab, als sie den Kopf schüttelte.

“Nein, Vern. Lass für den Moment das Selbstmitleid beiseite und denk nach. Ich brauche anständige Antworten, keine Beschwerden”, beharrte sie.

Er wirkte leicht bestürzt, nickte aber und begann von Neuem. “Ich hatte den Eindruck, dass es ihnen schwerfiel, mich ernst zu nehmen.”

“Was denkst du, woran das lag?”

Er sah sie an, als wäre das offensichtlich. “Meine Jugend, würde ich meinen.”

“In Ordnung. Ich habe gehört, dass es gewisse… Unstimmigkeiten gab, was das Training betrifft?”

“Das könnte man so sagen, ja”, antwortete er düster. “Entweder haben sie die Aufgaben, die ich ihnen gegeben habe, überhaupt nicht erledigt oder nur die Hälfte davon.”

“Haben sie dir dafür einen Grund genannt?”

“Sie haben immer wieder gesagt, es sei zu viel, dass sie nach der Arbeit keine Energie mehr dafür hätten.”

Eryn nickte. “Ich verstehe. Und wie hast du auf dieses Argument reagiert?”

“Ich sagte ihnen, sie sollten mehr Einsatz für ihre Ausbildung zeigen und sie besser ernst nehmen, anstatt zu versuchen, einen Vorteil aus deiner Abwesenheit zu ziehen”, informierte er sie.

Meine Güte. “Du hattest also keinerlei Zweifel, dass sie womöglich tatsächlich nicht versucht haben, sich aus Faulheit vor den Aufgaben zu drücken, sondern weil es wirklich zu viel für sie war?”

Seine Augen verengten sich. “Ich habe viel mehr als das getan, als ich mein Heilertraining mit dir begann! Ich blieb bis Mitternacht auf, um Bücher zu lesen, die Sachen zu üben, die ich gelernt hatte und Bilder zu zeichnen. Ich gab ihnen wesentlich weniger zu tun, also sehe ich wirklich nicht, worüber man sich hier beschweren konnte!”

Eryn lehnte sich nach vorne. “Vern, du weißt sehr genau, dass deine Fähigkeiten rund um alles, was auch nur entfernt mit Büchern und Verständnis zu tun hat, über dem Durchschnitt liegen. Das ist etwas, das nicht nur ich dir gesagt habe, sondern das du zweifellos auch mit dem Rest deiner Klassenkameraden und deinen Lehrern wahrgenommen hast. Es kann sehr gefährlich sein, deine eigenen Standards, die auf deinen persönlichen Fähigkeiten beruhen, auf andere Menschen anzuwenden, deren Stärken entweder nicht so ausgeprägt sind wie deine oder aber in anderen Bereichen liegen.”

“Du denkst also ebenfalls, dass ich zu viel von ihnen erwartet habe?”

Sie atmete langsam aus. “Vern, ich bin nicht wirklich in einer Position, um hier irgendetwas zu beurteilen. Ich habe keine Ahnung, was oder wie viel genau du ihnen zu tun gegeben hast, ob es zu viel war oder nicht. Ich versuche nur, dich dazu zu ermutigen, ihren Standpunkt zu sehen und dir selbst klar zu machen, dass nicht jeder so ist wie du. Das bedeutet nicht, dass sie als Heiler weniger wichtig sind als du, wohlgemerkt. Sie haben womöglich andere Stärken, die du nicht besitzt”, fügte sie als Warnung hinzu.

Das schien ihn zum Nachdenken anzuregen.

“Sie sperrten mich mehrmals ein”, war alles, was er schließlich leise sagte.

“Das hätten sie nicht tun sollen”, nickte sie. “Es war recht kindisch. Aber Leute tendieren dazu, unvernünftig zu reagieren, wenn sie sich unverstanden fühlen und frustriert sind. Das ist der Trick, siehst du? Ihnen zuzuhören.” Sie lächelte. “Erinnerst du dich an all diesen Ärger, den wir mit dem Umkleideraum hatten?” Wie weit weg das nun schien. “Ich beharrte darauf, alles so zu belassen, ganz egal, welche Unannehmlichkeiten Enric mir verursachte. Dann waren es die Heiler selbst, die zu mir kamen und mir sagten, dass ich es ändern sollte. Darüber war ich nicht besonders glücklich, das darfst du mir glauben. Obwohl es sich anfühlte, als hätte ich diese Schlacht gegen Enric verloren, gab ich dennoch meinen Kampf auf und tat, worum sie mich baten. Deswegen haben sie mich nicht weniger respektiert. Hätte ich trotz ihrer Bitte darauf bestanden, alles so zu lassen, wie es war, hätte mich das sicherlich ihre Gunst gekostet. Und trotz all des Ärgers, den du mit ihnen hattest, haben sie niemals die Qualität ihrer Arbeit darunter leiden lassen, soweit ich das gesehen habe. Weißt du, das ist etwas, das du ihnen zugutehalten solltest.”

Vern rieb sich über sein Gesicht, plötzlich müde. “Das zeigt mir, dass ich ganz klar nicht dafür geschaffen bin, Leute zu führen.”

“Kompletter Unsinn. Es zeigt nur, dass du sechzehn bist. Leute anzuführen ist eine Frage von Erfahrung und Lernbereitschaft. Lernbereitschaft war in deinem Fall noch nie ein Problem. Die Erfahrung wird mit dem Alter kommen, da bin ich sicher. Ich habe nicht die Absicht, dich vom Haken zu lassen, wenn es darum geht, für mich einzuspringen.”

Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu. “Nach all dem denkst du noch immer, dass das eine kluge Idee ist?”

“Ja, das tue ich. Ich habe nicht die Absicht, dich dein Potential und Talent verschwenden zu lassen, weil du noch nicht gelernt hast, deine tyrannischen Tendenzen unter Kontrolle zu bringen. Du wirst früher oder später eine Führungsrolle irgendeiner Art übernehmen, das lässt sich nicht vermeiden. Also fängst du besser damit an zu lernen, wie man mit Leuten umgeht. Allerdings werden wir zusehen, dass du beim nächsten Mal besser vorbereitet bist.”

“Man hört die Leute von geborenen Anführern reden! Es ist also nicht unbedingt etwas, das man lernen kann, sondern ist ein Talent”, strich er hervor.

“Geborene Anführer, Vern, sind Leute, die sich den Luxus leisten können, all das nicht lernen zu müssen, weil sie höchstwahrscheinlich mit beträchtlichen Stärken in diesem Bereich geboren wurden. Allerdings sind sie dann womöglich weder gute Heiler, Künstler oder Verhandler. Wenn du mich fragst, würde ich lieber mit einer Gabe geboren werden, die nicht erlernt werden kann und dafür die Mühen auf mich nehmen, die Fertigkeit des Führens zu erlernen. Du hast gehört, was die Leute über Enric sagen. Er war in seiner Jugend ein fauler, nutzloser Taugenichts – auf jeden Fall kein geborener Anführer. Und sieh ihn dir jetzt an.”

Sie entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um zu ihrer Rolle als Freundin zurückzukehren. “Vern, du hast nicht versagt. Abgesehen von deiner vollkommen unrichtigen Bewertung der Situation”, lächelte sie. “Ich bin stolz auf dich, sehr sogar. Das war ich immer. Und ich bin zuversichtlich, dass du mir mehr als genug Gründe liefern wirst, auch in Zukunft stolz auf dich zu sein.”

Er entspannte sich und erwiderte ihr Lächeln. “Es tut gut, dich zurück zu haben. Richtig gut.”

Sie grinste. “Gut. Vergiss das nur nicht.”

“Was soll ich denn jetzt mit den Heilern tun?”

“Ich werde mit ihnen reden und mir ihre Seite der Geschichte anhören. Ihnen sagen, dass sie gute Arbeit geleistet haben, ihnen Anerkennung zeigen. Was den Rest betrifft – nun, es liegt an dir, dass du sie dazu bringst, dich wieder zu respektieren. Du hast zwei bedeutsame Vorteile: weitreichenderes Heilerwissen und mehr Heilererfahrung als sie. Benutz das, um ihnen zu helfen, lass dich aber nicht respektlos behandeln. Das ist soweit alles.” Sie warf einen kurzen Blick zur Tür, die zum Zimmer ihres Assistenten führte. “Er hat also in meiner Abwesenheit gut gearbeitet?”

Vern schüttelte den Kopf. “Nicht bloß gut, sondern er hat mir Tag für Tag das Leben gerettet. Er hat so viel Papierkram erledigt, dass ich nicht einmal weiß, was das alles ist. Er kann nur zu mir, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wenn er eine Unterschrift oder sonst etwas brauchte, um diesen Ort hier am Laufen zu halten. Fast jeden Tag ist er lange geblieben und war früh am Morgen wieder zurück. Ich weiß nicht, wann er Zeit zum Schlafen hatte. Und er hat versucht, uns vom Streiten abzuhalten.”

Eryn nickte. Das war in der Tat ein hohes Lob, und sie entschied, von nun an netter zu Rolan zu sein. Das hatte er sich redlich verdient.

Sie lächelte und beugte sich vor. “Ich habe ein paar sehr hilfreiche Dinge in Takhan gelernt. Dinge, bei denen ich mir denken könnte, dass du begierig darauf bist, sie zu erlernen.”

In Verns Augen funkelte es. “Was zum Beispiel?”

“Ich habe gelernt, wie man Leute jünger erscheinen lassen kann. Zehn Jahre, zwanzig, wie viel du willst. Und ich habe einen sehr talentierten und gescheiten nichtmagischen Heiler kennengelernt, der mir etwas über nichtmagische Diagnosemethoden beigebracht hat.”

Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. “Ernsthaft? Das ist fabelhaft!”

“Da ist noch mehr. Ich habe gelernt, wie man es den Leuten hier ermöglichen kann, magisch begabte Töchter zu haben.”

