„Bindungen“ – Der Orden: Buch 2

„Bindungen“ – Der Orden: Buch 2

Kapitel 1

Pläne

Tyront warf dem jüngeren Mann gegenüber einen Blick zu und brachte die volle, leicht ergrauende Mähne mit seinem nachsichtigen Kopfschütteln zum Tanzen. “Du warst in den letzten Tagen sehr gut gelaunt. Das hat nicht zufällig etwas mit der Abreise eines gewissen Botschafters zu tun?”, lachte er leise.

Enric lächelte schwach und streckte seine langen Beine aus, bevor er seine Knöchel überkreuzte. “Willst du damit andeuten, ich würde die großartigen Chancen, die der Besuch der Delegation dem Königreich eröffnet, nicht schätzen? Das würde bedeuten, dass meine Gesinnung eher unpatriotisch wäre.”

“Nein, mein Junge, ich will damit nur sagen, dass du erleichtert bist, dass er nicht länger versuchen kann, deine Gefährtin von dir wegzulocken.”

Die durchdringenden blauen Augen des jüngeren Mannes verengten sich missbilligend. “Du denkst also, ich hätte befürchtet, er wäre schlussendlich erfolgreich gewesen?”

“Vielleicht hätte er es nicht geschafft, sie wegzulocken, aber womöglich sehr wohl, sie von hier wegzubringen. Ich bezweifle, dass sie freiwillig von hier fortgegangen wäre. Du scheinst ihr ans Herz gewachsen zu sein. Mir ist aufgefallen, dass sie jetzt wesentlich entspannter ist, wenn du sie berührst.”

“Ja, das ist sie. Und das war harte Arbeit. Ich habe sie mehr oder weniger mürbe gemacht”, antwortete Enric mit einem trägen Lächeln, froh darüber, dass sich die Unterhaltung nicht länger um den Botschafter drehte.

Tyront grinste. “Wie hinterhältig. Was führt sie derzeit im Schilde? Das Heilergebäude ist noch nicht fertig, also kann sie dort derzeit weder heilen noch unterrichten. Weißt du, ob sie den jungen Rolan bereits kontaktiert hat?”

“Sie hat erwähnt, dass sie über eine Expedition zum Unterweisen der Kräutersammler nachdenkt. Sie will ihnen beibringen, nach welchen Pflanzen sie suchen sollen, wo sie zu finden sind und wie man damit umgeht, nachdem man sie gefunden hat. Sie wird ihren Assistenten womöglich anweisen, sich diesbezüglich um ein paar organisatorische Angelegenheiten zu kümmern.”

“Du wirkst von dieser Idee nicht allzu begeistert. Ich persönlich denke, dass es eine sinnvolle Verwendung ihrer Zeit wäre, bis sie mit der Nutzung des Gebäudes beginnen kann.”

Enric seufzte. “Ja, ich weiß. Allerdings passt mir der Gedanke, dass sie die Stadt mit einem Haufen Fremder für einige Tage verlässt, ganz und gar nicht. Ich habe angedeutet, dass ich sie begleiten könnte, aber sie hat es als Scherz abgetan und nur gelacht.” Er schüttelte den Kopf. “Könnte ich mit einer offiziellen Anordnung dafür sorgen, dass sie hierbleibt? Würdest du mich dabei unterstützen? Es würde immerhin bedeuten, dass sie ihr Kampftraining und ihre Studien für einige Zeit vernachlässigt.”

Tyront sah ihn ungläubig an. “Soll das dein Ernst sein? Ich kann dich bei so einer Sache nicht unterstützen. Und ich würde sagen, es ist gut, wenn du sie zur Abwechslung etwas allein machen lässt. Sie ist eine fähige junge Frau. Es wird Zeit für sie, etwas anzupacken, ohne dass du ständig bereitstehst, um alles geradezubiegen, das schiefgeht. Oder du sogar von vorneherein verhinderst, dass etwas schiefläuft.”

“Ich tue nichts dergleichen”, erwiderte Enric in dem vollen Bewusstsein, dass er es doch tat.

“Ach nein? Und was ist mit den Magiern, die du zur Baustelle ihres Gebäudes geschickt hast, um sicherzugehen, dass es rechtzeitig fertig wird? Und mit den Verhandlungen mit den Apothekern, zu denen du sie begleiten wolltest?” Tyronts Augen verengten sich. “Ist es möglich, dass du versuchst, ihr zu zeigen, dass sich ihre Erfolgschancen erhöhen, wenn du in der Nähe bist? Kann es sein, dass du tatsächlich so verzweifelt bist?”

Der jüngere Magier wirkte leicht gereizt. “Warst nicht du derjenige, der gepredigt hat, dass ein Anführer auch gleichzeitig ein Mentor sein sollte?”

“Was du betreibst, hat nichts mit der Aufgabe eines Mentors zu tun. Es dient lediglich deinen eigenen persönlichen Zielen anstatt denen deines Protegés”, antwortete der ältere Mann mit hochgezogenen Brauen.

“Das klingt für mich, als wärst du dafür, dass sie etwas ohne meine Hilfe zuwege bringt. Und du wirst ihr somit auch die Erlaubnis für ihre Kräutersammlerexpedition erteilen.”

“Ja. Wenn die Details halbwegs vernünftig sind, werde ich ihr keine Steine in den Weg legen”, sagte er. “Auch wenn es dir fast das Herz bricht, ein paar Tage auf sie verzichten zu müssen.”

“Wie nett. Zuerst drangsalierst du mich jahrelang, damit ich mir endlich ein nettes Mädchen suche, und wenn ich es dann tue, verspottest du mich, weil ich an ihr hänge.” Enric schüttelte den Kopf. “Mir hätte klar sein sollen, dass man es dir nicht recht machen kann.”

Tyront lächelte. “Ich bin sehr zufrieden, glaube mir. Dass du dich in sie verliebt hast, war ein Glücksfall für uns alle. Aber es tröstet mich zu sehen, dass sie dich auf Trab hält. Ein Mann in deiner Position hat eine Menge gefügiger Frauen zur Auswahl. Somit ist die Versuchung, eine auszuwählen, die dir jeden Wunsch von den Augen abliest, auf jeden Fall da. Aber auf lange Sicht ist eine weniger fügsame Partnerin stimulierender.”

“Ja, ich wette, das ist die eine Sache, an der es mir wahrscheinlich niemals mangeln wird: Stimulation”, sagte Enric mit einem schiefen Grinsen. Dann wurde er wieder ernst. “Wie sieht es mit dem Bericht über die Ergebnisse der Verhandlungen mit der Delegation aus? Hat Marrin ihn schon übermittelt? Ich freue mich schon darauf, ihn zu lesen. Ich bin neugierig, worauf man sich geeinigt hat. Warum genau nochmal war der Orden nicht an den Gesprächen beteiligt?”

“Weil es vorwiegend um Handelsangelegenheiten ging, und das ist keiner der Fach- oder Verantwortungsbereiche des Ordens.”

“Ah ja, die Krieger werden nur eingeladen, wenn die Handelsgespräche fehlschlagen und wir ihnen die Köpfe einschlagen sollen”, erwiderte Enric säuerlich.

“Sieh dich nur an… Es steckt also doch ein wenig von deinem Vater in dir. Verspürst du den Drang, zu deinen Wurzeln zurückzukehren – ein Kaufmann zu sein und Verträge auszuhandeln?”

Der jüngere Mann verzog das Gesicht bei der Erwähnung seines Vaters. “Kaum. Sag mir bloß nicht, dass du glücklich darüber bist, dass wir außen vor gelassen wurden? Es gibt wertvolles Wissen über Magie in den Westlichen Territorien, also sehe ich nicht ein, warum wir nicht berechtigt waren, an den Verhandlungen teilzunehmen.”

“Ich denke, du überschätzt den Fortschritt und die Tiefe der Gespräche. Es ging größtenteils darum, eine vorläufige Handels- und Nachrichtenstruktur zu etablieren, Informationen über verfügbare Handelsgüter auszutauschen sowie einen Wechselkurs für die Währungen festzulegen.”

Enric grinste. “Sie haben es also nicht wirklich geschafft, dich ganz auszuschließen, nicht wahr?” Er lehnte sich nach vorne. “Ich frage mich, wer dein Informant ist. Aber das wirst du mir natürlich nicht sagen.”

Tyront hob seine Schultern. “Natürlich nicht. Geh und such dir deine eigenen Agenten in nützlichen Positionen.”

Als es an der Tür klopfte, blickten sie auf. Ein Diener überreichte seinem Herrn eine gefaltete Nachricht. Der ältere Mann drehte sie um und warf einen Blick auf das Siegel.

“Ah, ja. Ich sehe, dass Eryn endlich ihr eigenes Siegel hat.” Einige Sekunden lang betrachtete er die geschwungenen Linien, die ein elegantes Ornament formten. “Interessant. Es erinnert mich an dein eigenes, was wohl kaum ein Zufall ist, wie ich vermute.”

“Nein, keineswegs. Ich habe Vern entsprechend instruiert, und er hat in Rekordzeit ein Design geliefert. Sehr nützlich, der Junge. Wir sollten ihn wirklich im Auge behalten. Ich schätze, sie hat dir die Anfrage für ihre Expedition geschickt?”

Tyront öffnete das Siegel, las und nickte kurz darauf. “Ja, in der Tat. Sie erbittet für zehn Tage Verpflegung für sich selbst, eine weitere Person und fünfzehn Kräutersammler.”

“Eine weitere Person?”

“Ja. Es scheint, als würde sie den jungen Vern mitnehmen wollen, damit er Zeichnungen für Dokumentationszwecke anfertigt. Sie erwähnt, dass sie ein Buch mit Anweisungen schreiben will, für das diese unverzichtbar wären.” Er warf einen Blick auf ein zweites Blatt Papier, das beigefügt war. “Sie hat sogar einen von Orrin unterzeichneten Brief mitgeschickt, in dem er zustimmt, seinen Sohn für die Dauer der Expedition in ihre Obhut zu übergeben. Ich mag diese kleinen Zeichen der Achtsamkeit.” Er las den Brief erneut. “Seltsam, sie hat keine Diener für die Reise angefordert. Ich gehe nicht davon aus, dass sie beabsichtigt, für all diese Leute jeden Abend das Lager vorzubereiten und zu kochen. Also werde ich zwei weitere Leute bewilligen, die sich darum kümmern.”

Enric lächelte, als ihm eine Idee kam. “Schick Plia, das Waisenmädchen aus der Küche, mit. Eryn hatte in den letzten Wochen kaum Gelegenheit, Zeit mit ihr zu verbringen, und ich weiß, dass sie sich deswegen schlecht fühlt.”

“Plia, das Küchenmädchen, geht in Ordnung.” Tyront machte sich eine Notiz. “Irgendwelche Vorlieben bezüglich der zweiten Person?”

“Nein, nicht wirklich. Aber es sollte jemand sein, der schwer heben kann und kein Problem damit hat, die Befehle einer Frau zu befolgen.”

“Nun, letzteres würde dich ohnehin ausschließen”, sagte Tyront mit einem dünnen Lächeln. “Ich habe immerhin Jahre gebraucht, bis du Befehle vom König angenommen hast. Siehst du? Es wäre vollkommen sinnlos, wenn du sie begleiten würdest.”

* * *

Eryn klopfte an die Tür zu Orrins Quartier und lächelte, als Junar öffnete.

“Hallo. Ich laufe dir hier in letzter Zeit immer öfter über den Weg. Warum machst du dir überhaupt noch die Mühe, nach Hause zu gehen?”, grinste sie.

“Weil ich eine unabhängige Frau mit meinem eigenen Einkommen bin und meinem Liebhaber nicht auf der Tasche liegen will – deshalb”, erklärte Junar mit gespieltem Hochmut.

“Liebhaber.” Eryn schüttelte den Kopf, zog eine Grimasse und betrachtete die zierliche Frau vor sich, deren Erscheinungsbild in ihrem fließenden Kleid so viel weiblicher war als der nüchterne Stil, den sie selbst bevorzugte: Hose und Tunika und eilig geflochtene Haare, die ihren Rücken hinabhingen. “Ich habe noch immer Probleme damit, Orrin mit diesem Begriff in Verbindung zu bringen.”

“Gut”, sagte die Schneiderin. “Ich würde auch nicht wollen, dass du auf diese Weise an ihn denkst.”

“Da besteht keine Gefahr, Süße. Er gehört ganz dir. Ist der Sechzehnjährige meines Herzens in der Nähe? Ich habe gute Nachrichten für ihn.”

“Er ist in seinem Zimmer mit seiner Nase in einem Buch. So wie immer, wenn er nicht gerade irgendeinen Körperteil zeichnet, den kein normaler Mensch identifizieren kann. Sei vorsichtig mit diesem Monster, das du mitgebracht hast. Es hat ein garstiges Gemüt.”

