Kapitel 1
Wieder Zuhause
Sobald das Schiff am Pier der königlichen Stadt Anyueel vertäut und der Landungssteg positioniert war, ging König Folrin ohne viel Aufhebens von Bord. Sein Ärger jedoch, der seinen Schritten eine gewisse Energie und seiner Miene mehr als nur einen Hauch von Grimmigkeit verlieh, war unverkennbar.
Königin Del’na’bened, nunmehr in festlicheren Gewändern als in ihrer Reisekleidung, die sie noch vor einer Stunde getragen hatte, folgte ihm eilig.
Vern, Junar, Téa und Temina verfolgten überrascht, wie das königliche Paar auf die wartende Kutsche zuschritt, ohne ihre Umgebung auch nur eines Blickes zu würdigen.
“Folrin, das war doch nicht ihre Absicht”, schnappten sie die Worte der Königin auf, die ihren Gefährten zu beruhigen versuchte.
Jede erkennbare Wirkung auf ihn blieb aus. Seine Lippen zu einer dünnen Linie gepresst, trat er lediglich zur Seite, um seine Gefährtin als Erste in das Gefährt einsteigen zu lassen. Dann warf er Eryn, die gerade den Pier betrat, einen letzten vernichtenden Blick zu, bevor er – ohne dafür auf den Kutscher zu warten – die Tür nachdrücklich hinter sich schloss, um sich von ihr fort und zu seinem Palast bringen zu lassen.
Eryn atmete aus und umklammerte Vedrics Hand um sicherzugehen, dass er nicht auf die wartende Gruppe zulaufen konnte. Es war ihm nicht erlaubt zu laufen, wenn die Gefahr bestand auszurutschen oder zu stolpern und im Fluss zu landen. Doch das pflegte er jedes Mal zu vergessen, wenn er jemanden erblickte, den zu begrüßen er ganz erpicht war.
Enric und Orrin folgten ihr. Orrins gesamte Haltung veränderte sich mit jedem Schritt, mit dem er die Distanz zwischen sich und seiner Familie, die er seit Monaten nicht gesehen hatte, verringerte. Und doch versäumte er nicht, als Vorbild aufzutreten, so wie es von ihm erwartet wurde. Daher nahm er davon Abstand, auf sie zuzulaufen wie er es vorgezogen hätte. Nein, er bewegte sich lediglich raschen Schrittes auf sie zu und demonstrierte so den beiden Kindern, dass auf einem Pier nicht gerannt werden durfte, während sein Blick fest auf Junar und das Mädchen an ihrer Seite gerichtet blieb.
Eryn spürte, dass sie nun, wo der König fort war und sie für den Moment von seiner Theatralik verschont blieb, unbeschwerter atmen konnte. Den gesamten vergangenen Tag über war er absolut unausstehlich gewesen. Wie konnte ein Mann, der ein ganzes Land zu regieren hatte, dermaßen zimperlich sein?
Sie beobachtete, wie Orrin endlich die wartende Gruppe erreichte und Junar in einer stürmischen Umarmung an sich zog. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, als sie ihn an sich drückte und ihr Gesicht in seinem Hals vergrub. Ihnen blieben nur wenige Sekunden, um ihre Wiedervereinigung ungestört zu genießen, bevor das Mädchen neben ihnen am Hemd ihres Vaters zupfte, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. Orrin hob sie mit einer schwungvollen Armbewegung hoch, dann setzten sie die Umarmung zu dritt fort.
Vern beobachtete die Szene lächelnd. Dann wandte er sich um und blickte Eryn, Enric und Vedric entgegen.
“Willkommen zurück”, grüßte er sie, dann nickte er mit dezent resignierter Miene in Richtung des Schiffsrumpfs. “Würdest du mir wohl erklären, warum im Rumpf dieses Schiffs ein Loch klafft? Das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, warum der König dermaßen pikiert ist?”
Eryn drehte sich in die Richtung, in die er deutete, und betrachtete die mächtige Lücke, die vom blassblauen Schimmern eines magischen Schildes überzogen war. Sie ermöglichte einen ungehinderten Blick in den Schiffsbauch. Kein alltäglicher Anblick. Was auch der Grund war, weshalb mehr und mehr Passanten anhielten um zu gaffen.
Temina grinste und nickte ihrer Tante zu. “Das warst du, nicht wahr? Die Königin hat so etwas erwähnt, glaube ich.”
Vedrics Gesicht wandelte sich zu einer Maske vorgetäuschten Entsetzens, doch das Glänzen in seinen Augen verriet ihn. “Es war entsetzlich! Ich habe geschlafen, und dann war da dieser wirklich, wirklich laute Knall! Und dann war überall Wasser! Alles war nass und kalt und alle haben geschrien und sind herumgelaufen!”
Eryn verzog das Gesicht. “Es gab da ein winziges Missgeschick.” So hatte sie sich ihre Rückkehr hierher wahrlich nicht vorgestellt – dass sie ihren jüngsten Akt der Zerstörung rechtfertigen musste.
Vern schnaubte und besah sich den Schaden erneut. “Winzig? Das Loch ist unschwer so groß wie ich! Ich bin nicht sicher, ob ich froh sein soll, dass ich nicht auf dem Schiff war und um mein Leben fürchten musste, oder ob ich es bedauern soll, dass mir dieses zweifellos beispiellose Spektakel entgangen ist.” Schließlich trat er auf sie zu. “Aber zuerst lass mich dich ordentlich begrüßen.” Er umarmte sie und fuhr fort: “Ganz egal, was du wieder angestellt hast, ich bin froh, dass du zurück bist.”
Temina begrüßte inzwischen ihren Onkel. Ihre Augen nahmen sein Gesicht in sich auf, und sie runzelte verwirrt die Stirn. “Enric, du siehst… verändert aus”, beendete sie den Satz etwas hilflos, da sie es nicht vermochte, die Veränderung auf den Punkt zu bringen.
Vern löste sich von Eryn und musterte Enric kurz. “Du hast ein wenig an Gewicht verloren. Und die Linien um deine Augen und auf deiner Stirn sind etwas tiefer als ich sie in Erinnerung habe”, analysierte er mit der Zügigkeit eines ausgebildeten Heilers. “Was ist dir widerfahren?” Er nickte zum Schiff hin. “Ich nehme an, dahinter steckt etwas mehr als das, was sie als ihr winziges Missgeschick bezeichnet?”
Eryn seufzte. Also hatte sich Enrics Entführung in Pirinkar noch nicht weit genug verbreitet, um in Anyueel allgemein bekannt zu sein. Aber das war nur eine Frage der Zeit – in Takhan wussten zu viele Leute darüber Bescheid, und es gab zahlreiche formelle und informelle Kontakte zwischen den Bürgern beider Länder. Das bedeutete, es würde nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben.
“Reden wir doch später darüber, ja?”, schlug sie vor, als Orrin sich gerade von seiner Gefährtin und seiner Tochter löste. Sein Gesichtsausdruck war weicher, so als hätte die Wiedervereinigung mit seiner Familie ihn um eine schwere Bürde erleichtert.
Eryn lächelte Junar an und wollte für eine Umarmung auf sie zugehen, doch die Worte der anderen Frau ließen sie mitten im Schritt innehalten.
“Du kehrst also wieder zurück – das Schiff in Trümmern, der König zornig und drei Länder im Krieg miteinander”, schleuderte ihr die Schneiderin ohne jede Vorwarnung entgegen, während ihre Stimme bebte. “Ich schätze, ich sollte dankbar sein, dass zumindest mein Gefährte unversehrt zurück ist.”
“Junar, das ist nicht fair”, erwiderte Enric ruhig. Er widerstand dem Impuls, Eryn seinen Arm um die Schultern zu legen. Damit würde er den Eindruck erwecken, sie wäre zu ihrer Verteidigung auf ihn angewiesen. Nun, zumindest noch mehr als seine Worte es ohnehin bereits nahelegten. “Aber das ist kaum ein geeigneter Zeitpunkt, um über das zu sprechen, was dir so viel Kummer bereitet. Wir sind gerade erst angekommen und würden gerne nach Hause zurückkehren, auspacken und uns dann etwas ausruhen.”
“Es ist nicht fair, dass du so etwas zu meiner Mutter sagst!”, pflichtete Vedric bei, verstummte aber auf den warnenden Blick seines Vaters hin. Es schien als wäre dies eine weitere dieser Situationen, wo es nur in Ordnung war, wenn ein Erwachsener etwas aussprach, nicht aber, wenn er das tat.
Orrin wirkte ebenfalls, als wollte er etwas loswerden, doch er besann sich eines Besseren. Er brachte es nicht über sich, seine Gefährtin für ihre harschen und wenig gerechtfertigten Worte zu schelten, nachdem er gerade erst zu ihr zurückgekehrt war.
“Ich denke, wir werden ebenfalls heimkehren”, verkündete der Krieger und nahm Junar und Téa jeweils an einer Hand.
Die kleine Familie ging auf die wartende Kutsche zu und war kurz darauf fort.
“Was hat sie denn für ein Problem?”, fragte Temina ungläubig und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter dorthin, wo sich Junar noch vor ein paar Augenblicken befunden hatte. “Ich meine, du bist gerade erst vom Schiff gekommen! Und es ist nicht deine Schuld, dass Orrin in Takhan festgesessen ist! Ich dachte, sie sei deine Freundin!”
Vern fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und antwortete: “Die Zeit ohne Vater war schwierig für sie. Sie hat ihn sehr vermisst. Und sie hat um sein Leben gefürchtet, besonders nachdem sie von dem Angriff auf Malriels Haus gehört hat. Und dass Téa immer schwieriger zu kontrollieren war, hat auch nicht gerade geholfen. Ihr Verhalten hat sich beträchtlich verbessert, nachdem Vater mit ihr zu trainieren begonnen hatte. Als er dann nicht mehr hier war, um ihr Grenzen zu setzen und Zeit mit ihr zu verbringen, ist sie wieder zu einigen ihrer vorherigen, weniger angenehmen Verhaltensweisen zurückgekehrt.”
Eryn seufzte, als sie zu verstehen begann. “Und für all das gibt sie mir die Schuld. Weil es meine Mutter war, die nach Orrin verlangt hat, um meinen Sohn zu beschützen.”
Vern wirkte gepeinigt, hin und her gerissen, die Gefährtin seines Vaters zu verteidigen und zuzugeben, wie irrational ihre Attacke auf Eryn gewesen war.
“Möglicherweise. Bis zu einem gewissen Grad. Obwohl sie weiß, dass du nicht wirklich daran Schuld bist – du hast nie darum gebeten, dass man euch nach Pirinkar schickt. Und wenn wir uns ansehen, wie sich die Dinge entwickelt haben, war es gut, dass Vater dort war, um Vedric zu beschützen. Sie hat nicht wirklich über ihre Worte nachgedacht. Sie musste nur irgendwie ihre Frustration loswerden.” Er räusperte sich und deutete auf das übel zugerichtete Schiff, bestrebt, das Thema zu wechseln. “Ich würde wirklich gerne wissen, wie das passiert ist. Warum hast du ein Loch in das Schiff gesprengt?”
“Tatsächlich war Enric derjenige, der das getan hat”, erwiderte sie müde. “Aber ich war sozusagen der Auslöser. Warum kommt ihr beiden nicht mit zu uns auf ein Getränk?”
* * *
atmete aus und genoss den Akt des Schließens der Tür zu seinem Heim, mit dem er die Außenwelt aussperrte und nur jenen Zutritt zu seinem privaten Reich gewährte, deren Anwesenheit er dort auch wirklich schätzte. Für den Augenblick gab es keine Anordnungen, denen er sich zu beugen hatte – keine Befehle des Königs, keine Vorladung von Tyront. Sie waren einfach nur eine normale Familie, die von einer eher erschöpfenden Reise zurückkehrte. Mit dem König und der Königin. Auf einem Schiff, das beinahe in Stücke gesprengt worden war. All das dehnte den Begriff der normalen Familie womöglich etwas zu sehr.
Vern und Temina traten direkt hinter ihnen ein und stießen einen zufriedenen Seufzer aus, als wären sie ebenfalls gerade nach mehreren Monaten Abwesenheit nach Hause zurückgekehrt.
Enric tauschte einen amüsierten Blick mit seiner Gefährtin.
Vedric kämpfte mit seinen Schuhbändern, schleuderte die Schuhe von seinen Füßen, ließ seinen Umhang zu Boden fallen und sauste dann zu den Stufen und in sein Zimmer hinauf.
Seine Mutter schüttelte den Kopf, während sein Vater die Unordnung beseitigte, die der Junge hinterlassen hatte.
Ungebeten, doch in dem Vertrauen, dass dies hier so etwas wie sein drittes Zuhause war – zusätzlich zu seinem Quartier und dem seines Vaters – ließ Vern sich auf ein Sofa fallen und klopfte auf den Platz neben sich als Signal für Temina.
Mit Interesse bemerkte Eryn, wie das Mädchen zu ihm ging und der Einladung ohne das geringste Zögern folgte. Diese beiden jungen Menschen fühlten sich wohl miteinander wesentlich wohler als noch vor ein paar Monaten, und sie fragte sich, welcher Natur ihre Beziehung wohl war. Freunde? Bettgenossen? Irgendetwas dazwischen? Das war der Nachteil dabei, wenn man für so lange Zeit fort musste – es entging einem so viel von dem, was vor sich ging, aber nicht spektakulär genug war, um es in einer Nachricht zu erwähnen. Es war ein wenig als müsste sie die Leute in ihrem Leben neu kennenlernen.
Was auf jeden Fall mehr als zutreffend war, wenn sie an ihre kurze, aber erschütternde Begegnung mit Junar dachte.
“Was möchtet ihr trinken?”, fragte Enric, während er an den Barschrank trat und nahtlos in die Rolle des aufmerksamen Gastgebers schlüpfte.
Vern bat um ein Glas Wein, und ebenso Temina, wenn auch mit einer etwas übertriebenen Lässigkeit, die nahelegte, dass sie darauf wartete, ob man ihrem Wunsch nachkommen würde.
Enric spitzte die Lippen. “Weiß deine Großmutter, dass du Alkohol trinkst?”
Seine Nichte seufzte, und ihre Schultern sanken ein wenig ein. “Nein.”
Eryn spürte seine Belustigung durch das Geistesband, wenngleich auf seinem Gesicht keine Spur davon erkennbar war.
“Ich verstehe.” Er nickte. “Und würde sie das gutheißen?”
“Dass du überhaupt fragen musst zeigt sehr deutlich, dass sie nicht diejenige war, die dich großgezogen hat, als du alt genug warst, um dich für Alkohol zu interessieren”, knurrte Temina.
Enric gab vor, einen Moment lang nachzudenken. “Ich schätze, aufgrund deiner Ehrlichkeit kann ich dir ein wenig Nachsicht zeigen.”
“Wo ist übrigens Plia?”, fragte Eryn, während Enric vier Gläser Rotwein einschenkte. “Normalerweise begrüßt sie uns am Pier.”
“Sie arbeitet”, antwortete Vern. “Wo sollte sie wohl sonst sein? Ich glaube, sie unterrichtet heute die neuen Apotheker.”
“Also eifrig wie eh und je. Wie sieht es mit dir aus? Jetzt, wo du wieder zum Heilen zurückgekehrt bist, hoffe ich nicht, dass du entdeckt hast, dass dir das Reinigen der Pferdeställe und Böden mehr Spaß macht als dein alter Beruf.”
Der junge Mann schnaubte und nahm das Glas entgegen, das Enric ihm reichte. “Ganz gewiss nicht! Obwohl Lord Poron es mir nach meiner Rückkehr nicht gerade leicht gemacht hat. Ich habe mehr als meinen Anteil an weniger beliebten Schichten abbekommen. Aber ich beklage mich nicht”, fügte er hastig hinzu.
Sie hoben ihre Gläser.
“Auf die Familie”, sprach Enric und hob das seine.
Die anderen drei lächelten und wiederholten seine Worte.
“Also”, begann Vern nach seinem ersten Schluck, “du hast versprochen, das Geheimnis hinter dem zerstörten Schiff zu lüften.”
“Zerstört”, wiederholte Eryn verächtlich und winkte ab. “Das ist doch bloß ein Kratzer.”
“Ich konnte hineinsehen!”, rief Temina aus. “Das Schiff ist ruiniert! Was ist passiert? Ihr wurdet doch nicht angegriffen, oder?”
Eryn rieb sich über die Stirn und nahm auf einem der Stühle Platz. “Nein, nicht wirklich. Es war ein Unfall.” Sie atmete aus und fragte sich, wo sie mit ihrer Erzählung beginnen sollte. “Ihr wisst, dass wir nach Pirinkar geschickt wurden.”
Beide nickten.
“Enric und ich waren… eine Zeitlang getrennt. Das hat zu der Entdeckung geführt, dass wir anscheinend dazu in der Lage sind, Magie durch unser Geistesband zu schicken”, fuhr sie fort und verschwieg sorgsam alles, worüber sie derzeit nicht wirklich sprechen wollte. “Allerdings kann keiner von uns sagen, wie das genau funktioniert. Als wir also auf dem Schiff waren und drei Tage lang nichts Besseres zu tun hatten als die Wellen anzustarren…”
Vern zog die Augenbrauen hoch. “Da dachtest du, du könntest die Zeit ebenso gut für ein paar Experimente nutzen? Obwohl der König und die Königin an Bord waren?”
“Nun, ja. Ich hatte nicht wirklich mit einem dermaßen dramatischen Resultat gerechnet”, verteidigte sie ihre unglückselige Entscheidung.
Der junge Mann sah zu Enric. “Und du hattest dazu überhaupt nichts zu sagen?”
“Ich wurde nicht konsultiert”, erwiderte er mit einem Seitenblick auf seine Gefährtin.
“Was bedeutet das Loch im Schiff nun?”, erkundigte sich seine Nichte. “Hat es funktioniert oder nicht?”
“Sagen wir einfach, wir haben etwas Neues gelernt, wenn auch nicht ganz so viel wie erhofft”, versuchte Eryn es auf neutrale Weise zu formulieren.
“Jetzt sag schon, wie ist es passiert? Das ist ja wie Zähne ziehen!”, beklagte sich Vern und zeigte erste Anzeichen von Ungeduld.
“Es war spät in der Nacht”, begann Eryn, “und außer der Mannschaft war ich die Einzige, die noch wach war. Ich habe einige Zeit damit verbracht, aufs Meer hinauszuschauen und nachzudenken. Es muss um Mitternacht herum gewesen sein, als ich zu überlegen begann, ob ich das, was oben in Pirinkar passiert ist, wohl wiederholen könnte. In kleinerem Maßstab. Also habe ich die Augen geschlossen und mich konzentriert. Ich dachte, ich müsste es bemerken, falls es funktioniert, weil Enric davon aufwachen würde. Nach einigen misslungenen Versuchen begannen meine Gedanken abzudriften zu… Dingen, die in Kar passiert sind. Erschütternde Dinge. Meine Vermutung ist, dass ich ein wenig eingeschlafen bin und meine dabei Gedanken irgendwie auf dem gleichen Pfad geblieben sind. So haben sich wohl aus meinen vorhergehenden Überlegungen recht unangenehme Träume ergeben. Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, als jemand über meine Beine gestolpert ist, und dieser unerwartete Zwischenfall in Kombination mit dem, was während des Schlafens in meinem Gehirn vorging, muss vollbracht haben, was ich in wachem Zustand nicht geschafft habe.”
“Was bedeutet, du hast irgendwie deine Magie an Enric geschickt?”, fragte Vern mit ungläubiger Miene. “Ich wusste nicht einmal, dass euer Geistesband so etwas kann! Es hat also funktioniert?”
“Sagen wir lieber, es gab einen unübersehbaren Effekt”, warf Enric ein. “Zu behaupten es hätte funktioniert wäre ein wenig zu hoch gegriffen, da es keine bewusste Bemühung war, die sich beliebig wiederholen ließe. Und vergessen wir nicht das gigantische Loch in der Schiffshülle. Das ist nicht gerade meine Vorstellung von Erfolg.”
“Enric hat meine Magie empfangen”, fuhr Eryn fort, “allerdings hat er zu dem Zeitpunkt geschlafen und war somit nicht wirklich in der Lage, sie zu kontrollieren. Also… kam sie einfach aus ihm heraus.” Sie untermalte ihren letzten Satz mit einer Handbewegung, die eine Explosion darstellen sollte.
“In Form eines Blitzes, der das Schiff getroffen hat”, fügte er der Vollständigkeit halber hinzu.
Vern erschauderte, als er sich das vorstellte. “Das muss ein böses Erwachen gewesen sein. Zum Glück hast du lediglich die Schiffshülle getroffen und keine Person.”
“Vedric hat auf der Pritsche gegenüber von mir geschlafen. Aber der Blitz hätte ihn nicht verletzt. Zumindest nicht stark. Er war mächtig genug, um Holz zu durchschlagen, hätte ihn aber nur umgeworfen. Der menschliche Körper kann magische Attacken recht gut wegstecken.”
“Ich weiß”, seufzte Vern. “Ein Großteil davon zerstreut sich entlang der Haut. Du erinnerst dich, dass ich sowohl ein Magier als auch ein Heiler bin?”
Eryn grinste, zufrieden, dass zur Abwechslung einmal jemand anderer als sie selbst die Aufmerksamkeit auf seine Tendenz zum übermäßigen Erklären lenkte.
Temina lehnte sich fasziniert vor. “Da muss dann aber eine Menge Wasser ins Schiff gelaufen sein, wenn ich an die Position des Lochs denke”, schlussfolgerte sie.
“Das stimmt”, bestätigte Enric. Noch einmal durchlebte er die fürchterlichen Sekunden, deren Beginn ein heftiger Schwall Wasser ins Gesicht gewesen war nur eine Sekunde nachdem die Magie, die aus ihm herausgebrochen war, ihn aus seinen Träumen gerissen hatte. “Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was vor sich ging, und in der Zwischenzeit war das Wasser in der Kabine knietief, und die Hülle hatte begonnen, Planke für Planke wegzubrechen. Der Mannschaft war aufgefallen, dass etwas nicht stimmte. Einerseits war da der Knall meines Blitzes gewesen, und dann begann das Schiff zu kippen.” Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. “Alle begannen herumzulaufen und zu schreien. Es war das reinste Chaos.”
“Ihr seht also – ein Missgeschick”, betonte Eryn einmal mehr. “Es ist nicht einmal passiert, während ich bewusst damit experimentiert habe, sondern erst hinterher. Ich sehe also nicht, weshalb der König mir die Schuld dafür gibt.”
“Ach nein?”, fragte Vern. “Normalerweise fließt keine Magie zwischen euch beiden, wenn ihr schlaft, also musst du irgendwas getan haben.”
“Ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich habe den letzten Tag an Bord damit verbracht, darüber nachzudenken.” Ihre Miene verfinsterte sich. “Dafür hatte ich eine Menge Zeit – weder der König noch die Mannschaft waren nach dem Vorfall besonders erpicht darauf, mit mir zu reden. Die Königin hat versucht, ihn zu besänftigen, aber ich habe gesehen, dass sie ebenfalls erschüttert war.”
“Unglaublich”, staunte Vern, “wie du es immer wieder schaffst, Dinge auf die spektakulärste Art und Weise zu zerstören. Zuerst die Senatshalle, und jetzt das Schiff mit dem König und der Königin an Bord…”
“Und eine Gebirgsfestung, die in massives Gestein gehauen war, wo sie gerade dabei war…”, murmelte Enric und nahm einen großen Schluck von seinem Glas.
Temina und Vern blickten ihn beide an als versuchten sie herauszufinden, ob er zu scherzen beliebte.
“Das ist Unsinn”, entschied der junge Mann schließlich, “niemand kann so etwas zerstören.”
Enric lächelte matt. “Willst du wetten?”
* * *
“Du hast eine Bergfestung zerstört”, murmelte Vern. Einen Tag später dachte er noch immer fassungslos an das, was Enric ihm mit Hilfe dieses raffinierten kleinen Tricks aus Pirinkar gezeigt hatte. “Du hast sie vollkommen vernichtet? Wie? Ich meine… wie?”
Eryn, die die letzten paar Schritte zur Klinik neben ihm zurücklegte, zuckte mit den Schultern. “Es war eine Art Eingebung. Ich bin einfach… mit dem Gestein unter mir in Kontakt getreten und mit meiner Magie darin eingetaucht, dann hat es mir gewissermaßen gezeigt, was zu tun ist.”
Vern bedachte sie mit einem skeptischen Blick, als hätte sie sich nun vollständig von ihrem Verstand verabschiedet. “Du hast dich mit den Steinen unterhalten? Und sie haben geantwortet?”
Vor der Eingangstür hielt sie inne. “Es klingt verrückt, wenn du es so ausdrückst. Ich bin nicht irre. Es war als hätte ich gespürt, was unter mir liegt, die unterschiedlichen Schichten übereinander, die Art und Weise, wie sie sich um mich herum ausgedehnt und gekrümmt haben… Was so eindrucksvoll aussieht, wenn Enric seine Erinnerungen projiziert, ist kein Kraftakt oder der Einsatz von brachialer Stärke. Es ist ein kleiner Anstoß mit einer unglaublich mächtigen Auswirkung. Ich habe lediglich Magie an einer der Schichten entlang geschickt und sie dort an die Oberfläche treten lassen, wo ich sie gebraucht habe – und damit die Struktur des Gesteins minimal verändert, damit es sich ausdehnt. Der Fels wurde formbar und war damit kein stabiler Untergrund mehr. Und plötzlich war diese Monstrosität von einer Festung in einer Wolke aus grauem Staub verschwunden.”
Verwundert schüttelte der junge Mann den Kopf. “Wie entdeckst du sowas bloß immer wieder? Niemand außer dir käme auf den Gedanken, Gesteinsschichten zu untersuchen, um etwas dem Erdboden gleichzumachen. Jeder andere würde einfach nur eine Menge Magie in Form von Blitzen loslassen.”
“Das würden Krieger tun. Und es wäre dämlich gewesen. Abgesehen von der Tatsache, dass ich dafür ohnehin zu weit entfernt gewesen wäre, hätte es selbst bei einem starken Magier eine Ewigkeit gedauert, eine Struktur aus massivem Fels zu zerschlagen. Man hätte Stück für Stück von außen abtragen und mit jedem Blitz ein paar Brocken ablösen müssen. Selbst wenn Enric und Lord Tyront gemeinsam an die Sache herangegangen wären, wären sie nach kaum mehr als einer Stunde vollkommen erschöpft gewesen.”
“Und dann diese Sache mit dem Geistesband… Du hast gesagt, ihr wurdet in Pirinkar getrennt – warum? Hat das irgendetwas mit Enrics Veränderung zu tun?”
Eryn zwang sich, ihr Unbehagen mit einem Lächeln zu kaschieren. Da gab es so Vieles, das sie ihm nicht erzählen konnte, Dinge, von denen sie wusste, dass sie zuerst bei Tyront nachfragen musste, ob jemand davon erfahren durfte. So wie Enrics Entführung, die Tatsache, dass sie sich im Krieg befanden, oder sogar das Geheimnis der Kampftechnik der Bendan Ederbren, über das sie gestolpert war.
Sie war mehr als nur ein wenig überrascht, dass Enric Vern nicht nur seine neue Fähigkeit zum Projizieren von Bildern auf einen magischen Schild demonstriert, sondern ihm auch die Herangehensweise erklärt hatte – ohne vorher den Orden zu Rate zu ziehen.