Vern starrte sie an. “Das ist nicht dein Ernst!”

“Doch, das ist es”, lächelte sie, zufrieden mit seiner Reaktion. “Und ich wurde gerade vom Rat der Magier damit beauftragt, daran zu arbeiten. Ich könnte noch einen weiteren Heiler gebrauchen, der mir dabei hilft. Du kennst nicht zufällig jemanden, den diese Aufgabe interessieren würde, oder?”

Kapitel 3

Nebenwirkungen

Junar lachte begeistert, als sie die Tür öffnete und sich Eryn gegenübersah.

“Hey, welch unerwartete Ehre! Ich dachte nicht, dass wir dich in nächster Zeit hier sehen würden! Du musst mit Arbeit überflutet sein, könnte ich mir vorstellen. Orrin – sieh mal, wer hier ist”, rief sie. Dann bemerkte sie den leicht gepeinigten Gesichtsausdruck ihrer Besucherin und hielt inne. “Irgendetwas stimmt nicht. Komm herein.”

“Ich muss mit dir reden”, seufzte Eryn und betrat den Salon, der ganz unverkennbar zeigte, dass im Laufe der letzten paar Wochen eine weibliche Hand am Werk gewesen war. Blumen in Vasen, bunte Zierkissen, kleine Gegenstände, die keinem anderen Zweck als der Dekoration dienten.

Orrin kam aus seinem Arbeitszimmer und runzelte die Stirn. “Gibt es Ärger, Mädchen?”

Sie nickte. “Das könnte man sagen, ja.”

“Hast du ihn verursacht oder leidest du unter den Auswirkungen?”, erkundigte er sich weiter.

“Schwierige Frage. Ich schätze, in gewisser Weise könnte man beides sagen”, erwiderte sie nach kurzer Überlegung.

“Nun, wenn das nicht kryptisch ist…” Junar drehte die Augen zur Decke und führte Eryn zu einem Sofa. “Setz dich. Ich hole dir etwas zu trinken.”

“So, was ist los?”, fragte Orrin und näherte sich gemächlich.

Eryn betrachtete ihn ein paar Augenblicke lang, dann sagte sie: “Ich bin nicht wirklich sicher, ob du das hören solltest. Es hat mit Sex zu tun.”

Er brachte seine etwas unbehagliche Miene unter Kontrolle, aber nicht, bevor sie sie bemerkt hatte. Sie lächelte dünn. “Das ist deine letzte Chance zur Flucht, Krieger. Was wird es sein? Wirst du dich den Neuigkeiten stellen oder Junar dazu bringen, dir davon zu erzählen, nachdem ich fort bin?”

Er schnaubte entrüstet. “Was lässt dich glauben, ich würde so etwas tun? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich an diesem Aspekt deines Lebens jemals irgendein ungebührliches Interesse bekundet hätte. Oder jemals gehabt hätte”, fügte er hinzu.

“Ich denke, dass du schrecklich neugierig wärst, weil ich normalerweise nicht herumlaufe, um mit Leuten über meine intimen Probleme zu sprechen”, bemerkte sie mit einer hochgezogenen Braue.

“Ich werde bleiben”, verkündete Orrin. “Aber nur, weil du es wie eine Herausforderung formuliert hast.”

“Mutiger Orrin”, murmelte sie und nahm das warme Getränk entgegen, das Junar ihr brachte.

“Dann rück schon heraus damit!”, drängte sie die Schneiderin, bevor sie sich zwischen die beiden setzte.

Eryn nahm einen Schluck und spürte die tröstliche Wärme in ihrem Hals und Magen. Sie fragte sich, wie sie am besten anfangen sollte. Es war einiges damit verbunden, von dem sie noch nichts wussten.

“Enric und ich sind vor unsere Abreise aus Takhan etwas eingegangen, das sich Kommitmentband dritten Grades nennt”, begann sie. “Es ist ein magisches Kommitment, das nur zwischen zwei Magiern möglich ist. Es bindet sie sehr eng aneinander.”

Junars Augen wurden groß, und Orrins Stirn legte sich in Falten. “Eine magische Bindung? Wie der Eid an den König?”

“Ja, so ähnlich. Allerdings etwas stärker. Sie haben dort drei Kommitmentbande, und das zwischen Gefährten ist das Stärkste. Es führt erhöhte Intimität sowie mehr Bewusstsein für die Gefühle des anderen herbei und zieht Gefährten zueinander zurück, wenn sie getrennt sind.”

“Und in so etwas bist du eingetreten?”, fragte Junar ungläubig. “Du hast dich magisch an einen Mann gebunden?”

“Freiwillig?”, fügte Orrin in dem gleichen fassungslosen Tonfall hinzu.

“Kommt schon!”, rief Eryn aus und warf frustriert die Hände hoch. “Ich war zuvor schon mehrere Monate lang mit Enric verbunden, warum sollte es euch also überraschen, dass wir das getan haben, was man als nächsten Schritt betrachten könnte?”

“Weil du in dein Kommitment mit ihm hineingezwungen wurdest und das zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht gut aufgenommen hast”, antwortete Orrin.

“Zudem hast du ernsthafte Bindungsprobleme”, sagte Junar.

“Nun, die könnt ihr als überwunden betrachten! Kann ich jetzt weitererzählen, oder wollt ihr noch länger über meine vermeintlichen Bindungsängste reden?”

“In Ordnung… ihr seid also dieses starke magische Kommitment miteinander eingegangen.” Orrin bedeutete ihr fortzufahren.

“Es hat Nebenwirkungen”, murmelte Eryn.

“Abgesehen von den Dingen, die du gerade erwähnt hast?”, fragte Junar.

“Ja. Zumindest in unserem Fall. Mir wurde gesagt, dass das kaum jemals passiert und ich mir deswegen keine Sorgen zu machen bräuchte. Aber natürlich ist es ausgerechnet Enric und mir passiert”, seufzte sie und drückte ihre Finger gegen ihre Schläfen. “Weit weg von all den Leuten, die zumindest ein klein wenig darüber wissen.”

“Und diese Nebenwirkungen betreffen dein Sexualleben?”, fragte die Schneiderin vorsichtig.

“Ja, unter anderem. Wir haben uns etwas eingehandelt, das sich Geistesband nennt. Das bedeutet, dass sich zwischen uns eine Verbindung entwickelt hat, die es uns ermöglicht, die Gefühle des jeweils anderen in unserem eigenen Bewusstsein wahrzunehmen, wenn sie stark genug sind”, erklärte Eryn.

Beide starrten sie überrascht an. Junar erholte sich als erste. “Wirklich? Wie zum Beispiel was?”

“So ziemlich alles – gute und schlechte Gefühle. Als ich davon erfuhr, sagte ich etwas, das Enric enorm verärgerte, und die Gewalt seiner Reaktion zwang mich beinahe in die Knie.”

Orrin wirkte verwundert. “Erstaunlich. Und weshalb genau ist das im Bett ein Problem?”

Eryn warf ihm einen gequälten Blick zu. “Weil seine Emotionen zusätzlich zu meinen eigenen so intensiv sind, dass mein Gehirn offenbar nicht in der Lage ist, damit umzugehen. Ich bin ohnmächtig geworden.” Sie schnipste mit den Fingern. “Einfach so. Vollkommen weg.”

Junar erwiderte hilfreich: “Meine Güte. Das ist aber unangenehm.”

“Unangenehm?”, rief Eryn aus. “Das ist eine gewaltige Untertreibung! Das ist eine Katastrophe!”

“Warum?”, fragte ihre Freundin verwirrt. “Ich gehe davon aus, dass die Gefühle, die du verspürt hast, positiv waren?”

“Ja. Na und?”

“Ich könnte mir denken, dass eine Menge Frauen absolut begeistert wären bei der Aussicht darauf, nach dem Sex aufgrund einer überwältigenden Welle an positiven Gefühlen das Bewusstsein zu verlieren”, meinte sie achselzuckend. “Ich allerdings nicht”, fügte sie mit einem verschmitzten Blick zu Orrin hinzu. “Ich bin absolut zufrieden.”

Eryn warf ihr einen finsteren Blick zu. “Enric war panisch! Er dachte einen Moment lang, er hätte mich umgebracht! Kannst du dir das vorstellen? Ich frage mich, ob er es jemals wieder wagen wird, mich anzufassen. Oder ob das überhaupt eine gute Idee wäre.”

“Kannst du niemanden in den Westlichen Territorien fragen, was ihr tun könnt? Oder ob das lebensgefährlich sein könnte?”, regte Orrin an.

“Enric hat eine Nachricht an meinen Onkel, einen Heiler, geschickt. Aber da wir es noch nicht geschafft haben, diese vermaledeiten Vögel zum Brüten zu bringen, wird die Antwort wohl einige Zeit auf sich warten lassen.”

“Was werdet ihr dann tun? In getrennten Räumen schlafen?”, erkundigte sich Junar.

Sie schüttelte den Kopf. “Nein. In dieser Hinsicht ist er unerbittlich. Nach unseren anfänglichen Schwierigkeiten, wo ich mich weigerte, in seinem Zimmer zu schlafen, scheint es, dass er den Gedanken, in verschiedenen Räumen zu nächtigen, rigoros ablehnt. In Takhan wurden wir für die Dauer des Verfahrens getrennt, und das nahm er nicht besonders gut auf.”

“Ja, das Verfahren”, sagte Orrin langsam. “Das ist etwas, worüber ich sehr gerne mehr hören würde. Uns wurde nur mitgeteilt, dass sich deine Rückkehr aufgrund von Vorwürfen, denen du dich stellen musstest, verzögern würde.”

Junar öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder.

“Was?”, fragte Eryn.

“Ich wollte euch gerade zum Abendessen einladen, aber ich weiß nicht genau, wie ich das anstellen soll. Kann ich das überhaupt? Ich meine, dein Gefährte ist Orrins Vorgesetzter. Ist das angemessen? Würde er überhaupt annehmen? Was ist, wenn er es tut? Ich gebe zu, dass ich hier etwas überfordert bin”, seufzte sie.