Eryn runzelte die Stirn. “Monster? Meinst du den Kater, den ich hergebracht habe, damit er übt, wie man Weichteilgewebe repariert? Er ist noch immer hier? Warum? Er sagte mir, dass er ihn nur noch füttern und dann wieder freilassen wollte. Das war vor mehr als einer Woche!”

Junar nickte ernst. “Ja, das war der ursprüngliche Plan. Aber irgendwie hat es die Bestie geschafft, Vern einer Gehirnwäsche zu unterziehen, sodass er sie jetzt behält. Sie schläft jetzt in seinem Bett, isst übriggebliebenes Fleisch und pinkelt auf alles, was irgendwie teuer aussieht.”

“Meine Güte”, sagte Eryn und verzog mitleidig das Gesicht. Sie fühlte sich ein wenig schuldig. “Soll ich mit ihm darüber reden?”

Junar seufzte. “Nein, das ist Orrins Problem, also soll er sich darum kümmern. Sein Sohn, sein Quartier, seine Verantwortung. Allerdings befürchte ich, dass irgendwann kein Diener mehr einwilligen wird, sein Quartier zu reinigen. Stinkende, nasse, tropfende Gegenstände wegzuräumen oder vom Verursacher attackiert zu werden, ist kaum ein Anreiz, hier zu arbeiten.”

Eryn biss sich auf die Lippe. “Und jetzt ist der Kater in seinem Zimmer? Wohin ich gehen soll?”

“Du hast ihn eingefangen, also weißt du offensichtlich, wie du mit ihm umgehen musst. Und du kannst dich mit einem Schild schützen. Worin genau liegt die Gefahr für dich?”

“Nun, ihn einzufangen war nicht wirklich eine Angelegenheit, die für mich mit großer persönlicher Gefahr verbunden war”, gab sie zu. “Ich habe ihn im Grunde betäubt und über meiner Schulter hergetragen. Er könnte sich daran erinnern und sich an mir rächen.”

Junar warf ihr einen spöttischen Blick zu. “Du hast den Kater mit Magie ausgeschaltet, um ihn zu fangen? Das war wahrlich ein heroischer Akt. Es ist ja nicht so, als wärst du um ein Vielfaches größer als die arme Kreatur.”

“Geh du einmal da hinaus und versuch, eines dieser durchtriebenen Biester mit deinen nackten Händen zu fangen, dann reden wir weiter”, schoss Eryn zurück. “Die haben Krallen. Und Zähne. Und sind blitzschnell. Hab ich die Krallen erwähnt? Wahrhaftige Dolche, sage ich dir. Und plötzlich ist es eine arme Kreatur? Vor einer Minute hast du noch von einem Monster gesprochen!”

“Sagt die Frau, die sich selbst sofort heilen kann. Ich habe noch nichts gehört, das deine Angst, dort hineinzugehen, rechtfertigen würde. Also ab mit dir. Sonst muss ich dich an deinem Ohr hineinziehen”, grinste die Schneiderin.

Eryn richtete sich auf. “In Ordnung. Ich fürchte mich nicht vor einem Kater. Ich fürchte mich nicht vor einem Kater. Ich kann ihn wieder betäuben, falls nötig…” Sie klopfte an Verns Tür und öffnete sie, als er etwas Unverständliches grummelte.

Er war über ein Buch auf seinem Schreibtisch gebeugt, und die Spitzen seiner zu langen Stirnfransen berührten fast das Papier. Der enorme, rote Kater war auf seinem Bett zusammengerollt und öffnete bei ihrem Eintreten ein Auge. Seine Schwanzspitze zuckte in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung, versprach aber dennoch Schmerzen, falls eine sorglose Person sich unangemessene Freiheiten herausnahm – wie beispielsweise, ihm zu nahe zu kommen.

“Gute Nachrichten”, kündigte sie vergnügt an. “Die Expedition ist bewilligt worden! In nicht mehr als drei Wochen brechen wir zu zehn Tagen Wildnis und Kräutersammeln auf!”

Vern blickte auf, blinzelte ein paarmal, um die Welt der Hautkrankheiten hinter sich zu lassen und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

“Das ist großartig”, grinste er dann. “Ich hätte nicht gedacht, dass dich Lord Enric wirklich fortgehen lässt.”

“Was soll das denn heißen?” schnaubte sie entrüstet. “Ich bin eine erwachsene Frau und eine wichtige Person in diesem verfluchten Orden. Natürlich lässt er mich gehen!” Sie erwähnte nicht, dass Enric mehrmals versucht hatte, sie davon abzubringen, angedeutet hatte, sie begleiten zu wollen und sehr wahrscheinlich Agenten angeheuert hatte, um sie im Auge zu behalten. Das würde bedeuten, dass Vern Recht hatte, und das wäre einfach nicht richtig. Wenngleich das grundsätzlich der Fall war.

“Wann reisen wir nochmal ab?”, fragte der Junge und rieb sich die Hände.

“In drei Wochen. Es ist vorher noch einiges zu planen, und ich schätze, das ist eine gute Gelegenheit für meinen neuen Assistenten, um mit seiner Arbeit zu beginnen. Auch wenn das offiziell erst in ein paar Wochen geplant war. Aber ich denke, es ist eine gute Idee, jemanden hier zu haben, der sich um die Dinge kümmert, solange ich weg bin. Ich werde ihm also schonend beibringen, dass er früher als geplant starten muss. Er wird begeistert sein”, fügte sie trocken hinzu.

Vern grinste breit. “Hey, wenn du ihn nicht wieder dorthin trittst, wo es am meisten wehtut, habt ihr einen besseren Start als beim letzten Mal.”

“Großartig. Warum genau nehme ich dich nochmal mit, damit ich dich dann den ganzen Tag um mich habe?”

“Weil du jemanden brauchst, der gut zeichnen kann. Und es scheint, als wären meine Fähigkeiten in der Stadt beispiellos”, erwiderte er selbstgefällig.

“Ja, genau. Ich wusste, dass es einen guten Grund geben muss, warum ich willens bin, mir das anzutun.”

“Würdest du lieber Rolan mitnehmen? Er könnte eine Doppelfunktion als dein Diener übernehmen”, meinte der Junge mit einem boshaften Grinsen.

“Halt die Klappe oder du wirst die Doppelfunktion als mein Diener übernehmen”, drohte sie sanft. “Das würde Plias Arbeit zweifellos erleichtern.”

“Plia kommt auch mit?”, lächelte Vern. “Wunderbar. Es wird nett sein, zumindest ein freundliches weibliches Gesicht dabeizuhaben.”

“Willst du damit sagen, dass mein Gesicht nicht freundlich ist?”

“Ernsthaft, wirfst du nach dem Aufstehen niemals einen Blick in den Spiegel? Ich frage mich, wie Lord Enric das aushält.”

Sie sah ihn an und seufzte. “Weißt du, ich beginne mich zu fragen, wie schwer Zeichnen wirklich sein kann. Vielleicht könnte ich es innerhalb von drei Wochen erlernen.”

“Nur zu, versuch es”, grinste er. “Du wirst zu mir zurückkehren und mich auf Knien anflehen, dich zu begleiten.”

Sie seufzte. “Ja, wahrscheinlich.” Als sie sich anschickte, sich auf sein Bett zu setzen, warnte sie ein leises Knurren, das lieber noch einmal zu überdenken. “Warum ist der Kater noch immer hier? Ich dachte, du wolltest ihn nach dem Aufwachen nur füttern, um dein schlechtes Gewissen zu beruhigen und ihn dann wieder loswerden? Er sieht ziemlich wild aus. Hat er schon jemanden gefressen?”

Vern sah verletzt aus. “Ram’an, so etwas würdest du niemals tun, nicht wahr?”, gurrte er und liebkoste den Kater hinter einem Ohr, ohne dabei gebissen, gekratzt oder sonst irgendwie verletzt zu werden.

Eryn zog eine Braue hoch. “Du hast den Kater nach dem Botschafter benannt? Wirklich? Das ist schräg, sogar für deine Verhältnisse.”

“Warum? Ich mag den Botschafter. Ich weiß, dass du irgendeine Auseinandersetzung mit ihm hattest, aber das ist geklärt, oder? Es ist also nicht illoyal von mir, wenn ich seinen Namen für den Kater verwende.”

Sie seufzte. “Nein, nicht wirklich. Ich bin nur verwundert darüber, dass du ihn behalten hast. Ich meine, er ist ein Straßenkater, und Junar hat erwähnt, dass er herumpinkelt.”

“Das ist eine krasse Übertreibung. Das war nur, weil Ram’an keine Toilette hatte.”

“Und jetzt hat er eine?”

“Ja, er hat eine Kiste mit Sägespänen. Und er benutzt sie auch. Er pinkelt nur auf Vaters Schuhe, wenn er aufgebracht ist.”

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. “Ich muss wirklich vorsichtiger sein, was ich für deinen Unterricht verwende. Wenn ich dich anweise ein Pferd zu heilen, wird das dann auch in deinem Zimmer landen? Und wer soll sich um diese Bestie kümmern, während du auf der Expedition bist? Wenn er andere Leute ebenso freundlich behandelt wie mich, wird sich ihm niemand nähern wollen.”

“Ach, das ist kein Problem”, winkte Vern ab. “Er braucht nur zweimal pro Tag sein Futter und seine Kiste einmal pro Tag gereinigt. Die Diener können das machen. Er schläft meistens, also wird er niemanden belästigen. Es ist allerdings schade, dass wir im ersten Stock sind. Er kann so nicht durch das Fenster hinaus und wieder herein.”

“Hast du es versucht?”

“Habe ich was versucht?”

“Das Fenster offenzulassen, du Genie. Darunter ist ein Vorsprung, der um das gesamte Gebäude herum verläuft. Er könnte einen Weg hinunter und wieder herauf finden. Du wärst erstaunt, was manche dieser kleinen Kerle zuwege bringen.”

Vern betrachtete den Kater zweifelnd. “Ich weiß nicht. Er könnte weglaufen und nie wieder zurückkehren.”

Kaum, dachte Eryn. Warum sollte er zwei Mahlzeiten am Tag und einen warmen Schlafplatz aufgeben? Aber sie sagte stattdessen: “Du würdest ihn doch nicht hier festhalten wollen, wenn er nicht bleiben will, oder? Ich muss dir wohl kaum sagen, was ich davon halte, jemanden gefangen zu halten, oder doch?”

Er seufzte. “In Ordnung. Ich werde es versuchen. Ich verspreche es.”

Gut, dachte sie. Mit ein wenig Glück würde der Kater den Weg zurück nach oben nicht mehr finden, und Orrin würde ihr irgendwann die tierischen Attacken auf seine Schuhe verzeihen.

“So, ich muss jetzt los, um meinen neuen Assistenten zu finden.” Sie pflasterte ein breites, künstliches Lächeln auf ihr Gesicht. “Das wird so ein Spaß.”

* * *

Sie fragte sich, was wohl der beste Ort war, um Rolan zu treffen. In ihrem Quartier? Nicht gut, sie hatte dort nicht wirklich ein Arbeitszimmer. Und das von Enric zu benutzen, war absolut keine Option. Obwohl sie wusste, dass er es ihr mehr als bereitwillig zur Verfügung stellen würde, fühlte es sich einfach nicht richtig an. Der Salon war zu formlos, und das Gästezimmer war nicht mehr als eine Sammlung von Büchern und Dokumenten. Sie würden auf dem Bett sitzen müssen, und das war alles andere als angemessen.

Was für ein Ärgernis, dass das Heilergebäude noch nicht fertig war. Sie entschied, dass sie Lord Tyront fragen würde, ob sie einen der Besprechungsräume, den der Orden zur Verfügung hatte, benutzen konnte. Das war offiziell – vielleicht ein wenig zu sehr – aber dagegen ließ sich derzeit nichts machen.

Sie zog ein Blatt Papier und einen Stift heran und kritzelte eine schnelle Notiz. Dann verschloss sie sie mit ihrem neuen Siegel und wies den Boten an, nach der Zustellung auf eine Antwort zu warten. Falls Lord Tyront gerade zuhause war, sollte es nur ein paar Minuten dauern, bis sie ihre Antwort hatte; ihre Quartiere waren nicht besonders weit voneinander entfernt.

Sie griff nach einem weiteren Blatt und begann, eine Nachricht an Rolan zu verfassen, um ihn zu sich zu rufen. Sie überlegte, was die beste Art war, das zu tun. Es wie eine Einladung zu formulieren, würde schwach wirken. Ein Befehl wäre wohl etwas harsch. Eine Bitte? Aber das würde die Möglichkeit einer Weigerung offen lassen, nicht wahr? Sie entschied sich schließlich, es wie einen Befehl, der es im Prinzip war, zu formulieren.

Ein Klopfen an der Tür brachte Lord Tyronts Antwort, in der er sie wissen ließ, dass es ihr freistand, jeden Besprechungsraum zu nutzen, den sie jetzt und in Zukunft für welchen Zweck auch immer als dienlich erachtete. Das war praktisch. Sie entschied sich, den Raum zu verwenden, den sie für ihre Verhandlungen mit den Apothekern kannte. Zumindest war er einfach zu finden.