Das war ungewöhnlich für einen Mann, der den Großteil seines Lebens hinweg gewisse Fertigkeiten für sich behalten hatte, um sich so in diesem Sumpf aus Magiern, Politikern und Spionen einen Vorteil zu sichern. Es schien, als hätte ihre eigene Herangehensweise im Umgang mit Wissen – als etwas, das mit dem Teilen wuchs – begonnen, auf ihn abzufärben.
“Ich fürchte, darüber kann ich dir noch nichts erzählen”, meinte sie, ihr Ton bedauernd, als sie zu der Unterhaltung zurückkehrte.
Eryn wollte gerade die Tür zur Klinik aufstoßen, da hielt er ihre Hand fest und sah sich prüfend um, ob sich jemand in der Nähe befand, bevor er flüsterte: “Es gibt Gerüchte, dass wir uns im Krieg befänden. Ich nehme an, darüber kannst du mir auch nichts sagen?”
“Ich fürchte, das kann ich nicht”, bestätigte sie, nickte ihm aber kaum merklich zu.
Er verstand und schluckte mit leicht geweiteten Augen. Die Bestätigung seines Verdachts beunruhigte ihn sichtlich.
Sie betraten das Gebäude, und es dauerte kaum länger als zwei Minuten, bis sich die Kunde von Eryns Rückkehr in der gesamten Klinik verbreitet hatte. Sie wurde willkommen geheißen, umarmt, nach dem Treiben im Westen befragt und schaffte es erst nach einer halben Stunde, sich zu befreien.
Die Arbeit kam vor dem Vergnügen, also würde sie Lord Poron aufsuchen, bevor sie an Plias Tür klopfte. Inmitten all der Kollegen hatten sie kaum mehr als ein paar Sekunden gehabt, um miteinander zu sprechen.
Sie hob ihre Faust, um an die Tür des Arbeitszimmers zu klopfen, wartete dann aber noch ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Das war der Tag, an dem sie ihren Ausstieg aus dem Heilen offiziell machen würde. Ganz egal, wie groß die Versuchung war, diese unangenehme Angelegenheit noch einen Tag oder zwei hinauszuschieben. Sie wusste, dass dies die Sache nicht vereinfachen würde. Sie musste es hinter sich bringen, und Lord Poron musste davon erfahren, bevor irgendwelche Pläne ausgearbeitet wurden, um sie in den Schichtplan miteinzubeziehen.
Streng genommen hatte sie bereits das Oberhaupt der Klinik in Takhan darüber informiert. Doch da dieser zufällig auch ihr Vater und der Anlass privater Natur war, zählte es nicht wirklich. Das hier musste offiziell ablaufen.
Der Raum hinter der Tür war derjenige, den sie selbst vor wenigen Jahren als Arbeitsplatz genutzt hatte, bevor der Orden beschloss, dass jemand anderer als sie selbst ihre Klinik führen würde. Mit Lord Poron hatte man durchaus eine gute Wahl getroffen – sie selbst war die Erste, die das zugeben würde. Doch es verblieb dennoch ein winziger Rest an Groll, der daran festhielt, dass es nicht deren Entscheidung hätte sein sollen, sondern allein die ihre. Doch mit individuellen Entscheidungen kam der Orden nicht gut zurecht. Oder zumindest nur, sofern die Person, die die Entscheidungen traf, auch der gesamten Institution vorstand.
Als sie schließlich anklopfte, wurde die Tür sofort geöffnet, und vor ihr stand Lord Poron, der dank verjüngender Heilermagie wesentlich weniger greisenhaft wirkte als er sollte.
“Eryn!”, grüßte er sie herzlich und zog sie in eine Umarmung, bevor er sie einzutreten bat. “Komm doch herein. Ich hatte gehofft, dass du dich heute Morgen ansehen lassen würdest. Obwohl mir natürlich bewusst ist, dass du zuerst Tyront aufsuchen solltest.” Er lächelte. “Aber diesen Besuch versuchst du nach deiner Rückkehr aus Takhan immer aufzuschieben.” Sobald er die Tür hinter ihr geschlossen hatte und beide saßen, wurde sein Gesichtsausdruck ernst. “Ich bin froh, dass du und Enric wohlbehalten aus dem Norden zurückgekehrt seid. Wie geht es ihm? Ich habe gehört, dass er entführt und sogar gefoltert wurde.”
Es überraschte Eryn nicht, dass er Bescheid wusste. In Abwesenheit von Eryn und Enric war Lord Poron nach Tyront der höchstrangige Ordensmagier.
“Soweit geht es ihm gut. Nach unserer Rückkehr nach Takhan hat er Iklan konsultiert. Mir ist daraufhin eine beträchtliche Verbesserung seiner Verfassung aufgefallen. Trotzdem schätze ich, dass es immer noch eine Weile dauern wird, bis er diese Erfahrung vollständig aufgearbeitet hat.”
Lord Poron lächelte schwach. “Ich bin froh zu hören, dass er sich an Iklan gewandt hat. Seit ich mich dem Heilen verschrieben habe, beginne ich zu verstehen, dass der Orden jungen Magiern keine allzu gesunde Haltung vermittelt, wenn es darum geht, sich den eigenen Schwächen zu stellen. Wir bringen ihnen bei, sich ihnen entgegenzustellen und sie zu bewältigen – oder wenn sie das nicht vermögen, sie verschwinden zu lassen, indem man ihnen keine Beachtung schenkt. Die Option Hilfe anzunehmen – oder noch schlimmer, sogar darum zu bitten – wurde nie gefördert, da es bedeuten würde, sich selbst jemand anderem gegenüber angreifbar zu machen. Und das widerspräche politischer Strategie.”
Eryn seufzte tief in ihrem Inneren, erwiderte aber nichts darauf. Politische Strategie. Das Thema, die Disziplin oder wie auch immer man es kategorisieren wollte, das ihr am meisten verhasst war. War es nicht großartig, wieder zurück zu sein…
“Es ist wichtig, dass Enric im Vollbesitz seiner Kräfte ist, jetzt, wo wir in einen Krieg eingetreten sind”, fuhr das Oberhaupt der Heiler fort. “Ihr beiden bekleidet nicht nur hohe Ränge im Orden, sondern verfügt auch über wesentliches Wissen über den Feind.”
“Ganz so weit würde ich nicht gehen”, widersprach Eryn und verzog das Gesicht. “Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass es wesentlich mehr gibt, das wir nicht über sie wissen.”
Der Feind. Es fiel ihm leicht, diesen Begriff für die Menschen nördlich der Westlichen Territorien zu verwenden. Für ihn waren sie nichts als eine anonyme Masse ohne Gesichter. Für Eryn hatten sie nicht nur Gesichter, sondern auch eine Kultur, ihre eigene Sprache, Tempel, erstaunliche Technologien und waren – und das war das Allerwichtigste – Individuen mit Namen, Berufen, Bedürfnissen und Wünschen. Der Feind war kein Volk; soweit es sie betraf, war es ein einzelner Mann.
“Die Bendan Ederbren sind zweifellos geneigt, ihre Erkenntnisse mit uns zu teilen”, erwiderte Lord Poron, stets der Optimist.
“Ich bezweifle nicht, dass sie willens sind, doch ich frage mich, wie viel sie uns mitteilen können, wenn wir bedenken, dass sie gezwungen waren, ihr gesamtes Leben hinter Tempelmauern zu verbringen”, konterte Eryn.
“Das ist wohl wahr”, nickte der alte Mann, “doch da gibt es noch eine andere Gruppe, die nun seit mehreren Tagen befragt wird, soweit ich das verstehe: jene, die das Lager der Bendan Ederbren attackiert haben. Zumindest die wenigen, die der Wüstenstamm festzusetzen vermocht hat.”
“Die Loman Ergen?”, fragte Eryn und erinnerte sich erst jetzt wieder an die Gefangenen.
“Während ihr auf dem Weg hierher wart, haben wir eine Nachricht aus Takhan erhalten. Es handelte es sich um eine Gruppe von etwa fünfzehn Leuten, doch nur zwei von ihnen sind wahrhaftig Loman Ergen. Beim Rest handelt es sich lediglich um Soldaten, die entsprechend gekleidet waren, um diesen Eindruck zu erwecken.” Er runzelte die Stirn. “Was mich etwas überrascht. Hätte die gesamte Gruppe aus Magiern bestanden, die im Kundschaften ausgebildet sind, hätten sie ohne Zweifel beträchtlich größeren Schaden anrichten oder sogar alle Bendan Ederbren töten können. Warum schickt Etor Gart nur zwei von ihnen?”
Eryn knirschte mit den Zähnen. “Ich habe bisher nur eine kleine Gruppe der Loman Ergen getroffen, doch ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass sie besonders erpicht darauf waren, zum Töten anderer Magier eingesetzt zu werden – sofern das überhaupt auf irgendjemanden zutrifft. Vielleicht konnte er nicht genug von ihnen auftreiben, die bereit waren, auf diese grausige Mission zu gehen.”
Lord Poron nickte langsam. “Ich gehe davon aus, dass Etor Gart Zugeständnisse machen muss, wo er nun einen ganzen Tempel voller Krieger verloren hat. Da es Magiern im Allgemeinen nicht erlaubt war, sich Kampffertigkeiten anzueignen, wird es ihm schwerfallen, sie zu ersetzen. Aber lassen wir dieses Thema. Ich bin sicher, es wird mehr als genug Gelegenheiten geben, den Krieg in den Ratsversammlungen zu besprechen.” Er schenkte Eryn ein mitfühlendes Lächeln, als sich ihre Miene bei der Erwähnung dieser Leute verdüsterte.
“Der Gedanke erfreut mich doch gleich ganz besonders…”, knurrte sie.
“Dein Vater hat mir geschrieben”, schwenkte er auf ein anderes Thema um. “Er hat erwähnt, dass du zu beweisen versuchst, dass magisches Heilen langfristig schädliche Auswirkungen auf Patienten hat.”
Eryn presste sich Zeigefinger und Daumen auf die Nasenwurzel. “Es ist keineswegs mein Ziel, das zu beweisen – ich will lediglich herausfinden, ob diese Behauptung zutrifft oder nicht. Mir ist jedes Ergebnis recht; ich will nur sicher sein, dass Heiler nicht versehentlich ihre Patienten falsch behandeln. Er ist nicht allzu glücklich über meine Entschlossenheit, in diese Richtung zu forschen. Ich habe ihn sozusagen dazu gezwungen, es zu tolerieren, indem ich an die Triarchie herangetreten bin.”
Der Heiler schüttelte den Kopf. “Ich schätze, niemand könnte dir jemals vorwerfen, dass du deine Familie ungebührlich bevorzugst. Du versäumst es, die Angelegenheit aus seiner Sicht zu betrachten, Eryn. Er sorgt sich darum, dass der Ruf seiner Heiler Schaden nehmen und die Arbeit, die sie leisten, abgewertet werden könnte.”
“Das weiß ich. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, die Wahrheit herauszufinden.”
“Das bedeutet es keinesfalls”, stimmte er zu. “Doch es mag sich eine etwas weniger… unerbittliche Herangehensweise empfehlen. Ich gehe davon aus, dass du in einem ersten Schritt in den Patientenakten nach wiederkehrenden Krankheiten suchen willst?”
Sie nickte.
“Wenn du denkst, dass die wenigen Jahre, die unsere Aufzeichnungen zurückreichen, dir in deinem Unterfangen helfen könnten, dann kannst du unsere Akten selbstverständlich nutzen. Sie gehen nicht so viele Jahre zurück wie jene in Takhan, wie du weißt, doch vielleicht ist es ein Anfang.”
Eryn lächelte ihn an, während das Gefühl von Zuneigung für ihn in ihrer Brust aufblühte. Er hatte sie noch niemals im Stich gelassen, und sie war zutiefst dankbar und erleichtert, dass er es auch jetzt nicht tat.
“Vielen Dank. Ich glaube, das ist ein ausgezeichneter Ausgangspunkt.”
“Es ist gut, dich zurück zu haben”, merkte er an. “Und auch Vern, obwohl ich noch immer versuche, ihm klar zu machen, dass wir ihm seinen Fehltritt verziehen, ihn aber keineswegs vergessen haben.”
Sie schluckte. Das war es, wovor sie zurückscheute – ihm zu sagen, dass er sie nicht wirklich zurück hatte. Zumindest nicht auf die Weise, wie er es erwartete.
“Ich glaube, Vern hat das durchaus begriffen. Zumindest war das mein Eindruck, als er mir von der Schichteinteilung erzählt hat. Da gibt es noch etwas, das ich bekanntgeben muss.”
Lord Poron zog seine Augenbrauen hoch, als sie zögerte. “Du weißt, dass du mir alles sagen kannst.”
Sie atmete aus und zwang sich dazu, die Worte auszusprechen. “Ich werde nicht länger als Heilerin arbeiten.”
Die Augenbrauen ihres Gesprächspartners zogen sich zusammen. “Verzeihung?”
“Ich habe entschieden, dass ich nicht länger in diesem Metier tätig sein kann. Es hängt mit einem Vorfall in Pirinkar zusammen. Ich… ich habe etwas getan, von dem ich geschworen hatte, es niemals wieder zu tun.”
Der Magier betrachtete sie eine Weile, dann nickte er langsam. “Natürlich werde ich deine Entscheidung respektieren, ganz egal, wie sehr ich sie bedaure. Wirst du mir sagen, was dich dazu bewogen hat, das Heilen aufzugeben? Ich möchte versuchen, es zu verstehen.”
Einen Moment lang rang Eryn mit sich, dann nickte sie schließlich. Ihm diese spezielle Tatsache mitzuteilen war aus irgendeinem Grund wesentlich einfacher als bei ihrer Familie. Es war nicht so, dass sie kein Vertrauen in den Rückhalt ihres Vaters hatte; er würde trotz ihrer verwerflichen Tat – dem Bruch ihres Eides – zu ihr stehen. Das Problem war eher, was es ihn kosten mochte. Was sie getan hatte, stand allem entgegen, wofür er stand; es entehrte alles, was er seit Jahrzehnten hochhielt.
Lord Poron war dem Heilen ähnlich stark verbunden, wenngleich er noch nicht ganz so lange darin tätig war. Doch er war auch vom Orden ausgebildet und seit früher Kindheit auf Krieg vorbereitet worden. Er wusste, dass es manchmal keine andere Möglichkeit gab als auf gewisse unliebsame und zuweilen unethische Maßnahmen zurückzugreifen.
Valrad wusste das ebenfalls, doch lediglich in einem Zusammenhang ohne Gewalt, sondern in Verbindung mit politischen Angelegenheiten oder schwierigen Entscheidungen, die das Oberhaupt eines Hauses zu treffen hatte.
Sie holte tief Luft. “Als man Enric entführt hatte, benutzte ich meine Magie und mein Heilerwissen dazu, einen Mann zu foltern, von dem ich vermutete, dass er etwas über seinen Verbleib wusste. Es war…” Sie schloss die Augen. “…einfacher als es hätte sein sollen.”
“Ich verstehe”, erwiderte Lord Poron sanft, in seiner Stimme nicht die geringste Spur von Verurteilung. “Nun, ich bin sicher, dass ein anderer Weg vor dir liegt, meine liebe Eryn. Und wenn wir deine Position im Orden betrachten und deine regelmäßigen Reisen nach Takhan, dann war es ohnehin ein großer Luxus, dich lediglich als bescheidene Heilerin bei uns zu haben. Dennoch werden wir dich enorm vermissen. Du bist nicht nur die erste Heilerin, die wir hier jemals hatten, sondern auch die Gründerin dieser Klinik.”
Sie war unendlich dankbar, dass er keinerlei Versuche startete, sie umzustimmen, sondern ihre Entscheidung und das, was sie diesem Priester angetan hatte, als etwas Unangenehmes aber womöglich Unvermeidliches – oder zumindest Verzeihliches – akzeptierte.
“Malriel hat mich gebeten, Haus Aren zu übernehmen.” Die Worte purzelten ungebeten aus ihr heraus. Es war, als wollte sie ihm versichern, dass eine andere Aufgabe auf sie wartete, wenn sie es wünschte, dass er sich nicht sorgen musste, dass sie verlassen und ohne einen Zweck in ihrem Leben dastehen würde.
Nun wirkte er besorgt. “Und du hast zugesagt? Du beabsichtigst, uns für immer zu verlassen?”
“Ich habe mich noch nicht entschieden. Es ist eine weitreichende Entscheidung, und ich will sie nicht überstürzen.”
Lord Poron stieß den Atem aus und schloss kurz die Augen. “Ich schätze, damit hätte ich rechnen sollen. Doch es war so viel einfacher, auf deine angespannte Beziehung zu Malriel zu vertrauen; und davon auszugehen, dass euch das davon abhalten würde, einen Schritt aufeinander zuzugehen – zumindest nicht in einem Ausmaß, wo sie dir ihr Haus anvertraut und du es tatsächlich in Betracht ziehst. Weiß Tyront schon davon?”
Sie zuckte mit den Schultern. “Bei Tyront lässt sich schwer sagen, wovon er weiß. Falls er noch nicht davon erfahren hat, vermutet er es womöglich. Ebenso der König, denke ich. Zumindest, seit er erfahren hat, dass ich Vedrics Adoption in Haus Aren vorläufig nicht annulliert habe.”
“Dein Sohn ist Mitglied von Haus Aren?” Dann tippte er sich mit einem Zeigefinger gegen seine Schläfe. “Ah. Eine Vorsichtsmaßnahme vor deinem Aufbruch nach Pirinkar, um ihm den Schutz von Haus Aren zu sichern. Ein gewitzter Zug. Und dass du ihn nicht rückgängig gemacht hast, ist ein recht vielsagendes Signal. Ich würde zustimmen, dass Tyront die Relevanz dahinter erraten wird. Ich empfehle, dass du ihn offiziell von dem Angebot unterrichtest. Und zwar bald. Das ist ein Zeichen von Respekt und gutem Willen. Und es wird ohnehin keine Neuigkeit für ihn sein, sondern lediglich die Bestätigung eines Verdachts, den er bereits hegt.”
Eryn nickte zögernd. Sie war nicht besonders versessen darauf, Tyront davon zu erzählen. Seinen Standpunkt in dieser ganzen Sache konnte sie sich lebhaft vorstellen. Und wie er darauf reagieren würde, wie sie in Worte kleidete, was er ohnehin bereits vermutete. Wenn sie Glück hatte, würde es lediglich auf gezwungene Höflichkeit hinauslaufen.
Doch Lord Poron hatte Recht – über all dies mit Tyront zu reden würde zumindest die Illusion von Offenheit schaffen.
Ein harsches Klopfen erklang an der Tür, die Lord Porons Arbeitszimmer mit dem seines administrativen Leiters verband, und einen Moment darauf wurde sie ohne Aufforderung geöffnet.
Da war ein kaum hörbares Schnauben, als Lofts Blick auf Eryn landete.
“Ah ja, der Tumult war ein Hinweis darauf, dass Ihr zurückgekehrt sein müsst”, brummte er. “Die Störung aller Ordnung und Disziplin ist in der Regel ein sicheres Anzeichen für Eure Ankunft.”
Eryn bedachte ihn mit einem kühlen Blick. “Und dass die Atmosphäre in wenigen Augenblicken bar jeder Freude ist, ist ein Anzeichen für deine”, schoss sie zurück.
“Ich gehe davon aus, dass ich den Dienstplan für den nächsten Monat umschreiben werde müssen, nachdem Ihr uns wieder mit Eurer Anwesenheit beglückt”, grummelte Loft. “Irgendwelche neuen Anforderungen dieses Mal? Ich genieße es ungemein, Euren eigenwilligen Prioritäten entgegenkommen zu müssen.”
“Zu freundlich”, erwiderte sie ausdruckslos. “Doch das wird nicht nötig sein. Ich werde deinen sorgsam erstellten Dienstplan nicht durcheinanderbringen. Niemals wieder.”
Er blinzelte. Zweimal. “Bedeutet das, Ihr werdet hier nicht länger als Heilerin arbeiten?”
“Meisterhaft erkannt. Jetzt geh und beschäftige dich mit deinen Papieren, damit die Erwachsenen reden können, ja?”
Loft war verdutzt genug, um dieser alles andere als höflichen Aufforderung Folge zu leisten, auf seinem Gesicht ein wundersames Lächeln, als er die Tür schloss.
“Ist das nicht nett?”, meinte sie müde. “Zumindest einer ist glücklich darüber.”
* * *
“Warum genau befindet sich ein klaffendes Loch in dem Schiff, dass euch aus Takhan hergebracht hat?”, war die erste Angelegenheit, über die Tyront informiert werden wollte, sobald Enric in seinem Arbeitszimmer Platz genommen hatte.
“Ich schätze, sie werden einfach nicht mehr so stabil gebaut wie früher”, äußerte Enrics Mund, bevor sein Gehirn einlenken konnte. Er räusperte sich, als sich Tyronts Blick verdüsterte. “Was sagen deine Informanten, was sich zugetragen hat? Ich weigere mich zu glauben, dass in dieser Monstrosität eines Schreibtischs nicht irgendwo mindestens ein Bericht darüber herumschwirrt.”
Zu spät erkannte er, dass diese Antwort bei seinem bereits leicht gereizten Vorgesetzten auch nicht viel besser ankam. Verdammt – Eryns Unverfrorenheit färbte langsam auf ihn ab. Er überlegte, ob er noch einen weiteren Versuch starten sollte, entschied sich aber dagegen. Selbstbewusste Respektlosigkeit war immer noch besser als tollpatschige Versuche, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Zumindest im Orden. Eine Bestrafung hoch erhobenen Hauptes entgegenzunehmen wurde als eine Art Tugend erachtet, doch jedem Versuch zu deren Vermeidung wurde in der Regel mit ungerührter Verachtung begegnet. Der Orden plädierte dafür, Leute für ihre Fehler zu bestrafen, und befürwortete weniger, dass diese rechtzeitig erkannt wurden. Aus Fehlern zu lernen war wichtig, also wurde die Vermeidung von Bestrafung im letzten Moment gleichgesetzt mit dem Unwillen, sich weiterzuentwickeln.
Tyront stützte sich mit den Ellbogen auf seinen massiven Schreibtisch und legte seine Fingerspitzen auf die für ihn so typische Weise aneinander. Und starrte Enric weiterhin an.
“Sollen wir es noch einmal versuchen, Enric?” Unter dem Deckmantel wohlwollender Nachsicht schwang nun auch eine gewisse… Kälte in Tyronts Stimme mit.
“Es war ein…” Missgeschick war das erste Wort, dass ihm in den Sinn kam. Doch Eryns bevorzugter verharmlosender Begriff für etwas, das mühelos das gesamte Schiff einschließlich dem Herrscherpaar hätte versenken können, würde Tyront nicht im Mindesten amüsieren. “…ein Unfall”, beendete er den Satz.
“Ein paar zusätzliche Details wären willkommen”, entgegnete Tyront ausdruckslos, als Enric nichts weiter preisgab.
Sein Vorgesetzter war ungeduldig, wie Enric bemerkte. Das musste bedeuten, dass die Berichte, die er bislang erhalten hatte, nicht zufriedenstellend gewesen waren.
“Ich bin selbst nicht sicher, wie es passiert ist. Eryn sagt, sie hat mit dem Geistesband herumexperimentiert.” Wusste Tyront überhaupt über die Einzelheiten Bescheid, wie Enric aller Wahrscheinlichkeit nach seiner Gefangenschaft entkommen war? Dass Eryn es irgendwie geschafft haben musste, ihm durch das Geistesband die Magie zu schicken, über die sie die Kontrolle verloren hatte – und so das goldene Band um seinen Hals in ein schwarzes, halb-geschmolzenes Metallstück verwandeln konnte? Enric selbst hatte in seinen Nachrichten keine Einzelheiten erwähnt, womöglich aber die Triarchie oder der König.
“Wie kann das dazu führen, dass ein Loch in der Größe eines Pferdewagens in das Schiff geschlagen wurde?”
Nun, diese Frage zeigte, dass ihm die Details noch nicht bekannt waren. Was bedeutete, dass zuerst einige Erklärungen fällig waren. Erklärungen, die erforderten, dass er über das sprach, was ihm während seiner Gefangenschaft widerfahren war. Möglichst in einer Weise, die Tyront nicht zeigte, wie schwer ihm das noch immer fiel. Er musste beiläufig klingen, jedoch nicht in einem Ausmaß, das Tyront glauben ließ, er strebe danach, etwas zu verheimlichen. Er würde versuchen, sich kurz zu fassen, nur das Minimum erwähnen, das erforderlich war, um den Vorfall auf dem Schiff zu erklären.
Enric nahm einen Schluck von der Tasse vor sich und wappnete sich innerlich. “Ich habe in meinem Bericht geschrieben, dass ich etwa zwei Wochen lang in einer Art Zelle im Inneren einer Gebirgsfestung eingeschlossen war. Mit einem goldenen Band um meinen Hals, sodass ich meiner Magie beraubt war. Das funktioniert auf die gleiche Weise wie unsere goldenen Handschellen oder die Gürtel in den Westlichen Territorien.”
Tyront seufzte. “Danke; bei dieser recht offensichtlichen Schlussfolgerung bin ich ebenfalls angelangt.”
Einen kurzen Moment lang fragte sich Enric, ob seine Gefährtin Recht hatte – tendierte er tatsächlich dazu, Dinge unnötig zu verdeutlichen?
Er schob den Gedanken beiseite und setzte fort: “Eines Tages habe ich es geschafft zu entkommen, weil das Halsband abfiel, als ich mich nach dem Aufwachen aufsetzte. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, es wäre eine weitere der Illusionen, mit denen ich gefoltert wurde. Somit war mir nicht klar, dass ich tatsächlich dabei war, mein Gefängnis zu verlassen.”
“Dieser Teil hat mich schon beschäftigt”, meinte Tyront stirnrunzelnd. “Warum sollte die Fessel einfach so von dir abfallen? Hast du jemals eine Erklärung dafür gefunden?”
“Da gibt es eine Theorie, der Eryn und ich den Vorzug geben. Eryn erlitt in der Stadt einen Zusammenbruch, im Tempel der Bendan Ederbren. Sie wurde von ihren Gefühlen überwältigt, von ihrer Angst und ihrem Kummer, und schaffte es nicht, sie für sich zu behalten.”
“Sie hat die Kontrolle verloren?” Der Anführer des Ordens wirkte beunruhigt. “Inmitten eines dicht besiedelten Gebiets?”
“Ja. Sie wurde ohnmächtig. Als sie jedoch wieder zu sich kam, erkannte sie, dass um sie herum keinerlei Zerstörung zu sehen war. Später fanden wir heraus, dass dieser Zusammenbruch zur gleichen Zeit passiert sein muss, als mein Halsband abfiel. Also vermuten wir, dass…”
“Ihr vermutet, dass die Kraft, die durch ihren Kontrollverlust freigeworden ist, irgendwie durch das Geistesband an dich übergegangen ist und dich von der goldenen Halsfessel befreit hat”, vollendete Tyront den Satz, dann lehnte er sich zurück und blickte mit zusammengekniffenen Augen zur Decke.
“Genau.”