“Dann erlaube mir, dir hier aus der Klemme zu helfen. Ich würde euch beide plus Vern gerne einladen, in drei Tagen bei uns zuhause zu Abend zu essen.”

Junar lächelte erleichtert. “Danke. Das macht die Sache wesentlich einfacher.”

“Ich bin froh, dass ich dir eine Last von den Schultern nehmen konnte. So, habt ihr irgendwelche Ratschläge für mein Ohnmachtsproblem?”, wollte Eryn wissen.

Junar zuckte die Achseln. “Ich gebe zu, dass ich das Problem nicht wirklich sehe. Du verlierst also das Bewusstsein, wenn das Vergnügen die Grenze des Erträglichen überschreitet. Das klingt für mich nicht gerade nach einer unerträglichen Bürde. Warum genießt du es nicht einfach? Oder gibt es aus Heilersicht irgendwelche Einwände? Könnte dein Gehirn dabei Schaden nehmen? Ich schätze, du hast das überprüft?”

Eryn schüttelte den Kopf. “Das habe ich, ja. Und nein, kein Schaden, der mir aufgefallen wäre. Aber ich fühle mich so hilflos, wenn ich einfach ohnmächtig werde! Es ist schwach, erbärmlich.”

“Ah ja”, lächelte Orrin. “Und da sind wir auch schon bei der Wurzel des Problems angelangt, nicht wahr? Hier geht es sicherlich nicht darum, was Lord Enric über dich denkt. Er würde dich deswegen nicht weniger schätzen. Aber du hast ein Problem damit, schwach zu wirken, womöglich eine Folge dessen, wie du bei uns in der Stadt gelandet bist. Ganz zu schweigen davon, wie du an deinen Gefährten gebunden wurdest. Indem man dich dazu zwang. Kontrolle. Du hast das Gefühl, dass du erneut die Kontrolle über dein Leben verlierst, und das passt dir nicht.”

Eryn blinzelte mehrmals vor Erstaunen. “Das war ein überraschend tiefgehender Einblick.”

“Du meinst im Gegensatz zu meiner üblichen, ungebildeten Herangehensweise?”, fragte er mit hochgezogenen Brauen.

“Nein!”, protestierte sie. “Es ist nur so, dass du nach meiner Erfahrung eher zu etwas mehr Stumpfheit neigst.”

“Dir ist schon klar, dass es in meinem Arbeitszimmer Bücher gibt, nicht wahr?”

“Ja, durchaus”, bestätigte sie taktvoll.

“Die sind nicht als Dekoration gedacht. Ich habe fast alle davon gelesen”, bemerkte er trocken.

“Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe, Orrin”, seufzte sie. “Du denkst also, ich vertraue Enric nicht genug, um es zu ertragen, dass ich die Kontrolle verliere?”

Er schüttelte den Kopf. “Das habe ich so nicht gesagt. Kontrolle ist ein angeborenes menschliches Bedürfnis. Wenn wir den Eindruck haben, dass wir die Dinge um uns herum nicht beeinflussen können, egal, was wir tun, dann fühlen wir uns hilflos, frustriert. Du hast um Kontrolle gekämpft, als du eine Gefangene warst. Zuerst, indem du mir bei jeder Gelegenheit Widerstand geleistet hast, und als das nicht funktionierte, begannst du damit, Leute auf der Straße zu heilen.”

Eryn starrte ihn an. Es schien, als wäre Vern nicht das einzige geistig gewandte Mitglied dieser Familie. Wie hatte sie ihn nur dermaßen unterschätzen können?

“Indem du mich also mit Vern durch die Straßen ziehen hast lassen…”, setzte sie an.

“Habe ich dir einen Teil der Kontrolle über dein Leben zurückgegeben, ja. Und danach warst du kooperativer. Obwohl du immer noch deine Grenzen ausgereizt hast und ich dir neue setzen musste. So wie in dieser einen Nacht, als du Junars Schwester geheilt hast und nicht in dein Quartier zurückgekehrt bist. Die Kontrolle, die man einer Gefangenen überlässt, sollte immerhin ein gewisses Ausmaß nicht übersteigen.”

“Orrin, Orrin”, murmelte sie und nickte, “du durchtriebener alter Hund. Du bist gefährlicher, als ich gedacht hätte.”

“Wie kommst du allgemein mit diesem Teilen eurer Gefühle zurecht? Wie läuft das? Fühlst du plötzlich etwas und hast keine Ahnung, weshalb?”, wollte Junar wissen.

“Nun, es ist anders als meine eigenen Gefühle. Ich weiß es also sofort, wenn ich etwas von ihm empfange. Meist ist es verwirrend, besonders wenn ich irgendwo anders bin und nur die Emotion, aber keinen Zusammenhang dafür habe. Wie gestern, als er mit Lord Tyront gesprochen hat. Da war ein kurzer Moment der Traurigkeit oder des Bedauerns, und ich hatte keine Ahnung, wodurch er ausgelöst wurde.”

“Und danach fragen willst du ihn nicht?”, forderte Junar sie auf.

Eryn verzog das Gesicht. “Ich weiß es nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass er es mir sagen würde, wenn er wollte, dass ich davon wüsste. Diese ganze Sache ist mühsam. Es ist so, als ob wir langsam verschmelzen und ich mich zu fragen beginne, wo er aufhört und ich anfange. Ich möchte mir eine gewisse private Eigenständigkeit bewahren. Es ist intim genug, die Gefühle aus erster Hand zu teilen, ohne auch noch jedes winzige Detail rundherum zu erfahren.”

Junar nickte langsam. “Ich schätze, das verstehe ich. Aber wer hätte gedacht, dass es in ihm überhaupt so viele Gefühle gibt? Er wirkt immer so ruhig und gefasst.”

“Starke Gefühle hat er sehr wohl; er zeigt sie nur niemandem. Es macht ihm überhaupt keine Mühe, genau zu kontrollieren, wie viel er herauslässt. Und ich denke, das ist jetzt bereits mehr, als er wollen würde, dass ihr über ihn wisst.” Sie erhob sich. “Danke für eure Zeit.” Sie lächelte Orrin an. “Du bist nützlicher als ich dir zugestehe.”

“Offensichtlich”, bemerkte er. “Du verlässt uns also bereits wieder? Das war ein recht kurzer Besuch.”

“Ich muss zurück zur Klinik. Vern und ich treffen uns dort, damit ich ihm bei den anderen Heilern zeigen kann, wie man die Barriere in ihren Köpfen entfernt.”

Er räusperte sich. “Ich habe nicht den Eindruck, dass Vern und die Heiler derzeit besonders gut miteinander auskommen.”

“Ich bin sicher, dass sie sich benehmen werden, besonders, wenn ich dort bin, um ihm den Rücken zu stärken. Ich bin zuversichtlich, dass sie es schaffen werden zusammenzuarbeiten. Ich hatte gestern ein kleines Gespräch mit Vern.”

Orrin nickte. “Ich weiß. Davon hat er mir erzählt. Über ein paar der Dinge, die du zu ihm gesagt hast, war er recht überrascht. Und ich ebenfalls, um ehrlich zu sein. Du wirst langsam erwachsen, nicht wahr?”

Sie seufzte und kicherte. “Es scheint, als wären wir beide voller Überraschungen heute, was?”

“Ich wünschte, das wäre so. Ich warte noch immer auf meine Geschenke von der anderen Seite des Meeres”, schmollte Junar.

“In drei Tagen, ich verspreche es”, lächelte Eryn und schloss die Tür hinter sich.

* * *

Sie betrat den Salon und pfiff durch die Zähne, als sie sah, wie er für die Gäste umgestaltet worden war. Die würden in etwa zwei Stunden eintreffen, und sie war mit den Bemühungen immens zufrieden. Es erinnerte an die Westlichen Territorien, fiel ihr auf. Zierkissen in bunten Stoffen, ein Tischtuch im gleichen Stil. Wann hatten sie all das bloß gekauft?

Enric hatte ihr gesagt, dass er beabsichtigte, ihre Gäste ein wenig in die neue Kultur, zu der sie beide nun mehr oder weniger gehörten, einzuführen. Also hatte er sich am Vortag mit Orrin und natürlich Urban auf die Jagd begeben, um der westlichen Tradition zu folgen, Gästen nur das zu servieren, was der Gastgeber selbst erlegt hatte. Den Kriegerlehrer hatte die Einladung seines Vorgesetzten überrascht, ebenso wie Eryn.

Es schien, als ob die Szene bei ihrer Heimkehr Enric tatsächlich zum Nachdenken über seinen Mangel an Kontakten mit anderen Menschen in seinem Heimatland angeregt hatte und er nun daran arbeitete, das zu ändern. Orrin war mehr oder wenige die offensichtliche – wenn auch keine ganz unkomplizierte – Wahl, wenn man ihre nicht gerade harmonische gemeinsame Geschichte bedachte.

Der Ausflug schien gut verlaufen zu sein, sie kehrten mit mehreren Beutetieren zurück und trennten sich freundschaftlich.

“Enric?”, rief sie und ging zu seinem Arbeitszimmer, als keine Antwort kam. Der Raum war leer, ebenso wie die anderen. War es möglich, dass er nicht zuhause war? Sie sah aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers in den Innenhof und fand Urban, die auf einem erhöhten Platz auf einem Felsen schlief, während ihre Pfoten und ihr Kopf schlaff nach unten hingen. Enric konnte also nicht weit weg sein. Er ließ die Katze nur zuhause, wenn er Ratsversammlungen besuchte, und soweit sie informiert war, stand heute keine auf dem Plan.