Sie stellte die Nachricht an Rolan fertig. Sie instruierte ihn, sie in einer Stunde zu treffen und Stift und Papier mitzubringen, da dies sein erster Arbeitstag als ihr Assistent sein würde.

Es wäre eine Erleichterung, ihn den Großteil der Arbeit in Verbindung mit der Expedition erledigen zu lassen. Enric hatte sie wenig subtil darauf hingewiesen, dass er von ihr erwartete, dass sie einiges an Studien und Kampftraining, das sie vermissen würde, vorab erledigte. Das bedeutete noch mehr Stunden des Lesens und des Kämpfens zusätzlich zu ihren Heilerstunden mit Vern.

Aber sie war gewillt, das in Kauf zu nehmen für die Chance, zum ersten Mal seit zehn Monaten der beengten Stadt zu entfliehen. Sie hatte beinahe ihr ganzes Leben lang zwischen Bäumen gelebt, Kräuter gesammelt, in Teichen und Flüssen gebadet. Und nun war sie seit einiger Zeit schon auf einen Ort beschränkt, wo es nicht mehr als ein paar magere Bäume gab und einen Fluss, mit dem sie lieber keinen Kontakt riskieren wollte. Zumindest nicht mit dem Stück in und flussabwärts der Stadt. Wieder wirkliche Erde unter ihren Füßen zu spüren, das Rauschen des Windes in den Blättern über sich zu hören… Andererseits… mit sechzehn Männern im Freien zu schlafen, keine Sanitärräume, den Elementen ausgeliefert, ergänzte ein anderer Teil in ihr und wurde ärgerlich zum Schweigen gebracht.

Es schien, als hätte sie sich an den Luxus des Lebens in der Stadt gewöhnt, überlegte sie. Vielleicht war es höchste Zeit, wieder mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, sich daran zu erinnern, dass es im Leben nicht nur um weiche Betten, reichliche Frühstückstabletts und heiße Bäder ging.

* * *

Sie wandte sich von dem hohen Fenster ab, als das laute Klopfen an der Tür durch das geräumige Besprechungszimmer mit der gewölbten Decke und dem ovalen Tisch mit den sechs unbequem aussehenden Stühlen hallte. Ein Diener öffnete die Tür, verbeugte sich und kündigte Rolan an.

Wie sie erwartet hatte, wirkte er nicht allzu erfreut darüber, ihr wieder zu begegnen. Ob das daran lag, dass er so unversehens herzitiert worden war oder an seiner neuen Position im Allgemeinen, konnte sie nicht sagen. Aber sie hatte sich das hier ebenfalls nicht ausgesucht, also würden sie beide sich wohl irgendwie damit arrangieren müssen. Sie war älter, weiser und damit reifer und bekleidete einen höheren Rang. Somit war sie wahrscheinlich diejenige, die dafür Sorge tragen musste, dass dies irgendwie funktionierte.

“Lady Eryn”, sagte er förmlich und verbeugte sich, als der Diener sie allein gelassen hatte. Er trug die übliche braune Robe der Magier. Seine blonden Haare reichten bis zu seinem Kragen und waren hinter seine Ohren zurückgestreift. Seine Haltung war steif, womöglich wegen seines Unmuts über seine neue Position, und er vermied den Blickkontakt mit Eryn, so gut er es vermochte. Er machte sich nicht die Mühe, die Tatsache zu verbergen, dass ihm das Treffen mit ihr keinerlei Vergnügen bereitete, sondern eine Störung war, die er zu erdulden hatte.

Er war zweiundzwanzig Jahre alt, überlegte sie. Nur sechs Jahre älter als Vern, aber wesentlich weiter fortgeschritten, was Zynismus und Missbilligung betraf. Nun, zumindest im Hinblick auf Missbilligung. Für einen Jungen seines Alters war Vern ungewöhnlich zynisch und sarkastisch.

“Rolan.” Sie nickte ihm zu, kam näher und bedeutete ihm, Platz zu nehmen, während sie selbst vorerst stehenbleiben würde. Sollte sie ihm dafür danken, dass er gekommen war? Es war nicht so, als hätte er in dieser Angelegenheit wirklich eine Wahl gehabt. Ihm zu danken, würde womöglich wie Spott wirken.

“Ich schätze es, dass du so kurzfristig gekommen bist”, sagte sie und entschied, dass es richtig klang. “Du wurdest darüber informiert, dass wir unsere Zusammenarbeit in ein paar Wochen beginnen sollten. Es hat sich aber bereits jetzt etwas ergeben, wo ich deine Hilfe benötige. Ich hoffe, das bereitet dir keine allzu großen Unannehmlichkeiten.”

“Nein”, erwiderte er steif und fand es offensichtlich immens unangenehm, hier sitzen zu müssen.

“Gut”, quittierte sie mit einem dünnen Lächeln. “Ich sehe, dass du Stift und Papier dabei hast.” Sie zeigte auf ihre eigenen Zettel, die sie mitgebracht hatte und schob sie auf dem Tisch in seine Richtung. “Die erste Aufgabe, bei der ich deine Unterstützung benötige, ist die Planung einer Expedition, die in drei Wochen losgehen soll. Ihr Zweck ist es, die…”

“Eine Expedition?”, unterbrach sie der junge Mann und legte die Stirn in Falten. “Ich habe keine Ahnung, wie man eine Expedition plant! Was soll ich denn da machen?”

“Zuerst einmal wirst du den Mund halten und mir zuhören, wenn ich rede”, erwiderte sie harsch. “Du könntest immerhin etwas Nützliches dabei lernen.”

Sie sah, wie er seine Lippen zu einer dünnen Linie zusammenpresste. Fabelhaft. Ihn zu rügen war definitiv kein guter Start.

“Wie ich dir gerade zu erklären versucht habe”, fuhr sie fort, “ist der Zweck dieser Expedition, die Kräutersammler zu unterrichten, wo man Pflanzen für Medizin und medizinische Behandlungen findet und wie man damit umgeht. Ich habe bereits mit ein paar von ihnen gesprochen und eine zehntägige Route festgelegt.” Sie beugte sich vor, hob ein Blatt hoch und schob es zu ihm. “Die blaue Linie auf dieser Karte zeigt den Weg, den ich festgelegt habe. Ich will, dass du das an dich nimmst und eine Akte mit allen für diese Reise erforderlichen Informationen zusammenstellst. Lass von allem eine Kopie anfertigen, damit jeder von uns beiden eine vollständige Version hat.”

Er zog das Papier an sich und betrachtete es mit einem Stirnrunzeln. “Das ist kompletter Unsinn.”

“Wie bitte?”, sagte sie eisig mit auf den Rücken gelegten Händen und wartete darauf, dass er aufsah.

“Bei den meisten der Plätze, die Ihr markiert habt, ist keinerlei Unterkunft in der Nähe. Wo habt Ihr denn die Nachtquartiere geplant?”

“Wir werden im Wald ein Lager errichten, Stadtjunge. Und wir müssen daran arbeiten, wie du deine Einwände künftig auf eine respektvollere Art und Weise kundtust”, fügte sie hinzu und stöhnte innerlich. Das klang sehr stark nach jemandem, den sie ständig beleidigt hatte. War sie dabei, sich in eine weibliche Version von Tyront zu verwandeln? Sicher nicht!

“Lass mich das anders ausdrücken”, sagte sie zuckersüß und beugte sich zu ihm hinab, während sie ihre Handflächen auf dem glatten, polierten Holz der Tischplatte abstützte. “Wenn du jemals wieder irgendetwas, das ich sage, als Unsinn bezeichnest, werde ich deinen jämmerlichen Hintern von hier bis zum Meer treten. Habe ich mich klar ausgedrückt?” Sie lächelte, als er nach einem Moment des Zögerns nickte. Gut. Das hatte sich schon viel eher nach ihr selbst angefühlt.

“Ausgezeichnet. Zurück du den Lagern. Da wir die meiste Zeit nicht in Tavernen bleiben werden, brauchen wir Zelte, länger haltbare Lebensmittel sowie Kochutensilien und vernünftige Kleidung für die Reise durch den Wald. Für die Nächte brauchen wir auch warme Decken. Es wird bereits wärmer, aber der Winter ist noch nicht vollständig vorbei. Zumindest sollten wir keinen Schnee haben. Hoffe ich.”

Sie sah zu, wie er die Punkte, die sie aufgezählt hatte, auf seinem Notizblock vermerkte und wartete, bis er fertig war. Dann setzte sie fort: “Dann brauchen wir Ausrüstung für das Verarbeiten und Aufbewahren der Kräuter. Ich habe hier schon eine Liste vorbereitet.”

Er nahm das zweite Blatt Papier wortlos in Empfang, betrachtete es und schnitt dann eine Grimasse.

“Was ist jetzt? Stimmst du meiner Auswahl nicht zu? Dann gehe ich davon aus, dass du über weitreichende Fachkenntnisse betreffend die Verarbeitung von Heilkräutern verfügen musst, um das beurteilen zu können?”, sagte sie mit scharfer Stimme und verschränkte die Arme.

Rolan warf ihr einen verärgerten Blick zu. “Dazu kann ich nichts sagen. Eure Handschrift zu entziffern, ist eine ziemliche Herausforderung. Oder ist das die Art, wie man in den Westlichen Territorien zu schreiben pflegt? In diesem Fall würde ich Eure Ladyschaft gnädigst um eine Übersetzung bitten.”

Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Das war witzig gewesen, aber sie konnte es nicht wirklich zugeben. Sie schüttelte ihren Kopf und spitzte die Lippen. “Dann werden wir dich wohl an meine Handschrift gewöhnen müssen.” Sie schenkte ihm ein boshaftes Lächeln. “Oder, falls du einen Ansatz vorziehst, der für deine armen Augen weniger belastend wäre, kannst du auch ständig hinter mir herlaufen und mein Diktat aufnehmen. Würde dir das nicht einiges an Aufwand ersparen?”

Er schluckte, und sie konnte sein Unbehagen bei dem Gedanken, überall für jeden sichtbar mit einem Notizblock hinter ihr her zu trotten, deutlich auf seinem Gesicht erkennen.

“Ich denke, ich werde es noch einmal mit der Liste versuchen”, versicherte er ihr eilig.

“Gut, darauf hatte ich gehofft”, nickte Eryn und kehrte dann zu den Gegenständen für die Expedition zurück. „Wir benötigen genug Papier und Tinte zum Zeichnen für Vern. Und etwas, worin wir seine Arbeiten hinterher aufbewahren können, ohne dass sie zerreißen, nass werden oder sonst irgendwelchen Schaden nehmen. Ich bin noch nie mit Büchern oder Dokumenten gereist, du wirst dir hier also etwas überlegen müssen.”

Sie ging ein paar Schritte und murmelte dann mehr zu sich selbst: “Habe ich noch etwas vergessen?”

“Waffen”, erwiderte Rolan prompt.

Sie drehte sich mit einem Stirnrunzeln zu ihm um. “Was? Das ist kein Raubzug, sondern eine Expedition zur Ausbildung von Kräutersammlern! Oder schlägst du vor, dass wir ein paar Dörfer plündern und niederbrennen, wenn wir schon dabei sind?”

Er rollte ungeduldig mit den Augen. “Und was ist, wenn Ihr überfallen oder angegriffen werdet? Werdet Ihr einfach nur einen großen, starken Schild um alle herum errichten und warten, dass Eure Angreifer so lange darauf einschlagen, bis sie außer Atem sind?”

“Wir reden hier über Kräutersammler, nicht schlachtgestählte Krieger! Sie würden sich sehr wahrscheinlich mit einer scharfen Klinge, die länger als ein Kräutersammlermesser ist, nur selbst verletzen.”

“Und Eure Waffen, Lady Eryn? Oder beabsichtigt Ihr, hier völlig unbewaffnet abzureisen? Und ohne jemanden, der weiß, wie man ein Schwert benutzt? Werdet Ihr allein eine Gruppe von siebzehn Leuten beschützen, falls nötig? Nach gerade einmal zehn Monaten Kampftraining?” Er kämpfte sichtbar um Gelassenheit. “Nun, das sollte meine Position wohl bald überflüssig machen.”

“Hey!”, rief sie fassungslos aus. “Ich wäre dir dankbar, wenn du hier nicht verfrüht mein vorzeitiges Ableben planen würdest!”

“Fiele mir im Traum nicht ein”, murrte er missmutig und gab vor, etwas aufzuschreiben. “Gibt es sonst noch etwas, oder kann ich gehen?”

“Nein, das ist alles von meiner Seite. Für den Moment. Ich erwarte regelmäßige Statusberichte über deinen Fortschritt. Wenn ich nichts von dir höre, werde ich kommen und dich finden. Und dich zum Reden bringen.” Sie lächelte süffisant. “Nimm den leichten Weg und informier mich einfach, ja?”