“Und dann hat sie mit dieser Kraft auf dem Schiff herumzuspielen begonnen und versehentlich ein Loch in das Schiff gesprengt”, schlussfolgerte er.
“Mehr oder weniger, aber im Detail verlief es ein wenig anders. Ich war derjenige, der den Blitz im Schlaf losgelassen hat”, korrigierte ihn Enric. “Obgleich sie zu diesem Zeitpunkt ihre Versuche bereits aufgegeben hatte. Sie war an Deck eingeschlafen, und als ein Mitglied der Mannschaft über ihre ausgestreckten Beine stolperte, schreckte sie aus dem Schlaf hoch und löste damit offensichtlich eine unbewusste Übertragung von Magie an mich aus – die ich nicht zurückhalten konnte, da ich geschlafen habe.” Er hob die Schultern. “Obwohl ich ehrlich gesagt zugeben muss, dass ich keine Ahnung habe, ob mir das in wachem Zustand gelungen wäre.”
“Eine weitere eurer kleinen Entdeckungen”, grummelte Tyront, “und zwar eine gefährliche. Eine, die ihr zu kontrollieren lernen müsst, damit ihr nicht zur Gefahr für alle um euch herum werdet. Die Frage ist, ob ihr Zusammenbruch diese Fähigkeit zum Teilen von Magie ausgelöst hat oder ob das schon immer möglich gewesen wäre. Sollte die erste Option zutreffen, dann hat sie womöglich…” Er nahm sich ein paar Sekunden Zeit, um nach dem richtigen Wort zu suchen. “Dann hat sie womöglich etwas in euch aktiviert, das unbewusst ausgelöst werden kann. Oder sie hat schon die ganze Zeit über Magie an dich geschickt, und erst als sie erschrocken ist, passierte es versehentlich mit einer höheren Intensität als zuvor.”
Enric unterdrückte ein Lächeln ob der Veränderung in seinem alten Freund. Innerhalb von Minuten hatte er sich vom strengen Vorgesetzten zum neugierigen Forscher gewandelt.
Tyront wurde wieder ernst. “Wie dir klar sein muss, ist das eine recht gefährliche Sache. Es bedeutet, dass keiner von euch beiden zurückgehalten werden kann, solange nicht auch der andere in Gold gebunden ist. Und es bedeutet, dass ihr in der Lage sein könntet, euch aus dem Zugriff eines stärkeren Magiers zu befreien, wenn ihr es schafft, diese Verbindung bewusst zu eurem Vorteil einzusetzen.”
“Ja, das kam mir bereits in den Sinn”, erwiderte er gelassen und schluckte die Bemerkung, wer von ihnen beiden nun derjenige war, der sich in überflüssigen Erklärungen des Offensichtlichen erging.
“In deinem Bericht hast du noch eine weitere Fertigkeit erwähnt. Sogar drei. Noch dazu recht eindrucksvolle, wenn ich deinen Worten Glauben schenken darf. Das eine war das Umgehen der Erinnerungsblockade, wofür man wohl eine dritte Person benötigt, wie ich annehme. Doch für den Augenblick bin ich an der Sache mit den Erinnerungen interessiert. Golir schrieb, dass du es dem Senat demonstriert hast mit deiner Erinnerung, wie Eryn die Festung zerstört hat.”
Enric nickte und beschwor einmal mehr die Bilder herauf, an die er sich erinnerte. Tyront sah zu, unfähig, seine Faszination sowohl betreffend die Fertigkeit als auch die Bilder selbst zu verbergen.
Ein paar Minuten später schüttelte er den Kopf und verschränkte die Arme. “Unglaublich. Wie aufwändig ist es, sich diese Fähigkeit anzueignen?”
“Tatsächlich ist es recht einfach. Eryn hat es in nur ein paar Minuten erlernt, und ich selbst ebenfalls.”
“Dann wird es dir ein Vergnügen sein, es mir beizubringen, sobald unser Gespräch beendet ist.”
Enric nickte. “Selbstverständlich. Ich könnte es dir jetzt gleich zeigen, wenn du möchtest.”
“Zuerst gibt es da noch etwas anderes, von dem ich hören will. Diese andere Fertigkeit, von der du mir geschrieben hast. Diejenige, die in nicht-magischem Kampf eingesetzt wird. Obwohl wir diesen Begriff wohl neu definieren müssen, da zwar Magie mit im Spiel ist, aber nicht in Form von herumfliegenden Blitzen. Soweit ich verstanden habe, hast du das von den Bendan Ederbren erlernt.”
Enric lächelte voller Stolz, als er den Kopf schüttelte. “Das war nicht nötig. Eryn hat es ganz allein herausgefunden. Versehentlich, so wie auch sonst, wenn es um Kampffertigkeiten geht.”
Tyront schüttelte den Kopf. “Diese Frau treibt mich in den Wahnsinn. Ich weiß nicht, was mich mehr stört – dass sie ständig über solche Dinge stolpert, ohne auch nur einen Funken an Interesse für die Disziplin zu zeigen, oder dass sie sich nicht die Mühe macht, dieses Talent sinnvoll zu nutzen.”
Darauf erwiderte Enric nichts. Er wusste, dass seine Gefährtin eine vollkommen andere Vorstellung davon hatte, was die sinnvolle Nutzung ihrer Talente betraf. Ganz bestimmt nicht das, was Tyront darunter verstand.
“Das könnte ich dir in der Arena zeigen, wenn du willst”, bot er zwanglos an.
“Nein, danke”, knurrte Tyront. “Ich erinnere mich an den Tag, als ich meine Kontrolle über den von ihr erdachten Doppelschild testen wollte – und dann auf recht schmerzvolle Weise von einer weiteren zufälligen Entdeckung ihrerseits erfahren habe. Nämlich, wie man ihn überwindet. Ich werde mich hüten, mich auf eine weitere öffentliche Demonstration einzulassen. Nein, du wirst es mir hier zeigen.”
Enric sah sich in dem Arbeitszimmer um. Es war zwar geräumig, doch keineswegs ausladend genug, um keinen Schaden zu erleiden, wenn zwei starke Magier ihre Kampffertigkeiten aneinander testeten.
“Bist du sicher?”, fragte er zweifelnd. “Da werden hier hinterher wohl ein paar Reparaturen nötig sein.”
Tyront stand von seinem Stuhl auf. “Dann gehen wir in den Salon. Falls wir versehentlich diese monströse rote Vase in der Ecke neben dem Eingang zertrümmern, die Vyril kürzlich erstanden hat, würde mich das keineswegs stören. Ich würde sogar so weit gehen, dir einen Gefallen zuzugestehen, wenn du die gesamte Schuld dafür auf dich nimmst.”
“Ich fühle mich benutzt”, murmelte Enric in vorgetäuschter Entrüstung, froh, dass sich die Stimmung seit seinem Eintreffen soweit gelockert hatte, dass sie miteinander scherzen konnten.
“Das geht schon in Ordnung – ich kann gut damit leben, und du wirst darüber hinwegkommen. Irgendwann.”
* * *
Plia ließ beinahe ihre – glücklicherweise nicht zerbrechlichen – Instrumente fallen, als Eryn ihr Labor betrat. Kurz darauf umarmten sich die beiden Frauen.
“Ich bekomme ein Kind!”, strahlte die jüngere Frau, sobald sie sich wieder voneinander gelöst hatten.
Eryn lächelte. Das waren nicht gerade unerwartete Neuigkeiten, da Plia kurz vor ihrem Kommitment ihren Schutz entfernen hatte lassen; doch Neuigkeiten waren es dennoch.
“Ich freue mich so für dich. Wie weit bist du denn schon?”
“Es ist mein vierter Monat, und mir ist es noch nie so gut gegangen!”
Eryn erinnerte sich an ihre eigene Schwangerschaft. Es war… in Ordnung gewesen. Leichte Magenbeschwerden am Anfang und Heißhunger auf süße Backwaren, aber nichts allzu Unbequemes. Junar hatte nicht ganz so viel Glück gehabt. Doch Plia strotzte geradezu vor Energie und Leben. Das mochte auch auf ihr Alter zurückzuführen sein. Mit einundzwanzig Jahren war sie ein ganzes Stück jünger als Junar und Eryn es gewesen waren.
Sie schob den Gedanken an Junar und die unangenehme Begrüßung beiseite, um davon nicht ihre Wiedervereinigung mit Plia überschatten zu lassen.
“Also keine Morgenübelkeit oder dergleichen?”
“Überhaupt nichts – nur eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen, aber das ist in meinem Beruf sogar hilfreich”, lachte die junge Frau.
“Wie kommt Rhys zurecht mit der Aussicht, bald Vater zu werden?”
“Er pendelt hin und her zwischen Phasen fieberhafter Aktivität, um alles fertigzubekommen, und anderen, wo er sich sorgt, ob er der Herausforderung gewachsen ist. Momentan baut er eine Wiege, da seine eigene nun seinem älteren Bruder für dessen Kinder gehört. Ich glaube, er hat mittlerweile schon dreimal von vorne begonnen, weil mit dem Ergebnis unzufrieden ist. Er redet davon, sie eines Tages an seine Enkel weiterzugeben.” Voller Staunen schüttelte sie den Kopf. “Wir haben unser Kind noch nicht einmal gesehen, und er redet schon von Enkeln!”
Eryn erinnerte sich, wie sie selbst immer wieder mit Magie nach ihrem ungeborenen Sohn gesehen und in ihrem Bauch nachgeschaut hatte um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Wie schade, dass Nicht-Magiern diese Möglichkeit verwehrt war.
Dann kam ihr ein Gedanke.
“Darf ich einen Blick hineinwerfen?”, fragte sie und nickte zu Plias Bauch hin.
“Sicher, nur zu.”
Eryn legte eine Hand auf den bereits leicht geschwollenen Unterleib unter der weiten Kleidung und schloss die Augen, bevor sie einen schwachen Impuls erkundender Magie losschickte. Sie fand den Fötus sofort und staunte einmal mehr darüber, wie weit ein menschliches Wesen bereits nach nur wenigen Wochen entwickelt war. Der Körper und die Gliedmaßen waren bereits geformt, nur die Proportionen würden sich noch verändern. Sogar die Gesichtszüge waren bereits erkennbar. Und natürlich das Geschlecht.
“Weißt du bereits, was es ist?”, fragte sie, ihre Augen noch immer geschlossen.
“Ja. Sie sagen, es ist ein Junge.”
Eryn nickte und öffnete die Augen, ihre Hand noch immer auf Plias Bauch. “Würdest du ihn gerne sehen?”
“Was? Wie denn? Ja!”
“In Ordnung. Ich kann dir aber nichts versprechen. Wenn ich in dich hineinschaue, dann passiert das Sehen durch meine Magie in Kombination mit meinem Gehirn, nicht durch meine Augen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich mich erinnern und es dann in einer Weise wiedergeben kann, dass deine Augen etwas erkennen können. Sei nicht enttäuscht, falls es nicht funktioniert. Das ist ein Experiment.”
Die Magierin errichtete vor ihnen eine Barriere in der Luft und konzentrierte sich darauf, die Informationen, die ihrem Gehirn ohne Umweg über die Augen vermittelt wurden, zu visualisieren. Zuerst wurden schwache schwarze und rote Flecken sichtbar, die dann Form anzunehmen begannen.
Plia schnappte nach Luft, als Details sichtbar wurden und vor ihren Augen ein mehr oder weniger exaktes Abbild ihres Kindes bildeten. Eine Hand bedeckte ihren Mund, während die andere empor reichte mit dem Drang zu berühren. Ihre Finger in der Luft vor dem winzigen Gesicht verursachten eine leichte Entladung an der schwachen magischen Barriere.
“Das ist unglaublich! Er sieht bereits wie eine richtige Person aus, mit Händen und Beinen und allem! Er hat meine Nase”, hauchte sie, ihre Augen weit aufgerissen und ihre Stimme voller Ehrfurcht. Ohne ihre Augen von dem Bildnis zu nehmen, fügte sie hinzu: “Ich hatte keine Ahnung, dass du so etwas kannst!”
Eryn zuckte mit den Schultern. “Ich wusste es auch nicht. Wie ich schon sagte – es war ein Experiment. Das Projizieren eines Bildes habe ich in Pirinkar gelernt, aber ich wusste nicht, dass es möglich ist, damit wirklich zu zeigen, was im Inneren des Körpers vor sich geht…” Sie verstummte allmählich, als sie daran dachte, wie sich das in der Ausbildung neuer Heiler einsetzen ließ – besonders bei Nicht-Magiern, die anders als ihre Magierkollegen keinerlei Möglichkeit hatten, einfach in einen Körper hinein zu blicken.
“Könntest du das den anderen Heilern beibringen?”, fragte Plia. “Stell dir vor, wie großartig es für Eltern wäre, einen Blick auf ihr ungeborenes Kind zu werfen!”
“Das sollte kein Problem sein, vorausgesetzt Lord Poron stimmt zu. Allerdings sehe ich nicht, was ihn davon abhalten sollte.”
Tränen glänzten in den Augen der jüngeren Frau, als sie weiterhin das Bild, das vor ihr in der Luft schwebte, bestaunte. “Er ist wunderhübsch. Ich kann kaum glauben, dass er in mir wächst. Danke – vielen, vielen Dank! Das ist das Erstaunlichste, was ich jemals gesehen habe!”
Eryn, stets etwas verlegen im Angesicht von Dankbarkeit – besonders, wenn sie so intensiv war und so wenig Mühe erfordert hatte – nahm die Worte nur mit einem Nicken zur Kenntnis und ließ das Bild noch schweben, damit sich Plia ein wenig länger daran ergötzen konnte.
Eine plötzliche Traurigkeit ergriff Besitz von Eryn, als sie an den bevorstehenden Krieg dachte, und dass dieser kleine Junge und all die anderen Kinder, die auf jeder Seite der Konfliktparteien geboren wurden, auf irgendeine Weise davon betroffen sein würden. Sie mochten ein Familienmitglied verlieren oder in einem Land aufwachsen, das von jenen verwüstet worden war, die man gemeinhin als den Feind bezeichnen würde. Menschen würden den Tod finden, und jene, die das Glück hatten zu überleben, würden wahrscheinlich von den Geschehnissen traumatisiert sein oder darunter leiden, dass sie in einer Nachkriegsumgebung leben mussten, wo Essen knapp war und Bitterkeit regierte.
Sie würde ihr Bestes tun, um diesen Ausgang irgendwie zu verhindern. Obgleich ihr bewusst war, dass die Menschen in Anyueel und den Westlichen Territorien stärker darauf konzentriert sein würden, allein die eigene Seite zu beschützen, war Eryn entschlossen, für sie alle einzustehen – einschließlich jener, die manipuliert, benutzt und geopfert wurden, um den Machtanspruch eines einzelnen Mannes zu zementieren, der nicht einmal davor zurückschreckte, seinen eigenen Bruder in den Kerker zu sperren.
Sie atmete etwas freier, nachdem sie sich dieser düsteren Gedanken entledigt hatte, nicht willens, sich davon diesen privaten Moment, den sorglosen Umgang mit Plia verderben lassen. Sie mutete so zauberhaft an, wie sie dastand, eine Hand auf ihrem Bauch, die andere noch immer zum Abbild ihres Sohnes erhoben. Sie war fest entschlossen, sich das Bild einzuprägen und es dann Vern zu zeigen, damit er es eines Tages zeichnen konnte, vielleicht als Geschenk für ihren Sohn, wenn er älter war. Auf diese Weise konnte er mit eigenen Augen sehen, welche Freude er seiner Mutter bereitet hatte, die Liebe, die er in ihr erweckte noch bevor er überhaupt geboren war.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und Eryn nahm ihre Hand vom Bauch ihrer Freundin, um zu sehen, wer gekommen war.
Onil stand vor der Tür, seine Augen weit aufgerissen, sein Gesicht fahl. Eryn schluckte. Wenn schlechte Neuigkeiten ein Gesicht hatten, dann hatte sie es jetzt gerade vor sich. Sie schlüpfte zur Tür hinaus und bedeutete Onil, ihr in einen leeren Unterrichtsraum zu folgen.
“Was ist passiert?”, verlangte sie zu wissen, ihre Stimme harscher als sie es beabsichtigt hatte.
“Etwas Schreckliches. Ein Unfall. Ein Gebäude ist eingestürzt und hat ihn unter einer Lawine von Ziegeln begraben… wir konnten nichts weiter tun, als seinen Körper freizulegen… Es tut mir so leid. Er war ein guter Mann.” Der letzte Satz war kaum mehr als ein Flüstern.
Eryns Magen verwandelte sich von einem Augenblick zum nächsten in einen soliden Eisblock. Enric. Nein…
Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich auf einem der vielen Tische abstützen. Ihre Bewegungen waren schwerfällig, so als hätte sich die Luft plötzlich zu Wasser verdickt und damit alles verlangsamt. Das konnte unmöglich stimmen – sie hatten nicht all das durchgestanden, nur damit er jetzt auf solche Weise sein Ende fand. Ihre Atmung wurde schwerer, und ihr Gesichtsfeld begann zu verschwimmen.
“Ich… ich kann es ihr nicht sagen.” Onils Worte waren beinahe ein Schluchzen. “Bitte, ich weiß, es ist nicht fair, dass ich dich darum bitte, nachdem du gerade erst angekommen bist, aber… könntest du es übernehmen? Bitte?”
In Eryns Kopf drehte sich alles. “Was?”
Teile ihres ertrinkenden Verstandes beharrten darauf, dass dies keinen Sinn ergab.
“Wem sagen?”, schaffte sie es irgendwie zu fragen, allerdings mehr aus einer lebenslangen Gewohnheit zum Aufklären unverständlicher Dinge heraus als aus tatsächlichem Interesse. Die Welt und alles darin hatte seine Bedeutung verloren.
Verzweifelt starrte Onil sie an, als wäre diese ganze Situation nicht bereits grässlich genug, ohne dass ihr Unverständnis alles noch aufreibender machte.
“Plia! Du musst ihr sagen, dass Rhys tot ist!”, verkündete er übermäßig deutlich, als befürchte er, sie hätte den Verstand verloren. “Verstehst du überhaupt, was ich dir sage? Plias Gefährte ist verstorben!”
Eryn begann zu zittern unter der mächtigen Welle der Erleichterung, die über sie hereinbrach, als sie begriff, dass nicht Enric derjenige war, der einfach von einem Moment zum nächsten zu existieren aufgehört hatte, sondern jemand anderer.
Dann kam ihr Verstand in der Gegenwart an, und sie schloss die Augen, als Tränen ihre Wangen hinabzulaufen begannen. Tränen des tiefempfundenen Kummers für ihre junge Freundin und ihren ungeborenen Sohn, die gerade einen Gefährten und einen Vater verloren hatten. Und Tränen der Erleichterung über die Tatsache, dass Enric am Leben war. Schmerzliche Tränen, die sich verräterisch und selbstsüchtig anfühlten, doch sie wollten nicht aufhören zu fließen.
Kapitel 2
Erste Vorbereitungen
Während Eryn am Tisch saß – die harte Lehne des Stuhl, bei dessen Herstellung Bequemlichkeit ganz klar keine Priorität gewesen war, in ihrem Rücken – brach die Erinnerung daran, wie Plia nach der Kunde vom Schicksal ihres Geliebten ohnmächtig zu Boden gestürzt war, über sie herein.
Eryn hatte sich versichert, dass die junge Frau beim Fall keinerlei Verletzungen davongetragen hatte und auch mit dem ungeborenen Kind alles in Ordnung war. Dann hatte sie sie hochgehoben und in Lord Porons Arbeitszimmer getragen, wo sie ihr ein provisorisches Bett eingerichtet hatten, auf dem sie ruhen konnte.
Daraufhin hatte Onil sie in den Raum geführt, in dem die Überreste von Rhys’ übel zugerichtetem Körper aufgebahrt lagen. In ihren vielen Jahren als Heilerin hatte Eryn ihren Anteil an grausigen Verletzungen und auch leeren menschlichen Hüllen zu Gesicht bekommen, doch das hier hatte ihrem Magen ordentlich zugesetzt.
Der Grund, weshalb der Anblick dermaßen verstörend für sie gewesen war, lag keineswegs an heraushängenden Organen, die sich im Inneren befinden sollten oder an einem erstarrten Gesichtsausdruck, der zeigte, wie sehr er im Augenblick seines Todes gelitten haben musste. Es war der Kontrast, ihn als lebendigen, gesunden jungen Mann gekannt zu haben, der so verliebt gewesen war und erst vor kurzer Zeit einen Kurs in seinem Leben eingeschlagen hatte, der ihm über Jahrzehnte hinweg Glück und Zufriedenheit bringen hätte sollen. Und jetzt lag er da, verstümmelt zu diesem… Klumpen an leblosem Fleisch, allem beraubt, was ihm zu dem gemacht hatte, der er gewesen war.
Sie war froh, dass seine Augen geschlossen waren, ganz egal, ob er so gestorben war oder ob jemand die Geistesgegenwart gezeigt und seine Lider nach seiner Freilegung nach unten gedrückt hatte. Auch noch die toten, zur Decke starrenden Augen sehen zu müssen wäre an diesem Tag zu viel gewesen.
“Wäre es zu kühn, Euch um Eure ungeteilte Aufmerksamkeit zu bitten, wenn man bedenkt, dass wir gerade etwas so Schwerwiegendes wie einen anstehenden Krieg besprechen, Lady Eryn?”, wurde sie von einer leicht verärgerten Stimme dorthin zurückgeholt, wo ihr Körper, wenn auch nicht ihre Gedanken, festsaßen. Lord Woldarn.
Eryn straffte ihre Schultern ein wenig und fragte sich, ob es ihr leerer Blick war, der sie verraten hatte, oder ob sie es versäumt hatte, auf eine Frage zu reagieren.
“Erst gestern hat eine enge Freundin von Lady Eryn ihren Gefährten verloren, also schlage ich vor, wir begegnen dieser kleinen vorübergehenden Unaufmerksamkeit mit Nachsicht”, kam unerwartete Unterstützung von Lord Seagon. War es nicht reizend, wie sich die Leute über die Vorgänge in ihrem Leben auf dem Laufenden hielten…
Sie war froh, dass nicht Enric derjenige war, der sie verteidigt hatte. Es hätte gewirkt, als wäre sie auf den Schutz ihres Gefährten angewiesen. Dass es von Lord Seagon kam, der dafür bekannt war, gewissermaßen jeden ihrer Schritte zu kritisieren, machte es weniger persönlich und sachlicher. Auf diese Weise wurde es zu einem Standpunkt, den der Anstand diktierte statt des Wunsches, eine geliebte Person zu beschützen. Somit wirkte sie selbst weniger wie eine zerbrechliche Blume, die es zu schützen galt, und mehr wie eine Person, die ein Anrecht darauf hatte, dass ihre Bedürfnisse in diesem Moment respektiert wurden.
“Da Ihr offenbar nicht in der Lage seid, auch nur eine Minute lang ohne meine Zuwendung auszukommen, Lord Woldarn, bin ich sehr daran interessiert zu hören, wozu Eurer Ansicht nach nur ich allein etwas beitragen kann”, wandte sie sich ruhig mit nur einem Hauch von erkennbarer Ungeduld an ihn.
Wie war es nur möglich, dass dieser Mann Onils Vater war? Einer ihrer besten Heiler stammte wahrhaftig aus der gleichen Familie wie dieser Mensch. Nun, vielleicht war es zuweilen wirklich ein Segen, dass die meisten reichen Leute die Erziehung ihrer Abkömmlinge an Diener delegierten. So zumindest hatten die Kinder die Gelegenheit, von angemesseneren Vorbildern etwas über gesunden Menschenverstand zu lernen.
Lord Woldarn wand sich einen Moment lang. Was bedeutete, dass es keine Frage gab, auf die sie versäumt hatte zu antworten. Er wollte sie lediglich bloßstellen. Gut zu wissen. Sollte sich eine Gelegenheit ergeben, würde sie ihm mit dem gleichen Mangel an Gefälligkeit begegnen.
Er räusperte sich, offenbar inspiriert von irgendeinem Vorwand. “Ich habe keinerlei Zweifel, dass wir alle sehr interessiert wären an einer Demonstration der neuen Fertigkeiten, deren kürzlich erfolgte Aneignung Ihr erwähnt habt.”
Vollkommene Stille folgte. Als wäre niemand an dem runden Tisch besonders erpicht darauf, zu diesem Zeitpunkt in wir alle miteinbezogen zu werden.
Eryn ging sicher, dass ihr überdrüssiges Seufzen gut hörbar war. “Mein Lord”, begann sie, in ihrer Stimme so viel Gönnerhaftigkeit, wie sie hineinzupacken vermochte, “erstens denke ich, dass die strategischen Überlegungen in Verbindung mit der Situation in den Westlichen Territorien und Pirinkar, über die Ihr gerade informiert worden seid, eine höhere Priorität einnehmen als Eure persönliche Neugier. Und zweitens ist ein ranghöherer Ordensmagier anwesend, der über die gleichen Fertigkeiten und Informationen verfügt wie ich selbst. Somit wäre es respektlos von mir, einfach während einer Ratsversammlung mein Können vorzuführen, ohne von meinen Vorgesetzten dazu aufgefordert worden zu sein. Ich bin etwas überrascht, um nicht zu sagen bestürzt, dass Ihr Euch so überhaupt nicht an die Prinzipien des Ordens haltet, Lord Woldarn.”
Des Mannes Blick hatte sich von selbstgefällig zu feindselig gewandelt, doch er war weise genug, für den Moment Stille zu bewahren.
Durch das Geistesband spürte Eryn eine Spur von Enrics Amüsement, wenngleich sein Gesicht davon nicht einmal eine Andeutung erkennen ließ.
“Wenn Ihr beiden damit fertig seid, Freundlichkeiten auszutauschen”, meldete sich Tyront zu Wort, “dann würde ich vorschlagen, wir setzen fort mit den jüngsten Entwicklungen, die mir erst heute Morgen direkt aus Takhan berichtet wurden.” Er konsultierte seine Notizen. “Mittlerweile wurden sämtliche bekannten Gebirgspässe von unseren Magiern unpassierbar gemacht – abgesehen natürlich von der Hauptroute. Die bleibt der einzige offene Durchgang nach Pirinkar und wird jetzt in diesem Moment befestigt. Gleichzeitig werden die Berge, die Zugang zu den Westlichen Territorien ermöglichen, nach bislang unentdeckten Passagen abgesucht. Malriel von Haus Aren pflegt gute Kontakte zu den Gebirgsstämmen oben im Norden und hat sie gebeten, ihr bei diesem Unterfangen behilflich zu sein, da sie über unschätzbares Wissen über dieses Gebiet verfügen. Eine bemerkenswerte Leistung, wie man mir zu verstehen gab, da die Gebirgsstämme noch weniger als die Wüstennomaden geneigt sind, sich mit Takhan abzugeben.” Er räusperte sich. “Da ist noch etwas. Eine Gefangene von den Loman Ergen, eine Frau, die Teil der Angriffstruppe auf die Bendan Ederbren war, hat wahrhaft besorgniserregende Neuigkeiten geographischer Natur enthüllt. Neuigkeiten, auf die unsere Seite reagieren muss, und zwar rasch. Pirinkar hat seine Landkarten stets vor Außenstehenden verborgen, und nachdem wir mit den Bendan Ederbren gesprochen haben, wissen wir, dass auch die Priester nicht informiert waren, wo die Grenzen ihres Landes verlaufen. Die Loman Ergen jedoch ziehen schon seit vielen Generationen durch das Land und haben deshalb detailliertes Wissen darüber angesammelt.”