Mit einem Achselzucken ging sie nach oben, um ihre Garderobe durchzusehen und fand eine Notiz, die an die Tür geheftet war. Es war eine Anweisung, etwas Ansehnliches in den Farben ihres Heimatlandes anzuziehen. Lächelnd zog sie eine farbenfrohe Tunika und eine dunkle Hose heraus, um sie nach dem Waschen anzuziehen. Enric schien es wirklich zu genießen, heute Abend den Gastgeber zu spielen, wenn man von den Details ausging, denen er seine Aufmerksamkeit widmete.

Sie hielt inne, als ihr ein Gedanke kam. Ihr Blick wanderte zu dem Fenster, das den Hof und das gegenüberliegende Gebäude mit den Arbeitsräumen überblickte. Arbeitsräume wie die Küche. Er würde doch wohl kaum die Zubereitung der Mahlzeit selbst übernehmen? Nein, dachte sie, amüsiert über sich selbst – das war wohl eine etwas zu gewagte Annahme. Oder?

Sie entschied, dass noch immer genug Zeit für ein schnelles Bad blieb. Die letzten drei Tage waren aufreibend gewesen, also hatte sie sich sicherlich ein wenig Entspannung verdient, bevor sie ihre Gäste empfing.

Ihre Gedanken allerdings kümmerte es wenig, dass sie zur Ruhe kommen wollte, als sie sich wenig später in das erfrischende, warme Wasser sinken ließ. Die schienen nur auf eine kleine Pause gewartet zu haben, um von allen Seiten auf sie einzustürmen.

Vern und die Heiler. Die erste Begegnung nach ihrer Rückkehr war merklich angespannt und übermäßig höflich verlaufen, aber nach ein paar Stunden schienen sie alle ihren Weg zurück in ihre Rollen gefunden zu haben, so wie vor ihrer Abreise – als Kollegen ohne Hierarchie, sondern nur mit einem Wissensvorsprung zwischen ihnen. Vern schien hinterher immens erleichtert, froh, dass seine Kollegen wieder mit ihm sprachen.

In den letzten zwei Tagen war er fleißig gewesen und hatte Barrieren entfernt, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergeben hatte. Zuerst bei Junar und Plia, dann bei Rolan und seinen Klassenkameraden. In seinem Eifer wollte er mit den Patienten fortsetzen, aber Eryn hatte ihn zurückhalten müssen. Er war noch immer dabei, sich von sechs sehr anstrengenden Wochen zu erholen und musste sich, anstatt ihre Arbeit zu erledigen, auf die Dinge konzentrieren, die er im Unterricht verpasst hatte.

Das Geistesband hatte sich in den letzten drei Tagen als überraschend unproblematisch erwiesen. Einmal hatte sie ein Aufflackern von Ärger bei Enric verspürt und ihn am Abend danach gefragt. Er hatte ihr erklärt, dass einer seiner Kollegen im Rat seine Meinung über Enrics Adoption etwas zu freizügig kundgetan hatte und entsprechend zurechtgewiesen worden war. Sehr wahrscheinlich mit einem frostigen Lächeln und einem warnenden Blick, der keinerlei Hinweis auf das Ausmaß an Ärger in seinem Inneren preisgegeben hatte. Sie fragte sich, ob sich das erlernen ließ. Ihre Gefühle so in ihrem Inneren zu behalten, sie nur herauszulassen, wenn sie sie als Waffe einzusetzen gedachte.

Von allen Leuten, die im Heilergebäude arbeiteten, schien Plia die Einzige gewesen zu sein, die von der Anspannung zwischen Vern und den anderen Heilern nicht betroffen war. Sie hatte zuverlässig in ihrem abgeschiedenen Rückzugsort vor sich hingearbeitet, die Tür geschlossen gehalten, Kräutersammler und Apotheker empfangen, um ihre Güter entweder anzunehmen oder zurückzuweisen, und ihren Medizinvorrat vorbereitet.

Eryn hatte sie dazu ermutigen wollen, sich an diesem Abend zu ihnen zu gesellen, aber Plia hatte höflich abgelehnt und vorgegeben, anderweitig verabredet zu sein. Enric und Orrin gemeinsam am gleichen Ort war womöglich zu viel für sie – sie verbeugte sich noch immer jedes Mal vor Enric, wenn sie ihm im Haus über den Weg lief, obwohl er ständig betonte, dass dies eine recht übertriebene Formalität war, wenn man unter dem gleichen Dach lebte.

Der Hof hatte sich bei ihrer Rückkehr als angenehme Überraschung entpuppt. Das Gras, das kurz nach ihrer Abreise gesät worden war, bedeckte den Boden mit den großen Felsen, Bäumen und Baumstämmen. Urban fand Gefallen daran – wahrscheinlich, weil sie endlich einen Platz hatte, den sie nach Herzenslust verwüsten durfte. Enric hatte Eryn erzählt, dass die Leute ihn immer wieder darauf ansprachen, wie sehr die Katze gewachsen war, seit sie sie vor eineinhalb Monaten zuletzt gesehen hatten und auch recht nachdrücklich wissen wollten, wie lange das Wachstum wohl noch andauern würde. Eryn bemerkte die Veränderung nicht wirklich, aber da sie Urban jeden Tag gesehen hatte, wäre es ihr auch kaum aufgefallen. Die Kiste für den Transport der Katze hatte allerdings auf der Rückreise etwas voller gewirkt.

Sie spürte, wie ihre Augenlider schwerer wurden und nahm sich vor, sie nicht länger als eine Minute zu schließen.

* * *

Es überraschte Enric, das Schlafzimmer leer vorzufinden. Sie war eindeutig nach Hause gekommen – er hatte ihre Robe auf dem Haken unten hängen sehen. Auf dem Bett lagen die Kleider, die sie am Abend zu tragen gedachte. Seiner Bitte folgend hatte sie etwas ausgewählt, das sie in Takhan anfertigen hatte lassen. Ihre Gäste wurden in weniger als einer halben Stunde erwartet, und von ihr war keine Spur zu sehen.

Als er den Nassraum betrat, sah er einen schlaffen Arm aus der Wanne hängen, und er ließ seine Anspannung mit einem langen Seufzer los. Sie wirkte so friedlich, wie sie leise im Wasser schnarchte. Nach ein paar mühsamen Tagen war ein warmes Bad allerdings keine gute Methode, um wach zu bleiben, dachte er und ging neben ihr in die Hocke.

“Eryn”, meinte er, stieß sie leicht an und wiederholte es, als sie nicht reagierte.

Sie öffnete ihre Augen halb und schenkte ihm ein schläfriges Lächeln. “Hallo du.”

Dann setzte sie sich abrupt auf, woraufhin Wasser auf sein Hemd und noch etwas mehr auf den Boden schwappte. “Bin ich eingeschlafen? Oh nein! Wie viel Zeit habe ich noch?”

Enric lächelte nur und trocknete seine Kleidung mit ein wenig Magie. Er sah zu, wie Dampf in winzigen Schwaden aufstieg. “Eine halbe Stunde.”

Sie atmete erleichtert aus. “Gut. Das kann ich schaffen.”

Er beobachtete sie aufmerksam, als sie in der Wanne aufstand. Das Wasser rann in winzigen Bächen ihren Körper hinab und fand seinen Weg entlang von Kurven und Hautfalten, während Enric genüsslich lächelte.

“Lass das”, wies sie ihn an. “Ich weiß genau, wie das normalerweise endet, wenn du mich so ansiehst. Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit mehr.”

Sein Lächeln blieb unverändert. “Ich sehe dich auf eine bestimmte Weise an? Dessen bin ich mir nicht bewusst.”

Mit einem Augenrollen stieg sie aus der Wanne und wickelte sich in ein großes Handtuch ein. “Natürlich tust du das. Dieser hungrige Blick, wenn deine Augenlider halb geschlossen sind, aber deine Augen jeder meiner Bewegungen folgen. Wie ein Raubtier, das bereit ist, seine nächste Mahlzeit zu erlegen.”

“Interessante Einschätzung”, überlegte er. “Und nicht ganz unberechtigt, gestehe ich. Unglücklicherweise hast du Recht, wir haben tatsächlich keine Zeit.” Besonders, da sie in letzter Zeit im Bett ohnmächtig wurde und hinterher eine Weile zur Erholung benötigte. Er sah zu, wie sie ihre Haare mit einer Berührung ihrer Finger trocknete und sie bürstete, bis sie in sanften, dunkelbraunen Wellen ihren Rücken hinabhingen.

“Ich habe darüber nachgedacht, sie abzuschneiden”, sagte sie nebenbei, als sie bemerkte, wie er ihre gleichmäßigen Bewegungen mit der Bürste beobachtete. “Sie sind eher unpraktisch. Und ich trage sie ohnehin entweder geflochten oder hochgesteckt.”

“Wag es bloß nicht, sie abzuschneiden”, knurrte er. Im Bett trug sie die Haare offen. Soweit es ihn betraf, brauchte sie niemand sonst mit offenen Haaren zu sehen.

“Du fragst mich auch nicht um meine Erlaubnis, wenn du deine Haare abschneidest”, strich sie mit einem gereizten Blick hervor. “Du suchst mehr oder weniger meine Kleider aus, und jetzt willst du mir auch noch sagen, wie ich meine Haare schneiden lassen soll?”

Er schüttelte den Kopf. “Nein. Ich will dir sagen, wie du dir die Haare nicht schneiden lassen sollst. Aber das können wir ein anderes Mal diskutieren. Jetzt solltest du dich fertigmachen. Wenn wir unseren Gästen einen Einblick in die Kultur des Westens gewähren wollen, können wir ebenso gut bei der Pünktlichkeit auf Originalität achten.”

“Wie sehr du auf Authentizität bedacht bist. Mit deiner eigenen Besessenheit mit Pünktlichkeit hat das natürlich überhaupt nichts zu tun”, scherzte sie und ging ihm voran ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

“Ich will für meine Gäste eben nur das Beste”, murmelte er, woraufhin sie innehielt und sich zu ihm umdrehte.