Er starrte sie ein paar Augenblicke lang an, dann verbeugte er sich und zog sich hastig zurück.

Eryn ließ sich auf einen Stuhl fallen und spürte, wie die Anspannung, jetzt, wo Rolan weg war, aus ihrem Körper wich. Das war nicht so schlecht gelaufen, nicht wahr? Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass das Treffen harmonisch ablaufen würde. Nicht wenn beide Seiten unwillig waren zusammenzuarbeiten und sich nicht die Mühe machten, das zu verbergen. Aber zumindest war er hier mit einem klaren Arbeitsauftrag abgezogen, richtig? Sie seufzte. Hoffentlich würde er zumindest ein paar der Sachen erledigen, damit sie sich nicht um alles allein kümmern musste.

* * *

“Guten Tag”, grüßte Enric sie von einem der Sofas aus und legte sein Buch zur Seite, als sie den Salon betrat. “Wie ist dein Treffen mit Rolan gelaufen?”

Sie seufzte. “Wie kommt es, dass du darüber Bescheid weißt? Mir war nicht einmal bewusst, dass du heute irgendeine Verabredung mit Lord Tyront hattest.”

“Hatte ich nicht wirklich. Zumindest nichts Offizielles. Er hat mir bei unserem gemeinsamen Mittagessen erzählt, dass du einen Ort für ein Treffen mit deinem Assistenten benötigst.”

“Wenn ihr also keinen arbeitsbezogenen Grund habt, euch zu sehen, esst ihr gemeinsam?” Sie schüttelte den Kopf.

“Nicht vom Thema abweichen. Erzähl mir von Rolan. Ist es gut gelaufen?”

“Oh, ja. Fabelhaft. Er ist ein richtiger Schatz. Ich würde ihn wirklich gerne adoptieren. Darf ich, bitte?”, bettelte sie mit gespieltem Eifer.

“Kaum”, lachte Enric leise. “Er ist nur fünf Jahre jünger als du, was bedeutet, dass er großjährig ist. Die Leute würden denken, dass du einfach nur deinen Liebhaber einziehen lassen willst.”

Sie zog eine Grimasse bei dem Gedanken an Rolan in ihrem Bett. “Nun, dann vielleicht lieber doch nicht.”

“Ich stimme zu. Es lief also nicht ganz so, wie du es dir erhofft hast?”, fragte er zum dritten Mal, entschlossen, nicht aufzugeben.

“Ich weiß es nicht.” Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa, ließ sich von ihm auf die Schläfe küssen und nahm einen Schluck von seiner Tasse auf dem Tisch. Enric spielte mit einer ihrer Haarsträhnen, zufrieden mit der gemütlichen, intimen Situation zwischen ihnen und wartete darauf, dass sie fortfuhr.

“Ich denke, es hätte schlimmer laufen können. Er hat den Raum nicht schreiend, sondern eher verhalten fluchend verlassen. Das ist ein gutes Zeichen, nicht wahr? Und ich habe ihn kein einziges Mal getreten, obwohl es ein paar Gelegenheiten gab, wo ich das wirklich wollte. Also würde ich sagen, dass ich große Zurückhaltung im Angesicht meiner neuen Herausforderung in Form meines sehr widerwilligen Assistenten gezeigt habe.”

“Ich bin so stolz”, schmunzelte Enric. “Erst vor kurzer Zeit warst du die Gefangene, und jetzt unterdrückst du bereits andere.”

Sie grinste. “Was soll ich sagen? Ich lerne offenbar schnell.” Dann biss sie sich auf die Unterlippe und dachte zurück an das, was Rolan gesagt hatte. “Denkst du, ich sollte Waffen auf die Expedition mitnehmen?”

“Auf jeden Fall”, antwortete er, ohne zu zögern. „Ich könnte mir vorstellen, dass du so ziemlich die einzige sein wirst, die weiß, wie man sie benutzt. Falls es also irgendwelche Probleme gibt, solltest du vorbereitet sein.”

„Aber ich bin eine Magierin! Warum sollte ich Schwerter benutzen?”

Enric starrte sie an. „Weil es sehr strenge Gesetze gibt, um mit Magiern zu verfahren, die ihre Kräfte gegen Nicht-Magier einsetzen.”

“Was? Aber genau das mache ich doch beim Heilen”, strich sie sachlich hervor.

“Du weißt, was ich meine. Die Regeln kommen zur Anwendung, wenn es um weniger freundschaftliche Zwischenfälle geht. Wie um einen Kampf.”

“Auch wenn es sich dabei um bloße Verteidigung handelt?”, fragte sie ungläubig.

“Das würdest du dann hinterher beweisen müssen. Wenn es auch nur den Schatten eines Zweifels gibt, wirst du für jeden Schaden, den du angerichtet hast, zur Rechenschaft gezogen. Der König muss zeigen, dass er uns unter Kontrolle hat, und aus deinen Studien der Geschichtsbücher sollte dir klar sein, weshalb. Es gab in der Vergangenheit ein paar… unangenehme Zwischenfälle mit abtrünnigen Magiern.” Er legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. “Was denkst du, weshalb wir wirklich Schwertkampf trainieren, Eryn? Wohl kaum, um uns gegen andere Magier zur Wehr zu setzen. Wir können so sicherstellen, dass wir uns gegen Nicht-Magier verteidigen können, da wir aufgrund der Gesetze sonst nicht in der Lage wären, einem Kampf standzuhalten.”

Eryn starrte ihn mit offenem Mund an. Dann stand sie auf und lief aufgebracht im Salon auf und ab. Sie warf die Hände frustriert und verärgert hoch. “Ich werde noch verrückt mit euch allen! Warum hat mir das in all diesen Monaten, in denen ihr mich zum Kampftraining gezwungen habt, nie jemand gesagt? Ich meine, diesen Grund hätte ich verstanden!”

“Was meinst du damit – niemand hat dir davon erzählt?”

Sie starrte an die Decke. “Genau was ich gesagt habe! Kein einziger von euch mächtigen Kriegern hat es der Mühe wert erachtet, mir mitzuteilen, warum ich das lernen musste! Es wäre nicht gar so eine Tortur gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass es einen berechtigten Grund dafür gibt! Ihr verfluchten Idioten, jeder einzelne von euch!”

Sie sah zu Enric hinab und verengte die Augen, als sie ihn lachen hörte. “Tyront hat dir das also nie gesagt? Und Orrin ebenfalls nicht? Aber du hast monatelang täglich mit ihm trainiert! Er hat nie erwähnt, warum?”

“Ich bin so froh, dass dich das erheitert! Ich sehe absolut nicht, was daran komisch sein soll. Und gib bloß nicht Orrin die Schuld! Du trainierst mich jetzt seit zwei Monaten – und hast du dir jemals die Mühe gemacht, etwas darüber zu sagen? Nein, das hast du nicht!”, rief sie aus.

“Das hätte ich, wenn mir bewusst gewesen wäre, dass es niemand sonst getan hat.”

“Wir hatten Diskussionen über dieses Thema! Ich habe dir gesagt, dass ich all dieses Kämpfen für eine Verschwendung von Zeit und Magie halte! Warum hast du da nichts gesagt?”

Er zuckte die Schultern. „Ich dachte, du wolltest einfach nur schwierig sein. Logische Argumente funktionieren kaum jemals, wenn jemand nur Dampf ablassen will.”

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich glaube das einfach nicht. Und ich habe das nur zufällig herausgefunden, weil ich nicht daran gedacht hätte, ein Schwert zur Expedition mitzunehmen. Stell dir vor, ich hätte mich während eines Angriffs mit Magie verteidigt! Ich hätte schwer bestraft werden können, ohne in diesem Moment zu wissen, dass ich das Gesetz breche!”

Enric wurde wieder ernst. “Ja, da ist die eine Sache, die gefährlich gewesen wäre.” Damals, während ihres Fluchtversuchs, als sie die Torwachen ausgeschaltet hatte, war sie nur deshalb damit durchgekommen, weil sie noch immer gefangen gewesen und es somit praktisch erwartet wurde, dass sie die Gesetze brach. Zudem war auch niemand wirklich zu Schaden gekommen. Also war man mehr als willens gewesen, sie damit davonkommen zu lassen – besonders, da sie zu der Zeit noch nicht an den Orden und dessen Regeln gebunden war.

“Ich verstehe, weshalb du verärgert bist. Und du hast Recht. Jemand hätte es dir sagen sollen. Du wärst also weniger widerspenstig gewesen, wenn dir klar gewesen wäre, dass der Grund für unser Kampftraining der Schutz der Nicht-Magier ist?”

“Natürlich! Ich hätte euch nicht so sehr gehasst dafür, dass ihr mich zwingt zu lernen, wie man Schaden zufügt, wenn mein Lebenszweck das Heilen, nicht das Verletzen von Menschen ist. Ich hätte akzeptiert, dass dies einfach ein Weg ist, um unnötige Verletzungen zu vermeiden.”

Er seufzte. “Es scheint, als hätten wir uns allen das Leben schwerer als nötig gemacht.” Dann lächelte er. “Stell dir vor, ich hätte dich so viel früher wieder in mein Bett bekommen können.”

Sie schnaubte. “Träum weiter, Schönling. Ich hätte dich nicht weniger gehasst, nachdem du mir ständig das Bewusstsein geraubt und den Schild meines Vaters in mir übernommen hast. Ohne deinen kleinen Trick, mich nach meinem Fluchtversuch in deinem Quartier einzusperren, hättest du mit deinem nächsten Versuch wohl bis zur nächsten Nacht der Ungezwungenheit warten müssen.”

Er lächelte selbstbewusst. “Nein, so lange hätte ich nicht gewartet, glaub mir. Nicht, nachdem ich dich an diesem Tag auf der Straße geküsst hatte. Das hat mich sehr eindrucksvoll daran erinnert, was mir gefehlt hat.”

Sie starrte ihn verwirrt an. “Wie sind wir jetzt bei diesem Thema gelandet? Ich bin noch immer böse mit dir, weil du mir nichts über die Gesetze gegen den Einsatz von Magie gegen Nicht-Magier gesagt hast.” Sie seufzte und warf ihm einen verärgerten Blick zu. “Es ist eine ziemliche Herausforderung, mit dir über etwas zu reden, bei dem du dich nicht wohl fühlst. Du bringst mich ständig vom Thema ab.”

“Nicht besonders effektiv, wie es scheint”, bemerkte er. “Du schaffst es immer wieder, dazu zurückzukehren, mich zu tadeln.”

“Ja, genau. Als ob das wirklich einen Unterschied machen würde. Was soll ich denn jetzt machen? Im Alleingang mit einem Schwert Horden von Angreifern abwehren? Ist es mir überhaupt gestattet, mich mit einem Schild zu schützen?” Ihre Gedanken sprangen zurück zu dem Vorfall, als sie Plia zum ersten Mal getroffen und sie mit einem Schild vor den Steine werfenden Rüpeln gerettet hatte.

“Ja, Schilde gehen in Ordnung. Man kann Leute nicht mit einem magischen Schild verletzen.” Er runzelte die Stirn. “Außer…”

“Außer was?”

“Außer du sperrst sie mit einer luftdichten Barriere ein und lässt sie ersticken.”

“Jetzt hör aber auf!”, rief sie aus. “Wer würde denn so etwas tun?”

“Du wärst überrascht was Menschen tun, wenn sie um ihre eigene oder die Sicherheit ihrer Lieben bangen”, sagte er ruhig. Er dachte daran, wie er sie bewusstlos auf dem Boden hatte liegen sehen, während die Apotheker in einer Ecke gekauert saßen. Sein eigenes Leben war damals keinerlei Gefahr ausgesetzt, aber er war willens gewesen, begierig sogar, ihnen wehzutun, sie vor Schmerzen zuckend zu Boden zu schicken. Hätte Tyront ihn nicht dann und dort aufgehalten, hätte wohl niemand sagen können, was passiert wäre.

Sie betrachtete ihn aufmerksam. “Das klingt, als hättest du persönliche Erfahrung mit dem Thema.”

“Sagen wir einfach, dass ich einmal recht nahe dran war, dieses spezielle Gesetz zu brechen”, sagte er und lächelte gezwungen.

“Es ist also in Ordnung, wenn ich mich mit einem Schild schütze, ohne meinen Angreifern Schaden zuzufügen. Dann sollte es auch möglich sein, den Rest der Expedition so zu schützen. Allerdings geht das nur, wenn sie nahe genug beieinanderstehen.”

“Grundsätzlich ja.”

“Wie sieht es damit aus, meine Geschwindigkeit und Stärke zu erhöhen, wenn ich gegen einen Nicht-Magier kämpfe? Ist das erlaubt?”