Eryn unterdrückte ein Seufzen. Sie wünschte, er würde endlich zum Punkt kommen und sich nicht so sehr darauf versteifen, woher die Information kam.
“Es hat sich herausgestellt, dass die Dimensionen von Pirinkar jene des Königreichs und damit auch die der Westlichen Territorien übersteigen. Das Land erstreckt sich weit genug, um die gesamte Breite der Westlichen Territorien, sowie des Meeres, das sie von uns trennt, zu umfassen – und setzt sich hinter den Bergen fort, die die nördliche Grenze unseres eigenen Landes bilden. Das bedeutet, wir teilen uns eine Grenze mit einem Land, mit dem wir uns nun im Krieg befinden.”
Er ließ die Neuigkeit wirken und wartete auf die Reaktion der Ratsmitglieder.
Orrin war der Erste, der seine Gedanken in Worte fasste. “Wissen die das auch?”
“Vorsichtshalber würde ich empfehlen, dass wir davon ausgehen”, erwiderte Tyront.
Der Krieger presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel, sichtlich alles andere als erfreut über die Enthüllung. “Das bedeutet, wir müssen noch einmal prüfen, ob die nördlichen Berge tatsächlich so unüberwindbar sind, wie wir immer dachten. Womöglich versucht Etor Gart genau in diesem Moment das Gleiche herauszufinden. Ihm muss klar sein, dass wir das Hindernis sind, das zwischen ihm und einem wahrscheinlichen Sieg steht.”
“Es mag sein, dass der Grund, weshalb die Berge nicht überquert werden können, der ist, dass sich die Barriere durch das Meer dort fortsetzt”, überlegte Eryn, tief in ihrem Inneren dankbar, dass das vorliegende Problem ernst genug war, um ihre Gedanken für den Moment von Rhys abzulenken. “Was bedeutet, dass sie wohl an gewissen Stellen ebenso durchlässig ist wie im Meer. So könnten einzelne Personen hindurch schlüpfen um sie zu überwinden, selbst ohne das Wissen, wie sie ihre Magie einsetzen können.”
“Was schlagt Ihr also vor, wie wir das testen sollen?”, wandte sich Lord Remdel an Orrin. “Indem wir Magie gegen den massiven Fels schleudern und ihn sprengen, bis wir sehen können, was dahinter liegt? Wenn es dermaßen einfach wäre, hätten es unsere Vorfahren schon lange getan. Selbst wenn wir Erfolg hätten, würden wir damit riskieren, einen Zugang für den Feind zu öffnen – nämlich einen zu schaffen, wo zuvor keiner war”, gab er zu bedenken. “Und selbst wenn wir uns dafür entscheiden sollten – habt Ihr eine Vorstellung davon, wie viele Magier und wie viel Zeit es erfordern würde, sich durch einen ganzen Berg zu sprengen?”
Enric spitzte die Lippen, als ihm ein Gedanke kam. Vielleicht würde er Lord Woldarns Wunsch nach einer Demonstration der neuerworbenen Fähigkeiten rascher als geplant erfüllen.
Er räusperte sich zum Anzeichen, dass er das Wort zu ergreifen gedachte, und bemerkte zufrieden, wie alle verstummten und ihn ansahen. “Tatsächlich mag es sich dabei um ein weniger gewichtiges Problem handeln als Ihr denkt. Lady Eryn hat ein gewisses Händchen für Gestein.”
“Was soll das nun wieder heißen – sie hat ein Händchen für Gestein? Bewegt es sich aus dem Weg, sobald sie sich ihm annähert, bedacht darauf, von der Unverfrorenheit, für die sie weithin bekannt ist, verschont zu bleiben?”, warf Lord Woldarn mit einem spöttischen Lächeln ein.
Eryn kniff die Augen zusammen, und als es erneut still wurde und einige der Ratsmitglieder – Tyront und Enric eingeschlossen – erwartungsvoll zu ihr hinsahen, wusste sie, dass sie handeln und ihm Grenzen setzen musste.
Als sie langsam ihren Stuhl zurückschob und aufstand, stellte sie sicher, dass die Beine ein deutlich hörbares Kratzen auf dem glatten Boden verursachten. Sie war nicht einmal sicher, was sie tun sollte. Ihn am Kragen zu packen, ein wenig schütteln und ihm damit Angst vor ihrer überlegenen magischen Kraft einjagen? Ihn am Hals schnappen, Kontrolle über seine Muskeln übernehmen und ihn zwingen, wie eine Marionette an einer Schnur zu tanzen, um ihn seiner Würde zu berauben? Ihm geradewegs einen Fausthieb ins Gesicht verpassen, um ihn daran zu erinnern, dass dies noch immer eine Institution war, wo Stärke der Schlüssel zu Macht war und sie über wesentlich mehr davon verfügte als er?
Doch sie erkannte, dass keine dieser Optionen für sie in Frage kam. All das war wenig mehr als eine Möglichkeit, ihrer Frustration auf körperliche Weise Ausdruck zu verleihen, indem sie ihn mit ihrer Kraft überwältigte. Ihr war klar, dass sie ihn stattdessen mit ihrer Position, ihrem Rang bändigen musste.
“Lord Woldarn”, sprach sie vollkommen gelassen, während sie ihre beiden Handflächen vor sich auf der glatten Oberfläche des ausladenden Tisches abstützte, “Eure Beleidigungen sind so weit vorangeschritten, dass sie über das Maß an respektvoller, objektiver Kritik an Vorgesetzten, wie wir sie in diesen Hallen schätzen, hinausschießen. Ich bin am Ende meiner Geduld angelangt. Für die nächsten drei Tagen werdet Ihr Euch jeden Morgen vor Sonnenaufgang bei den Pferdeställen des Ordens zum Dienst melden und jeweils drei Stunden lang aushelfen.”
“Das könnt Ihr nicht tun!”, schäumte Lord Woldarn und sprang von seinem Stuhl auf. Er sah Tyront an. “Das kann sie nicht tun!”
Der Anführer des Ordens lehnte sich zurück. “Ich denke, das kann sie durchaus. Ihr seid Lady Eryn unterstellt, und wenn sie Euer Verhalten ihr gegenüber als Beleidigung betrachtet, ist sie berechtigt – nein, sogar verpflichtet – entsprechend zu handeln, um die Disziplin in unseren Rängen aufrechtzuerhalten. Besonders, da wir kurz vor dem Eintritt in einen Krieg stehen und uns darauf verlassen müssen, dass sich jeder einzelne Ordensmagier an die bestehende Befehlskette hält. Ihr seid jedoch berechtigt, eine offizielle Beschwerde einzureichen und so die disziplinarische Maßnahme, die man Euch auferlegt, auf Angemessenheit überprüfen zu lassen.”
“Dann tue ich das hiermit!”
Tyront schüttelte den Kopf. “Um gültig zu sein, muss die Beschwerde schriftlich eingereicht werden, Lord Woldarn. Es gibt noch immer gewisse Vorgehensweisen, an die es sich zu halten gilt. Diese spezielle hier soll sicherstellen, dass alles ordentlich dokumentiert wird.”
“Dann werdet Ihr meine schriftliche Beschwerde kurz nach Beendigung dieser Versammlung erhalten!”, versprach Lord Woldarn erregt.
“Gut. Ich werde innerhalb einer Woche auf Euch zukommen.”
“Aber… bis dahin wird die Strafe bereits erfüllt sein und kann nicht mehr beeinsprucht werden! Ich werde keinesfalls drei Tage lang Pferdemist schaufeln!”
“Lord Woldarn”, seufzte Tyront, seine Stimme der Inbegriff wohlwollender Geduld, “Euch ist klar, dass wir inmitten einer Kriegsbesprechung stecken? Wenngleich das zu diesem Zeitpunkt nicht allzu bequem für Euch sein mag, so genießt es doch Vorrang gegenüber den disziplinarischen Maßnahmen, die über Euch verhängt wurden.” Er bedeutete dem entrüsteten Lord und Eryn, sich wieder zu setzen, dann sah er Enric an. “Du wolltest gerade einen Vorschlag unterbreiten, wie wir das nördliche Gebirge untersuchen können, wenn ich mich nicht irre. Bitte fahr fort.”
Enric nickte. “Es gibt da etwas, das ich Euch gerne zeigen möchte. Lady Eryn hat einen Weg gefunden, wie sich Fels von innen heraus beeinflussen lässt, sodass ein minimaler Magieschub mehr bewirkt als mehrere Stunden äußerliche Attacken es vermögen. Ich gehe davon aus, dass uns diese Technik gute Dienste leisten wird, wenn wir wahrhaftig die bislang unbezwingbaren Berge erkunden wollen. Gestattet mir, Euch etwas zu zeigen.”
Eryn schloss die Augen. Nicht schon wieder die bröckelnde Festung. Es schien, als machte er sich jede Gelegenheit zunutze, für sie einen Ruf als Zerstörerin der Berge aufzubauen. Wer hätte gedacht, dass sie jemals an einem Punkt ankommen würde, wo die Leute das eingestürzte Dach der Senatshalle in Takhan mit einem Schulterzucken als bloße Kleinigkeit abtaten im Vergleich zu ihren anderen Akten der Zerstörung? Nun, vielleicht ließ sich Lord Woldarn von ihrer Macht einschüchtern und fühlte sich von nun an veranlasst, sie in Frieden zu lassen. Der Gedanke brachte sie zum Lächeln, und sie lehnte sich zurück, um sich anzusehen, wie die Ratsmitglieder auf Enrics kleine Vorführung reagieren würden.
* * *
Enric klopfte an die Eingangstür seiner Mutter, während sich Eryn hinter ihm in einem unbewussten Versuch, sich zu trösten, über die Arme rieb. Er wünschte, er könnte etwas für sie tun, ihren Schmerz irgendwie mildern, doch die Möglichkeiten waren beschränkt – wenn er davon absah, ihre Gefühle mit Magie zu betäuben. Zu unterdrücken anstatt zu bewältigen war keine gesunde Herangehensweise.
Enric war bewusst, dass er mit Schmerz nicht allzu gut zurecht kam. Nicht mit seinem eigenen und ebenso wenig mit dem anderer Menschen. Mit Frustration, Angst, Ärger und anderen mächtigen Emotionen konnte er gut umgehen. Bis zu einem gewissen Grad konnte man ihnen mit Vernunft begegnen, sie von einer anderen Perspektive aus betrachten und sie somit eines Teils ihrer Macht berauben. Schmerz jedoch war eine ganz andere Herausforderung. Man konnte nicht einfach entscheiden, bis zehn zu zählen und tief zu atmen. Schmerz bedeutete, dass etwas im Inneren beschädigt war, etwas, das allein die Zeit heilen würde. Es gab Dinge, die man tun konnte, um einer trauernden Person beizustehen, wie eine sichere Umgebung und emotionale Unterstützung zu bieten, doch schlussendlich musste die Heilung von der leidenden Person selbst bewerkstelligt werden.
Durch ihr Band spürte er Eryns Pein. Sie war Rhys nicht besonders nahe gestanden. Soweit Enric wusste, hatte sie das Fachwissen des jungen Mannes geschätzt, wenn es um Holzarbeiten ging, und sogar noch mehr, wie glücklich er Plia gemacht hatte. Es war hauptsächlich wegen Plia, dass sie trauerte.
Eryn hatte ihm davon erzählt, wie sie von Rhys’ Ableben erfahren und einige qualvolle Augenblicke lang gedacht hatte, Enric wäre derjenige, der verstorben war. Er erinnerte sich, was er zu diesem Zeitpunkt durch das Geistesband verspürt hatte. Es war herzzerreißend gewesen, umso mehr, da er keine Ahnung von der Ursache gehabt hatte.
Die Eingangstür vor ihm wurde geöffnet, und seine Nichte trat beiseite, um sie eintreten zu lassen.
“Großmutter ist oben bei Plia”, informierte sie die beiden.
“Wie geht es Plia?”, fragte Enric, nicht ganz sicher, welche Antwort er eigentlich erwartete. Sie musste am Boden zerstört sein. Doch welche andere Frage sollte man in einer Situation wie dieser stellen?
“So gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann”, seufzte Temina. “Sie hat das Zimmer, das Großmutter für sie vorbereitet hat, nicht verlassen. Und jedes Mal, wenn ich ihr eine Mahlzeit bringe, von der ich weiß, dass sie sie ohnehin nicht anfassen wird, sehe ich sie entweder weinen oder mit diesem seltsam leeren Blick an die Decke starren. Beim ersten Mal dachte ich, sie wäre ebenfalls dahingeschieden und habe sie geschüttelt…” Sie verzog das Gesicht, augenscheinlich nicht allzu stolz darauf, wie sie mit dieser Situation umgegangen war.
Die Blicke wanderten abwärts, als eine großgewachsene, geschmeidige dunkelbraune Bergkatze aus dem Salon auf sie zutrottete, ihr Schweif als Zeichen des Hochgefühls senkrecht in die Luft gestreckt.
Enric ging in die Knie und begrüßte Urban, indem er ihre Wangen kraulte und, als sie sich vor ihm umfallen ließ, ihren Bauch.
“Sie muss meine Stimme gehört haben”, schlussfolgerte er, froh über die angenehme Unterbrechung dieser bedrückenden Unterhaltung.
Eryn fasste Temina an einer Schulter. “Du sagst, sie isst nicht? Überhaupt nichts?”
“Im Grunde nicht. Sie zwingt ein paar Bissen hinunter, damit Großmutter sie in Frieden lässt, aber das ist alles. Vern war hier. Er hat ihr gedroht, er würde sie zum Essen und Trinken zwingen, wenn sie sich nicht ordentlich um ihr Baby kümmert.” Sie rümpfte die Nase. “Das war das erste Mal, dass ich miterlebt habe, wie die niedliche, anständige kleine Plia so richtig durchgedreht ist. Sie begann ihm Dinge nachzuschmeißen und schrie, dass er genau das doch die ganze Zeit über gewollt hätte. Rhys’ Tod, meine ich. Aber er stand einfach nur mit erhobenem Schild da und ließ daran die Dinge abprallen, die sie ihm entgegenwarf. Er war einfach großartig. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, erklärte er ihr, dass er ganz einfach die Kontrolle über ihre Muskeln übernehmen und sie zum Essen und Trinken zwingen könnte, wenn das nötig wäre, um sie und das Kind zu versorgen. Dass er es aber vorziehen würde, wenn er das nicht tun müsste. Danach schrie sie noch ein wenig mehr, aber dann hat sie gegessen – zumindest solange er zugesehen hat. Er hat versprochen, jeden Tag vorbeizukommen und sicherzugehen, dass sie isst.”
Eryn nickte, froh darüber, dass Vern Plia noch immer soweit verbunden war, um sich um sie zu kümmern, wenn man bedachte, was zwischen ihnen vorgefallen war. Viele Menschen hätten wohl frohlockt, wäre einer Person, von der sie eine Zurückweisung erfahren hatten, solch ein Schicksalsschlag widerfahren. Besonders, wenn diese Zurückweisung gemeinsam mit einer halbjährigen Suspendierung von ihrem Beruf als Konsequenz für den Eroberungsversuch einhergegangen wäre.
Nicht aber Vern. Niemals würde er seinem eigenen verletzten Stolz und seinem gebrochenen Herzen – oder was auch immer tatsächlich in die Brüche gegangen war, da er ohnehin keine Bereitschaft gezeigt hatte, sich an Plia zu binden – erlauben, ihn zu unangemessenem Verhalten zu verleiten. Und in diesem Moment war es angemessen, sich um Plia zu kümmern, ganz egal, ob sie das schätzte oder nicht.
Ohne ihre frühere Mitbewohnerin zu konsultieren, hatte Gerit dafür gesorgt, dass Plias Habseligkeiten aus ihrem Quartier zurück zum Haus geschafft worden waren. Eryns Eindruck war, dass Plias Kontakt mit der Außenwelt kaum ausgereicht hatte, um zu verstehen, was um sie herum vorging. Somit hatte es von ihrer Seite auch keinen Einspruch gegeben; sie hatte lediglich mit sich machen lassen, was andere für richtig hielten, solange sie einen ruhigen Platz zum Weinen fand.
Nach dem Streicheln der Bergkatze richtete sich Enric wieder auf und nickte zum Treppenaufgang. “Können wir nach oben gehen, oder ist es gerade ein schlechter Zeitpunkt?”
Temina zuckte mit den Schultern. “Ich würde sagen, dieser Zeitpunkt ist so schlecht wie jeder andere. Aber sie ist nicht gerade dabei, ein Bad zu nehmen, wenn das deine Bedenken waren.”
“Vielleicht sollte ich ohne dich hineingehen”, schlug Eryn vor. “Es mag sie noch mehr schmerzen, wenn sie uns beide zusammen sieht.”
Dieser Anregung wäre Enric nur zu gerne gefolgt, da es ihm so erspart geblieben wäre, sich einer weinenden Frau zu stellen, ohne zu wissen, wie er die Bürde ihres Schmerzes lindern konnte. Normalerweise war er gut darin, sich Problemen zu stellen, doch nicht, wenn er von Anfang an wusste, dass es keine Lösung dafür gab; dass sich die Angelegenheit irgendwann von selbst lösen würde, aber nicht, weil er etwas tun konnte, sondern einfach aufgrund der verfließenden Zeit. Er hasste es, hilflos zu sein, und einer anderen Person beim Leiden zuzusehen war die schlimmste Ausprägung davon, die er kannte.
“Nein, ich denke, das macht wenig Sinn”, zwang er sich auszusprechen, was die Vernunft diktierte. “Wir können sie nicht vor der Tatsache beschützen, dass es noch immer Paare gibt. Zumindest nicht, ohne sie zu isolieren und sie im Haus einzusperren. Und wir sollten nicht der Versuchung nachgeben, sie wie ein Opfer zu behandeln, wenn wir wollen, dass sie ihre Stärke zurückerlangt.”
Als Eryn ihm zulächelte und einen Kuss in seine Handfläche presste, wusste er, dass sie ihm damit einen einfachen Ausweg anbieten hatte wollen, der ihn sein Gesicht hätte wahren lassen. Und dass sie stolz darauf war, dass er sich dagegen entschieden hatte, obwohl sie es akzeptiert hätte.
Sie stiegen die leise knarrenden Stufen hinauf zu dem Zimmer, das Plia bereits vor ihrem Kommitment bewohnt hatte.
* * *
Eryn tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug, bevor sie an Plias Tür klopfte. Einerseits war sie begierig darauf, Plia zu sehen und sicherzugehen, dass es ihr so gut ging wie die Umstände es erlaubten, und andererseits scheute sie vor dem zurück, was mit Gewissheit herzzerreißend anzusehen sein würde.
Als nach einigen Sekunden noch immer keine Antwort oder Einladung aus dem Inneren gekommen war, drückte sie den Türgriff nach unten und trat ein, Enric einen Schritt hinter ihr.
Es dauerte ein paar Momente, bis sich ihre Augen an die schummrigen Lichtverhältnisse im Zimmer gewöhnt hatten. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass die winzige Menge an Sonnenlicht, die es schaffte, sich durch den robusten Stoff zu kämpfen, den komfortabel möblierten Raum in ein leicht violettes Glühen tauchte.
Das Zimmer wirkte nicht wirklich bewohnt. Plia war erst vor kurzem zurückgekehrt, hatte aber offensichtlich noch nicht die Energie oder den Willen aufgebracht, es sich wieder zu eigen zu machen. Eine leere Truhe mit offenem Deckel, die an einer Wand stand, legte nahe, dass Gerit sich um die Kleider der jungen Frau gekümmert und sie in den Schrank gleich daneben geräumt hatte.
Eryns Augen wanderten zu der bewegungslosen Gestalt auf dem Bett, das an einer Wand stand. Plias Kopf ruhte auf einem Kissen, während ihre Arme ein weiteres umschlangen, als versuchte sie an der Illusion festzuhalten, sie hätte noch immer jemanden in ihrem Leben, an den sie sich klammern konnte, wenn sie Trost brauchte.
Es gab keinerlei Geräusch; dafür war ihr Atem zu leise. Nachdem sich Eryns Augen angepasst hatten, beobachtete sie ihre Freundin für kurze Zeit. Ihr Brustkorb hob und senkte sich nicht gleichmäßig und tief genug, als dass sie schlief. Also hatte Plia entweder nicht bemerkt, dass jemand eingetreten war, oder es kümmerte sie schlicht und ergreifend nicht.
“Plia?”, versuchte sie es sanft und trat näher, um sich auf die Bettkante zu setzen. Sachte legte sie ihre Hand auf den Arm, der das Kissen umklammerte. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Enric sich leise auf einem nahen Stuhl niederließ.
Sie spürte, wie sich der Körper unter ihrer Hand bei der Berührung leicht versteifte, und bemerkte, wie die junge Frau ihr Gesicht in das Kissen drückte. Ihre Augen waren fest zusammengekniffen in dem Versuch, die harsche Welt und ihre grausamen Schicksalsschläge von sich fernzuhalten.
Im Angesicht solcher Verzweiflung fehlten Eryn die Worte, und sie suchte fieberhaft nach etwas Passendem, Bedeutungsvollem oder Tröstlichem, das sie sagen konnte. Was würde sie an Plias Stelle hören wollen? Würde sie überhaupt wollen, dass irgendjemand mit ihr redete? Sollte man Plias Wünschen im Moment überhaupt den Vorzug geben? War das, was sie brauchte nicht wesentlich wichtiger? Wem allerdings stand die Entscheidung zu, was die junge Frau im Moment brauchte? Wenn Plia Abgeschiedenheit wollte, war es dann zulässig, dass man ihr unliebsame Gesellschaft aufdrängte?
Erinnerungen an ihre eigene Schwangerschaft kehrten zu ihr zurück. Zu diesem Zeitpunkt war sie zutiefst bestürzt gewesen, weil sie erfahren hatte, dass Valrad ihr leiblicher Vater war. Enric hatte entschieden, dass sie sich ihrem Ärger, ihrer Sorge und Verzweiflung stellen musste, anstatt sich zurückzuziehen und sich von allem fernzuhalten, und sie hatte es gehasst. Ganz egal, ob ihr Gefährte zu diesem Zeitpunkt im Recht gewesen war oder nicht, hatte sie es dennoch als unerträglich empfunden, dass er diese Entscheidung für sie getroffen hatte. Er hatte versucht, ihr aufzuzwingen, was er als notwendig erachtete, anstatt zu respektieren, dass sie erst mit den neuen Umständen zurechtkommen musste.
Rückblickend waren ihre eigenen Probleme damals nicht einmal annähernd so schwerwiegend gewesen wie Plias gegenwärtige, ganz egal, wie furchtbar sie Eryn damals erschienen waren. Während sie alles in ihrem Leben in Frage gestellt hatte, sogar ihre eigene Identität, musste es Plia vorkommen, als hätte ihre eigene Existenz plötzlich alles verloren, was ihr Bedeutung verliehen hatte. Die eine Person, der sie die Welt bedeutet hatte, die der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war, einfach fort – ohne Warnung, von einem Moment zum nächsten.
Sie warf Enric, der von seinem Stuhl aus zusah, einen hilflosen Blick zu. Er stand von seinem Platz auf und kam näher. Unbeholfen nahm er am unteren Ende des Bettes Platz, unsicher, was er mit seinen Händen anstellen sollte. Schließlich legte er eine davon auf den Umriss von Plias Fuß ab, der sich unter der Decke abzeichnete, und drückte ihn leicht.
“Wie geht es dem Baby?”, fragte er. Er sah aus, als erwarte er nicht wirklich eine Antwort darauf.
Ein paar stille Sekunden verstrichen, dann drehte Plia ihren Kopf weit genug, um den großgewachsenen Mann anzusehen, der ihren Fuß berührte. Ihr Blick war leer, und so auch ihre Stimme, als sie erwiderte: “Dem Baby geht es gut. Wirst du mich jetzt fragen, wie es mir geht?” Den letzten Worten wohnte eine gewisse Bitterkeit inne.
Enric schüttelte den Kopf. “Das brauche ich nicht. Ich kann sehen, dass es dir scheußlich geht. Ich glaube nicht, dass es dir helfen würde, dies in Worte zu fassen.” Einen Moment lang wirkte er unsicher. “Oder vielleicht doch?”
Zu Eryns beträchtlicher Überraschung setzte sich Plia auf und krabbelte dann auf Enric zu. Tränen begannen ihre Wangen hinabzulaufen, als sie ihre Arme um Enrics Mitte schlang und ihre Wange gegen seine Brust presste, während ihre Schultern still bebten.
Enric war ebenso verblüfft, erholte sich aber rasch und begann ihren Rücken zu streicheln. Die Feuchtigkeit, die sich inzwischen auf seinem dunklen Hemd auszubreiten begann, ließ er unbeachtet.
Eryn saß da und fühlte sich verloren und überflüssig. Sie versuchte sich nicht daran zu stören, dass ihre Freundin jetzt gerade den Kontakt zu Enric vorzog. Sie hatte gerade einen Mann verloren und suchte – bewusst oder unbewusst – die Wärme und den Trost männlicher Arme.
Enric hatte keinerlei Problem damit, die Jungfer in Nöten zu trösten, wie Eryn nicht umhin kam zu bemerken. Sie fragte sich, ob das eine Rolle war, die er im Geheimen gerne öfter eingenommen hätte, aber des Vergnügens beraubt wurde, weil seine Gefährtin nicht wirklich irgendeine Neigung zeigte, weinend Zuspruch in jemandes Armen zu suchen. Sie schob den Gedanken beiseite und zwang sich dazu, sich auf die Person zu konzentrieren, deren Kummer der Grund für ihren Besuch war.
Sie war froh, dass Plia sich im Arm halten ließ, wenngleich der Mann, an den sie sich klammerte, für derlei Dinge ein recht unkonventioneller Kandidat war. Zumindest in diesem Land. Lord Enric, starke Schulter für Frauen, die im Kummer zu versinken drohten…
Eryn lehnte sich zurück gegen das Kopfteil des Bettes und sah zu, wie Plias Schluchzer zuerst immer heftiger wurden, bevor sie nach einer Weile abzuebben begannen. Einige Minuten später beruhigte sie sich. Ihre Schultern erbebten nicht mehr alle zwei Sekunden, sondern nur mehr gelegentlich. Irgendwann quollen ihre Tränen nur mehr still zwischen geschlossenen Augenlidern hervor, und Enric spürte, wie ihr Körper immer schwerer wurde und an Anspannung verlor, als sie in den Schlaf hinüberglitt.
Sie studierte Enrics Gesicht. Der Ausdruck darauf passte zu dem Gefühl der Betrübnis, das sie durch das Geistesband empfing. Gedankenverloren streichelte er den Rücken der jungen Frau. Als er den Blick seiner Gefährtin auf sich spürte, sah er sie an als wollte er fragen: Und was nun?
Eryn zog die Schultern hoch. Sie wusste es auch nicht. Plia schien sich in einem Zustand geborgten Friedens zu befinden, während sie die Wohltat von Enrics körperlicher Nähe genoss. Nach dem ständigen Schmerz, der sie seit Erhalt der Nachricht vom Tod ihres Gefährten umklammert hielt, konnten sie und das Baby zweifellos eine Pause gebrauchen.