“In letzter Zeit sprichst du gerne in Reimen, was? Zuerst der Kommitment-Eid und jetzt spontane kleine Verse für alltägliche Zwecke. Wirklich zauberhaft.”

Er zuckte die Schultern und reichte ihr die Tunika vom Bett. “Als ich jünger war, schrieb ich eine Menge Gedichte. Meist mit dem Zweck, meine Lehrer und meinen Vater in bildreicher Sprache zu schmähen. Aber ebenso wie das Zeichnen, ist auch das Verfassen von Poesie nicht gerade eine Fertigkeit, die bei einem Magier erwünscht ist.”

Sie starrte ihn überrascht an. “Das hast du wirklich getan?”

Leise lachend zog er ihr die Tunika nach unten, als sie vor Erstaunen erstarrt schien. “Ja, das habe ich. Wenn auch nichts Inspirierendes oder Herzerwärmendes. Es war mehr wie eine Wissenschaft für mich, Worte zu finden, die sich reimten und sie so zusammenzufügen, dass daraus möglichst beleidigende Kombinationen entstanden. Nicht gerade das, was die meisten Leute als künstlerischen Ansatz verstehen würden, fürchte ich.”

“Das würde womöglich davon abhängen, welche Leute du fragst. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten Leute hier auch Verns Arbeit nicht gerade als künstlerisch erachten würden, während man in Takhan absolut sprachlos war, als man sein Buch sah.”

Enric grinste. “Manche Leute würden wohl eine ähnliche Reaktion auf meine frühen Werke zeigen, allerdings vor Schock anstatt Anerkennung.”

“Du hast nicht zufällig irgendwo noch ein paar davon herumliegen, oder?”, fragte sie neugierig.

Er schüttelte den Kopf. “Nein, meine Lehrer konfiszierten sie ständig und verbrannten sie dann womöglich hinterher. Ich habe einst ein recht wenig Schmeichelhaftes über Orrin geschrieben. Zur Bestrafung ließ er mich zehn Stunden Küchendienst ableisten.”

Sie lachte laut auf bei dem Gedanken, dass sie heute Abend genau diesen Mann zum Essen eingeladen hatten.

“Dann sieht es wohl so aus, als wärst du nicht sehr gut darin gewesen, sie zu verstecken”, lächelte sie.

“Das wollte ich auch gar nicht. Das war immerhin der Sinn dahinter – ich brauchte ein Publikum.”

Seltsam, dachte sie, wie unterschiedlich ihre Prioritäten in ihrer Jugend gewesen waren. Er hatte nach Aufmerksamkeit gesucht, während sie bestrebt gewesen war, sie um jeden Preis zu vermeiden.

* * *

Eryn eilte zur Tür, als sie das entschiedene Klopfen vernahm. “Das ist Orrins Klopfen; ich würde es überall wiedererkennen. Davor hat mir gegraut, als ich noch in meiner Zelle in den Kriegerquartieren residierte. Normalerweise hat er kurz darauf meine Tür eingetreten oder mich gescholten. Oder beides.”

Enric lächelte. “Es scheint, dass wir beide keine besonders erfreulichen Erinnerungen aus unseren frühen Tagen mit ihm haben. Warum genau haben wir ihn hierher eingeladen?”

“Damit wir uns selbst beweisen können, dass wir jetzt stärker und ranghöher sind als er und ihn nicht länger zu fürchten brauchen”, lachte sie und öffnete die Tür.

Sie schnappte in gespieltem Erstaunen nach Luft und legte eine Hand auf ihren Brustkorb. “Orrin, ganz egal, wie oft ich dich in Abendgarderobe sehe, es ist jedes Mal ein Schock!”

“Ist das die Art von Begrüßung, die ein Gast hier erdulden muss? Deine Manieren haben sich seit deiner Reise in fremde Gefilde nicht eben verbessert”, entgegnete er und ließ eine glücklich wirkende Junar als Erste eintreten.

Sofort griff sie nach Eryns Händen und hielt sie zu beiden Seiten hoch, bevor sie einen Schritt zurücktrat und ihr geschultes Auge die Kleidung beurteilen ließ. “Sehr interessant! Dreh dich”, befahl sie.

“Die Frau, die du mitgebracht hast, hat auch keine besonders guten Manieren”, meinte Eryn, drehte sich aber gehorsam, als Junar mit ihrem Finger nachdrücklich eine kreisende Geste vollführte.

“Schlechter Einfluss, befürchte ich. Ihre Auswahl an Freunden ist mangelhaft”, antwortete Orrin gelassen. “Genau wie bei meinem Sohn. Du bist ein verderblicher Einfluss auf die ganze Familie.”

Eryn bemerkte, wie Junar blinzelte und ein Lächeln unterdrückte, das nur ein Ausdruck der Freude darüber gewesen sein konnte, in den Begriff Familie miteinbezogen zu werden.

“Dann hast du ja Glück, dass du der Einzige zu sein scheinst, der über genug Charakterstärke verfügt, um dem zu widerstehen.” Sie wandte sich an ihre Freundin. “Also, Schneiderin – bin ich fertig mit dem Posieren? Nicht, dass dieser kuschelige Platz vor der Tür nicht absolut gemütlich wäre, aber ich würde doch lieber in den Salon gehen, wenn es euch nichts ausmacht.”

“Nun, Heilerin”, antwortete Junar mit einer hochgezogenen Braue, “dann solltest du uns wohl besser eintreten lassen, anstatt im Weg herumzustehen.”

Nachdem sie ihre Umhänge aufgehängt und zur Seite getreten waren, kam Vern herein und verdrehte die Augen, als er die Tür hinter sich schloss. “Endlich! Ich war kurz davor, ein Feuer zu machen und mir eine Ratte zu fangen, die ich darüber rösten kann!”

“Du hättest eine von denen mitbringen können, die dein Katzenmonster fängt, um sie dann auf dem Teppich zurückzulassen”, schnaubte Orrin.

Enric lächelte seine Gäste an, die sich alle vor ihm verbeugten. “Darauf können wir heute Abend verzichten, das ist eine gesellige Zusammenkunft. Willkommen. Was darf ich euch zu trinken anbieten? Zur Auswahl stehen Wein und verschiedene Säfte aus dem Westen.”

Junar ließ ihren Blick über die Dekoration wandern und nickte anerkennend. “Ein Glas Wein wäre wunderbar, danke.”

“Für mich das Gleiche”, meinte Orrin.

“Für mich auch”, nickte Vern.

Eryn sah Orrin fragend an. “Geht das in Ordnung für dich?”

Er zuckte die Achseln. “Er hat bewiesen, dass er wie ein Mann arbeiten kann – wer bin ich also, um ihm einen Drink zu verweigern, wenn er einen will?” Seine Augen verengten sich. “Hey, du brauchst gar nicht vorzugeben, dass du ihn zuvor niemals Alkohol trinken hast lassen. Oder muss ich dich an den einen Abend im Quartier des Botschafters erinnern?”

Sie biss sich auf die Lippe und sah zu Vern hin, der entschuldigend Lächelte. “Du bist mir in den Rücken gefallen, Vern!”

“Er hat den Geruch am nächsten Morgen bemerkt! Was hätte ich denn tun sollen?”

“Mich zum Beispiel aus der Sache heraushalten”, seufzte sie.

“Warum soll ich die Schuld auf mich nehmen, wenn ich sie weitergeben kann?”, meinte er und zog die Schultern hoch.

“Ein berechtigter Einwand”, stimmte Enric zu und reichte seinen Gästen und Eryn jeweils ein volles Glas, bevor er sein eigenes erhob. “Auf angenehme Abende in guter Gesellschaft”, sagte er feierlich und nahm einen Schluck.

“Würde es Euch etwas ausmachen, mich einen Blick auf Euer Hemd und Eure Hose werfen zu lassen, Lord Enric?”, fragte Junar zögernd.

Eryn lächelte. Ihre Schüchternheit in Enrics Gegenwart hatte also keine Chance gegen ihre professionelle Neugier.

“Keineswegs”, antwortete er sanft und stellte sein Glas zur Seite, um seine Arme zu heben und ihr einen besseren Blickwinkel zu ermöglichen.

“Sehr nett”, sagte sie leise, als sie ihn umrundete. “Der Schnitt ist mehr an den natürlichen Umriss Eures Körpers angepasst. Für einen schlanken, gut proportionierten Mann wie Euch ist das sehr vorteilhaft, für stämmiger gebaute Herren eher nicht.” Dann sah sie schockiert auf, als ihr zu spät klar wurde, dass sie mit ihren Kommentaren über seine körperliche Erscheinung gerade etwas freizügiger gewesen war, als die Umstände es rechtfertigten.

Enric zog eine Braue hoch und grinste. “Ich weiß. Darum habe ich sie anfertigen lassen. Ich hatte gehofft, dass du in der Lage bist, das Muster zu kopieren und mir mehr davon zu machen.”

Junar nickte erleichtert. “Das bekomme ich auf jeden Fall hin. Ich würde nur ein Hemd für das Muster brauchen. Ihr zieht den kräftigen Farben, die in Takhan offensichtlich beliebter sind, dunkle vor”, fügte sie mit einem Seitenblick auf die Kissen und Eryns eigene Tunika hinzu.

“Ja”, erwiderte er. “Mir wurde gesagt, das könne ich mir aufgrund meiner exotischen Haarfarbe leisten.”

Sie drehte sich wieder zu Eryn um. “Und du hast dich für die andere Kombination unserer Schnitte mit deren Stoffen entschieden, wie ich sehe. Nicht schlecht. Das ist ein beachtliches Bild, das ihr beide zusammen abgebt.”

“Hey, was ist das hier?”, hörten sie Vern fragen. Eryn drehte ihren Kopf und sah, dass er vor einem kleinen Bilderrahmen an der Wand neben einem hohen Schrank stand. Diese kleine Ergänzung war ihr noch gar nicht aufgefallen.