“Ja, das ist sogar empfehlenswert. Sonst hätte Orrin beim Training nicht solchen Wert auf diese Fertigkeiten gelegt. Du bist allerdings dazu aufgerufen, diesen erheblichen Vorteil dazu zu nutzen, deinen Angreifer nur zu entwaffnen und nicht zu töten. In diesem Fall hättest du dich immer noch zu rechtfertigen. Allerdings wäre es nicht ganz so problematisch wie im Fall eines Lochs in der Brust, das von einem Blitz verursacht wurde.”

Sie zuckte die Achseln. “Damit habe ich kein Problem. Ich bin nicht erpicht darauf, jemanden zu töten, weder mit Magie, noch mit meinen Händen.”

“Gut. Der Gedanke, dass du voller Blutdurst auf der Suche nach wehrloser Beute durch die Wälder streifst, hätte ein gewisses Unbehagen bei mir verursacht”, sagte er und erhob sich, als ein Klopfen an der Tür ertönte. “Dem Klopfen nach zu urteilen, ist das Tyront.”

Und tatsächlich trat der Anführer des Ordens nur wenig später ein.

“Lady Eryn”, nickte er und nahm ihre Verbeugung zur Kenntnis.

“Lord Tyront”, erwiderte sie.

“Wie ist das Treffen mit dem jungen Rolan gelaufen?”, fragte er und nahm Platz.

Sie unterdrückte ein Lächeln. Er war also gekommen, um zu sehen, wie gut seine Rache funktionierte. Wie charmant.

“Unerwartet produktiv”, antwortete sie ernst. “Ich habe ihn in die Planung meiner Expedition miteinbezogen, und er hat die Aufgaben, die ich ihm übertragen habe, akzeptiert. Natürlich wird sich erst herausstellen, wie gut er sie erledigen wird.”

Tyront betrachtete sie und nickte dann. “Es freut mich, das zu hören. Wie geht die Planung voran?”

“Es gilt noch, das eine oder andere herauszufinden”, meinte sie mit einem Schulterzucken. “Aber nichts Unüberwindliches, würde ich sagen.”

Enric reichte seinem Vorgesetzten eine dampfende Tasse. „Wir haben gerade über die Gesetze über die Anwendung von Magie gegenüber Nicht-Magiern diskutiert. Es scheint, als hätte Eryn bis gerade eben nicht darüber Bescheid gewusst.”

“Wie bitte?” Tyront runzelte die Stirn. “Wie ist das möglich? Sie ist seit mindestens zehn Monaten hier.”

“Ja, sagt das mir”, murmelte sie und verschränkte die Arme.

“Lord Orrin hat das Euch gegenüber nie erwähnt?” fragte der ältere Mann ungläubig.

“Nein, und auch keiner von euch”, betonte sie, genervt, dass die Schuld schon wieder auf Orrin geschoben wurde.

“Nun, dann können wir uns wohl glücklich schätzen, dass Ihr Euch bislang soweit zurückgehalten habt, zumindest diese eine Regel nicht zu brechen.”

Sie warf ihm einen entnervten Blick zu, schwieg aber. Sie vermutete, dass er sie absichtlich provozierte. Vielleicht war er enttäuscht über ihren Bericht über das Treffen mit Rolan und hatte stattdessen auf Verzweiflung und Chaos gehofft. Er suchte also womöglich nach einem anderen Grund, um sie für etwas zu bestrafen. Aber nein, nicht heute.

Tyront schmunzelte, als hätte sie soeben seine Vermutung bestätigt. Sie jedoch blieb still und funkelte ihn nur an.

Enric beobachtete die beiden und verbarg sein Lächeln. Sie hatte dazugelernt. Gut.

“Wir haben auch über den Schutz der Expedition gesprochen. Als einzige Magierin und trainierte Kämpferin – wenn wir Vern hier nicht mitzählen – könnte es eine Herausforderung werden, Angreifer abzuwehren.”

Der ältere Magier nickte. “Ja, darüber habe ich ebenfalls nachgedacht. Ich werde die Teilnehmerzahl auf dreiundzwanzig erhöhen. Vier Schwertkämpfer sollten zusätzlich zu Euch, Lady Eryn, ausreichend sein.”

“Oh, nein”, stöhnte Eryn. “Das würde heißen, dass er Recht hatte und ich falsch lag. Und dass ich es offen zugeben muss.”

“Tja, Liebste, so scheint es wohl”, grinste Enric und fügte hinzu: „Ich rede also besser mit Rolan, da er die Planung jetzt übernommen hat.”

“Nein”, protestierte sie. “Du wirst es ihm nicht sagen, sondern ich. Du hast gesagt, ich könnte jetzt selbst unterdrücken.”

Tyront bedachte Enric mit einer hochgezogenen Augenbraue und schüttelte langsam den Kopf. “Das hast du ihr gesagt? Tatsächlich? Ich bin froh, dass du so ein lobenswertes Vorbild bist”, bemerkte er.

“Ach, Lord Tyront”, erwiderte Eryn mit kalkuliertem Spott, “weshalb sollte ich dafür auf ihn angewiesen sein, wenn Ihr selbst so ein strahlender Stern an beispielhafter Führung seid?”

Er sah sie an und schürzte die Lippen, hin und her gerissen zwischen Belustigung über ihre vorsichtig formulierte Beleidigung und Erstaunen über ihre Unverfrorenheit, ihn, wie subtil auch immer, überhaupt zu beleidigen.

Da er gute Laune hatte, entschied er sich, Humor zu zeigen und hob mit einem dünnen Lächeln seine Tasse.

 

Kapitel 2

Vorbereitungen

“Was ist los? Du wirkst etwas verdrossen”, bemerkte Enric vom Türrahmen zu seinem Arbeitszimmer, seinem bevorzugten Beobachtungsposten, aus.

Eryn blickte zu der hochgewachsenen Gestalt auf und seufzte. “Ich hatte auf ein paar Bewerbungen für die drei offenen Positionen als Heilerlehrlinge gehofft, aber bisher tut sich hier gar nichts. Es scheint, dass Lord Poron, Vern und ich selbst die einzigen sind, die an dem Beruf interessiert sind. Das enttäuscht mich etwas”, gab sie zu. “Aber ich schätze, meine Erwartungen waren wohl etwas zu hoch. Es geht immerhin darum, Menschen zu überzeugen, die schon ihr Leben lang denken, Kriegskunst sei der einzige Weg für einen Magier, um ein wahrhaft wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu sein. Sie sehen wahrscheinlich nur eine Frau, einen halbwüchsigen Jungen und einen alten Mann und denken, dass das die Art von Image ist, das einen Heiler erwartet.”

Enric blieb stumm. Er wusste, dass dies tatsächlich der Fall war, wollte es aber ungern bestätigen. Und außerdem arbeitete er bereits an einer Idee, um diese Sichtweise zu ändern.

“Wir könnten eine öffentliche Ankündigung für alle Magier machen”, schlug er vor. “Man könnte herausstreichen, dass nur die fähigsten und passendsten Kandidaten in Betracht gezogen werden.”

“Ich befürchte, das wird kaum einen Unterschied machen, wenn es ohnehin niemand tun will. Es gibt hier nicht viel Wettbewerb, gegen den es sich durchzusetzen gilt”, sagte sie müde.

Er kam näher und ging vor ihr in die Hocke. “Komm schon. Tyront und ich könnten auch ein paar Worte sagen und betonen, wie wichtig diese neue Einsatzmöglichkeit für unsere Kräfte ist, welche Ehre sie bringen wird.”

Sie konnte nicht anders als grinsen. “Ja, ich sehe schon, dass dies einen ziemlich beachtlichen Eindruck hinterlassen würde, wenn es von zwei Kriegern kommt. Warum nimmst du nicht Orrin noch mit dazu, nur um es für das Publikum so richtig spaßig zu gestalten?”

“Dein Mangel an Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des hohen Kommandos des Ordens schockiert mich, meine Liebste.”

“Gut. Der Gedanke, dass ich bereits nach der kurzen Zeit, in der wir zusammen leben, die Fähigkeit verloren haben könnte, dich zu überraschen, wäre mir ein Graus gewesen.”

“Kaum”, neckte er sie, “du überrascht mich jeden Morgen, wenn du es schaffst, dich für deine Termine aus dem Bett zu quälen. Allerdings muss ich sagen, dass du mir noch unwilliger als sonst erscheinst, wenn du für dein Kampftraining aufstehen musst. Oder ist das nur mein Eindruck?”

Sie lachte, so wie er gehofft hatte, und tätschelte seine Wange. „Das bildest du dir nur ein, Enric. Ich finde es nicht schlimmer, für unsere Verabredungen aufzustehen als für all die anderen.”

“Das ist eine Erleichterung. Denke ich.” Er schnappte sich ein Brötchen von ihrem Frühstückstablett und erntete dafür einen vernichtenden Blick. „Sei nicht gierig, da sind noch zwei weitere.”

“Ich wollte die, die ich jetzt nicht esse, mitnehmen. Ich nehme gerne hin und wieder einen Bissen zu mir, wenn ich eine Pause einlege.”

“Sag mir nicht, dass dich Lord Poron in der Bibliothek essen lässt?”

“Das weiß ich nicht, ich habe es nie gewagt, das herauszufinden. Ich gehe dafür immer hinaus. Man muss in der Gegenwart von Büchern Respekt zeigen”, zitierte sie ihren Vater.

Er sah zu, wie sie das halb verspeiste Brötchen von ihrem Teller nahm und es in ihr Getränk eintauchte, bevor sie hineinbiss. Er erinnerte sich, wie sie ihm erzählt hatte, dass es eine Angewohnheit aus ihrer Kindheit war, an der sie trotz der gegenteiligen Bemühungen ihres Vaters festgehalten hatte.

“Wie sieht dein Tagesplan heute aus? Geschichte? Schlachtstrategien? Botanische Studien?” Er grinste, als er Letzteres aussprach.

Sie kicherte. “Ja, genau. Von eurem Haufen brauche ich unbedingt Unterricht in Botanik. Der Orden unterscheidet nur zwischen zwei maßgeblichen Eigenschaften bei einer Pflanze: essbar oder nicht.”

“Nicht mehr, Liebste. Jetzt, da wir dich bei uns haben, tun wir so viel mehr. Es scheint, als hättest du das Konzept, dich selbst als Teil des Ordens zu betrachten, noch nicht ganz verinnerlicht.”

“Was soll ich sagen? Wann immer ich etwas vollkommen Idiotisches und Nutzloses sehe, versuche ich, mich davon zu distanzieren.”

“Ich verstehe.” Er spitzte die Lippen, nicht sehr angetan von ihrer Beschreibung der Institution, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte. „Solltest du nicht eher versuchen, die Dinge zu verändern, die du als nutzlos erachtest, anstatt zu vermeiden, damit in Berührung zu kommen?”

“Meine Güte, du ermutigst wohl nicht etwa die Revolutionärin in mir, oder doch? Ich frage mich, ob ich Lord Tyront darüber in Kenntnis setzen sollte”, schnaubte sie.

Er erschauderte. „Ich fürchte den Tag, an dem du und Tyront euch gegen mich verbündet.”

Sie erinnerte sich schuldbewusst daran, dass sie eigentlich genau das bereits getan hatten. Sie verbargen immer noch die Wahrheit über das Ausmaß ihrer Auseinandersetzung mit Ram’an vor Enric. Er wusste nach wie vor nicht, dass Ram’an zuerst eine Wahrheitssperre angewendet hatte, um sie zu befragen, und dann versucht hatte, sie in seinem Quartier einzusperren.

“Also, welchen Torturen wirst du dich heute stellen müssen?”, formulierte er seine Frage um.

“Politische Strategien oder so etwas, glaube ich. Lord Poron hat für die nächsten paar Tage einen neuen Stapel an Büchern für mich vorbereitet.”

“Gut. Das sollte ein einigermaßen nützliches Fach für dich sein, wenn du ihm genug Beachtung schenkst. Wann ist übrigens die Prüfung in Geschichte angesetzt?”, erkundigte er sich weiter.

“In zehn Tagen. Und fünf Tage danach werde ich in Schlachtstrategien getestet. Es scheint, als wollten sie alle die Prüfungen erledigt haben, bevor ich mit den Kräutersammlern aufbreche”, sagte sie mit einer Grimasse. Der Zeitplan klang zermürbend, wenn sie ihn wiederholte.

“Lord Poron ist derjenige, der dich bei Politischen Strategien betreut, nicht wahr? Er möchte dich möglicherweise ebenfalls testen, bevor du abreist.”

“Ja, das hat er mir schon mitgeteilt. Aber ich habe mich mit ihm darauf geeinigt, den Stoff aufzuteilen. Ich werde nur die Hälfte jetzt lernen und den Rest, nachdem ich zurückgekehrt bin. Habe ich erwähnt, dass ich ihn mag?”

Enric lächelte. “Nein, aber es ist dennoch offensichtlich. Ich finde es recht interessant, wie du es schaffst, dich mit den hohen Rängen im Orden anzufreunden.”