Sie stand auf und trat näher, damit sie sich zu seinem Ohr hinabbeugen und flüstern konnte. “Würde es dir etwas ausmachen, noch ein wenig bei ihr zu bleiben?”
Er seufzte. “Nein. Mach nur den Vorhang ein wenig auf und bring mir etwas zu lesen, in Ordnung?”
Eine Welle der Zuneigung für ihn stieg in ihr auf. Sie küsste seinen Scheitel, drehte sich um und schritt von dannen um seiner Bitte nachzukommen. Sie würde ihm ein Buch bringen und sich dann ein wenig zu Temina gesellen.
* * *
Sobald Eryn einen Stuhl gewählt hatte, nahm auch Enric in Tyronts Arbeitszimmer Platz. Eine Nachricht des Ordensführers hatte ihn und Eryn zuhause erwartet, nachdem sie von ihrem Besuch bei Plia im Haus seiner Mutter zurückgekehrt waren.
Er hätte es vorgezogen, den Abend mit seiner Familie zu verbringen anstatt der Vorladung seines Vorgesetzten Folge leisten zu müssen, doch er hatte keine Wahl. Sie hatten nach Temina geschickt und sie gebeten, eine Stunde oder zwei auf Vedric aufzupassen, solange seine Eltern im Palast waren. Seine Nichte erfüllte die Bitte mehr als bereitwillig und hatte auch die Bergkatze mitgebracht. Sie hatten noch nicht besprochen, wie es im Hinblick auf Urban weitergehen sollte, ob sie bei Temina bleiben oder zu ihnen zurückkehren sollte. Darüber würden sie reden müssen, sobald sich die Dinge ein wenig beruhigt hatten. Zudem galt es die Option zu bedenken, dass Eryn sich für einen permanenten Umzug nach Takhan als Oberhaupt von Haus Aren entscheiden mochte, was bedeutete, die Katze würde entweder mitkommen und unter der ständigen Hitze leiden, oder in Teminas Obhut zurückbleiben.
Eryns Gesicht zeigte ebenfalls mehr als deutlich, wie wenig sie den Abendtermin bei Tyront schätzte. Enric war überzeugt, dass der Krieg eine erhöhte Frequenz an Zusammenkünften mit dem König, dem Rat der Magier und Tyront mit sich bringen würde, doch das hatte er bislang nicht erwähnt. Sie würde es bald genug merken.
Tyront nahm hinter seinem monströsen Schreibtisch Platz – ein untrügliches Anzeichen dafür, dass es um Ordensangelegenheiten ging.
Eryn unterdrückte ein Gähnen und wartete geduldig auf das, was wichtig genug sein musste, um sie in den Abendstunden herbei zu zitieren.
Ihr Vorgesetzter räusperte sich und sah Eryn an. “Ich habe über Enrics Demonstration mit dem Projizieren von Erinnerungen mit Hilfe eines Schildes nachgedacht. Eine recht interessante Fertigkeit. Doch noch interessanter als diese Technik zum Teilen seiner Gedanken war der Vorfall, den er für seine Demonstration auserkoren hat.”
Enric begann zu verstehen. Aber natürlich. Sie alle hatten mitangesehen, wie Eryn eine mächtige Felsenfestung zerlegt hatte, ohne dafür auch nur einen Blitz abzugeben oder einen Finger zu rühren. Wenn man bedachte, dass sie drauf und dran waren, ihren Verbündeten in einem Krieg beizustehen, war das eine Fähigkeit, die die Ordensmagier – vor allem die Krieger – beherrschen sollten.
Eryn war offensichtlich bei der gleichen Schlussfolgerung angelangt. Sie lächelte schwach. “Das soll dann wohl heißen, ich soll euch zeigen, wie man große, böse Feindesfestungen zu Staub zerfallen lässt?”
“Ganz so hätte ich es wohl nicht formuliert, doch im Wesentlichen kann ich zustimmen, dass dies die Fertigkeit ist, in der ich dich bitte, deine Ordenskollegen zu unterweisen.” Tyront beobachtete sie, während er auf ihre Antwort wartete.
Ihr Schulterzucken zeigte, dass sie nicht allzu überrascht war von seiner Bitte, Forderung oder was auch immer es war. Wohl eine Forderung verpackt als höfliche Anfrage. “Natürlich. Doch dir ist klar, dass wir dafür die Stadt verlassen und eine gewisse Distanz zu ihr gewinnen müssen. Berge brauche ich dafür nicht unbedingt – jedes Gelände, das weit genug von Siedlungen entfernt ist, reicht aus. Ich kann das zugrundeliegende Prinzip in kleinerem Ausmaß unterrichten. Das dauert nicht länger als ein paar Minuten. Die Reise wird mehr Zeit in Anspruch nehmen. Ich empfehle zumindest einen dreistündigen Ritt. Auf diese Weise sollten Missgeschicke nicht dazu führen, dass hier in der Stadt Gebäude in sich zusammenfallen.”
“Ja, dafür wären wir unendlich dankbar”, erwiderte Tyront in dezent trockenem Tonfall. Doch seine Miene bezeugte, wie zufrieden er mit Eryns unverzüglicher Bereitschaft war, ihre jüngste Entdeckung weiterzugeben. Sein Blick wanderte zu Enric.
“Hast du bereits gelernt, wie das funktioniert, oder wirst du dich der Gruppe anschließen?”
“Bisher nicht, nein. Auf unserer Rückreise aus Pirinkar waren wir bestrebt, unauffällig zu bleiben. Das schloss auch mit ein, unterwegs keine Landschaften einstürzen zu lassen.”
Tyront nickte. “Gut. Dann wird deine und meine Anwesenheit auf diesem Ausflug den anderen demonstrieren, wie wichtig wir das Erlernen dieser Technik nehmen. Ich werde die Außenposten informieren, damit sie ebenfalls ein paar Leute mitschicken. Mit einem dreistündigen Ritt in jede Richtung und kaum mehr als einer Stunde für Anweisungen sollte ein Tag mehr als ausreichend sein.”
“Wird der Rat der Magier auch dabei sein?”, fragte Eryn und versuchte, beiläufig zu klingen. Doch sie schaffte es nicht, ihre Scheu davor zu verbergen, den Rat einen ganzen Tag lang am Hals zu haben.
“Nicht alle. Auf jeden Fall Orrin, Enric und ich, und dann würde ich noch ein oder zwei weitere vorschlagen, damit zumindest die Hälfte des Rates darin bewandert ist. Orrin kann es sodann übernehmen, die anderen zu unterrichten.”
Enric sah, wie erleichtert seine Gefährtin bei Gedanken daran war, nicht mehr als zwei mühsame Ratsmitglieder ertragen zu müssen – sofern man Tyront nicht dazuzählen wollte. Er konzentrierte sich wieder auf seinen Vorgesetzten, als dieser ihn ansprach.
“Wie sieht es mit dieser ganzen unerquicklichen Sache in Pirinkar aus, Enric? Konntest du das soweit verarbeiten, dass du deine Pflichten im Orden wiederaufnehmen kannst?”
“Selbstverständlich”, antwortete Enric ohne Zögern.
Tyront kniff die Augen leicht zusammen. “Unter anderen Umständen wäre ich weniger hartnäckig, wenn es darum geht zu betonen, dass wir uns keinen verstörten Stellvertreter des Ordens leisten können. Aber da die Dinge nun einmal sind, wie sie sind, muss ich sichergehen, dass ich darauf vertrauen kann, dass du in einem Krieg einen kühlen Kopf bewahren kannst.”
“Das kann ich”, versicherte ihm Enric einmal mehr.
Tyronts Blick wanderte zu Eryn, als versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, ob ihr Gefährte die Wahrheit sprach. Doch sie erwiderte seinen Blick lediglich mit höflichem Interesse.
Nach ein paar Sekunden nickte er. “Ich bin froh, das zu hören.”
Doch Enric konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sein Vorgesetzter noch immer von gewissen Zweifeln geplagt wurde.
* * *
Zufrieden beobachtete Enric, wie ein paar seiner Kollegen ihre Gedanken auf schimmernde Schilde projizierten, während sie auf dem Rücken ihrer Pferde saßen. Er hatte die untätige Zeit auf dem Weg zu ihrem Trainingsgebiet, wo Eryn ihnen zeigen wollte, wie man Gesteinsschichten manipulierte, zur Unterweisung der lernwilligen Gruppenmitglieder genutzt, wie man Schilde nutzte, um Erinnerungen, Ideen oder was auch immer sonst ihr Gehirn produzierte, zu teilen.
Sie hatten den gesamten Tag in den Hügeln südlich der Hauptstadt verbracht, oder eigentlich eher die Hälfte davon, und den Rest auf den Pferden auf der Reise hin und zurück.
Eryn war überrascht, wie viel Zeit die Magier gebraucht hatten um sich anzueignen, was sie selbst in Pirinkar mit Hilfe ihrer Instinkte innerhalb weniger Sekunden herausgefunden hatte. Vier Stunden hatte es gedauert, bevor jeder einzelne der siebenunddreißig Magier, die mit ihr und Enric hergekommen waren, endlich in der Lage war, den Untergrund in einem Ausmaß zu verändern, mit dem sie auf Wunsch beträchtlichen Schaden anzurichten vermochten. Allerdings kein besonders zielgerichteter Schaden – zumindest nicht von allen. Ein paar wenige Auserwählte hatten das Prinzip des Aufspürens von Adern innerhalb der Steinschichten unter ihnen und den Einsatz geringer Dosen an Magie zu deren sorgsamer Manipulation begriffen. Überraschenderweise zählte Lord Seagon dazu. Ebenso wie Enric. Was weniger überraschend war.
Nach einem frühen Abendmahl in einer Taverne, deren Besitzer beim Anblick einer so großen Gruppe, für die es zusätzlich zu seinen regulären Gästen einen Platz zu finden galt, leicht panisch gewirkt hatte, setzten sie ihren Weg seit etwa einer halben Stunde fort. Die Nacht war bereits am Anrücken, am Horizont schwanden die letzten Reste an Tageslicht mit jeder verstreichenden Minute. Die nächste Stunde würde sie in Sichtweite der Stadt bringen.
Die Laune unter den Reisenden war weitgehend entspannt und umgänglich. Enric wusste, dass viele von ihnen seit Jahren keine Gelegenheit mehr gehabt hatten, die Stadt zu verlassen – oder einfach keinen Sinn darin gesehen hatten. Er hätte darauf gewettet, dass sich ein paar von ihnen das letzte Mal außerhalb der Stadtgrenzen aufgehalten hatten, als sie noch in Ausbildung waren und angewiesen wurden, die Wälder nach essbaren Pflanzen zu durchsuchen. Somit war dies für einige seiner Kollegen ein Abenteuer.
“Ich bin nicht sicher, ob ich es gut finde, dass Ihr solch weitreichende zerstörerische Kräfte zu Eurer Verfügung habt”, murmelte Lord Woldarn, der neben Eryn ritt. Enric fragte sich, ob der Mann sein Pferd absichtlich neben ihres gelenkt hatte, um einen Streit anzufangen. “Ihr wart schon anfällig dafür, Häuser einstürzen zu lassen, noch bevor Ihr dank dieser Technik hier sogar noch mehr Schaden mit beträchtlich weniger Aufwand anrichten konntet. Diese Art von Macht erfordert ein Ausmaß an Kontrolle, das weit über dem liegt, das Ihr in den letzten Jahren an den Tag gelegt habt.”
Eryn drehte ihren Kopf und warf ihm einen kühlen Blick zu. “Ein einziges Gebäude. Und nicht einmal ein ganzes, sondern nur ein Dach. Welches ich hinterher reparieren habe lassen. Und Ihr dürft die Tatsache, dass bislang noch kein Gebäude über Euch eingestürzt ist, als Beweis meiner fortwährenden und beträchtlichen Selbstkontrolle erachten, mein Lord.”
“Droht Ihr mir etwa, Lady Eryn?”, schnaubte er entrüstet mit lauter werdender Stimme, als er ein Publikum anzulocken versuchte.
Enric seufzte und entschied, im Augenblick nicht einzugreifen. Wenn er seinen Untergebenen für sein respektloses Verhalten zurechtwies, würde der Mann lediglich eine weitere Gelegenheit suchen, um Eryn zu provozieren, wenn Enric nicht dabei war. Sie musste ihm Grenzen setzen, genau wie sie es zuvor in der Ratshalle getan hatte. Und sie musste es allein tun, ohne dass ihr beherzter Gefährte zu ihrem Schutz an ihre Seite eilte.
“Aber keinesfalls, Lord Woldarn!”, rief Eryn in gespielter Betroffenheit ob solch einer ungeheuerlichen Unterstellung aus. “Würde ich Euch drohen, dann müsstet Ihr nicht nachfragen. Ich werde jedoch mehr Rücksicht an den Tag legen angesichts Eurer zerbrechlichen Verfassung, wo ich nun weiß, wie rasch Ihr aus dem Gleichgewicht geratet.”
Enric sah, wie manche der Magier um sie herum auf den erneuten verbalen Schlagabtausch mit einem Augenrollen reagierten, während andere ihre Freude daran hatten und leise kicherten. Die erste Gruppe setzte sich vorwiegend aus Ratsmitgliedern zusammen, die bereits während der Versammlungen regelmäßig in diesen Genuss kamen, letztere waren Magier, die entweder Respekt vor Eryn oder eine Abneigung gegen Lord Woldarn empfanden.
“Eure Dreistigkeit gegenüber hochrangigen Ratsmitgliedern, die Euch an Jahren dermaßen weit voraus sind, ist unfassbar! Ich habe dem Rat bereits gedient, noch bevor Ihr überhaupt geboren wart! Beinahe vierzig Jahre Erfahrung, nur um mich behandeln zu lassen wie einen…”
Eryn unterbrach ihn scharf. “Vierzig Jahre an Ratserfahrung? Kaum! Ihr habt seither lediglich an den gleichen überholten Vorstellungen festgehalten, die Ihr als das Ehren von Traditionen tarnt. In Wahrheit ist das aber nichts als Angst vor Veränderung und ein Mangel an Weitblick. Ihr habt keinesfalls vierzig Jahre Erfahrung, sondern lediglich das erste Jahr immer und immer wiederholt, ohne dabei Euren Horizont oder Intellekt zu erweitern.” Um sie herum war es vollkommen still geworden, als die Magier angespannt zuhörten. Ihre Lippen formten ein kleines, herablassendes Lächeln, als sie fortfuhr: “Und wenn ich Euch Grenzen setze, Lord Woldarn, fällt dies wohl kaum unter den Begriff Dreistigkeit. Da ich Eure Vorgesetzte bin und Ihr verpflichtet seid, meinen Anweisungen zu folgen, solltet Ihr es als wohlwollende Unterweisung verstehen. Wir wollen doch nicht, dass Ihr wie Aldon endet, nicht wahr?”, schloss sie liebenswürdig.
Die Erwähnung des in Ungnade gefallenen früheren Lords und Ratsmitglieds brachte Lord Woldarn zum Schweigen. Der Mann hatte versucht, an seinen Vorstellungen von Tradition festzuhalten und auch jeden sonst dazu zu zwingen, indem er junge Magier, die für Veränderung einstanden, als Kriminelle darstellen wollte. Lord Woldarns Sohn war einer von ihnen gewesen.
Eryn war froh, dass er sich vorerst zum Schweigen entschieden hatte. Sie hatte keine Freude an öffentlichen Auseinandersetzungen – zumindest nicht in ihrer Rolle als Anführerin – und hasste es, wenn sie gezwungen war, sich an einer zu beteiligen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihm gegenüber eine Niederlage einzustecken, da die Glaubwürdigkeit ihres Ranges daran hing. Wenn also alles andere versagte, musste sie auf weniger freundliche Methoden zurückgreifen, um die Oberhand zu behalten. Zumindest bei der Art von Attacke, die Lord Woldarn so gerne startete. Die zielten nicht darauf ab, ihr eine bestimmte Problemstellung oder einen Standpunkt näherzubringen. Sie waren nichts als ein Machtspiel, weil dieser Mann es nach all den Jahren noch immer nicht schaffte zu akzeptieren, dass er einer Person wesentlich jünger als er selbst unterstand – und dann noch ausgerechnet einer Frau.
Sie wusste, dass es ihm Schwierigkeiten bereitete, mit dieser Situation fertig zu werden, besonders, wenn man all das betrachtete, was der Orden seinen Mitgliedern in den vergangenen Jahrhunderten so energisch vermittelt hatte. Jedoch andere Ratsmitglieder, die ebenso alt wie Lord Woldarn – oder sogar älter – waren, hatten es geschafft, mit den jüngeren Entwicklungen zurechtzukommen. Lord Poron hatte seinen Rang als Nummer drei verloren – an eine Frau, die jung genug war, um seine Enkeltochter zu sein. Im Gegensatz zu Lord Woldarn hatte er darauf allerdings nicht mit Verbitterung reagiert und sich bei jedem Schritt quergelegt. Er hatte mit offenen Armen willkommen geheißen, was sich für das Königreich als rasanter Fortschritt erwiesen hatte und sich zudem die neue Disziplin des Heilens nicht nur zu eigen gemacht, sondern sogar als Oberhaupt die Verantwortung dafür übernommen.
Im Vergleich dazu hatte Lord Woldarn sich als vollkommen resistent erwiesen gegen alles, was dem entgegenstand, was er als richtig und angemessen vermittelt bekommen hatte, ganz egal, dass viele dieser Dinge veraltet waren und dringender Verbesserung bedurften. Sogar Lord Seagon, selbst ein Traditionalist und nicht eben großer Bewunderer Eryns, hatte es bis zu einem gewissen Grad geschafft, sich anzupassen.
Eryn wusste, dass Lord Woldarn zu Stallarbeiten zu verdammen die Dinge nicht einfacher gemacht hatte. Sein Versuch, sie einmal mehr öffentlich zu dominieren, bewies mehr als ausreichend, dass er unwillig oder unfähig war, sie als seine Vorgesetzte anzunehmen. Er war kein Mann, der Grenzen ohne Widerstand akzeptierte. Was nicht bedeutete, dass sie es sich leisten konnte, ihm keine zu setzen, nur weil er es womöglich ohnehin niemals lernen würde. Das wäre lediglich seinen Zwecken dienlich, weil es ihrem Ruf schaden würde.
Wenn sie das Angebot ihrer Mutter annahm, würde sie sich mit diesem starrköpfigen, alten Kauz nicht länger herumplagen müssen. Sie ließ den Atem entweichen und zwang ihre Gedanken fort von dem, was sich nach einem so einfachen Ausweg anfühlte. Haus Aren führen, eine Senatorin in Takhan werden und in einem Land leben, das von ihrer Mutter regiert wurde, barg seine eigenen Gefahren und Nachteile. Davon war sie überzeugt.
Enric lenkte sein Pferd nahe genug an das ihre, damit er murmeln konnte: “Takhan mit Haus Aren und dem Senat muss dir im Moment als das kleinere Übel erscheinen. Abgesehen von der Tatsache, dass sie bald das Ziel eines Angriffs sein werden”, lenkte er ein.
Die Tatsache, dass ihr Gefährte ihre Gedanken so zutreffend erraten hatte, entlockte ihr ein Lächeln. “Ja, abgesehen von dieser kleinen Unannehmlichkeit.”
Der Krieg, dachte sie. Einen, bei dem man erwarten würde, dass sie teilnahm, ihr Schwert und ihre Magie schwang mit der Absicht zu töten. Das war etwas, mit dem sie sich entweder arrangieren oder sich weigern musste, wenn die Zeit gekommen war. Und als wäre das nicht schwierig genug, ließ Lord Woldarn nicht davon ab, Streit mit ihr zu suchen. Wenn er nicht sehr vorsichtig war, fiel seine Würde dem Krieg noch als Erstes zum Opfer.
Kapitel 3
Ein Exempel
Plias Hand zitterte leicht, als sie auf dem Küchentisch der Klinik das Kräuterpulver in die Tasse mit heißem Wasser einrührte.
Eryn war im Zwiespalt, unsicher, was sie von der Entscheidung der jungen Frau halten sollte, nur drei Wochen nach dem unerwarteten Ableben ihres Geliebten wieder zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Einerseits war Arbeit zweifellos eine willkommene Ablenkung von ihrem Kummer, etwas, in das sie sich stürzen konnte, eine Gelegenheit, nicht länger zu leiden ohne sich irgendwie beschäftigen zu können. Doch andererseits bestand ihre Aufgabe darin, Kräuter zu mischen und so Medizin herzustellen. Manche der Substanzen, mit denen sie hantierte, waren potent genug, um Patienten bereits beim kleinsten Messfehler den Tod zu bringen oder zumindest die Krankheit oder auch den Schmerz erheblich zu verschlimmern.
So sehr Eryn ihrer jungen Freundin die Möglichkeit vergönnt hätte, ihrer Trauer zumindest für kurze Zeit zu entkommen, so wusste sie auch, dass das Wohl und die Sicherheit der Patienten Vorrang haben mussten. Das hatte sich nicht plötzlich verändert, nur weil sie den Heilerberuf nicht länger aktiv ausübte.
Gerade als sie Plias Aufmerksamkeit mit einem Hüsteln auf sich lenken wollte, betrat Onil die Küche und grinste, als er Eryn erblickte.
“Hallo du! Bedeutet deine Anwesenheit hier, dass du deine Meinung geändert hast und uns nicht verstoßen wirst?” Sein Ton war scherzhaft, die Frage selbst allerdings nicht.
Sie zuckte innerlich zusammen. Uns verstoßen, dachte sie und zwang ihre Lippen zu einem angespannten Lächeln. Hätte Lord Poron nicht noch ein wenig länger damit warten können, die Nachricht zu verbreiten? “Nein, ich fürchte, ich bleibe bei meiner Entscheidung. Ich habe nur Plia herbegleitet. Sie will ihre Arbeit wieder aufnehmen.”
Erst dann bemerkte der Heiler die Herbalistin, die hinter Eryn stand. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, als er ihre blasse, beinahe durchsichtige Haut, die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihren allgemein recht schwachen und zerbrechlichen Allgemeinzustand in Augenschein nahm. “Ich weiß, dass mich das eigentlich nichts angeht, solange Lord Poron keine Einwände dagegen hat, aber ist das klug? Manche der Pulver, die wir den Patienten geben, lassen wenig bis gar keinen Spielraum für Fehlkalkulationen zu. Wir würden doch nicht versehentlich jemanden töten wollen, nicht wahr?”
Seine Worte waren schonungslos, doch sein Ton war sanft und voller Bedauern. Er selbst hätte sie ebenfalls gerne willkommen geheißen, wo sie unter Freunden war, die zumindest einige Stunden jeden Tag für sie da sein konnten.
Eryn stieß einen stillen Seufzer der Erleichterung aus. Onil hatte ihr gerade eine recht unangenehme Pflicht abgenommen. Und dass er ihre Bedenken teilte, war für sie auch eine Bestätigung – es war tatsächlich eine reale Gefahr und nicht bloß ihre eigene übertriebene Vorsicht.
Plia war mit dem Umrühren ihres Getränks fertig und nahm einen vorsichtigen Schluck von der noch immer dampfenden Tasse, bevor sie ihm ein müdes Lächeln schenkte. “Ich weiß. Ich werde heute nichts allzu Anspruchsvolles in Angriff nehmen. Ich will mich darauf beschränken, mich um die Pflanzen im Gewächshaus zu kümmern und ein paar Blätter und Blüten zum Trocknen zu ernten. Daran ist nichts gefährlich.”
Das war so nicht ganz korrekt, wie Eryn wusste. Ein paar der Kräuter sollten keinesfalls ohne Schutz oder Werkzeuge berührt werden. Die Tatsache, dass kein Patient in unmittelbarer Gefahr war, vergiftet zu werden, bedeutete nicht, dass nichts Schlimmes passieren konnte.
“Du wirst aber deine Handschuhe tragen, hoffe ich?”, fragte sie vorsichtig. “Manche der Pflanzen sind alles andere als harmlos, wie du weißt.”
Plia warf ihr einen wenig freundlichen Blick zu. “Ja, ich weiß das tatsächlich – immerhin bin ich eine medizinische Herbalistin. Und nein, ich denke nicht daran, in meinem Kummer irgendetwas Dummes mit den Pflanzen anzustellen”, erriet sie zutreffend, in welche Richtung Eryns Gedanken geschweift waren. “Ich habe ein Baby, um das ich mich kümmern muss und dem ich niemals Schaden zufügen würde – weder absichtlich noch durch Nachlässigkeit.”
Eryn nickte verlegen, teils froh über die Zusicherung, doch auch ein klein wenig beschämt.
Die junge Frau nickte beiden zu und verließ sodann die Küche mit ihrer Tasse in der Hand, um sich in ihr Labor zu begeben.
Sobald sie außer Hörweite war, seufzte Onil und lehnte sich gegen den Tisch. “Ich hasse es, sie so zu sehen. Was für ein grausames Unglück für eine so junge Person. Und noch dazu in ihrem Zustand. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie sie sich jetzt gerade fühlen muss.”
Eryn nickte zustimmend. Ihr ging es ähnlich. Sie erinnerte sich an jenen kurzen Moment, als sie gedacht hatte, Enric sei derjenige, der verstorben war. Vollkommene Verzweiflung hatte sie ergriffen, gefolgt von einem seltsamen Gefühl von Taubheit, als wäre ihr der Boden unter den Füßen weggerissen worden und als schwebte sie in absoluter Leere. Die Vorstellung, dieses Gefühl tagelang mit sich herumtragen zu müssen, bevor ihr Verstand schließlich begann, sich an diese veränderte Realität zu gewöhnen…
Sie erschauderte leicht und rieb sich mit den Handflächen über die Unterarme.
Der Heiler drehte seinen Kopf und sah ihr ins Gesicht. “Du bist dir absolut sicher? Ich kann dich nicht überzeugen, deine Meinung zu ändern und zur Klinik zurückzukehren? Der Gedanke an all das hier ohne dich, auch wenn du immer nur ein paar Monate durchgehend anwesend warst, ist seltsam. Verstörend. Deprimierend. Was hat dich überhaupt dazu veranlasst, dem Heilen den Rücken zu kehren? Lord Poron hat uns nur informiert, dass es persönliche Gründe sind, ohne uns Details zu liefern. Kannst du mir etwas mehr darüber sagen?”
Eryn lächelte betrübt und schüttelte den Kopf. “Nein. Zu beidem. Ich werde nicht zum Heilen zurückkehren, und ich denke, es ist klüger, wenn ich meine Gründe dafür derzeit nicht bekannt gebe. Vielleicht auch niemals. Ich will dir aber versichern, dass ich die Entscheidung nicht leichtfertig getroffen habe.”
Onil nickte langsam, eindeutig wenig zufrieden mit dem Verlauf des Gesprächs. “Du denkst aber nicht daran, dich dauerhaft in Takhan niederzulassen, sobald diese scheußliche Sache mit dem Krieg vorbei ist, hoffe ich?”, fragte er misstrauisch.
Fieberhaft suchte sie nach einem Gesprächsstoff, um ihn von diesem Thema abzulenken. Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie in der Tat darüber nachdachte, doch anlügen wollte sie ihn ebenfalls nicht.