Als sie nähertrat, sah sie, dass es sich um einen Papierstreifen mit winziger Handschrift darauf handelte. Überrascht sog sie den Atem ein, als sie erkannte, worum es sich dabei handelte: Es war die Nachricht des Königs, in der er Enric darüber informierte, dass sein Antrag, im Fall ihrer Verurteilung zwei Jahre lang als Botschafter in Takhan zu bleiben, bewilligt wurde.

Sie schluckte hart und spürte einen Knoten in ihrem Hals. “Mein Onkel gab mir das. Das war es, was mich dazu brachte, Enric zu sagen, dass ich ihn liebe und ihn zu bitten, das Band dritten Grades mit mir einzugehen.” Und er hatte die Nachricht gerahmt. Wie etwas Wertvolles, das es zu erhalten galt.

Sie spürte, wie eine intensive Welle wahrer Zuneigung in ihr aufstieg, die sie mehrmals hintereinander blinzeln ließ, um die Feuchtigkeit zurückzuhalten, die sich in ihren Augen sammelte. Sie sah, wie sich ein langsames Lächeln auf Enrics Gesicht ausbreitete, als er ein Echo dessen empfing, was in ihr vorging.

“Sehen wir gerade das Geistesband in Aktion?”, flüsterte Junar.

Orrin nickte, während er beide abwechselnd fasziniert anstarrte. “Ja, so sieht es wohl aus.”

“Welches Geistesband? Und was soll dieses Band dritten Grades sein?”, fragte Vern und sah alle vier Leute um sich verdattert an.

Eryn kämpfte sich zurück in die Gegenwart. “Eine Kleinigkeit, die wir uns bei einem magischen Kommitment in Takhan eingefangen haben”, erklärte sie.

“Etwas, das ihr euch eingefangen habt?”, fragte er bestürzt. “Wie eine Krankheit? Und du hast was getan? Freiwillig?”

Sie bedeckte ihre Augen mit einer Hand. “Warum werde ich das andauernd gefragt? Allen Ernstes! Sehe ich aus, als wäre ich in letzter Zeit genötigt, ausgenutzt oder unterdrückt worden?”

“Schon gut, schon gut”, murmelte Vern, “zurück zu diesem Geistesband. Was ist das und warum hast du es?”

“Eine direkte Verbindung, die starke Gefühle zwischen uns transportiert. Alles, was ich weiß ist, dass wir es haben, aber ich habe keine Ahnung, weshalb. Es kommt ganz selten vor, also sieht es so aus, als gäbe es in den Westlichen Territorien kaum Aufzeichnungen darüber.”

Vern sah sie betroffen an. “Was hast du dort getrieben, Eryn? Zuerst lassen sie dich das Land nicht verlassen, weil du irgendein Verbrechen begangen hast, und dann gehst du einfach ein magisches Band ein, ohne die Folgen zu bedenken?” Er sah mit vorwurfsvoller Eindringlichkeit zu Enric. “Ich dachte, man hätte Euch mitgeschickt, damit Ihr sie beschützt und sie davon abhaltet, irgendetwas Dummes anzustellen?”

Orrin fasste nach der Schulter seines Sohnes und drehte ihn abrupt zu sich herum. “Du magst heute hier als Eryns Gast eingeladen sein, mein Sohn, aber vergiss nicht, mit wem du hier redest. Du bedenkst deine Worte wohl von nun an besser und gehst sicher, dass sie angemessen sind, bevor du den Mund öffnest. Oder du trägst die Konsequenzen.”

Der Junge schloss einen Moment lang die Augen, ganz eindeutig, um den Impuls zu unterdrücken, sich noch mehr Ärger einzuhandeln. Dann drehte er sich zurück zu Enric und senkte den Kopf. “Ich entschuldige mich, Lord Enric. Lasst mich Euch versichern, dass es nichts anderes als die Sorge um Eryns Wohlbefinden war, die mich dazu veranlasst hat, zu sprechen ohne nachzudenken. Obwohl dies natürlich keine Rechtfertigung ist.”

“Ich nehme die Entschuldigung an”, erwiderte Enric milde. “Und lass mich dir versichern, dass sich sogar meine beachtlichen Fähigkeiten zuweilen Eryns dunkler Gabe, sich Ärger einzuhandeln, geschlagen geben müssen”, fügte er trocken hinzu.

“Diese Aussage weise ich von mir”, knurrte Eryn.

“Aber natürlich tust du das”, lächelte er und küsste ihre Stirn. “Die Wahrheit ist kaum jemals angenehm. Sollen wir Platz nehmen und unsere Gäste bewirten, meine Liebste?”

“Wir werden selbst servieren?”, fragte sie mit einer hochgezogenen Braue und lächelte. Er war also bei ihrer Ankunft zuvor tatsächlich im anderen Gebäude gewesen, um das Mahl persönlich zuzubereiten.

“So wird es gemacht, wie man mir sagte.” Dann ergriff er Junars Hand und legte sie auf seinen Arm, um sie zum Tisch zu geleiten, Vern und Orrin hinter ihnen.

Als alle saßen, forderte er Eryn auf, ihm zu seinem Arbeitszimmer zu folgen, wo er zwei farbenfrohe Schalen in größere Topfe mit heißem Wasser gestellt hatte, um den Inhalt warmzuhalten.

Sie zog beide Augenbrauen hoch, als er sechs Schüsseln in ihre Hände drückte. “Wann hast du all das bloß gekauft?”

“Sagen wir, dass ich eine Menge Zeit totzuschlagen hatte, als ich bei Golir festsaß”, erwiderte er mit einem leisen Lachen.

“Und die hast du damit verbracht, Haushaltsgegenstände einzukaufen? So wie die Kissen und das Tischtuch? Er hat dich also einfach allein durch die Straßen wandern lassen, anstatt dich wie ein ordentlicher Aufpasser zu bewachen?”

“Natürlich nicht. Er begleitete mich. Ich denke, er erachtete es als weiser, mich irgendwie zu beschäftigen, anstatt mich rastlos bei sich zuhause einzusperren.”

Die Vorstellung der beiden mächtigen, hochrangigen Magier, die solche Einkäufe tätigten und dabei Farben, Qualität, Muster und dergleichen diskutierten, brachte sie zum Lächeln.

“Steh hier nicht einfach grinsend herum”, tadelte er sie. “Bring die Schüsseln zu unseren Gästen, damit wir sie verpflegen können.” Dann hob er eine der großen Schalen aus ihrem Wasserbad, trocknete die tropfende Unterseite mit einem Tuch und ging ihr voran zurück zum Salon, wo er sie in der Mitte des Tisches platzierte, bevor er zurückkehrte, um die zweite zu holen.

Er lächelte über das schlecht verborgene Erstaunen seiner Gäste, ihn beim Servieren von Essen zu sehen. “In den Westlichen Territorien ist es Brauch, dass der Gastgeber seine Gäste bekocht. Und sollte Fleisch serviert werden, dann muss es ebenfalls vom Gastgeber selbst erjagt worden sein. Alles andere wäre eine Beleidigung und würde ihn der Lächerlichkeit preisgeben. Ich habe zwei verschiedene Gerichte vorbereitet, da Eryn sich entschieden hat, nicht länger Fleisch zu essen. Ihr seid natürlich eingeladen, beide zu probieren.”

Junar sagte: “Ich gebe zu, ich bin ganz überwältigt davon, wie gut Ihr Euch offenbar an die dortigen Gepflogenheiten angepasst habt.” Dann starrte sie Eryn ungläubig an, während Enric ihre Schüsseln füllte und jeden einzeln fragte, welches Gericht bevorzugt wurde. “Du isst jetzt kein Fleisch mehr? Was ist passiert?”

Eryn nahm die Schüssel von ihrem Gefährten entgegen und wandte sich an ihre Freundin. “Wir wurden eingeladen, meinen Cousin und seine… Freunde auf einen Jagdausflug zu begleiten, und das hat sich für mich als böses Erwachen erwiesen. Später habe ich erfahren, dass es dort als akzeptierter Lebensstil gilt, kein Fleisch zu essen, wenn man nicht bereit ist, es selbst zu töten.” Sie zuckte mit den Schultern. “Für mich hörte sich das prima an. Und das tut es noch immer.”

“Es fehlt dir also gar nicht? Das hier riecht überhaupt nicht verlockend für dich?”, fragte Vern ungläubig und hielt ihre seine Schüssel unter die Nase.

“Nein zu beidem. Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn ich das nicht einatmen müsste.” Ihr Gesicht wurde starr, und sie drehte den Kopf zur Seite, bis er die Schüssel wieder vor sich hingestellt hatte.

Dann ruhten die Blicke erwartungsvoll auf Enric, wartend, dass er zu essen begann.

“Von einem Gastgeber wird erwartet, dass er wartet, bis alle seine Gäste den ersten Bissen gegessen haben, bevor er selbst beginnt”, erklärte er. “Denn erst dann kann er sicher sein, dass jeder etwas bekommen hat, das ihm zusagt. Somit würde ich euch ersuchen, genau das zu tun.”

“Es scheint, als hattet Ihr dort eine Menge zu lernen nach Eurer Ankunft”, bemerkte Orrin.

Eryn nickte. “Das ist wohl wahr. Seid froh, dass wir euch für den Moment den Rest ersparen. Nächstes Mal, wenn ihr herkommt, müsst ihr auf den Kissen sitzen, die sie dort anstelle von Stühlen verwenden und eure Hände in speziell dafür gedachten Schüsseln waschen”, fügte sie grinsend hinzu. “Da Enric seine Zeit dort mit Einkaufen verbracht hat, hat er das alles womöglich auch noch erworben.” Ihre Augen weiteten sich, als er nur die Achseln zuckte. “Das hast du tatsächlich? Ach du meine Güte!” Kopfschüttelnd wandte sich sie zurück an Orrin. “Es scheint, als wäre meine leere Drohung nicht ganz so leer gewesen, wie ich dachte.”