“Wie mit Lord Tyront?”, fragte sie ihn verschmitzt.

“Mit ihm wohl nicht gerade, aber du bist mit der Nummer zwei verbunden und mit Nummer vier und fünf aus den hohen Rängen befreundet.”

“Ja, genau. Als ob ich diejenige war, die sich die Verbindung zu dir ausgesucht hat, Nummer zwei.”

Er grinste. “Ich gebe zu, dass du ein wenig Hilfe dabei hattest, diese Entscheidung zu treffen. Sag mir nicht, dass du sie bereust? Du solltest dich nach einem Monat noch immer in dieser glückseligen Phase kurz nach dem Kommitment befinden.”

“Glückselige Phase kurz nach dem Kommitment? Ach, in der sollen wir uns derzeit befinden? Falls ja, graut mir davor, wenn uns der triste und langweilige Alltag einholt. Keine Kämpfe, Manipulationen, Drohungen und ähnlich erfreuliche Begebenheiten mehr.”

Er zog sie lachend in seine Arme. “Keine Sorge, solange ich dein Vorgesetzter bin und du meinen Befehlen folgen sollst, wird es immer Kämpfe und Drohungen zwischen uns geben.”

“Welch Erleichterung”, lachte sie und wand sich aus seinen Armen. “Ich befürchte, ich muss jetzt los. Auf mich wartet zweifellos faszinierende Lektüre darüber, wie ich meine Feinde glauben lasse, dass sie meine Freunde sind, während mir bewusst ist, dass ein Freund wenig mehr ist als ein Feind, den ich mich noch nicht zu töten entschlossen habe.”

“Nein, Liebste, das wäre Diplomatie. Bei Politischer Strategie geht es darum, deine Feinde mit einem Lächeln im Gesicht anzulügen, während du im Stillen Pläne zu ihrer Vernichtung schmiedest.”

Sie schüttelte den Kopf. “Weißt du, das klingt immens deprimierend. Ich hoffe wirklich, dass ich nie wichtig genug sein werde, um all dieses schreckliche Wissen tatsächlich einzusetzen.” Sie lächelte strahlend. “Aber vielleicht muss ich das gar nicht! Als Frau habe ich immer noch die weniger komplizierte Option zur Verfügung, mir Männer gefügig zu machen, indem ich sie mit zu mir ins Bett nehme, richtig? Klassische weibliche Strategie.”

Enric zog eine Augenbraue hoch und lächelte dünn. “Das, liebste Lady Eryn, würde ich nicht empfehlen. Sonst würdest du herausfinden, dass die Leute, die du dir zu Willen machen willst, eine Tendenz haben, unter sehr verdächtigen Umständen dahinzuscheiden.”

Sie runzelte die Stirn in gespielter Verwirrung. „Das klingt jetzt überhaupt nicht mehr nach Politischer Strategie. Zu direkt und offensichtlich, überhaupt nicht raffiniert und subtil.”

“Nein”, stimmte er mit einem dunklen Gesichtsausdruck zu. “Das ist ganz schlicht und einfach Eifersucht. Weniger kompliziert, aber in meinem Fall wesentlich gefährlicher.”

* * *

Eryn stand auf, um die Tür zu öffnen. Plia, vermutete sie. Und tatsächlich stand das Mädchen dort, strahlend und kaum in der Lage, ihre Aufregung im Zaum zu halten. Zumindest ließ die rastlose Energie, die sie ausstrahlte, das vermuten.

“Eryn!”, rief sie aus und drückte die Magierin fest.

Die Frau lächelte und wartete, bis die glücklicherweise mittlerweile weniger dünnen und schwachen Arme sie wieder losließen, damit sie das Mädchen hereinbitten und die Tür schließen konnte.

“Stimmt es wirklich? Ich werde tatsächlich mit auf deine Expedition kommen?” Plias große Augen waren vor Begeisterung geweitet.

Eryn nahm ihre Hand und nickte. “Ja. Enric hat es vorgeschlagen, und ich muss sagen, dass es eine fabelhafte Idee ist. Ich war nicht wirklich sicher, ob du dich bei dem Gedanken an eine zehntägige Reise durch die Wildnis wohlfühlen würdest. Aber deiner Reaktion gerade eben entnehme ich, dass ich mir darüber keine Sorgen hätte machen müssen.”

“Ich war noch nie zuvor außerhalb der Stadt”, gab das Mädchen zu. “Ich bin deswegen ein kleines bisschen nervös, aber solange du dabei bist, habe ich keine Angst.”

“Das ist ein großer Vertrauensbeweis, aber Vern wird auch dabei sein. Und auch noch vier bewaffnete Männer, um uns zu beschützen. Du brauchst dich also nicht zu fürchten, auch wenn ich aus irgendeinem Grund gerade nicht um dich bin”, lächelte sie.

“Vern kommt auch mit?”, fragte Plia in einem Tonfall, der ganz offensichtlich beiläufig wirken sollte.

Eryn beobachtete, wie eine leichte Röte in Plias Wangen stieg und fragte sich, ob diese Schwärmerei für Vern niedlich war, oder ob das später zu Ärger führen könnte. Es war wahrscheinlich harmlos. Plia war dreizehn Jahre alt, noch immer mehr Kind als Frau, und Vern hatte sie noch nie als etwas anderes als eine jüngere Schwester behandelt, soweit Eryn das bisher beobachtet hatte.

“Ja, er wird die Chance nutzen und etwas über Botanik lernen und auch die Zeichnungen anfertigen, die ich für die Bücher für die Kräutersammler brauche. So können sie die Pflanzen später nachschlagen, wenn wir wieder zurück sind.”

Das Mädchen wirkte plötzlich besorgt. “Eryn, ich habe keine Ahnung, was ich für die Reise brauche. Ich habe ein wenig Geld gespart und…”

“Kleine Blume, das ist genau der Grund, warum ich dich für heute eingeladen habe. Junar wird jeden Moment eintreffen, und sie wird sich um die Kleider kümmern, die du brauchen wirst. Und mach dir keine Sorgen um das Geld. Der Orden wird sich darum kümmern.”

“Der Orden?”, flüsterte sie ehrfürchtig. “Aber ich bin doch kein Mitglied!”

“Aber ich, und ihnen ist daran gelegen, mich zufriedenzustellen”, lächelte Eryn. “Du brauchst dich also deswegen nicht schuldig zu fühlen – die haben mehr Geld als sie brauchen.” Sie legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern. “Bist du in den letzten zwei Monaten gewachsen? Mir kommt vor, als müsste ich mich zu deinen Schultern nicht mehr so weit nach unten beugen.”

“Ein wenig”, lächelte Plia. “Koch sagt, das liegt an den regelmäßigen Mahlzeiten und der ordentlichen Arbeit. Allerdings bin ich bei zweiterem etwas skeptisch. Ich hätte vielmehr gedacht, dass schweres Heben das Wachstum eher stoppt, weil es mich nach unten zieht.”

Eryn lachte und trat von ihr weg. “Lass mich dich einmal richtig ansehen.” Und das tat sie. Weniger blass, nicht mehr so dünn, Muskeln von der Arbeit, adrett und sauber, ordentlich gekämmtes Haar, passende Kleidung. Ein viel besseres Bild als das, an das sie sich erinnerte, als sie einander kennengelernt hatten. Sie dachte mit einem warmen Gefühl daran, dass Orrin derjenige war, der diese Veränderung ermöglicht hatte. Er hatte ihr angeboten, Plia die Lehrstelle in der Palastküche zu verschaffen als Gegenleistung dafür, dass Eryn an dem Wettkampf teilnahm.

Sie hörten ein weiteres Klopfen, und Plia schickte sich an, die Tür zu öffnen, doch Eryn hielt sie zurück. “Nein, du bist nicht als meine Dienerin hier. Zumindest jetzt noch nicht. Du bist mein Gast, und als solcher brauchst du die Tür nicht zu öffnen.”

Junar wehte herein, einen großen, schwarzen Sack über ihre Schulter geschwungen. Sie setzte ihn auf der nächsten verfügbaren freien Fläche ab. “Meine Güte, das ist schwer!”

“Neue Tasche?”, fragte Eryn und beäugte die Monstrosität. “Was hast du da drin? Dein gesamtes Geschäft?”

“Nein, nur ein paar Sachen, die jede aufstrebende, begehrte Schneiderin benötigt, um professionell arbeiten zu können.” Sie grinste. “Orrin hat sie für mich anfertigen lassen. Ich habe mich entschieden, dass ich ihm erlaube, mich gelegentlich zu beschenken. Um ihn glücklich zu machen.”

“Um ihn glücklich zu machen? Wie rücksichtsvoll von dir”, grinste Eryn.

“Plia, mein liebes Kind!”, sagte Junar und küsste das Mädchen auf die Wangen. “Sieh dich an, du bist gewachsen! Und wirst wohl noch weiterwachsen für die nächsten drei oder vier Jahre. Ich denke, das werden wir bei der Länge berücksichtigen müssen, damit dir die neuen Sachen länger passen.” Dann drehte sie sich zu ihrer Freundin. “Was ist mit dir? Du hast bisher auch nichts für die Expedition in Auftrag gegeben. Sag mir nicht, dass du vorhast, mit den schönen Stadtkleidern, die ich dir gemacht habe, durch den Wald zu stapfen? Dafür würde ich dir die Haut bei lebendigem Leibe abziehen!”

Eryn seufzte. “Dann sage ich das wohl besser nicht und bestelle stattdessen einige Hosen und Oberteile, die sich für das Stapfen eignen, schätze ich mal?”

“Braves Mädchen”, nickte die Schneiderin offensichtlich zufrieden und wandte sich wieder an Plia. “Dir ist klar, dass du auch Hosen tragen wirst müssen? Ich hoffe, das wird nicht zu unangenehm für dich. Aber ein Kleid ist wirklich keine gute Wahl, wenn man bedenkt, wohin ihr wollt.”

“Das geht schon in Ordnung, es stört mich überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, ich freue mich darauf. Hosen erscheinen mir so viel praktischer, und trotzdem müssen wir die ganze Zeit Kleider tragen!”

Junar seufzte. “Oh, nein. Das ist Eryns schlechter Einfluss. Als Vorbild ist sie ganz klar nicht geeignet, zumindest nicht wenn es um Mode geht.”

“Sagt die Frau, die meine Kleidung macht”, kommentierte besagtes Vorbild. “Das ist keine sehr schmeichelhafte Einschätzung deiner eigenen Fähigkeiten, liebste Freundin.”

“Meine Fähigkeiten sind nicht das Problem, Eryn, sondern der Widerstand, auf den sie ständig stoßen”, schoss sie zurück.

“Doch wohl nicht ständig? Was ist mit all den Kleidern, die du für mich genäht hast? Ich habe jedes einzelne davon getragen, oder etwa nicht?”

“Das ist wohl wahr”, gab Junar zu, “aber das war jedes Mal ein Kampf. Plia, mein Schatz, warum ziehst du nicht deine Schuhe und das Kleid aus und kletterst auf diesen Stuhl hier? Ich würde jetzt gerne deine Maße nehmen.”

Plia zog sich gehorsam aus und stieg in ihrer Unterwäsche auf den Stuhl. Junar fragte sie nach ihren bevorzugten Farben und den Arbeiten, die ihr während der Expedition übertragen werden würden, um den Schnitt und das Material an die Herausforderungen anzupassen.

“Eryn, ich nehme an, du wirst im Dreck nach Pflanzen graben, auf dem kalten, harten Boden knien, auf Felsen herumklettern und eine Menge anderer Dinge tun, die alles, was ich dir mache, strapazieren und zerreißen werden?”

“Absolut richtig”, bestätigte sie fröhlich. “Und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue.”

“Ja, das kann ich mir vorstellen. Wenn etwas nicht damenhaft ist, kann ich mich darauf verlassen, dass es dir gefällt. Das heißt, dass ich dir ein paar zusätzliche Hosen anfertigen werde. Lord Enric würde es mir nicht danken, wenn ich dich unter all diesen Männern mit zerrissener Kleidung herumlaufen ließe.”

“Ja, wir sollten uns wirklich darauf konzentrieren, was Enrics Bedürfnisse für diese Expedition sind, nicht wahr?” Eryn verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

“Das solltest du wohl besser. Seine Beschützerinstinkte sind sehr stark, wenn es um dich geht. Ich wette, er ist nicht allzu glücklich darüber, dass du ihn so lange allein lässt, um dich mit so vielen Fremden in ein Abenteuer zu stürzen.”

Die Magierin seufzte. “Beschützerinstinkte? Versuch es stattdessen mit besitzergreifend. Er ist ein erwachsener Mann. Du musst ihn nicht bedauern. Er wird sich wohl irgendwie beschäftigen können, solange ich weg bin.”

Junar wirkte überrascht. “Du bist unglaublich unsensibel! Ich frage mich, ob es dich wirklich so wenig kümmert, wie sehr er dich vermissen wird, oder ob du das einfach nur vorgibst.”