Ihr Blick wanderte fort von seinem Gesicht zum Fenster hinaus. “Nun, selbst wenn das der Fall wäre, lässt sich nicht sagen, wann der Krieg vorbei ist. Wenn es so richtig übel läuft, könnte er sich über Jahre hinziehen.”
Erleichtert sah sie, wie Onil nickte, während er über dieses unangenehme Szenario nachdachte – und das Thema fallen ließ, das sie vermeiden wollte.
“Das wäre misslich. Aber eine rasche Niederlage wäre nicht viel besser, wenn wir bedenken, welche Art von Gesellschaft Pirinkar in den Westlichen Territorien etablieren würde, wenn wir von dem ausgehen, was du uns über sie erzählt hast.”
Er wirkte besorgt und gequält, und Eryn fühlte sich schuldig, weil sie ihm diese Stimmung beschert hatte, nur damit er damit aufhörte, ihre dunklen Geheimnisse aufzudecken.
“Nun”, erwiderte sie mit erzwungener Heiterkeit, “aus diesem Grund hat der König zugestimmt, den Orden zu entsenden – damit wir jede dieser düsteren Optionen verhindern können.”
Beide blickten zur Tür, als sich ein Bote räusperte. Eryn schluckte. Palastlivree. Entweder der König oder Tyront. Boten, die nach ihr suchten, anstatt einfach ihre Nachricht zuhause bei den Dienern zu lassen, waren ein untrügliches Zeichen für eine kurzfristige Vorladung. Was sehr wahrscheinlich bedeutete, sie musste ihm ohne Umschweife zum Palast folgen. Zumindest schien seine Eile den allgemeinen Eifer zur Erfüllung seiner Aufgaben nicht zu übersteigen; somit handelte es sich allem Anschein nach nicht um einen Notfall.
“Seine Majestät oder Lord Tyront?”, fragte sie ausdruckslos, ohne auch nur eine Sekunde lang in Betracht zu ziehen, dass der Bote theoretisch ebenso gut auf der Suche nach Onil sein mochte.
“Seine Majestät, König Folrin bittet um das Vergnügen, Euch bei der ehestmöglichen Gelegenheit zu sehen”, antwortete der Mann mit einer Verbeugung. Als er sich wieder aufrichtete, warf er ihr einen zaghaften Blick zu. “Seine Majestät instruierte mich auch, dezidiert zu betonen, dass es sich hierbei lediglich um eine Redewendung handelt und Ihr Euch nicht zum dem Irrglauben verleiten lassen mögt, er wäre geneigt, irgendeine Verzögerung zu dulden.”
Eryn schnaubte. “Warum hält er sich dann mit dieser hochtrabenden Formulierung auf? Warum sagt er nicht einfach, ich soll mich auf den Weg machen und ihn auf der Stelle aufsuchen?”
Der Bote wirkte entsetzt. “Ich kann nur vermuten, meine Lady, dass Seine Majestät solch profane Worte als seiner Position unwürdig erachten mag.”
Onil unterdrückte ein Lachen und zwinkerte ihr zu. Nachdem sich der Bote umgewandt hatte um vorauszugehen, formten seine Lippen in Eryns Richtung: “Versuch, nicht zu profan zu sein, hörst du?”
Sie grinste und folgte dem Mann, auf den die Pracht des Palastlebens unverkennbar abgefärbt hatte, und fragte sich, was der König wohl in solcher Eile besprechen wollte. Das würde ihr erstes Zusammentreffen sein, nachdem er in solch übler Laune von Bord des Schiffes gegangen war. Sie hoffte nur, dass er mittlerweile über diesen Vorfall hinweg war. Doch kurzfristige Ladungen waren im Allgemeinen auf jeden Fall unangenehm, ganz egal, ob er irgendeinen Groll hegte oder nicht.
Schicksalsergeben setzte sie ihren Weg fort.
* * *
Enric drehte seinen Kopf, während er dem Boten, der nach ihm geschickt worden war, den Königsweg entlang folgte. Rasche Schritte näherten sich, als versuchte ihn jemand einzuholen. Eryn. Er blieb stehen, um auf sie zu warten. Genau wie er selbst war auch sie in Gesellschaft eines unschwer als Palastbote erkennbaren Mannes.
Ein wenig außer Atem ging sie neben ihm her. “Dich will er also auch sehen”, stellte sie das Offensichtliche fest. “Irgendeine Ahnung, worum es gehen könnte?”
“Nein, nicht die leiseste”, erwiderte er.
Die beiden Männer in identischen Livreen bedachten einander mit einem knappen Nicken, dann gingen sie voraus, ganz so, als hätten Lord Enric und Lady Eryn diesen Weg nicht schon öfter, als jeder von ihnen zählen konnte, zurückgelegt. Doch ein Auftrag war ein Auftrag. Es war unwichtig, dass sie nicht die geringste Chance hätten, die Magier zum Mitkommen zu bewegen, sollten diese entscheiden, dass sie nicht geneigt waren, ihren König zu diesem Zeitpunkt aufzusuchen.
Da ihre Führer mit ihrem steifen Gehabe jedes Wort vernehmen würden, setzten sie ihren Weg schweigend fort.
Erst als sie einige Minuten später die hohe Doppeltür zum Thronsaal erreichten, verbeugten sie sich, dann verschwanden sie dorthin, woher sie gekommen waren und reichten ihre Lieferung wie Pakete an die Türwächter weiter, als wären sie nun deren Problem.
Die Wachen öffneten die Türen ohne sich mit einer Ankündigung aufzuhalten. Zweifelsohne waren sie angewiesen, niemand anderen als die beiden Personen vorzulassen, die der König zu sehen wünschte.
Enrics Blick fiel sofort auf das Podest mit dem Thron. Zu seiner Überraschung war es leer. Üblicherweise zog der König es vor, sie vor seinem offiziellen Sitz stehend zu empfangen, wenn er sie in den Thronsaal zitierte. Sein Blick wanderte zum entgegengesetzten Ende des Saals, zu den Fenstern, die beinahe bis ganz nach oben zur hohen Decke reichten.
Dort fand er den Monarchen. Gemeinsam mit seiner Gefährtin. Sie standen vor dem langen Steintisch, den König Folrin zuweilen herbeischaffen ließ, wenn er etwas Wichtiges zu besprechen hatte und dafür mehr Platz benötigte als sein vergleichsweise kleines Arbeitszimmer bot. Aus irgendeinem Grund war es erheblich weniger geräumig als Enrics eigenes. Er stellte sich vor, wie die Diener den König oder wen auch immer er empfangen würde, verfluchen mochten, während sie dieses Ungetüm von einem Tisch hier hereinschleppten, nur um ihn wahrscheinlich wenig später wieder zu entfernen. Er hoffte, dass sie irgendeinen Karren zur Verfügung hatten, damit sie ihn lediglich hinauf und herunter heben mussten anstatt ihn den gesamten Weg dorthin zu schleppen, wo auch immer er sonst gelagert wurde.
Durch das Geistesband spürte er einen Hauch von Eryns Nervosität. Seit ihrer Ankunft am Hafen vor mehr als drei Wochen hatte es zwischen ihr und dem König keinerlei Interaktion, Nachricht oder sonstigen Kontakt gegeben. Ihr Kinn war leicht erhoben, als wollte sie demonstrieren, dass es aus ihrer Sicht nichts gab, wofür es sich zu entschuldigen galt. Aber nicht zu hoch, um nicht anzudeuten, dass sie sich moralisch überlegen fühlte. Sehr sorgsam bemühte sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Einen, der von höflichem Interesse und Zurückhaltung zeugte, so wie es angemessen war, wenn eine Untertanin auf Geheiß ihres Königs vor ihn trat. Dabei spielte es keine Rolle, dass er wegen des Lochs in der Schiffshülle erzürnt davongestürmt war, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte.
Ein wenig abseits ihres Gefährten stand Königin Del’na’bened, gewandet in eine Robe, die mit ihrer simplen Eleganz und fehlenden aufwändigen Verzierung beinahe bescheiden wirkte. Beinahe. Sie war trotz allem kostspielig, wie das geschulte Auge sofort erkannte. Aus irgendeinem Grund wirkte sie nicht besonders zufrieden. Über ihrer Nase ließ sich bei genauerem Hinsehen die Andeutung eines Stirnrunzelns erkennen.
Das Gesicht des Königs hingegen gab keinerlei Emotion preis. Nach Enrics Erfahrung ein Anzeichen dafür, dass etwas im Gange war. Etwas Unangenehmes. Etwas, das der Königin nicht zusagte oder vor dem sie sogar zurückscheute. Sie war nicht einmal annähernd so geschickt wie ihr Gefährte, wenn es darum ging, ihre Miene in eine ausdruckslose Maske zu verwandeln. Zumindest noch nicht. Das war wohl eine Fertigkeit, die sie sich zu ihrem eigenen Besten so rasch wie möglich aneignen sollte.
Ein paar Schritte vor dem königlichen Paar kamen sie zum Stehen und verneigten sich.
“Lord Enric”, begann König Folrin und nickte ihm zu, dann wiederholte er die Geste, indem er sprach: “Lady Eryn.” Er hob seine linke Hand zu den Stühlen, die um diese Monstrosität eines Tisches herum aufgestellt waren. “Nehmt Platz. Das hier ist eine recht delikate Angelegenheit, bei der ich aus mehr als einem Grund gezwungen bin, sie zu einem höchst unpassenden Zeitpunkt anzusprechen. Doch ich fürchte, es lässt sich nicht vermeiden.”
Enrics Blick fand eine umfangreiche Lederakte, die auf dem Tisch lag. Sie war bis an die Grenze ihres Fassungsvermögens mit Papieren gefüllt und wurde nur durch ein rundum gewickeltes Lederband zusammengehalten. Keine Beschriftung war sichtbar, auf dass ein zufälliger Beobachter den Inhalt erraten mochte. Wohl kaum ein Zufall.
Neben der Akte lag ein in Leder gebundenes Buch, das allem Anschein nach in häufiger Verwendung war. Darin steckte eine Markierung. Verordnungen zum Grundbesitz las Enric kopfüber die geprägten Buchstaben, die einst golden gewesen waren.
Der König nahm am Kopfende des Tisches Platz, die Königin direkt neben ihm auf seiner rechten Seite. Damit blieb seine linke Seite Eryn und Enric vorbehalten. Sie zogen ebenfalls die schweren Stühle aus dunklem Holz, in deren harte und unbequeme Rückenlehnen verschiedene gekräuselte Muster geschnitzt waren, zurück.
Der König gewährte ihnen einen Moment um anzukommen, dann deutete er mit einem Nicken auf das Buch auf dem Tisch. Enric streckte die Hand danach aus und zog es zu sich, um die markierte Seite aufzuschlagen. Sein Blick überflog die Paragraphen auf der linken Seite, dann setzte er auf der rechten Seite fort. Sobald seine Augen einen speziellen Paragraphen gefunden hatten, hielt er inne. Den hatte er stets im Hinterkopf behalten und nur darauf gewartet, ob der König ihn wohl irgendwann zum Thema machen würde. Für ihn war es zu einer Art Spiel geworden zu sehen, wie weit er diese spezielle Grenze überschreiten konnte, bevor man ihm jemanden schicken würde, der ihn darauf ansprach; wie lange der König ihm diesen kleinen Akt der Ungehorsamkeit im Austausch für seine fortwährende Nützlichkeit durchgehen lassen würde.
Dieser Zeitpunkt war nun offenbar gekommen.
“Ich verstehe”, murmelte er leise. Dann sah er zu der prall gefüllten Lederakte vor dem König hin. “Ich nehme an, das ist eine Sammlung all meiner Beteiligungen, Ländereien und Unternehmungen?”
“So ist es”, bestätigte der Monarch ruhig.
“Wäre jemand so gütig, mir zu erklären, was genau hier vor sich geht?”, verlangte Eryns angespannte Stimme. “Gibt es ein Problem mit Enrics Eigentum?”
König Folrin lehnte sich zurück. “Es gibt eine Verordnung, der zufolge ein einzelner Mann oder eine Unternehmung nicht mehr als fünf Prozent des Hoheitsgebiets im Königreich als Landbesitz halten kann. Die Begründung ist, dass ein Grundeigentümer bis zu einem gewissen Grad das Recht hat, seine eigenen Regeln zu etablieren, solange diese nicht dem geltenden königlichen Gesetz widersprechen. Landbesitz im Ausmaß von fünf Prozent und mehr wird als Gefahr für die Exekution des königlichen Willens und Gesetzes erachtet. Solch ausladende Besitztümer, besonders wenn das Land miteinander verbunden ist, stellen das Risiko eines sogenannten Staates innerhalb des Königreichs dar.”
Eryn starrte ihn an und schluckte. Dann fiel ihr Blick auf die Akte. “Ich nehme an, Enric hat die fünf Prozent erreicht oder steht kurz davor?”
Mit einem spröden Lächeln erwiderte König Folrin: “Sieben Prozent sogar. Und die hat er bereits erreicht. Vor siebzehn Monaten, um präzise zu sein.”
Stille folgte auf diese Enthüllung.
Bevor Enric das Wort ergreifen konnte, tat es Eryn. Ihre Stimme war angespannt mit kaum unterdrücktem Ärger.
“Vor siebzehn Monaten. Und Ihr habt ausgerechnet diesen Zeitpunkt gewählt – nachdem Enric und ich gerade von einer grauenhaften Mission in Pirinkar zurückgekehrt sind, und bevor wir für Euch in den Krieg ziehen sollen – um eine bloße…” Einen Moment lang suchte sie nach einem angemessen herabwürdigenden Begriff. “…eine bloße Verwaltungsübertretung anzusprechen? Nach allem, was wir getan haben, die unangenehmen Befehle, denen wir uns in den letzten Jahren zu beugen hatten, ganz egal, zu welchem Preis?” Sie wollte aufspringen, doch Enric griff rasch nach ihrer Hand und drückte sie zum Signal, dass sie ihre Fassung behalten musste.
Mit Interesse bemerkte er, dass Königin Del’na’beneds Kopf ein kaum wahrnehmbares und wohl unbewusstes Nicken vollzog. Das bedeutete sehr wahrscheinlich, dass sie Eryns Haltung teilte. Er wollte das als vielversprechend im Hinterkopf behalten, doch da er keine Vorstellung davon hatte, wie umfangreich der Einfluss der Königin auf ihren Gefährten war, mochte jeder Optimismus in dieser Hinsicht verfrüht sein.
“Die Integrität des Staates zu bewahren, indem sichergestellt wird, dass keine Einzelperson mit Größenwahn versucht, seine eigene Regierung zu etablieren, ist zweifelsohne mehr als ein bloßer Verwaltungsakt”, entgegnete König Folrin mit einem kühlen Blick zu Eryn.
Enric räusperte sich. Ganz egal, wie der König es rechtfertigte, dass er die Angelegenheit zur Sprache brachte, so war der Zeitpunkt doch ein interessanter und rechtfertigte einen genaueren Blick. Seine Besitztümer gingen bereits seit mehreren Jahren über das gesetzliche Maximum hinaus, und er war bereit, all sein Eigentum darauf zu verwetten, dass der König bereits ebenso lange davon wusste und ihn schon im Auge behalten hatte, bevor sein Besitz auch nur in die Nähe dieser Grenze gekommen war. Warum brachte er es jetzt zur Sprache? Eryn hatte Recht – es war der unpassendste Zeitpunkt, den man sich vorstellen konnte, und der König selbst hatte bei der Begrüßung etwas in diese Richtung geäußert. Ein Gedanke rang um seine Aufmerksamkeit und ließ einen Verdacht aufkeimen. Das hier war eine Stadt, die über ein dichtes Netz von Agenten und Anbietern anderer im Untergrund stattfindender Dienste verfügte – einfach deswegen, weil die Nachfrage hoch war. Es wäre absurd anzunehmen, dass der König die einzige Person war, die Informationen über Lord Enrics Ländereien und geschäftliche Aktivitäten sammelte. Wenngleich das Informationsarchiv des Königs wohl erheblich umfangreicher war als jedes andere.
“Ihr habt erwähnt, Ihr wärt gezwungen, das vorzubringen, obwohl der Zeitpunkt nicht ideal ist”, erwähnte Enric beiläufig.
Eryn neben ihm stieß einen tiefen Seufzer aus und presste zwischen zusammengebissen Zähnen hervor: “Das haben wir Lord Woldarn, diesem Mistkerl, zu verdanken – habe ich Recht?” Sie wartete nicht auf Bestätigung, sondern fuhr fort: “Er ist also zu Euch gekommen und hat sich beschwert? Oder hat er Euch eine Nachricht geschickt und vorgegeben, er wäre nichts als ein besorgter Bürger, der nur der Krone dienen will, indem er auf diese mögliche Gefahr hinweist?”
“Ihr werdet verstehen, dass ich den Autor der Nachricht, deren Existenz Ihr zutreffend erraten habt, kaum preisgeben kann”, antwortete der König in gelassener Manier. Allerdings war da ein winziges Lächeln, das darauf hindeutete, dass er damit zufrieden war, wie erfolgreich Eryn ihre Kombinationsgabe zum Einsatz gebracht hatte. Stets der Lehrer in politischer Strategie…
“Ihr habt Enric also beobachtet und im Auge behalten, wie viel Land er gekauft hat – und entschieden, dass Ihr nicht eingreifen werdet, solange er sich weiterhin als außerordentlich nützlich für Euch erweist”, folgerte Eryn weiter. “Und nun zwingt Euch so etwas Banales wie eine unbequeme Nachricht von einem Mann, der Enric Schaden zufügen will, um sich an mir zu rächen, zum Handeln.” Sie schnaubte abfällig. “Wenn es nicht so lächerlich wäre, wäre es beinahe witzig.”
Einen kurzen Moment lang verspannte sich ein Muskel in König Folrins Kiefer. Einen Wimpernschlag später war die Regung verschwunden. “Ja. Es passiert nicht allzu oft, doch zuweilen werden selbst meine Pläne durch gewisse unvorhergesehene Vorfälle vereitelt. Ich kann Euch kaum bis in alle Ewigkeit vor den Konsequenzen Eurer Tendenz zur Provokation gewisser Ratsmitglieder beschützen, weil Ihr nicht nach einer Möglichkeit zur friedlichen Koexistenz suchen wollt.”
Eryn lehnte sich zurück und presste die Lippen aufeinander. Enric wartete, ob sie die Arme verschränken würde. Damit hätte sie den Inbegriff des Schmollens perfekt personifiziert.
“Lasst mich Euch versichern, Lady Eryn, dass ich von dieser Situation ebenso wenig angetan bin wie Ihr selbst”, fuhr der König fort, als sie nichts erwiderte. “Derzeit erwägt Ihr und Lord Enric, ob Ihr für immer nach Takhan gehen wollt, sobald der Krieg vorüber ist. Vorausgesetzt, wir gehen siegreich daraus hervor. Mit der vorliegenden Angelegenheit an Euch heranzutreten wird dazu dienen, dass Euch die Option, Anyueel den Rücken zu kehren, noch verlockender erscheint.”
Eryn hielt ihre Miene neutral und war im Geheimen entzückt, dass der König sie ansah, um in ihrem Gesicht nach einer Bestätigung seiner Worte zu suchen. Als wäre er, der Gedankenleser, der Architekt aller anstehenden Ereignisse, nicht ganz sicher, ob seine Annahme zutraf. Oder er mochte auf eine Zusicherung warten, dass sie so etwas keineswegs ernsthaft in Betracht zog.
Enric entschied, dass dies ein guter Zeitpunkt war, um sich wieder in das Gespräch einzuschalten. Zwischen seiner Gefährtin und dem König wuchs die Anspannung, und das mochte zu wenig erfreulichen Konsequenzen führen, wenn es seinen ungestörten Verlauf nahm.
“Wie wünscht Ihr nun weiter vorzugehen, Eure Majestät? Werdet Ihr in den Fußstapfen Eurer Vorfahren wandeln und mich entweder enteignen oder für irgendein konstruiertes Vergehen hinrichten lassen?”, fragte er. Sein Ton war nicht unfreundlich, gab jedoch zu erkennen, dass er von der Situation alles andere als begeistert war.
“Mein lieber Lord Enric”, begann der König. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Herablassung mit. “Ihr werdet gewiss immens erleichtert sein zu hören, dass ich bislang keine Pläne hege, Euer Leben mit einer Anklage des Hochverrats oder Ähnlichem zu beenden. Ebenso wenig bin ich dafür, Euch gewaltsam dessen zu berauben, was Ihr über die Jahre hinweg mit solch beachtlichem Können erwirtschaftet habt.” Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. “Wie Eure Gefährtin so leidenschaftlich betont hat, erwarte ich noch immer, dass Ihr für mich in den Krieg zieht. Mir wäre sehr daran gelegen, ein Szenario zu vermeiden, wo Ihr zu einem kritischen Zeitpunkt die Seiten wechselt.”
Enric warf ihm einen kalten Blick zu ob der Unterstellung, er könnte seine beiden Länder betrügen, nur weil der König sich zu einer Dummheit hinreißen ließ. Und er wartete.
Der König seufzte, als er sah, dass sein kleiner Scherz statt Belustigung eine gewisse Verstimmung auslöste. “Seht her”, sprach er weiter, “Ihr wisst ebenso gut wie ich selbst, dass ich nicht ignorieren kann, was über offizielle Kanäle an mich herangetragen wird. Dass das Land in Eurem Besitz das erlaubte Ausmaß beinahe um die Hälfte übersteigt, ist eine Tatsache, die jeder, der willens und in der Lage ist, Agenten zu bezahlen, ganz leicht beweisen kann. Wir sprechen hier nicht über falsche Anschuldigungen. Das zu ignorieren wäre eine Demonstration von unverhohlener Bevorzugung Euch gegenüber, und damit würde mir selbst auf lange Sicht schaden. Ich sehe als einzige Option für eine entgegenkommende Lösung, dass wir über Bedingungen verhandeln, unter denen Ihr den Grundbesitz des Landes aufgebt, dass Ihr nicht besitzen solltet, ohne damit Eure Loyalität der Krone gegenüber zu kompromittieren.”
Eryn spitzte die Lippen und deutete auf das Buch, das noch immer aufgeschlagen vor Enric lag. “Darf ich?”, fragte sie und zog es auf das Nicken des Königs hin an sich.
Sie suchte nach dem Paragraphen, der das Vergehen behandelte, dessen sich Enric nun schon seit ein paar Jahren schuldig machte, und studierte ihn eingehend. “Wie alt ist dieses Buch? Oder eher das Gesetz selbst?”
“Etwa zweihundert und dreißig Jahre, würde ich sagen”, antwortete der König nach kurzem Nachdenken und wartete darauf, dass sie aussprach, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
“Eine Zeit, in der Frauen der Besitz von Land noch gesetzlich verboten war?”, riet sie und lächelte. “Dieser Paragraph besagt eindeutig, dass kein Mann ein Anrecht auf mehr als einen großzügigen, gerechten und vernünftigen Anteil des Königreichs hat, auf dass er ihn weise und in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Königs regiere. Diese Einschränkung bezieht Frauen nicht mit ein.”
Enric grinste. Es war ein beherzter Versuch, der jedenfalls seine Stimmung hob, doch es bestand wenig bis keine Hoffnung darauf, dass der König es ihnen dermaßen leicht machen würde.
Königin Del’na’bened lächelte ebenfalls und ergriff zum ersten Mal seit ihrer Ankunft das Wort. “Das wäre ein fabelhaftes Schlupfloch, meine Liebe, doch ich fürchte, bis Enric all seinen Besitz auf deinen Namen umgeschrieben hat, wird Folrin eine Anpassung dieses Gesetzes vorgenommen und verkündet haben, sodass es auch Frauen mit einschließt. Damit wären eure Bestrebungen eine Zeitverschwendung.”
Eryn nickte. Sie hatte ohnehin nicht wirklich erwartet, dass dies eine gangbare Lösung darstellte. “Wie wäre es damit, das Land zwischen Enric und mir aufzuteilen? Auf diese Weise würde jeder von uns weniger als fünf Prozent besitzen.”
Dieses Mal war es der König, der ihren Vorschlag verwarf. “Ich fürchte, das würde wenig Unterschied machen. Da Ihr durch ein Kommitment verbunden seid, würden all Eure individuellen Besitztümer als gemeinsames Vermögen behandelt werden. Und selbst wenn ich in einer Position wäre, das zu genehmigen, würde das gleiche Problem erneut auftreten, sobald Euer einziger Nachkomme die Erbschaft antritt.”
Einmal mehr las Eryn den Gesetzestext durch. “Das bezieht sich nur auf Land, nicht auf Gold oder Geschäfte, richtig?”
“Das trifft zu, ja”, bestätigte der König. Er lehnte sich zurück in einer Pose, die in seinem Fall als entspannt galt, während er auf ihren nächsten Vorstoß wartete.
“Das bedeutet, Enric könnte Euch, oder eher der Krone, das Land verkaufen. Der Anstieg seines Geldvermögens wäre kein Problem.”
“In der Theorie ist das möglich”, erwiderte der Monarch zögernd. Er wirkte beinahe, als würde er es bedauern, dass er eine weitere ihrer Ideen abschmettern musste. “Doch ich kann Lord Enric keinesfalls mit großen Summen an Gold für seinen Gesetzesbruch belohnen und diese Angelegenheit als nichts anderes als eine geschäftliche Transaktion behandeln.”
Eryn weigerte sich aufzugeben. “Er könnte auch an jemand anderen verkaufen. Das würde das Problem lösen.”
Enric ergriff ihre Hand und drückte sie. “Der Gedanke ist nicht nur, mir mein überschüssiges Land abzunehmen, sondern auch, mich öffentlich zu bestrafen, Eryn. Selbst wenn ich mir über das Ausmaß meiner Ländereien nicht im Klaren gewesen wäre, schützt Unwissenheit vor dem Gesetz nicht vor Strafe.”
Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. “Dann sind wir also hier, um die Bedingungen unserer Strafe zu diskutieren – oder eher zu verhandeln?” Das klang etwas seltsam. Andererseits war es keine Bestrafung, die der König verhängen wollte, sondern eine, zu der er gezwungen wurde. Somit war er bestrebt, sie so moderat wie möglich zu gestalten, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren.
Enric lehnte sich vor. “Wärt Ihr offen, Steuererleichterungen im Austausch für eine… großzügige Spende von Land an die Krone zu erörtern?”
“Ich höre”, lächelte der König.
“Nein!” Das Wort explodierte gleichzeitig aus den Mündern beider Frauen. Erstaunte Stille folgte und es wurden verdutzte Blicke gewechselt.
Eryn war überrascht, in Del’na’bened eine Verbündete gefunden zu haben. Im Gegenzug war die Königin überrascht, Eryn auf ihrer Seite zu finden. Und König Folrin und Enric bedachten ihre jeweiligen Gefährtinnen mit einem Stirnrunzeln, als fragten sie sich, auf wessen Seite sie eigentlich standen.
Del’na’bened hob den Kopf und brach das Schweigen. “Wohlhabende Mitglieder der Gesellschaft sollten in allen Aspekten des öffentlichen Lebens als Vorbilder dienen. Das Zahlen von Steuern ist solch ein Aspekt.”