Junar schluckte ihren ersten Bissen und sah zu Enric auf. “Das schmeckt wirklich gut. Wo habt Ihr gelernt zu kochen? Das ist keine Fertigkeit, die ich mit Magiern in Verbindung bringen würde.”

“Eryns Cousin Vran’el hat es mir beigebracht. Dort drüben scheint die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen als ebenso grundlegende Fertigkeit wie das Heilen erachtet zu werden”, erklärte er.

“Cousin?”, fragte Vern neugierig und drehte sich zu Eryn. “Du hast vorher einen Onkel erwähnt. Du hast dort also deine Familie getroffen? Wie sind die so?”

Langsam begann sie zu erklären: “Lass mich am Anfang starten. Als wir das Schiff in Takhan verlassen hatten, wurden wir von drei Leuten und Ram’an begrüßt. Ein wichtiger Politiker und noch zwei Leute. Einer davon hat sich als mein Onkel väterlicherseits herausgestellt. Er war derjenige, der mir die Nachricht gegeben hat, die du an der Wand gesehen hast. Die andere stellte sich mir vor als… meine Mutter.”

Drei Augenpaare starrten sie an. “Was? Deine tote Mutter?”, fragte Junar verwirrt.

“Ja, das hat sich als kleine Fehlinformation erwiesen”, bemerkte Eryn ironisch.

“Deine Mutter lebt also tatsächlich?” Vern klang erstaunt. “Unfassbar! Warum wirkst du dann nicht glücklich, wenn du darüber redest?”

“Weil sich herausgestellt hat, dass ich die einzige Tochter einer sehr mächtigen Familie war, von der erwartet wurde, eines Tages die Rolle der Anführerin, oder Oberhaupt des Hauses, wie sie es dort nennen, einzunehmen.”

“Dann bist du tatsächlich eine Art verlorene Prinzessin!”, lachte Vern und klatschte in die Hände. “Ich hatte Recht!”

“Ja, ich gratuliere ganz herzlich”, schnaubte sie. “Aber da hing noch etwas mehr dran. Man erwartete auch, dass ich ein Kommitment mit Ram’an eingehe.”

“Was?” Dieses Mal war es Orrins verblüffte Stimme, die den Ausruf tätigte. “Das ist also der Grund, weshalb…” Sein Blick fiel auf Enric, und er verstummte sofort.

“Das geht schon in Ordnung, Orrin – er hat in der Zwischenzeit von Ram’ans kleinem Verhörversuch erfahren”, seufzte sie.

“Warum?”

“Mein Cousin hat ihm davon erzählt. Ram’an hat sein Manöver in Takhan publik gemacht.”

“Was? Nein! Ich meinte, warum du dich an Ram’an binden hättest sollen!”

Eryn verzog das Gesicht, beantwortete dann aber die Frage. “Weil es zwischen den Häusern gebräuchlich ist, ihre Nachkommen anderen Häusern zu versprechen, um ihre politischen Allianzen zu stärken. Als einzige Tochter eines mächtigen Hauses war ich für den Sohn eines anderen bestimmt.”

“Aber du hattest doch bereits einen Gefährten, als du dorthin gingst!”, rief die Schneiderin aus.

“Da es zwischen uns kein Band dritten Grades gab, erkannten sie Enric nicht wirklich als meinen Gefährten an. Somit versuchte Ram’an mit allen Mitteln, mich von ihm loszubekommen.” Sie schüttelte den Kopf und seufzte, froh, dass all dies hinter ihr lag.

“Offensichtlich erfolglos”, meinte Orrin mit einem dünnen Lächeln.

“Offensichtlich”, bestätigte Enric, sein Lächeln grimmig.

“Wäre mein Cousin Vran’el nicht gewesen, hätte Ram’an es geschafft, mich für eine ganze Weile in Takhan festzuhalten”, erzählte Eryn. “Hätte Vran’el nicht arrangiert, dass ich von meinem Onkel adoptiert werde, hätte Ram’an mich als Mitglied seines Hauses beansprucht.”

“Du wurdest von deinem Onkel adoptiert?”, rief Junar völlig verzweifelt. “Könntest du die Ereignisse wohl in der richtigen Reihenfolge erzählen? Mein Kopf dreht sich! Wie kann das alles in so kurzer Zeit passiert sein?”

Enric seufzte. “Ich werde das übernehmen. Eryn hat es nicht gerade einfacher gemacht, indem sie ständig vor- und zurückgesprungen ist. Wir haben es geschafft, Handelsvereinbarungen zu treffen, und Eryn brachte es bis dahin fertig, sich Ram’an vom Leib zu halten. Nach drei Wochen sollten wir nach Hause zurückkehren. Gerade, als wir an Bord des Schiffes gehen wollten, wurden wir von Wachen aufgehalten, die uns zum Senat brachten. Das ist so etwas wie unser Rat hier. Es stellte sich heraus, dass Malriel, Eryns Mutter, ihre eigene Tochter beschuldigte, vor dreizehn Jahren den Tod ihres Vaters verursacht zu haben. Ich überlasse es Eryn, ob sie diese Geschichte eines Tages selbst erzählen möchte. Aber seid versichert, dass es aus rechtlicher Sicht klar war, dass Eryn nicht dafür verantwortlich war und dieses Verfahren auch nie über sich ergehen hätte lassen müssen, würde ihre Mutter nicht über solch beträchtlichen politischen Einfluss verfügen.” Er hielt inne, um einen Schluck Wein zu nehmen, bevor er fortfuhr. “Für die Dauer des Verfahrens wurden wir voneinander getrennt. Jeder von uns wurde der Aufsicht eines Magiers unterstellt, der stärker war als wir selbst. Ram’an meldete sich freiwillig dafür, Eryn zu bewachen und durfte die Aufgabe übernehmen, wenngleich er es in der Residenz der Familie ihres Onkels tun musste anstatt in seiner eigenen.” Er hielt inne, als er sah, dass Orrin verwirrt wirkte.

“Wartet”, meinte der Krieger mit einem Stirnrunzeln. “Aber Ram’an war nicht stärker als Eryn. An diesem Tag in seinem Quartier schaffte sie es, seinen Schild zu durchbrechen.”

Eryn schloss die Augen und unterdrückte ein Stöhnen. Oh nein. Das war das einzige kleine Detail gewesen, von dem Enric nichts gewusst hatte, das sie geschafft hatte, vor ihm zu verbergen. Bis jetzt.

Es wurde still am Tisch. Niemand wagte es, auch nur ein Geräusch zu verursachen. Enrics tiefer Atemzug, der zwischen seinen Lippen entwich, war alles, was hörbar war.

“Eryn?”, fragte er mit gefährlich ruhiger, aber dennoch bedrohlicher Stimme. Sie konnte seinen Zorn feurig in ihrer Magengrube spüren. “Würdest du mir das wohl näher ausführen? Wie kommt es, dass ich über Kampfhandlungen, die bei dieser Gelegenheit stattfanden, nicht im Bilde war?”

“Ich dachte, du sagtest, er wüsste Bescheid, Eryn!”, rügte Orrin sie mit Schärfe. “Wann wirst du endlich mit deinen Geheimnissen aufhören, du Idiotin!”

“An dieser Antwort wäre ich selbst auch sehr interessiert”, fügte Enric mit zusammengekniffenen Augen hinzu. “Heraus damit!”, forderte er mit mehr Nachdruck.

Sie wählte ihre Worte sorgsam. “Es war nur eine Kleinigkeit. Er versuchte, mich an diesem Tag mit einem Schild vor der Tür davon abzuhalten, sein Quartier zu verlassen, nachdem ich mich aus seinem Griff befreit hatte. Ich schoss zweimal darauf und schaffte es gerade noch, ihn zu durchdringen. Also ging ich davon aus, dass ich stärker sei als er. Was offensichtlich nicht stimmte. Später sagte er mir, dass er nicht seine gesamte Kraft dafür eingesetzt hatte, den Schild zu errichten, weshalb er schwach genug war, um von mir überwunden zu werden. Es tut mir wirklich leid.”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, das tut es nicht. Ich spüre eine Mischung aus Verdruss und Unbehagen, aber kein Bedauern.” Seine blauen Augen waren zu Schlitzen verengt. “Und noch ein weiterer Schub an Ärger, weil ich dich durchschaut habe. Lass dir das eine Lehre sein. Lüg mich nicht an. Nie wieder. Ich beginne wirklich, dieses Geistesband zu schätzen.”

“Auch wenn ich deswegen im Bett ohnmächtig werde?”, warf sie verärgert zurück in der Hoffnung, in als kleine Rache vor ihren Gästen in Verlegenheit zu bringen.

Über diesen Versuch lächelte er nur, nicht im Geringsten aus der Bahn geworfen. “Ich merke, dass mich diese kleine Nebenwirkung im Moment nicht besonders kümmert. Betrachte es als sanfte Methode, dich auszuschalten. Bisher haben wir es erst zweimal versucht, wenn du dich erinnerst. Womöglich entwickelst du nach einer Weile eine gewisse Immunität gegen diese Auswirkung. Wir werden wohl einfach weiter üben müssen, nicht wahr?”

Ihr Gesicht verfärbte sich dunkelrot, und sie griff rasch nach einem Glas Wasser und leerte es in einem Zug.