“Jetzt hör aber auf! Ich lebe jetzt gerade mal einen Monat lang mit ihm zusammen! Ich wage zu behaupten, dass er meine Abwesenheit irgendwie überstehen wird. Und wir reden hier von zehn Tagen, nicht zehn Monaten!”

Plias Blick sprang, fasziniert von dem Austausch, von einer Frau zur anderen und wieder zurück.

Die Schneiderin seufzte und schüttelte den Kopf. “Ich hoffe wirklich, dass du ihn dort draußen in der Wildnis so richtig vermissen wirst. Wenn du nachts allein in deinem frostigen Lager liegst, dich niemand in den Armen hält und deine Decke das einzige ist, was dich wärmt. Das würde dich im Nu dazu bewegen, ihn mehr zu schätzen.”

“Denkst du nicht, dass das Frieren in der Wildnis mich eher dazu bringt, sein Quartier zu schätzen als ihn selbst?”, erwiderte Eryn und duckte sich rasch, als ein zusammengerolltes Maßband auf sie zugeflogen kam.

* * *

Eryn hob die Papiere hoch, die im Laufe des Tages für sie abgegeben worden waren. Enric hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, diese zu sammeln und auf der Kommode neben der Tür zu hinterlegen. Die war sie noch immer nicht losgeworden, so wie sie es geschworen hatte, nachdem sie sich in einer beschwipsten Nacht den Zeh daran gestoßen hatte.

Es war der dritte von Rolan’s Berichten, den sie bisher erhalten hatte. Er schickte sie regelmäßig jeden zweiten Tag, was ihr sehr gut passte. Er hatte begonnen, die Gegenstände, die sie ihm aufgetragen hatte zu besorgen, zusammenzutragen und in einem Lagerraum zu hinterlegen. In den letzten sechs Tagen hatten sie nicht mehr als kurze Nachrichten ausgetauscht, Fragen gestellt und beantwortet. Er hielt sie mit Kopien der Zettel für ihre Akte auf dem Laufenden, darunter eine Liste mit den Namen aller Teilnehmer, Checklisten mit Fortschrittsberichten und Vorschlägen, wie man die Zeichnungen sicher transportieren konnte. Die verfügbaren Boxen und Truhen waren für den Transport in einer Kutsche gedacht und für einen Pferderücken ungeeignet, weil sie viel zu sperrig und schwer waren. Eine Möglichkeit war, die Papiere die ganze Zeit über mit einem Schild zu schützen, aber das erschien ziemlich unpraktisch. Eine weitere Idee war, sie in ein Öltuch einzuschlagen, was auf jeden Fall eine Überlegung wert war. Vielleicht konnte Lord Poron dabei behilflich sein, hier eine brauchbare Lösung zu finden. Sie würde Rolan anweisen, mit ihm in Kontakt zu treten.

* * *

Eryn hob eine der flachen Holzboxen hoch, die Rolan zu ihrem zweiten Treffen gebracht hatte, und wog sie in einer Hand.

“Die ist ziemlich schwer”, kommentierte sie. “Dir ist schon klar, dass wir auf Pferden durch den Wald reiten, oder? Und dass wir mehr als eine davon brauchen, da sie ziemlich flach sind?”

Der junge Mann biss die Zähne zusammen. “Zur Auswahl stehen entweder ein wenig mehr Gewicht oder nasse Papiere. Trefft Eure Wahl.”

Zu ihrer Überraschung stellte Eryn fest, dass sie diebische Freude dabei empfand, ihren Assistenten zu piesacken und fragte sich, ob sie deswegen zerknirscht sein sollte. Nein, entschied sie, sicher nicht. Aber zumindest war ihr jetzt klar, warum es Lord Tyront so viel Vergnügen bereitete, sie zu reizen. Die Privilegien des Führens, sinnierte sie. Vielleicht würde sie sich ja doch noch daran gewöhnen, eine Position mit Autorität und Wichtigkeit im Orden innezuhaben…

“Hmm. Warum ist die Box überhaupt so schwer?”

Er nahm sie ihr wortlos aus den Händen, öffnete einen Verschluss und ließ eine weitere, noch flachere Box herausgleiten.

Eindrucksvoll, dachte sie. Zwei Boxen, die nahtlos ineinander glitten, um zu verhindern, dass Wasser durch eine Öffnung eintreten konnte. Die Oberfläche war glatt, wahrscheinlich mit einer Art Ölfarbe behandelt, um das Wasser abzuhalten.

“Interessant. Was denkst du, wie viele Blätter in eine davon hineinpassen?”

Rolan zuckte mit den Achseln. “Ich habe es geschafft etwa zwanzig hineinzustopfen, aber sie sehen nicht mehr so gut aus und sind verknittert, wenn man sie wieder herausnimmt. Fünfzehn sollten in Ordnung gehen.”

Sie biss sich auf die Unterlippe während sie zusah, wie er die Boxen wieder ineinanderschob. Er hatte ihre Frage vorausgesehen und es zuvor ausprobiert. Das war beachtlich. Nicht gerade das, was sie erwartet hätte von jemandem, der solch offensichtlichen Widerwillen zeigte, wenn es darum ging, mit ihr zu arbeiten.

“Ich denke, dann werden wir vier Boxen nehmen. Nicht einmal Vern sollte es schaffen, während unseres Ausflugs mehr als sechzig Zeichnungen fertigzustellen. Und wir werden wohl ohnehin kaum auf so viele verschiedene Pflanzen stoßen.”

Er zog sein Notizbuch heraus, ein kleineres dieses Mal, und machte eine Anmerkung.

“Wie geht die Planung sonst voran? Irgendwelche Schwierigkeiten soweit?”

“Nein”, sagte er nur und zuckte dann mit den Schultern. “Außer Eure Möbel. Die brauchen eine Menge zusätzlicher Packtiere, und die sind zu dieser Jahreszeit nicht so leicht zu kriegen.”

Sie blinzelte. “Meine was?”

“Eure Möbel. Tisch, Stuhl…” Seine Stimme verstummte aufgrund ihres Gesichtsausdrucks.

Sie betrachtete ihn aus zu Schlitzen verengten Augen und fragte sich, ob er sich über sie lustig machte.

“Was? Ihr seid eine Frau! Und noch dazu eine wohlhabende. Man erwartet, dass Ihr mit Stil verreist.”

Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. “Und du bist ein Idiot, und was für einer. Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich mit einem Tisch und Stühlen durch den Wald reisen würde und mich dann über das Gewicht von Papierboxen beschwere? Benutz dein Gehirn, mein lieber Junge!” Sie sah, wie er bei der Anrede zusammenzuckte und musste zugeben, dass sie womöglich nicht ganz angemessen war. Sie selbst immerhin nur wenige Jahre älter.

“Woher soll ich denn wissen, dass Ihr auf einem Baumstamm sitzen und auf dem harten Boden schlafen wollt?”

“Noch vor einem Jahr habe ich meine eigenen Kräuter gesammelt. Wie hätte ich denn einen Tisch mitschleppen sollen? Auf dem Rücken?” Sie schnaubte bei der Vorstellung.

“Fein”, schnappte Rolan. “Dann wäre Ihre Ladyschaft vielleicht so freundlich, mir eine Liste mit dem zukommen zu lassen, was sie auf die Expedition mitzunehmen gedenkt?”

“Nein”, erwiderte sie mit einem süßen Lächeln. “Ladyschaft wird nichts dergleichen tun. Sie ist ein großes Mädchen und wird ihre Sachen selbst zusammenpacken. Sie lässt sich aber dazu herab, dir mitzuteilen, dass ein Packtier für sie selbst und das Dienstmädchen ausreicht. Außer du hast geplant, dass ich noch ein paar weitere schwer transportierbare, nutzlose Sachen mitschleppe?”

Rolan schloss für einen Moment die Augen, wie um sich zu sammeln, und sah sie dann mit kaum verhülltem Verdruss an. “Ist das alles? Kann ich jetzt gehen?”

“Ja, wenn du sonst keine Fragen mehr hast?”

“Nein”, antwortete er in einem Tonfall, der erahnen ließ, dass er sich lieber sein eigenes Bein abnagen würde, als länger als nötig mit ihr zu reden. Er verbeugte sich rasch, ohne sie anzusehen, bevor er die Tür des Besprechungszimmers hinter sich schloss.

Sie grinste und schüttelte den Kopf, als er weg war. Warum hatte sie nur jemals gezögert, um einen Assistenten zu bitten?

Kapitel 3

Die Geste

Eryn gähnte, als sie die letzte Seite des Buches, das Lord Poron ihr in der Woche zuvor gegeben hatte, umblätterte. Zu langwierig, zu langweilig, zu öde. Und dennoch musste sie sich einen Großteil davon einprägen. Sie sah auf das Blatt Papier mit ihren Notizen. Es war kaum etwas Greifbares darunter, nur Verschwörung und Töten. Erachtete man es wirklich als weise, den Leuten so etwas beizubringen? Warum brachte man ihnen nicht stattdessen den Wert von Ehrlichkeit und Direktheit nahe?

Sie sah, wie Lord Poron durch eine der hohen Doppeltüren eintrat und sich sein Gesicht bei ihrem übertriebenen Unmutsseufzer zu einem Lächeln verzog. “Ich sehe, dass Euch Eure derzeitige Lektüre nicht mehr Vergnügen bereitet als die anderen Bücher, meine Liebe. Aber zumindest bekommt Ihr jetzt eine kurze Pause. Kommt, wir müssen uns auf den Weg zu der Kundgebung machen.”

“Welche Kundgebung? Seid Ihr sicher, dass ich dorthin muss?”, fragte sie mit einem verwirrten Stirnrunzeln. “Ich bin immerhin nicht darüber informiert worden.”

“Oh ja, ich denke, das solltet Ihr. Ich könnte mir denken, dass es recht interessant werden wird.” Der Magier in seinen Siebzigern hob das vor ihr liegende Buch hoch und stellte es auf seinen Platz im Regal zurück.

Sie zuckte die Schultern. “Na gut. Wo findet sie statt?”

“Draußen auf dem Palastplatz. Vielleicht solltet Ihr einen kleinen Umweg machen, um Eure Robe zu holen. Wenn so viele von uns anwesend sind, schadet es nicht, die Leute an Euren Status zu erinnern, meine Liebe. Nun los, beeilt Euch. Wir wollen nicht zu spät kommen”, trieb er sie an und schob sie mehr oder weniger aus der Bibliothek hinaus.

“Ja, ja, ich komme schon”, seufzte sie. “Was wird denn Großartiges kundgetan?”

“Das werdet Ihr bald genug erfahren. Allerdings nur, wenn Ihr Euch beeilt und wir es dorthin schaffen, bevor es vorbei ist”, fügte er mit einem besorgen Gesichtsausdruck hinzu.

“Wisst Ihr was? Warum laufe ich nicht flink zu meinem Quartier, hole meine Robe und treffe Euch in ein paar Minuten beim Palasttor?”, schlug sie vor. Die Aussicht, von ihm den ganzen Weg zu ihrem Quartier und dann zum Palastplatz angetrieben zu werden, war nicht besonders erfreulich. “Ich verspreche, mich zu beeilen.”

Als sie sich wenig später die Robe über den Kopf gezogen hatte, ging sie flink in Enrics Arbeitszimmer, um auf den Platz hinabzusehen. Es hatten sich tatsächlich eine Menge Magier dort versammelt. Auch ein paar neugierige Zuschauer hatten ihren Weg dorthin gefunden und hielten Abstand zu den mächtigen und verehrten Mitgliedern des Ordens.

Seltsam, dachte sie und wandte sich um, um Lord Poron wie versprochen unten zu treffen. Wenn das so wichtig war, musste Enric darüber Bescheid wissen. Warum hatte er nichts erwähnt, besonders da sie ebenfalls dorthin sollte?

Lord Poron nickte, als er sie auf sich zulaufen sah und bedeutete ihr, den Palast als erste zu verlassen. Die Magier standen in Grüppchen beisammen und unterhielten sich ungezwungen. Von den Fetzen der Unterhaltung, die sie aufschnappte, konnte sie erkennen, dass sie ebenfalls keine Ahnung hatten, was sie erwartete.

Sie erblickte Orrin, der mit verschränkten Armen und seiner üblichen breitbeinigen Pose auf einer Seite der Menge stand. Er war kein Teil des Trubels, sondern nur ein Beobachter. Sie näherte sich ihm und blieb neben ihm stehen. Er quittierte ihre Anwesenheit mit einem knappen Nicken und fuhr damit fort, seine Magierkollegen zu beobachten.