“Ich stimme absolut zu”, schloss Eryn sich an. “Wenn diejenigen von uns, die sich das Entrichten der Steuern problemlos leisten können, versuchen, sich herauszuwinden, von wem können wir dann erwarten, dass er bezahlt? Auch wenn er die Hälfte seines Landes aufgibt, ist Enric immer noch stinkreich.” Sie nickte zu der Akte mit Enrics Eigentum. “Wie Ihr zweifellos wisst, wird Enrics Reichtum vorwiegend durch seine Geschäftstätigkeit generiert. Seine auf Land basierten Unterfangen machen nur einen kleinen Teil seines Einkommens aus.”
Enric hob seine Hand und presste einen Moment lang seine Finger gegen seine Nasenwurzel. Warum genau hatte der König entschieden, sie beide vorzuladen…? Ein rascher Blick in des Königs Richtung zeigte ihm, dass der sich diese Frage sehr wahrscheinlich ebenfalls gerade stellte.
König Folrin legte seine Fingerspitzen aneinander. Sein Lächeln reichte nicht bis zu seinen Augen. “Dann würde ich vorschlagen, Ihr beide nehmt Euch etwas Zeit und erstellt eine Liste mit Vorschlägen, um sie dann zu besprechen. Die Königin und ich werden dies ebenfalls tun. Zu gegebener Zeit wollen wir uns erneut treffen. Ihr seid entlassen.”
Enric erhob sich, verbeugte sich vor dem königlichen Paar und schritt auf die Tür des Thronsaals zu. Eryn folgte dichtauf.
Sobald sie sich im Korridor befanden und die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, murmelte Eryn: “Weißt du was? Ich mag Tleta.”
Enric seufzte. “Was du nicht sagst.”
* * *
Eryn schreckte aus dem Schlaf hoch und fasste sich an den Hals, wo etwas ihren Atem zuzuschnüren schien. Ein Teil der Feuchtigkeit auf ihrer kalten Stirn vereinigte sich zu einer Schweißperle, die dann ihre Schläfe und Wange hinablief.
Mit jedem tiefen Atemzug klang das Gefühl der Einengung ein Stück weit ab, und sie begann ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen. Es war beinahe vollkommen dunkel im Schlafzimmer. Unter sich spürte sie die feste Matratze, und als ihre Finger über das dünn gewebte Leinentuch glitten, verursachte die Berührung ein kaum vernehmbares Rascheln. Ein leichtes Gefühl der Kälte auf ihren Beinen deutete darauf hin, dass sie ihre Decke abgestrampelt haben musste. Blind tastete sie danach. Erst als sie den Boden in unmittelbarer Nähe des Bettes absuchte, fand sie die Decke zusammengeknüllt nahe dem Fußende.
Sie versuchte sich zu entsinnen, worum es in dem Alptraum gegangen war, konnte sich aber an keinerlei Bilder erinnern. Alles, was verblieb, war die Erinnerung an Emotionen… Was ein Hinweis darauf sein mochte, dass nicht sie selbt diejenige war, die den Traum erlebt hatte, sondern womöglich Enric.
Sobald sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte, lauschte sie der von Enric. Ein leises, unregelmäßiges Keuchen. Sie schluckte. Seine Alpträume traten mittlerweile weniger häufig auf als am Anfang, und jedes Mal, wenn er von einem weiteren geplagt wurde, hoffte sie inständig, es möge der letzte sein. Bislang waren ihre Hoffnungen vergeblich gewesen.
Sie musste ihn wecken. Allerdings war das kein gefahrloses Unterfangen. Es war bereits riskant genug, eine Person mit überlegener Körperkraft aus dem Schlaf zu reißen. Im Fall eines Magiers mochten damit beträchtliche Schäden oder Verletzungen einhergehen. Weiter leiden konnte sie ihn jedoch auch keinesfalls lassen. Es geschah nicht oft, dass sie vor ihm erwachte, wenn die Zeit seiner Gefangenschaft ihn nachts einholte, im Schlaf, wenn er machtlos dagegen war.
Sie atmete tief ein und suchte im Dunklen nach seiner Hand, um einen Strom warmer Magie hineinzuschicken, der seine Muskeln träger und schwerer machen würde. Dann flüsterte sie seinen Namen, um ihn zu wecken.
Trotz ihrer Bemühungen zur Beeinträchtigung seiner Muskelkraft packte seine Hand die ihre abrupt, während er sein Bewusstsein erlangte.
“Eryn?”, fragte er leise, seine Stimme frei von dem Aufruhr, den sie durch das Geistesband wahrnahm.
“Ja”, erwiderte sie sanft. “Ich bin hier.” Sie sagte ihm nicht, dass er einen Alptraum gehabt hatte, dass alles in Ordnung und er sicher war. Das wusste er. Sie hielt lediglich seine Hand und wartete, bis sich seine Atmung normalisierte.
“Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe”, entschuldigte er sich nach einer Minute.
“Das hast du nicht. Ich war bereits wach”, behauptete sie, wissend, dass er ihr nicht glauben würde.
Sie konnte das müde Lächeln in seiner Stimme hören, als er erwiderte: “Das ist eine Lüge.”
“Ich weiß.”
“Eine recht durchschaubare.”
“Entschuldige. Nächstes Mal bemühe ich mich mehr. Aber so kurz nach dem Aufwachen bin ich froh, dass ich überhaupt einen zusammenhängenden Satz fertigbringe. Zeig also etwas Nachsicht”, neckte sie ihn.
In der darauffolgenden Stille spürte sie, dass er sich darauf vorbereitete, etwas Ernstes anzusprechen. Sie wartete.
“Wenn wir gerade von Nachsicht sprechen…”, begann er. “Da gibt es etwas, über das wir reden müssen. Etwas Wichtiges.”
Eryn seufzte. Sie hatte darauf gehofft, sich an ihren Gefährten schmiegen und noch ein paar Stunden Schlaf genießen zu können, doch wenn ihm ein Gespräch über was auch immer dabei half, sich zu erholen und den Traum aus seinen Gedanken zu verbannen, dann würde sie ihm diesen Gefallen tun.
“Du musst etwas gegen Lord Woldarn unternehmen, vorausgesetzt, er war tatsächlich derjenige, der an den König geschrieben hat.”
Sie verzog das Gesicht. Was er im Dunklen nicht sehen konnte. “Ich? Warum ich? Du stehst rangmäßig über mir, und es ist dein Besitz, auf den er es abgesehen hat, nicht meiner.”
“Mich hat er nur benutzt, um dir Kummer zu bereiten. Und rechtlich gesprochen ist es ebenso dein Eigentum wie meines. Wie viele Jahre wird es noch dauern, bis das endlich in deinem Gehirn ankommt?” Er fragte sich ernsthaft, warum er es überhaupt noch versuchte.
Seine Gefährtin ließ ihren Kopf zurücksinken und fiel in das Kissen in ihrem Rücken. “Was soll ich denn noch tun, um ihm Grenzen zu setzen? Gegen all meine Versuche zeigt er sich resistent – sei es nun Stallpflicht oder das Bloßstellen vor dem Rat. Er ist ein wirklich törichter Mann, und ich weigere mich, meine Zeit oder Geduld an ihn zu verschwenden.”
“Eryn”, beschwor er sie, “hier geht es nicht darum, der Welt zu zeigen, dass du mehr geistige Größe hast und er nichts weiter als ein Insekt ist, das du dich entschieden hast zu ignorieren. Törichte Menschen können gefährlich sein, besonders, wenn sie einen Groll hegen. Wenn du ihn ignorierst, wird ihn das nur noch bestärken in seinen Bemühungen, da es ihm zeigt, dass er kaum etwas zu befürchten hat, weil es niemals ernste Konsequenzen für ihn gibt.”
“Was also soll ich deiner Ansicht nach mit ihm tun?”, seufzte sie. “Ihm einen Monat lang Hausarrest verpassen? Oder ein Jahr lang?” Sie schnaubte. “Ich kann mir vorstellen, was Tyront dazu zu sagen hätte. Und wie würde ich das außerdem rechtfertigen? Weil er die Frechheit besessen hat, den König darauf hinzuweisen, dass wir streng genommen das königliche Gesetz brechen – ganz gleich, dass der König darüber ohnehin informiert war, aber sich entschieden hat, nicht zu handeln?”
“Der König hatte sehr gute Gründe dafür, die Regeln zu meinen Gunsten zu dehnen. Politische Gründe”, erklärte Enric geduldig. “Du erinnerst dich an die Zeiten, als unsere Beziehung zu ihm angespannt war, um es gelinde auszudrücken. Dass er uns hier und dort eine Gefälligkeit erweist, ist ein Beweis für die Wertschätzung, die er uns entgegenbringt. Gelegentlich mag dies auch als inoffizielle Entschuldigung gedient haben, wenn eine offizielle keine Option war. Er hat versucht, etwas zurückzugeben, auszugleichen, was wir auf seinen Befehl hin zu erdulden und zuweilen aufzugeben hatten. Die Auflösung des Kommitments meiner Eltern war so etwas. Lord Woldarns Vorgehensweise ist für mich lästig, wird mich aber nicht in den Bankrott treiben. Du hattest Recht, als du gemeint hast, dass ich kaum von meinem Grundbesitz abhängig bin, um ein Einkommen zu generieren. Dennoch, mein Gewinn würde erheblich reduziert werden. Viele meiner Geschäfte sind auf Grundbesitz angewiesen. Da wären die Erzminen. Und die Wälder, die ich für das Holzgeschäft brauche. Seit wir begonnen haben, in die Westlichen Territorien zu exportieren, ist das beträchtlich gewachsen. Außerdem brauche ich Holz für die Schiffswerften. Die Stoffe, die ich herstelle, benötigen ebenfalls Land, auf denen die Rohstoffe angebaut werden. Dann sind da noch die Weinberge und Pferdefarmen, die zwar vergleichsweise wenig Geld abwerfen, aber doch ein wenig Gewinn einbringen. Für den König ist das ein großes Thema, da er nun dazu gezwungen ist, mich irgendwie in einem Ausmaß zu enteignen, damit die Aufzeichnungen zeigen, dass meine Besitztümer das gesetzliche Maximum nicht übersteigen – und darüber hinaus muss er mich bestrafen. Das will er keinesfalls. Besonders, da ich immer besonders darauf geachtet habe, meine Steuern in voller Höhe zu entrichten, um ihn nicht zu provozieren. Und noch wichtiger ist, dass er sehr genau weiß, dass wir irgendwann in der Zukunft nach Takhan gehen und dort bleiben könnten. Somit würde uns eine Enteignung – und damit der Entzug eines beträchtlichen Teils unseres Einkommens – noch geneigter machen, fortzugehen.”
“Dann soll sich doch einfach der König an Lord Woldarn rächen.”
“Nein. Es war ein Angriff auf dich, nicht auf den König. Der König war lediglich ein Werkzeug. So wie auch ich. Du warst das Ziel, und du musst daher entsprechend reagieren. Hier geht es nicht länger um verschleierte oder offene Beleidigungen oder wenig schmeichelhaftes Gerede hinter deinem Rücken. Er hat seinen Einsatz erhöht und wird das auch weiterhin tun, wenn du dem nicht irgendwie ein Ende bereitest. Wir können nicht darauf warten, bis ihm irgendetwas in den Sinn kommt, mit dem er uns so richtig schaden kann.” Er legte eine Kunstpause ein, wissend, dass ihn sein letzter Punkt den Sieg bringen würde. “Oder Vedric.”
Eryn schloss die Augen. “Er würde es nicht wagen. Er ist dämlich. Aber nicht so dämlich.”
“Wie sicher kannst du dir dessen sein? Wenn du seine Intelligenz beurteilen willst, dann bedenke, dass Lord Woldarn wohl kaum der Einzige ist, der weiß, dass das Land in unserem Besitz die erlaubte Höchstgrenze überschreitet. Und doch hat es niemand sonst je vorgebracht, geschweige denn ist damit an den König herangetreten. Jeder sonst weiß, dass der König sehr wahrscheinlich über das am weitesten reichende Netzwerk an Agenten in Anyueel verfügt. Wenn jemand also davon weiß, besteht so gut wie keine Chance, dass der König keine Ahnung davon hat. Ihn zum Handeln zu zwingen in einer Angelegenheit, in der er nun schon seit einiger Zeit entschieden hat, dass er das nicht möchte, ist enorm töricht. Der König wird ihn dafür bestrafen, das kann ich dir versprechen. Aber nur, wenn du versäumst, es selbst zu tun. Er wird dir ein wenig Zeit geben, damit du dich darum kümmerst, bevor er selbst zur Tat schreitet. Er weiß so gut wie ich, dass du diejenige bist, die es tun sollte.”
Sie überdachte seine Argumente. Schließlich nickte sie – und erinnerte sich, dass er sie nicht sehen konnte. “Also schön. Dann werde ich ihn maßregeln. Einmal mehr. Strenger als jemals zuvor. Ohne es als die Bestrafung erscheinen zu lassen, die es tatsächlich ist. Denn dass er dem König gesagt hat, dass wir zu viel Land besitzen ist vor dem Rat kaum eine angemessene Rechtfertigung.”
Enric fühlte sich erleichtert, dass sie zur Einsicht gekommen war. “Ich glaube, da kann ich dir helfen. Ich habe eine Idee für eine Bestrafung, bei der er wenig bis keine Chance hat, sich dagegen zu wehren, ohne selbst schlecht dazustehen. Zuerst jedoch gilt es sich um zwei Dinge zu kümmern. Du musst über jeden Zweifel hinweg herausfinden, dass Lord Woldarn wirklich derjenige war, der die Nachricht geschickt hat. Und falls ja, musst du Tyront vorab über die Bestrafung informieren, die du für angemessen hältst und seine Zustimmung einholen. Über die Angelegenheit mit dem Grundbesitz und unser Treffen mit dem König brauchst du ihn nicht informieren. Darüber wird er ohnehin bereits Bescheid wissen.”
* * *
Eryn streckte sich auf dem Sofa in Verns Salon aus. Sie hatte gerade knapp eine Stunde damit verbracht, mit Vern über das zu sprechen, was in Pirinkar vorgefallen war und was sie veranlasst hatte, den Heilerberuf für immer hinter sich zu lassen. Er hatte natürlich von ihrer Entscheidung gewusst, da Lord Poron den Heilern schon vor einigen Tagen davon berichtet hatte. Doch da er so viel mehr als nur ein Kollege war, hatte er eisern darauf beharrt, er hätte ein Recht, von ihren Gründen zu erfahren, wenngleich sie kaum jemandem sonst davon erzählt hatte. Und er hatte Recht. Seit einigen Jahren schon war er einer von sehr wenigen engen Freunden. Gerade er hatte es verdient, dass sie sich ihm anvertraute. Also hatte sie ihm detailgetreu erklärt, was vorgefallen war, kurz bevor sie Enric in den Wäldern gefunden hatte.
Der junge Mann hatte mit konzentrierter Miene zugehört und ihr immer wieder bedeutet fortzufahren, wenn sie eine Pause einlegte, um ihm Raum für Bemerkungen oder Fragen zu lassen. Er wollte alles hören, bevor er seine Fragen stellte. Und Fragen hatte er. Eine Frage jedoch stellte er nicht – ob sie wirklich sicher war, dass sie nach all ihren Bemühungen zum Aneignen der Profession und dem Errichten der Klinik in Anyueel das Heilen für immer aufgeben wollte. Dafür war sie dankbar. Nicht eine Sekunde lang gab er ihr das Gefühl, er hielte sie für unfähig, den Ernst ihrer Entscheidung zu bedenken, bevor sie sie traf. Enric war es interessanterweise schwerer gefallen, ihren Entschluss zu akzeptieren.
Vern zeigte sich in der Regel nicht allzu zurückhaltend, wenn es darum ging, sie zu kritisieren – besonders, wenn es keine Zeugen gab, die diesen scheinbaren Mangel an Respekt einer vorgesetzten Magierin gegenüber miterleben konnten. Das bedeutete, dass er ihre Entscheidung wahrhaftig verstand, auch wenn die Aussicht, dass er in diesem Metier nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten würde können, ihn sichtlich betrübte.
“Wir können die Heilerakademie aber dennoch gemeinsam aufbauen, oder?”, fragte er hoffnungsvoll.
Sie nickte. “Ja, das können wir. Obwohl ich schätze, dass man uns anweisen wird, unsere Ressourcen lieber auf den anstehenden Krieg zu konzentrieren anstatt auf ein Projekt, das sich eher für friedliche Zeiten eignet.”
Er schenkte ihr ein gequältes Lächeln. “Wenn all das vorüber ist, bist du womöglich gar nicht mehr hier. Ich befürchte, du könntest Malriels Angebot annehmen und Haus Aren führen.”
Eryn wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie könnte ihm sagen, dass sie es nicht ernsthaft in Erwägung zog, doch das entspräche nicht ganz der Wahrheit. Oder sie könnte ihn daran erinnern, dass sie ihm versprochen hatte, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit er nach Takhan umziehen konnte, falls das in eineinhalb Jahren noch immer sein Wunsch wäre. Doch er schien sich verhältnismäßig gut wieder an sein Zuhause angepasst zu haben, also mochte es für ihn keine allzu interessante Option mehr sein, dorthin zurückzukehren.
Was natürlich eine gute Sache war. Gut für die Klinik. Und damit auch für die anderen Heiler und die Menschen in Anyueel. Er war der einzige ansässige Heiler, der in beiden Ländern ausgebildet worden und willens und fähig war, das Gelernte weiterzugeben.
Gleichzeitig jedoch hätte sie ihn aus egoistischen Gründen liebend gerne mit nach Takhan genommen – vorausgesetzt, sie entschied sich tatsächlich dafür, dort zu bleiben. Aber um sie ging es hier nicht. Wenn Vern sich entschloss, in Anyueel zu bleiben, weil ihn das glücklich machte und gleichzeitig jeder außer ihr selbst davon profitierte, musste sie das nicht nur akzeptieren, sondern ihn sogar dazu ermutigen.
Sie warf ihren Kopf zurück und schluckte den Rest des Tees, den er ihr aufgebrüht hatte. Es war nun ohnehin Zeit aufzubrechen.
“Vielen Dank, dass du dir ein wenig Zeit für mich genommen hast”, meinte sie und stand auf. “Jetzt muss ich los. Da gibt es noch etwas im Palast, das ich erledigen muss.”
Das Klopfen an der Tür ließ beide aufblicken.
“Erwartest du jemanden?”, fragte sie. Vern empfing kaum jemals Gäste in seinem Quartier. Er zog es vor, selbst Besuche abzustatten.
Vern schüttelte den Kopf. “Nein, nicht wirklich.” Er stand ebenfalls auf, um die Tür zu öffnen.
Alles in Eryn verspannte sich, als sie Junar und Téa im Türrahmen stehen sah. Téa, die ihrer Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit widmete, sah nur Vern und begann aufgeregt auf ihn einzureden. Ihre Mutter jedoch bemerkte Eryn sofort. Und das Lächeln, das sich gerade auf ihrem Gesicht beim Anblick des Sohns ihres Gefährten ausbreiten wollte, erstarrte noch bevor es zu voller Blüte gelangt war. Ihre Miene steckte nun in einem seltsamen Ausdruck zwischen Freude und Betroffenheit fest, unklar, welcher Richtung sie den Vorzug geben sollte.
Eryn verspürte Ärger in sich aufsteigen. Das war das erste Mal, dass sie einander seit diesem unangenehmen Tag bei den Docks begegneten, und alles, was sie fertigbrachten, war einander anzusehen als wären sie in irgendeinen Alptraum gestolpert. Das war lächerlich! Sie waren erwachsene Frauen – und Freundinnen! Nun, zumindest theoretisch. Jetzt gerade verhielten sie sich beide eher, als wären sie Kinder – und Feindinnen.
Die Schneiderin riss sich am Riemen, und ihre Lippen verzogen sich zu einem höflichen Lächeln. “Eryn. Was für eine… angenehme Überraschung.” Dann konzentrierte sie sich auf Vern, der noch immer das Ziel des aufgeregten Geplappers ihrer Tochter war. “Ich war auf dem Heimweg, nachdem ich Téa von der Schule abgeholt habe, und wollte dich nur einladen, morgen mit uns zu Abend zu essen. Dein Vater hat erwähnt, dass er dich schon seit einer Weile nicht mehr gesehen hat.” Ihr Blick sprang für einen Sekundenbruchteil zu Eryn, als wollte sie sagen, dass er anscheinend keine Zeit für seinen Vater hatte, offensichtlich wohl aber für Eryn.
Eryn mahlte mit den Zähnen.
“Möchtet ihr hereinkommen? Der Tee ist schon fertig”, bot er an. Zwar war er sich der Spannung gewahr, wollte aber keinesfalls seine Manieren darunter leiden lassen.
“Nein, nein, tatsächlich sind wir in Eile”, murmelte Junar. Gerade, als sie nach der Hand ihrer Tochter greifen wollte, zog Téa sie schmollend fort.
Mit dieser so ungelegen kommenden Ehrlichkeit, die sie zuweilen an den Tag legte, zog sie eine Schnute. “Aber du hast gesagt, ich kann Vern all die neuen Dinge in meinem Übungsbuch zeigen!” Sie ignorierte den Wunsch ihrer Mutter aufzubrechen, wandte sich wieder ihrem älteren Bruder zu und strahlte ihn an. “Ich kann jetzt schon sehr lange und schwierige Wörter aufschreiben! Und…”
“Das kannst du ihm morgen Abend zeigen, wenn er uns besucht”, beharrte Junar, ihr Ton alles andere als sanft. Zu spät wurde ihr klar, dass Vern die Einladung noch nicht angenommen hatte. “Natürlich immer vorausgesetzt, du kommst.”
“Sicher, ich werde da sein.”
Eryn entschied sich, diesem Schwachsinn ein Ende zu bereiten. “Sei nicht lächerlich, Junar. Komm herein und setz dich, so wie du es Téa offensichtlich versprochen hast. Ich wollte ohnehin gerade gehen. Also musst du keine einzige Minute im gleichen Raum mit mir verbringen, wo das scheinbar für dich solch eine Zumutung bedeutet.” Ihr Ton war eisig, herausfordernd.
Junar wirkte leicht verlegen ob der Tatsache, dass sie beim Lügen erwischt worden war, und als lächerlich bezeichnet zu werden sagte ihr ebenfalls nicht zu. Sie versuchte ihr Unbehagen zu verbergen, vermochte es aber nicht wirklich.
“Das hat nichts mit dir zu tun”, hielt sie verzweifelt an ihrer Flunkerei fest. “Ich muss heute Abend noch ein Kleid fertigstellen und kann keine Zeit vertrödeln.”
Eryn lächelte kühl. “Dann macht meine Anwesenheit also keinerlei Unterschied für dich? Ich bin ungemein erleichtert, das zu hören.” Junars Verhalten entfachte weiteren Ärger in ihr. Diese Frau hatte kein Recht vorzugeben, dass die unbeholfene Situation in diesem Moment nicht ihre Schuld war! Sie sollte sich für die gehässigen Dinge, die sie auf dem Pier von sich gegeben hatte, entschuldigen! So behandelte man eine gute Freundin nicht!
Eine weitere Stimme in ihrem Kopf wies sie darauf hin, dass befreundet zu sein auch bedeutete, dass keine Entschuldigungen nötig sein sollten. Außerdem war eine Entschuldigung nichts, dass sich verlangen oder einfordern ließ, weil sie in diesem Fall kaum aufrichtig war. Vielleicht bedauerte Junar es auch gar nicht. Oder womöglich schämte sie sich so sehr für ihr eigenes Betragen und fürchtete sich vor einer Zurückweisung, wenn sie versuchte, sich Eryn zu nähern?
Aber was hieß das für sie und Junar? Nun, die Antwort darauf war recht offensichtlich. Eine von ihnen musste den ersten Schritt tun, und da Junar entweder unwillig oder unfähig dazu war, würde es Eryn zufallen, ihren Stolz zu überwinden und die Hand auszustrecken.
Sie hüstelte. “Junar, warum treffen wir uns nicht einmal an einem Abend, an dem du nicht beschäftigt bist, auf ein Getränk? Wie wäre es mit übermorgen? Oder dem Tag danach?”
Einen Moment lang schien die andere Frau zu erstarren, auf ihrem Gesicht ein Ausdruck von Überraschung und Beklommenheit. Eryn bemerkte, wie Vern kurz den Atem anhielt in Erwartung dessen, was nun kommen mochte, während seiner kleinen Schwester nicht einmal aufgefallen war, dass hier etwas nicht stimmte. Sie schnatterte einfach weiter, vollkommen blind gegenüber der angespannten Situation.
Dann hob Junar ihr Kinn und erwiderte förmlich: “Was für ein reizender Vorschlag. Bedauerlicherweise bin ich an den kommenden Abenden schon verabredet, aber warum melde ich mich nicht einfach bei dir?”
Selbst wenn Eryn Zweifel gehabt hätte, ob es sich hierbei um eine Zurückweisung handelte oder nicht, so hätte Verns Gesichtsausdruck ihr alles gesagt, was sie wissen musste. Junar erteilte ihr eine Abfuhr. Sie hatte keinerlei Interesse daran, irgendetwas mit Eryn zu bereden.
Eryn lächelte schwach. “Sicher. Warum nicht. Vern, danke für den zauberhaften Nachmittag.” Mit einem Nicken zu Junar hin strich sie Téa kurz über den Kopf und zwängte sich an den Besuchern, die noch immer im Türrahmen standen, vorbei.
Begierig darauf, von hier fortzukommen, eilte sie die Treppe hinab. Sie schob die bedrückenden Gedanken, ob das nun wirklich das Ende ihrer Freundschaft mit Junar war, beiseite. Es gab etwas Wichtigeres, um das sie sich kümmern musste, etwas, bei dem sie sich keine Ablenkung leisten konnte.
* * *
Auf ihrem Weg zu Palast verbannte Eryn alle Gedanken an Junar sowie die Mischung aus Bedauern und Groll, die sie auslösten, und lenkte sie stattdessen bewusst auf die Unterhaltung mit Enric in der vergangenen Nacht. Über ihr Einkommen. Enric hatte lediglich die Geschäfte aufgezählt, die recht umfassenden Grundbesitz benötigten, um gute Erträge zu erwirtschaften. Er hatte ihr erklärt, dass der Verlust eines größeren Teils davon ihr Einkommen schmälern würde. Das bezweifelte sie allerdings. Da war noch immer die Reederei, die Enric gegründet hatte, sobald der Handel mit den Westlichen Territorien etabliert war. Und der Handel mit Gütern, die er selbst herstellte und solchen, die er anderswo zukaufte. Zusätzlich erhielten sie beide noch ihre Bezahlung vom Orden. Und das waren lediglich ihre Einkunftsquellen auf dieser Seite des Meeres. Sie hatte zwar nicht wirklich einen Überblick, wo in Takhan Enric überall investiert hatte, doch sie wusste, dass er an einigen gemeinsamen Unternehmungen mit Haus Aren, Arbil und Vel’kim beteiligt war.
Alles in allem waren sie noch immer weit davon entfernt, irgendwelche Entbehrungen hinnehmen zu müssen. Selbst wenn ihr gesamtes Einkommen von einem Tag zum nächsten wegfiele, hatte Enric wahrscheinlich genug Gold auf Vorrat, um damit den Rest ihres Lebens komfortabel bestreiten zu können.