Enric warf ihr einen letzten missbilligenden Blick zu, dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder seinen Gästen. “So viel dazu. Wie ich schon sagte, wurde Ram’an zu Eryns Wächter bestellt und nutzte die Situation zu seinem Vorteil. Zumindest soweit dies möglich war, während sich ihr Onkel und ihr Cousin in der Nähe befanden. Ram’an war einer der Senatoren und hatte somit eine Stimme bei der Schlussabstimmung der Verhandlung. Ursprünglich war er entschlossen, gegen Eryn zu stimmen, da das Ziel ihrer Mutter ein zwei Jahre andauernder Hausarrest in Takhan war. Aber dann entschied sich Eryn, sich von der Familie ihrer Mutter loszusagen, falls das Verfahren zu ihren Gunsten ausging. Da Ram’an sich zu entscheiden hatte, entweder die Führungsrolle in seinem eigenen Haus zu übernehmen oder Eryn als Erbin eines anderen Hauses als seine Gefährtin zu nehmen, sah er darin seine Chance, sowohl Eryn als auch die Position zu erlangen. Er schaffte es, mit seiner eigenen und noch drei weiteren Stimmen, das Urteil des Senats umzulenken.”

“Was?”, fragte Vern. “Warum musste er sich zwischen Eryn und der Führung seines Hauses entscheiden?”

“Weil Eryn die einzige Erbin ihres Hauses war, er aber noch einen jüngeren Bruder hatte, der diese Rolle übernehmen konnte. Zwei Erben eines Hauses können in den Westlichen Territorien nicht als Gefährten verbunden werden”, erklärte Enric geduldig. “Aus diesem Grund war es für Ram’an eine attraktive Option, dass Eryn sich von ihrem Haus lossagte und somit ihre Position als Erbin aufgab.”

“Aber warum dachte er, dass sie in Takhan bleiben würde, nachdem sie das Verfahren gewonnen hätte? Es stand ihr doch dann frei abzureisen, oder etwa nicht?”, fragte der Junge und wunderte sich, weshalb jede Antwort bloß zu neuen Fragen führte.

“Weil er sehr versiert war, was historische Gesetze und deren Anwendung betraf. Da gab es ein Gesetz, das ihm beträchtlich geholfen hätte. Es handelte sich dabei um eine Regel, der zufolge ein versprochener Gefährte das Recht hat, die Partnerin für das eigene Haus zu beanspruchen für den Fall, dass sie sich von ihrem eigenen lossagt. Das sollte ermöglichen, dass die Kommitment-Vereinbarung dennoch erfüllt wird. Dieses Gesetz wurde verabschiedet, bevor die Erfüllung der Vereinbarung freiwillig war. Man wollte damit verhindern, dass sich Kinder davon befreien, indem sie sich einfach von ihrem Haus lösen.”

“Aber ihr Cousin hat das verhindert, indem ihr Onkel sie adoptierte?”, fragte nun Junar, der es sichtlich Mühe bereitete, mit all diesen Details Schritt zu halten.

“So ist es”, nickte Enric. “Eryn ist somit nicht länger die Erbin des Hauses ihrer Mutter, sondern ein offizielles und rechtlich bestätigtes Mitglied der Familie ihres Vaters, also Haus Vel’kim.”

“Dann gibt es jetzt keinen Erben für das Haus deiner Mutter?”, fragte Vern.

“Oh doch, den gibt es”, warf Eryn ein. “Es stellte sich heraus, dass Enric sich erpressen oder vielleicht sogar eher bestechen ließ, sich von meiner Mutter adoptieren zu lassen. Er ist nun der neue Erbe von Haus Aren, dem ich den Rücken gekehrt habe.” Mit offenkundiger Genugtuung betrachtete sie ihre verblüfften Mienen. Es tat gut zu sehen, dass sie nicht die Einzige war, die das absolut und vollkommen grotesk fand.

“Verstehe ich das richtig”, sagte Orrin ganz langsam, “dass Ihr, Lord Enric, nun der Sohn und Erbe der Mutter Eurer Gefährtin seid?”

“Ja”, nickte Enric, “das stimmt.”

“Bedeutet das, dass man Euch jederzeit dazu heranziehen könnte, ihre Nachfolge anzutreten? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Eure Position im Orden? Es ist angedacht, dass Ihr eines Tages bereits hier jemandem nachfolgen sollt”, erwiderte Orrin besorgt.

“Theoretisch, ja”, gab Enric zu, “aber praktisch ist das im Moment nicht besonders wahrscheinlich. Ich bin zuversichtlich, dass sich im Laufe der Zeit eine andere Lösung für diese Verpflichtung ergeben wird.”

“Und das ist jetzt alles? Abgesehen davon, dass Ihr vor Eurer Abreise noch dieses Band eingegangen seid?”, wollte Junar mit gerunzelter Stirn wissen.

“Nun, beinahe. Enric hat sich an Ram’an dafür gerächt, dass er seine Hände nicht bei sich behalten hat, indem er ihn gezwungen hat, unsere Zeremonie und die Festlichkeiten in seiner Residenz auszurichten. Dann hat er ihn auch noch dazu gebracht, an der Zeremonie selbst teilzunehmen”, ergänzte Eryn. “Aber das war jetzt alles. Wirklich.”

“Unfassbar”, seufzte Orrin und seine Augen waren voller Erstaunen geweitet. “Eryn, es scheint, als gäbe es wirklich keine Chance, dich lange vor Ärger zu bewahren.”

“Wie war das mit der Zeremonie genau?”, fragte Junar. “Du sagtest, es war ein magisches Band? Wie funktioniert das? Wie der Eid an das Königreich, den man mit aneinander gepressten Händen schwört?”

“So ziemlich, ja”, nickte Eryn. “Abgesehen davon, dass man dafür fünf Hände braucht anstatt nur zwei und man außerdem seinen eigenen Schwur dafür schreiben muss. Enrics Eid hat sich sogar gereimt.” Sie sah zu Orrin hin. “Da gibt es etwas, das ich dich fragen wollte. Enric sagte mir, dass er einmal ein Gedicht über dich schrieb, als er ein Junge war. Und zwar ein beleidigendes.”

Orrin lächelte. “Daran erinnere ich mich, ja. Ich war nicht der einzige Lehrer, dem er diese Ehre angetan hat. Wir verglichen sie und versuchten herauszufinden, wen von uns er am meisten hasst. Lass mich nachdenken…” Er lehnte sich zurück und sah für eine kurze Weile an die Decke, bevor er zu rezitieren begann: “An Orten, wo man Orrin sieht / Liegt oft ein Ohr, ein Fingerglied / Von einem Schüler abgetrennt / Der blutig durch das Land nun rennt.”

Vern starrte zuerst seinen Vater, dann Enric an. “Ihr habt das geschrieben? Ernsthaft?”

“Ich gebe zu, das habe ich. Ich erkenne es wieder”, grinste Enric. “Es ist allerdings nur ein Auszug. Ich bin überrascht, dass Ihr Euch noch an die Worte erinnert, Lord Orrin. Es scheint, als hätte es einen dauerhaften Eindruck bei Euch hinterlassen.”

Orrin lachte leise. “Das hat es in der Tat. Ich war der erste der Lehrer, der auf diese Weise geehrt wurde. Respektlos und beleidigend, aber extrem amüsant zu lesen. Es wurde sogar so schlimm, dass sich die Lehrer, die nicht von dieser Unverfrorenheit betroffen waren, ausgeschlossen fühlten.”

Eryn lachte. “Und du dachtest, dass künstlerisches Talent in diesem Land überhaupt nicht geschätzt wird!”

“Das wurde es auch nicht”, bemerkte Enric, “Für dieses spezielle Gedicht wurde ich zur Arbeit in die Küche geschickt. An die Bestrafungen der anderen Lehrer erinnere ich mich nicht einmal mehr.”

“Dann scheint es, als hätte Euch meine Reaktion ebenfalls beeindruckt”, grinste Orrin.

“So scheint es wohl, ja”, nickte Enric nachdenklich.

“Und heute, etwa zwanzig Jahre später, sitzen der Schmutzpoet und der gnadenlose Lehrer gemeinsam an einem Tisch und essen das Mahl, dass der Schmutzpoet zubereitet hat, weil eure Partnerinnen zufällig Freundinnen sind”, sagte Vern und klang ebenfalls beeindruckt. “Ich wette, wenn das damals jemand vorhergesagt hätte, wärt ihr entweder in Panik verfallen oder hättet abgestritten, dass es jemals soweit kommen könnte.”

“Das ist allerdings wahr”, nickte Orrin. “Aber damals wäre es schon schlimm genug gewesen, wenn man mir gesagt hätte, dass ich mich eines Tages als Lord Enrics Untergebener wiederfinden würde.”

Enric lehnte sich zurück und betrachtete seinen alten Lehrer nachdenklich. “Ich hoffe, es hat sich als nicht ganz so übel für Euch erwiesen.”

Der ältere Mann lächelte. “Es gab ein paar Anlässe, wo Befehlsverweigerung eine attraktive Option zu sein schien. Besonders im Laufe des letzten Jahres.” Sein Blick sprang zu Eryn.

Die beiden Männer lächelten einander schief an, als sie an meisterhaft bezwungene Herausforderungen zurückdachten.

Eryn wechselte einen Blick mit Junar, die ihre Augen zur Decke richtete. Die beiden Männer wirkten viel zu selbstgefällig für ihren Geschmack. Sie lehnte sich nach vorne.

“Von einer Sache habe ich dir noch nicht erzählt. Ich habe es in Takhan ausprobiert und denke, dass du das sehr interessant finden könntest. Die Magier benutzen zum Jagen goldene Gürtel, die ihre Magie blockieren.”

Enric und Orrin tauschten einen leicht panischen Blick. Der eine bei der Aussicht darauf, dass ein weiteres intimes Detail enthüllt wurde, der andere, weil man ihn womöglich dazu drängen könnte, dem Beispiel des jüngeren Mannes zu folgen.

Vern lächelte nachsichtig und stand auf, um an den Barschrank zu treten und kurz darauf mit einer halbvollen Flasche zurückzukehren.

“Ich vermute, ich bin nicht der Einzige, der Nachschub braucht, oder?”, seufzte er und füllte dann die beiden Gläser auf, die hastig in seine Richtung geschoben wurden.

»Ende der Leseprobe«

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A.C. Donaubauer

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