Warum also war sie dermaßen verstimmt über den Versuch, Enric etwas wegzunehmen, wovon er ohnehin nicht abhängig war? Besonders, da er sich die Schuld für den Verlust eines Teils davon grundsätzlich selbst zuzuschreiben hatte, weil er wie ein Jugendlicher seine kleinen Spiele mit dem König trieb um zu sehen, wie weit er gehen konnte?
Die Antwort kam prompt. Weil sie nicht ausgerechnet gegen Lord Woldarn eine Niederlage einstecken wollte. Wenn Enric etwas aufgeben musste, dann würde sie dafür sorgen, dass Lord Woldarn noch wesentlich mehr verlor. Enric hatte ihr von seiner Idee erzählt, wie man mit dem Mann verfahren konnte – immer vorausgesetzt, er war tatsächlich derjenige, der versuchte, Enric enteignen zu lassen. Es war brillant in seiner Grausamkeit. Enric hatte eine gewisse Begabung für derlei Dinge. Jeder würde wissen, dass es eine Bestrafung war, doch nur wenige – Lord Woldarns Vertraute – würden wissen, wofür. Allerdings würde es nach nichts anderem als einer simplen Entsendung aussehen. Vorausgesetzt, Tyront legte sich nicht quer.
Sie nickte den Torwachen vor dem Palast zu und betrat die riesige Halle mit den vielen Säulen, die die hohe Decke stützten. Dank Enrics Spionen wusste sie, dass sich der König und die Königin derzeit in einer Besprechung mit den Schatzmeistern des Königreichs befanden und somit für eine Weile beschäftigt waren. Sich der Informationen zu bedienen, die in einer Weise gesammelt wurden, für die sie nur Abscheu übrig hatte, war nichts, dem sie normalerweise zustimmte. Doch in diesem Fall ließen sie sich auf keinem anderen Weg beschaffen. Marrin, der für den Terminplan des königlichen Paares verantwortlich war, war zu erfahren und achtsam und würde sich nicht hereinlegen lassen, Dinge zu enthüllen, die unter Verschluss bleiben sollten.
Was der Grund war, weshalb sie ihn unvorbereitet erwischen musste. Dafür war es erforderlich, dass der König nicht in der Nähe war und somit nicht ersucht werden konnte, Eryns Behauptungen zu bestätigen.
Vor der Tür zum Arbeitszimmer des Königs blieb sie stehen. Oder eher Marrins Tür, da das Zimmer des Königs nur betreten werden konnte, indem man zuerst das seines Beraters durchquerte. Sie musste ruhig und entspannt wirken, nicht als führe sie etwas im Schilde und als wäre sie nervös, ob es funktionieren würde.
Sie klopfte und wartete auf die Erlaubnis zum Eintreten. Die kam prompt.
Im letzten Moment tauschte Eryn ihr Lächeln gegen eine Miene, die den üblichen Anflug an Missmut zeigte, wenn sie auf dem Weg zum König war. Eine ungewöhnlich fröhliche Stimmung mochte ihn misstrauisch machen.
“Guten Tag, Marrin. Ist er hier?”
Wie immer bei ihrem Anblick lächelte der ältere Mann. “Lady Eryn, welch unerwartetes Vergnügen. Nein, ich fürchte, derzeit ist er nicht verfügbar – und auch nicht in den nächsten paar Stunden.”
Sie stieß ein enttäuschtes Seufzen aus. “Das ist bedauerlich. Er hat mir versprochen, dass er mir die Nachricht zeigt, in der er angehalten wird, etwas gegen Enrics Grundbesitz zu unternehmen. Ich hätte wohl zuerst einen Termin vereinbaren sollen um sicherzugehen, dass er hier ist und Zeit für mich hat. Nun, ich schätze, das lässt sich nicht ändern.” Sie ließ sich in einen Sessel neben Marrins Schreibtisch fallen. “Wie ergeht es dir so, Marrin?”
Er lehnte sich zurück und signalisierte damit, dass er bereit war, ein wenig zu plaudern. “Beschäftigt, wie Ihr Euch wohl vorstellen könnt. Vorbereitungen für den bevorstehenden Krieg. Die großen Entscheidungen werden natürlich von Seiner Majestät und dem Orden getroffen, aber jemand muss auch sicherstellen, dass sie tatsächlich umgesetzt werden. Das erfordert Planung und das Autorisieren von Auszahlungen.”
Eryn lachte. “Ah ja, die Magie, die im Hintergrund passiert – all das, was niemand sieht und was somit nicht als wichtig geschätzt wird.”
Marrin zuckte mit den Schultern. “Seine Majestät sieht es.”
“Und ich bin zuversichtlich, dass er dich so schätzt, wie er es sollte. Er ist recht schlau.”
Der ältere Mann zog eine Augenbraue hoch. “Manche würden ihn sogar ein Genie nennen.”
Sie winkte ab. “Ich nicht. Du weißt, wie sehr ich es hasse, ihm Komplimente zu machen.”
“Das weiß ich in der Tat. Doch die Tatsache, dass Ihr gewisse Dinge nicht aussprechen wollt, macht sie nicht weniger wahr.”
“Das mag der Fall sein, doch andere Dinge sind Konstrukte unserer Vorstellungskraft und werden erst dadurch Wirklichkeit, dass wir sie aussprechen.”
Mit einem Lachen und einem Kopfschütteln verschränkte Marrin die Finger über seinem Bauch. “Wie ich sehe, wagen wir uns in höchst philosophisches Terrain vor.”
Eryn seufzte und stand wieder auf. “Ich würde diese Diskussion mit dir liebend gerne fortsetzen, doch leider muss ich Vedric nun von der Schule abholen. Ich nehme an, es besteht keinerlei Chance, dass du mich einen Blick auf den Brief werfen lassen könntest, ohne bei Seiner Majestät die Bestätigung einzuholen?”, fragte sie. Ihre Stimme klang resigniert, als hätte sie keinerlei Hoffnung, dass er ihr diesen winzigen, bescheidenen Gefallen erweisen möge.
Einen Augenblick lang wirkte der Berater des Königs unentschlossen. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens sah er sie wieder an. “Seine Majestät hat Euch ausdrücklich versprochen, Euch die Nachricht zu zeigen?”
Bedacht darauf, nicht allzu nachdrücklich zuzustimmen oder sich durch zu viele Details zu verraten, nickte sie nur.
“Worum ging es darin noch einmal?”, fragte er und tat, als wüsste er nicht ganz genau, welche Nachricht es war. Offensichtlich wollte er testen, ob sie tatsächlich von dem Brief wusste oder nur im Trüben fischte.
“Die Nachricht setzt König Folrin davon in Kenntnis, dass Enrics Grundbesitz das gesetzlich erlaubte Höchstmaß überschreitet. Der Absender ist…” Sie hielt kurz inne. Im Moment hatte sie nichts als einen starken Verdacht, wer der Autor war. Das bedeutete, sie konnte sich irren. Sie musste einen Hinweis geben, ohne sich auf eine einzelne Person zu konzentrieren. Da der Brief das Ergebnis von Informationen war, die von Spionen gesammelt wurden, musste es jemand Wohlhabender sein. Und da Enric und sie das Ziel waren, deutete das ziemlich sicher auf ein Ratsmitglied hin. “…ein gewisser Lord, dessen Namen ich nicht nennen will, da die Wände hier Ohren haben”, schloss sie vage.
Marrin nickte langsam. “Ja, von der Nachricht weiß ich.” Er spitzte die Lippen. “Und seine Majestät wollte, dass Ihr sie zu Gesicht bekommt?”
Sie hob die Schultern. “Nun, nicht aus eigenem Antrieb. Ich wollte sie sehen. Er gewährte mir lediglich die Erlaubnis, einen raschen Blick darauf zu werfen.”
Der Mann seufzte ausgiebig und bückte sich, um aus einem niedrigen Regal hinter ihm eine Akte hervorzuziehen. Er platzierte sie auf seinem Tisch, dann öffnete er den Deckel.
Eryns Augen fanden sofort das ordentliche Stück teuren, cremefarbenen Papiers ganz oben.
“Ich werde mich hier drüben um meine eigenen Angelegenheiten kümmern und bis zehn zählen”, verkündete Marrin und gab vor, sich zu beschäftigen, indem er irgendwelche Bücher verstaute.
Begierig trat sie näher an den Tisch und beugte sich über das Blatt, ohne es zu berühren. Das Erste, was sie las, war der Name ganz unten. Lord Woldarn. Es war nicht schwer zu erraten gewesen, da er ihr wahrscheinlichster Verdächtiger war. Doch Maßnahmen wie die, die Enric vorgeschlagen hatte, erforderten absolute Gewissheit über die Identität des Mannes. Und diese Gewissheit hatte sie nun. Ihre Augen zuckten über die wenigen Zeilen. In wortreichen Sätzen brachte das Ratsmitglied seine Sorge über Lord Enrics vollkommene und unverhohlene Missachtung der Gesetze des Königreichs und damit des Königs zum Ausdruck. Er schrieb, dass er es als seine Pflicht als Bürger erachtete, auf etwas hinzuweisen, dass ebenso gut nichts weiter als ein Versehen eines Kollegen sein mochte, der so viel Zeit in einem anderen Land verbrachte, dass er die Übersicht verlor, wie viel er besaß. Dennoch wollte er aber auch auf die Risiken aufmerksam machen, falls es mehr als nur ein bloßes Versehen war und sich um einen dreisten Versuch handelte, den König herauszufordern.
Eryns Zähne knirschten. Lord Woldarns Fähigkeit zur Manipulation war in etwa so subtil wie ein Vorschlaghammer.
Gerade als Marrin mit seiner vorgetäuschten Geschäftigkeit fertig war, trat sie zurück. Er schloss den Deckel der Akte wieder und verstaute sie, wo er sie herausgezogen hatte.
Mit einem erleichterten Nicken lächelte sie den Mann an, dankbar für seine Hilfe – und gleichzeitig fühlte sie sich schlecht, weil sie ihn ausgetrickst hatte. Der König würde ihm deswegen keinen Vorwurf machen, oder?
Mit einem Winken zum Abschied trat sie zur Tür, zögerte dann aber. Sie fühlte sich wirklich schuldig. Langsam drehte sie sich um und entschied, ihn zumindest zu warnen indem sie ihn wissen ließ, dass er sich gerade übertölpeln hatte lassen.
“Weißt du”, meinte sie langsam, “es war schon einmal schwieriger, dich in die Irre zu führen.”
Zu ihrer Überraschung durchlebte Marrin keinerlei Moment der Erkenntnis gefolgt von einem schweren Schock, sondern grinste lediglich. “Oh, das ist es im Allgemeinen auch. Heute jedoch wurde ich explizit angewiesen, besonders leichtgläubig zu sein. So sehr, dass sogar eine dermaßen unbeholfene Lügnerin wie Ihr selbst eine Chance hat.”
Eryn blinzelte und starrte ihn einen Moment lang an. Dann ließ sie den Atem entweichen. “Er wusste, dass ich kommen würde. Verdammt soll er sein! Ist er überhaupt wirklich fort?”, fragte sie und nickte zu seiner Tür.
Marrin zuckte mit den Schultern, amüsiert über ihren Unmut, nachdem sie herausgefunden hatte, dass sie nicht so gewitzt war wie sie gedacht hatte. “Möglicherweise. Nun fort mit Euch, Lady Eryn, und holt Euren Sohn ab. Was allerdings interessant ist, denn laut meinen Informationen ist der Unterricht für die erste Klasse heute bereits seit zwei Stunden vorüber.”
Eryn knirschte mit den Zähnen und schlüpfte in den Korridor hinaus. Nun streute er auch noch Salz in die Wunde.
* * *
Enric versuchte, das Gefühl von Widerwillen, das er von Eryn durch das Geistesband empfing, zu ignorieren. Die Ratsversammlung war nun schon seit zwei Stunden im Gange, und sie waren mit Tyront übereingekommen, dass Eryns Bekanntgabe von Lord Woldarns unmittelbarer Zukunft den Abschluss bilden würde.
Es bedurfte keiner aufwändigen Überzeugungsarbeit, damit Tyront dem von Enric angeregten Vorgehen zustimmte. Er sah die Notwendigkeit für eine entschiedene Maßnahme so klar wie auch sein Stellvertreter. Bis zu einem gewissen Grad wusste auch Eryn, dass es nötig war, allerdings nur auf intellektueller Ebene, keinesfalls auf emotionaler. Noch immer betrachtete sie die Bestrafung als wesentlich härter als es die Taten des Mannes rechtfertigten.
Alles in allem war es bislang eine fruchtbare Versammlung gewesen, sinnierte Enric. Sie hatten Entscheidungen getroffen, wie mit mehreren essentiellen Maßnahmen hinsichtlich der Vorbereitung auf den Krieg fortzufahren war. Eine Gruppe Magier sollte schon am nächsten Tag losgeschickt werden, nach oben in den Norden zu den Bergen, die die natürliche Grenze zwischen Anyueel und Pirinkar bildete. Mit der neu erlangten Fähigkeit zum Verformen von Gesteinsadern sollten sie in der Lage sein herauszufinden, wie gut sich das Gebirge tatsächlich durchqueren ließ – besonders im Hinblick darauf, dass sich die magische Barriere aus dem Meer irgendwie durch den Fels fortsetzen mochte.
“Wir müssen auf jeden Fall Wachposten platzieren”, beharrte Orrin. “Sollte eine magische Barriere tatsächlich der Grund sein, weshalb sich die Berge bislang jedem Versuch sie zu überwinden widersetzt haben, würde das ein vollkommen neues Problem darstellen. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie versiert die Loman Ergen im Umgang mit magischen Barrieren sind. Bislang mögen sie noch keinen Grund dafür gesehen haben, die Barriere zu bearbeiten, wenn wir einmal davon ausgehen, dass sie dazu in der Lage wären. Doch Etor Gart würde diese Fähigkeit ohne Zweifel für sich zu nutzen wissen.”
“Wenn wir allerdings keine Spur einer magischen Barriere finden, wären Außenposten vollkommen unnötig”, warf Lord Seagon ein. “Die Berge wären dann für sie ein natürliches Hindernis – ebenso wie für uns. Ich bin überzeugt, dass wir andernfalls bereits vor langer Zeit Besucher aus Pirinkar hier auf unserer Seite der Berge gehabt hätten.”
“Suchtrupps aus den Westlichen Territorien haben unser Land mehrere Jahre lang auf der Suche nach Lady Eryn durchstreift, ohne dass man sie jemals bemerkt hat”, widersprach Enric. “Was bedeutet, wir könnten ebenso unfähig gewesen sein, irgendwelche gut verkleideten Besucher von der anderen Seite der Berge zu entdecken.”
Orrin nickte und fügte hinzu: “Außerdem wissen wir nicht, ob unter den Loman Ergen jemand die Fertigkeit besitzt, in der Lady Eryn uns erst kürzlich unterwiesen hat. Womöglich sind sie ebenfalls in der Lage, Gesteinsschichten zu verformen und können somit massive Felsformationen aus dem Weg räumen so wie wir das nun vermögen.”
Eryn räusperte sich. “Ich würde sogar nahelegen, dass wir von dieser Annahme ausgehen. Zu hoffen, dass niemand von ihnen eine Fertigkeit besitzt, die ich ohne großen Aufwand entdeckt habe, wäre grob fahrlässig. Ich stimme Lord Orrin zu – wir sollten genügend Beobachtungsposten einrichten, um die Berge im Auge behalten zu können.”
Lord Seagon runzelte die Stirn. “Das würde eine Menge Männer erfordern, da wir uns nicht einfach darauf beschränkten könnten, ein paar Pässe zu beobachten, sondern die gesamte Länge des Gebirgszugs im Auge behalten müssten. Sie könnten praktisch überall einen Durchgang erschaffen. Wir haben gerade eine respektable Anzahl unserer Magier in die Westlichen Territorien entsandt, also sind unsere Leute bereits recht dünn gesät.”
“Das ist richtig”, stimmte Enric zu. “Aus diesem Grund würde ich vorwiegend Soldaten ohne Magie in den Norden auf Beobachtungsposten schicken. Zusätzlich schlage ich vor, dass Seine Majestät so viele Jäger wie möglich in die Armee einberuft und sie gemeinsam mit den Soldaten losschickt. Sie sind in der Kunst der Tarnung bewandert, haben Ahnung vom Fährtenlesen und kennen sich in den Wäldern aus.”
“Ich werde Seiner Majestät gegenüber eine entsprechende Empfehlung aussprechen, sobald wir hier fertig sind”, versprach Tyront und vermerkte es auf dem Blatt Papier vor sich. Er sah Eryn direkt an und forderte sie so wortlos dazu auf, das Wort zu ergreifen.
Sie schluckte und hüstelte. “Eine Sache wäre da noch. Wir haben eine Gruppe von Ordensmagiern und ein paar Soldaten aus Takhan oben beim Gebirgspass zwischen den Westlichen Territorien und Pirinkar stationiert. Soweit ich im Bilde bin, befinden sich darunter keine erfahrenen höherrangigen Magier, die moralische Unterstützung leisten und als Beispiel an Stärke und Ruhe dienen sollten, falls es dort wahrhaftig zu einem Angriff käme.”
Abgesehen von ein paar wenigen Auserwählten, die wussten, was nun kam, reagierten die anwesenden Ratsmitglieder darauf entweder mit gerunzelten Stirnen oder hochgezogenen Brauen. Darunter auch Orrin. Er war nicht darüber informiert worden, was gleich verfügt werden würde.
“Ihr schlagt doch wohl nicht vor, dass jemand von uns dort hingehen und an der Grenze Wache stehen soll, oder etwa doch?”, kam eine skeptische Stimme. “Jeder Einzelne von uns ist sicherlich hier, wo wir in der Position sind, strategische Entscheidungen zu treffen, nützlicher als dort oben mitten im Nirgendwo.”
“Dem widerspreche ich”, entgegnete Eryn, genau wie sie es vorbereitet hatte. “Diese Leute mitten im Nirgendwo, wie Ihr es nennt, sind direkt an der Front und werden es sehr wahrscheinlich als Erste erfahren, wenn der Feind sich zu einem Angriff entscheidet. Sie müssen in einer geistigen Verfassung sein, das zu tun, was von ihnen erwartet wird – nämlich die Vögel nach Takhan freizulassen. Sollten sie in Panik verfallen und das nicht schaffen oder überrannt werden, bevor sie die Käfige erreichen, könnte das die Gefahr erhöhen, dass Takhan fällt.”
“Ich verstehe”, erwiderte Lord Woldarn, “Somit meldet Ihr Euch also freiwillig dafür, dorthin zu gehen? Ihr denkt, Ihr wärt in der Lage, etwas zu bewirken, um das Desaster abzuwenden, den Soldaten als Inspiration zu dienen und dann als Heldin zurückzukehren? Ich will zugeben, dass Eure Magie ungewöhnlich stark ausgeprägt sein mag, doch das ist kaum eine Garantie dafür, dass Ihr einen kühlen Kopf bewahren oder als taugliches Vorbild dienen könnt. Ihr seid keinesfalls die Anführerin, für die Ihr Euch haltet.”
Eryn seufzte. Er machte es ihr viel zu leicht. “Oh, ich würde solche Vorzüge niemals ungebührlich für mich selbst beanspruchen. Und ich bin sehr froh darüber, dass Ihr und ich darin übereinstimmen, dass eine Person mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen als meinen eigenen und natürlich mit wesentlich mehr Erfahrung eine ideale Wahl für diese noble Aufgabe wäre.” Sie pausierte kurz, nahm einen tiefen Atemzug und verkündete: “Ich beantrage die Entsendung von Lord Woldarn, der sich der Herausforderung offensichtlich bewusst ist und jedenfalls über sämtliche erforderlichen Qualifikationen verfügt.”
Stille trat ein.
Enric wartete einige Herzschläge lang und ließ die Aussage einsinken. Dann nickte er. “Ich stimme zu. Ein ranghohes Ratsmitglied zu senden, das sicherstellt, dass sich dieser wichtige Außenposten in fähigen Händen befindet, wird ein mächtiges Zeichen unseres Einsatzes sein. Es wird das Vertrauen unserer Verbündeten in uns stärken. Und für diesen Einsatz kann ich mir niemand passenderen als Lord Woldarn vorstellen. Außer es gibt sonst noch jemanden, der sich freiwillig dafür melden möchte?” Genau wie er es erwartet hatte, wurde keine einzige Hand gehoben. Niemand wollte in die Wüste entsandt werden, einen Gebirgspass bewachen und sehr wahrscheinlich das erste Ziel sein, das angegriffen werden würde.
Er ignorierte Orrins stechenden Blick. Der Krieger hegte unverkennbar den Verdacht, dass hier mehr vor sich ging als es den Anschein hatte.
Lord Woldarns Gesicht hatte alle Farbe verloren. Sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals, doch bevor er es schaffte, ein einziges Wort hervorzubringen, sprach Tyront.
“Dann ist diese Angelegenheit entschieden. Lord Woldarn, Ihr werdet Euch darauf vorbereiten, in drei Tagen die Reise zum nördlichsten Außenposten der Westlichen Territorien anzutreten. Der Rat wird selbstverständlich zu Eurer Verfügung stehen, solltet Ihr Unterstützung benötigen, um Eure Angelegenheiten zu ordnen. Ich weiß, das ist kurzfristig, doch wie Ihr zustimmen werdet, haben wir keine Zeit zu verlieren. Botschafter Ram’kel wird Euch sicher gerne beraten hinsichtlich passender Kleidung, die Ihr in diesem ungewohnten Klima unter Eurer Robe tragen könnt.” Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die anderen im Saal. Die meisten von ihnen waren schockiert, doch einige von ihnen blickten von Eryn zu Lord Woldarn und vermuteten eindeutig, dass er für etwas bestraft wurde – und zwar mit aller Strenge. Niemand erhob Einspruch, keiner wollte zwischen die drei höchsten Ordensmagier und das Ziel ihres vereinten Zorns geraten.
“Damit ist die heutige Versammlung beendet”, verkündete der Anführer des Ordens schließlich. Lord Woldarns einzige Reaktion bestand darin, Lord Tyront in ultimativem Unglauben anzustarren.
Die anderen Magier beeilten sich, die Ratshalle zu verlassen. Orrin wirkte als wäre er viel lieber noch geblieben und hätte ein paar Antworten eingefordert, doch ein Blick in Enrics Gesicht legte ihm nahe, sich noch eine Weile in Geduld zu üben und zu gehen.
Enric, Eryn und Tyront blieben zurück bei Lord Woldarn, der nun in kurzen, keuchenden Zügen atmete. Sie warteten.
Nach einigen Minuten hob Lord Woldarn seine zitternde Hand und richtete seinen Zeigefinger auf Eryn. Zuerst war seine Stimme schwach, gewann aber an Stärke mit jedem Wort, das er von sich gab. “Ihr! Das wart Ihr! Ihr wollt, dass ich in der Wüste abgeschlachtet werde! Ihr habt Angst vor mir! Genau das denken die anderen Ratsmitglieder jedes Mal, wenn ich aufzeige, dass Ihr falsch liegt! Ihr wisst, dass sie Euch nicht respektieren, und anstatt Euch ihren Respekt zu verdienen, versucht Ihr die eine Person loszuwerden, die mutig genug ist, Euch ständig in Erinnerung zu rufen, dass Ihr keinen Platz unter uns verdient, dass Ihr nichts weiter als ein Emporkömmling…”
“Genug”, unterbrach Enric streng. Dieser arme, verblendete Narr. Er dachte wahrhaftig, dass seine abfälligen Bemerkungen und hinterhältigen Versuche ihr zu schaden irgendetwas mit Mut zu tun hatten? Und wie war es möglich, dass er nicht bemerkt hatte, dass sogar Lord Seagon, der Eryn gegenüber mehr als skeptisch gewesen war, ihr nun mit dem Respekt begegnete, den ihr Rang und vor allem ihre Fähigkeiten verdienten? Natürlich, Lord Seagon stellte ihre Argumente in Frage, jedoch auf fachgemäße Weise ohne den Versuch, ihren Ruf oder ihre Glaubwürdigkeit zu zerstören.
Eryn war einfach nur dagestanden und hatte sich die Anschuldigungen schweigend angehört. Sie sah den Mann, der noch vor einigen Sekunden kreidebleich gewesen war, nur an. Mittlerweile war sein Gesicht stark gerötet.
Lord Woldarn wandte sich Enric zu. “Natürlich steht Ihr bei Fuß und bellt jeden an, der es wagt, seine Stimme gegen sie zu erheben, so wie der armselige Hund, der Ihr seid!”
Langsam erhob sich Tyront von seinem Platz, seine Handflächen auf dem ovalen Tisch vor sich abgestützt. Seine Miene strahlte eine tödliche Ruhe aus.
“Und ich, mein Lord? Was ist es, das Ihr mir zu sagen habt, weil ich die Idee Eurer Entsendung unterstützt habe?”
Lord Woldarn öffnete seinen Mund, doch die leise Drohung in der Haltung seines Vorgesetzten und dessen frostiger Blick schienen ihn überdenken zu lassen, ob es weise war, sein Gift in diese spezielle Richtung zu versprühen.
Als keine Antwort kam, fuhr Tyront fort: “Ihr wisst, weshalb Ihr derjenige seid, der dorthin entsandt wird, Lord Woldarn. Ihr habt nun schon seit langer Zeit mit dem Feuer gespielt. Ihr habt Eure Vorgesetzten beleidigt und hinter ihrem Rücken Ränke geschmiedet… Was dachtet Ihr, wozu das schlussendlich führen würde? Dass man Lady Eryn aus dem Rat entfernt, da Ihr behauptet, niemand darin würde sie respektieren? Ihr habt ihre Autorität offen untergraben, und diese Entsendung ist der Preis, den Ihr dafür bezahlen werdet. Der Gedanke dahinter ist nicht, Euch in den Tod zu schicken, Lord Woldarn. Der Orden schickt niemanden absichtlich in den sicheren Tod. Noch nicht einmal jene, die Insubordination in einem so umfangreichen Ausmaß betrieben haben wir Ihr selbst. Das hier ist als bedeutende Unbequemlichkeit für Euch gedacht – aber gleichzeitig auch als Chance, Euch wieder etwas Respekt zu verdienen. Entgegen dem, was Ihr zu glauben scheint, Lord Woldarn, war es nicht Lady Eryn, die den Respekt Eurer Kollegen verloren hat, sondern Ihr. Ganz im Gegenteil – ihre Zurückhaltung wurde entweder bewundert oder als übertrieben erachtet.” Er richtete sich auf zum Signal, dass seine nächsten Worte die Angelegenheit hier abschließen würden. “Ihr könnt selbstverständlich eine Beschwerde einreichen. Doch ich kann Euch versprechen, dass diese lediglich zur Kenntnis genommen, aber nicht zu einem Zurückziehen des Befehls, den Ihr erhalten habt, führen wird. Einen guten Tag auch, Lord Woldarn. Ich vertraue darauf, dass Ihr Euren Eid an den König ehren und bei der Verteidigung seines Königreichs Eure Pflicht tun werdet.”
Tyront wandte sich vom Tisch ab, an dem Lord Woldarn saß, als hätte ihn der Blitz getroffen. Er gab seiner Nummer zwei und drei ein Zeichen, damit sie ihm aus der Ratshalle hinaus folgten. Zumindest konnten sie ihrem Kollegen ein wenig Privatsphäre gönnen, während er mit seiner Verzweiflung rang.
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