Orrin war weder ungewöhnlich groß, wie Enric, noch strahlte er die beinahe schon zudringliche Autorität aus, die Lord Tyront umgab. Aber da war eine Art ruhiger, autoritärer Kraft und Selbstbewusstsein, die ihn herausragen ließen. Das und seine durchdringenden, grünen Augen ließen die Leute Abstand davon nehmen, ihm in die Quere zu kommen. Und natürlich seine Kampffertigkeiten, die sich in seiner aufrechten Haltung zeigten, als ob er sich in einem Zustand dauerhafter Wachsamkeit befand und jeden Moment mit einem Angriff rechnete. Die lange, dünne Narbe, die sich über eine Seite seines Gesichts erstreckte, trug nicht gerade dazu bei, diesen Eindruck von Gefahr abzumildern. Er musste in etwa in Lord Tyronts Alter sein, in seinen frühen Fünfzigern, aber sein Beruf als Kriegertrainer hatte ihm den beeindruckenden, muskulösen Körper eines Kämpfers beschert. Das und das Fehlen von jeglichem Grau in seinem vollen Haar ließen ihn etwas jünger erscheinen.

“Was soll das alles hier? Weißt du irgendetwas?”, fragte sie ihn und ließ ihren Blick über die versammelten Männer schweifen. Es mussten mehr als hundertfünfzig sein.

“Abwarten”, sagte er mit einem wissenden Lächeln.

Eryn versuchte gar nicht erst, ihn dazu zu bewegen, dass er preisgab, was er wusste. Das war zwecklos, wie ihr klar war. Er war von der starrköpfigen Sorte. “Weißt du”, sagte sie etwas erstaunt, “mir war gar nicht bewusst, wie viele Magier es gibt.”

Orrin sah sich um. “Es sind schon ein paar, ja. Obwohl im Moment nicht alle von uns hier sind. Die Kinder mit magischen Fähigkeiten sind nicht anwesend, und auch die meisten Mitglieder des Rates nicht.”

“Wie viele magisch begabte Kinder gibt es denn?”

“Etwa vierzig. Nicht alle von uns vererben das Talent.”

Dann sah sie Enric durch das Palasttor nach draußen treten und auf sie zukommen, natürlich in seine blaue Robe gekleidet. Ihr fiel auf, dass das Kleidungsstück anders aussah. Er hatte offensichtlich Zeit gefunden, Junar daran arbeiten zu lassen. Seine breiten Schultern und schmalen Hüften waren zu seinem Vorteil betont, dachte sie. Sie beobachtete, wie er sich näherte und schließlich vor den versammelten Magiern zum Stehen kam.

Das Murmeln um sie herum wurde immer leiser. Jeder, der einen Blick auf die blaue Robe erhaschte, verstummte. Als schließlich der Letzte von ihnen ruhig war, nickte Enric Orrin zu, der daraufhin neben ihn trat. Er schenkte Eryn kurz ein Lächeln und erhob seine Stimme, erhöhte die Lautstärke mit ein wenig Magie, damit ihn alle verstehen konnten.

“Guten Morgen an alle. Ihr fragt euch sicher, weshalb ich zu dieser Versammlung gerufen habe. Ich möchte die Sache mit den drei offiziell ausgeschriebenen Stellen für Heiler ansprechen.”

Eryn schloss die Augen. Nein, bitte nicht, dachte sie mit einem innerlichen Stöhnen. Keine verzweifelten Versuche, jemanden zu finden, der sich seiner Gefährtin erbarmte und ihr den Gefallen tat, mit ihr zu arbeiten. Oder die Gelegenheit ergriff, einen guten Eindruck auf Enric zu machen, ohne ein ernsthaftes Interesse am Heilerberuf selbst mitzubringen.

Sie öffnete die Augen wieder, als er fortfuhr. “Ich bin hier, um euch zu warnen, euch nicht vorschnell zu bewerben, da es eine Verpflichtung zu harter Arbeit ist und nicht wie das Kämpfen von einen hohen Level an magischer Stärke profitiert, sondern etwas viel Selteneres erfordert: einen überdurchschnittlichen Intellekt und die Bereitschaft, ihn einzusetzen.”

Eryn runzelte verwirrt die Stirn. Was war sein Plan? Warum riet er den Leuten davon ab, sich zu bewerben, wenn ohnehin niemand vorhatte, das zu tun? Sollte er es nicht lieber umgekehrt versuchen?

“Die Fähigkeit zu heilen ist in unserem Königreich noch immer eine Seltenheit”, fuhr er fort. “Daher müssen diejenigen, die sich für eine Bewerbung entscheiden, sich nicht nur der Herausforderung stellen, neue Fertigkeiten zu meistern und als Pioniere zu arbeiten; sie müssen auch bereit dazu sein, in ein paar Jahren die Verantwortung einer Führungsrolle zu übernehmen.”

Sie entspannte sich etwas. Nun, das klang schon besser. Dieses Argument würde zweifellos weniger starke Magier ansprechen, die kaum eine Chance hatten, in den Rängen der traditionellen Kriegerhierarchie aufzusteigen.

“Die Fertigkeit zu heilen wird uns stärken – als Königreich, als Krieger, als Magier und als Gesellschaft. Stellt euch vor, ihr seid verletzt oder anderweitig außer Gefecht gesetzt und könntet euch selbst und andere heilen. Stellt euch einen Bauern mit einem gebrochenen Bein vor, der nicht mehrere Wochen lang warten muss, bis er wieder arbeiten kann, um seine Familie zu ernähren. Denkt an eure Kinder, Gefährtinnen, Freunde und dass ihr mit einer Berührung eurer Hand ihre Schmerzen lindern könntet.” Er hielt kurz des Effekts wegen inne und fing so viele Blicke wie möglich ein, als er sich umsah. “Die Menschen in den Westlichen Territorien schätzen die Kunst des Heilens so hoch, dass jeder einzelne Magier die Grundprinzipien erlernt – auch ohne ein Heiler zu sein. Wir sind in der glücklichen Lage, unsere eigene Heilerin hier im Orden zu haben, die uns diese Fähigkeit lehrt und dieses Wissen mit uns teilt. Und wir werden diese Chance nutzen.”

Er zog einen Dolch aus seinem Ärmel und fuhr mit der scharfen Klinge, ohne auch nur das kleinste Anzeichen von Schmerz zu zeigen, über seine Handfläche. Dann hob er seine Hand hoch über seinen Kopf, damit jeder sie sehen konnte. Der Schnitt war ziemlich tief, das Blut rann in dunkelroten Rinnsalen seinen Unterarm hinab.

Was machte er nur? Eryn fragte sich, ob er wollte, dass sie neben ihn trat und eine kleine Heildemonstration für die Menge lieferte. Sie wartete auf sein Zeichen. Aber es kam keines.

Als er sicher war, dass die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf seine blutende Handfläche gerichtet war, schloss er die Augen und Eryn starrte ihn mit offenem Mund an. Er würde doch nicht… oder doch? Nein, das war unmöglich! Er wusste doch nicht wie!

Ihr Atem beschleunigte sich, als sie sah, wie sich der Schnitt langsam schloss und der Blutfluss verebbte. Er hielt seine Hand weiterhin über seinem Kopf erhoben und zog mit seiner anderen Hand ein sauberes, weißes Tuch aus einer Tasche, um das Blut abzuwischen. Dann präsentierte er der starrenden Menge eine perfekte, unversehrte Handfläche.

Enric sah zu seiner Gefährtin und war ungemein zufrieden mit der Überraschung und vollkommenen Ungläubigkeit auf ihrem Gesicht. Orrin zog daraufhin seinen eigenen Dolch aus einem Futteral in seinem Stiefel und zerschnitt seine Hand auf die gleiche Art und Weise. Auch er hielt sie sodann hoch in die Luft, damit jeder sie sehen konnte, bevor er seine Augen schloss. Eryn bedeckte ihren weit offenen Mund mit beiden Händen und sah zu, wie sich der Krieger heilte, genau wie sein Kollege es nur Augenblicke zuvor getan hatte.

Erst jetzt, wo das Murmeln rund um sie begann und mit jeder Sekunde lauter und erregter wurde, erkannte sie, wie vollkommen still es um sie herum gewesen war.

Enric war zufrieden mit der Reaktion auf seine kleine Demonstration, und er und Orrin gingen auf sie zu, beide mit unverkennbarer Selbstgefälligkeit ob ihres betäubten Gesichtsausdrucks.

“Aber… wie?” Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Das Wie war ziemlich klar, nicht wahr? Es gab nur einen anderen Heiler im Königreich, der es ihnen gezeigt haben konnte. “Ich meine wann?” Sie gestikulierte hilflos.

“Ich habe Vern gebeten, mir ein paar der grundlegenderen Dinge beizubringen, während du und Orrin eure Tanzstunden hattet. Ich habe ihn angewiesen, es für sich zu behalten. Ich wollte dich überraschen.” Er lächelte auf sie hinab. “Es scheint, als wäre mir das gelungen.”

Sie atmete langsam aus und schüttelte den Kopf, während sie erst jetzt über die Auswirkungen dessen nachdachte, was er gerade getan hatte, was beide Männer getan hatten. Sie hatten soeben der Gesamtheit der Magier im Königreich gezeigt, dass die zwei meistverehrten Krieger im Orden die Fertigkeit des Heilens hoch genug schätzten, dass sie Zeit und Mühe dafür aufwendeten, sie zu erlernen.

Enric beobachtete die Schlacht zwischen ihren Hemmungen, in der Öffentlichkeit Zuneigung zu zeigen, und dem Impuls, genau das zu tun. Er wartete ein paar Augenblicke, ob sie sich dazu durchringen konnte. Dann seufzte er und zog sie in seine Arme. “Komm her. Und du solltest gar nicht erst leugnen, dass dir genau das durch den Kopf gegangen ist”, murmelte er, bevor er ihr einen Kuss auf die Lippen drückte.

Sie zögerte einen Moment lang, dann schlang sie ihre Arme um ihn und presste ihn fest an sich, während ihre Wange auf seiner Schulter lag.

“Danke. Vielmals.”

“Gerne. Aber wir werden erst sehen müssen, ob das irgendetwas ändert. Erwarte nicht zu viel”, warnte er.

Sie ließ ihn los und lächelte. “Das macht keinen Unterschied. Die Geste war erstaunlich, ob sie nun darauf reagieren oder nicht. Ich schätze das wirklich.” Sie wandte sich an Orrin, hob ihre Arme, um ihn ebenfalls zu umarmen und stöhnte leicht, als er sie nicht gerade zärtlich drückte.

“Keine Luft”, keuchte sie mit einem übertriebenen Erstickungsanfall.

Er lachte leise. “Du bist noch immer zu weich. Ich hätte gedacht, dass sich das mit deinem Kampftraining in der Zwischenzeit von selbst erledigt hätte, besonders mit deinem neuen Trainingspartner.”

“Wenn du Junar genauso umarmst, dann wirst du deine neuen Heilerfertigkeiten oft genug brauchen”, lachte sie und küsste seine Wange. Als sie sich umsah, erkannte sie Vern, der grinsend auf sie zukam.

“Das war vielleicht eine Vorstellung, was? Kannst du hören, wie sie reden? Sie sind total verwirrt”, strahlte er, als wäre er glücklich über einen gelungenen Streich. “Und dein Gesicht war ein Anblick! Dein Mund war weit offen, deine Augen sind hervorgetreten… Sehr elegant, Lady Eryn.”

Sie schnipste ihre Finger gegen sein Ohrläppchen und grinste, als er es rieb. “Vorsicht, Junge. Ich könnte sonst entscheiden, dass du nicht autorisiert warst, Heilerstunden zu geben und daher bestraft werden musst.”

“Nicht autorisiert?”, schnaubte er. “Du denkst, dass Lord Enric nicht autorisiert ist, mich zu autorisieren? Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatte er noch einen höheren Rang als du.”

“Ja”, stimmte Enric zu, “das war auch mein Eindruck. Und was auch immer sie benutzt, um dich zu bedrohen, kannst du getrost als nichtig betrachten.”

“Nett”, erwiderte sie. “So viel zu meiner Autorität.”

* * *

“Eine nette Vorführung”, kommentierte Tyront und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. “Und noch dazu recht effektiv. Ich habe seit gestern insgesamt vier Bewerbungen erhalten.”

Enric zog seine Augenbrauen nach oben. “Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten. Hast du Eryn schon davon erzählt?”

“Nein. Ich will sie mir erst genauer ansehen.”

“Sag mir nicht, dass du die Kandidaten, die du nicht befürwortest, vorher aussortierst? Sie würde dir nie wieder vertrauen, wenn sie das herausfände.”

Tyront beeilte sich, diese Bedenken zu zerstreuen. “Nein, selbstverständlich nicht. Wofür hältst du mich? Sie ist diejenige, die mit den Leuten arbeiten muss, die sie sich aussucht, was also wäre mein Vorteil? Ich bin nur neugierig.”

“Warum überlässt du ihr die Auswahl dann nicht vollständig?”, erkundigte sich Enric.

“Weil es keinen guten Eindruck macht, wenn ich ihr im Zusammenhang mit dem Heilen alles allein überlasse. Und es zwingt sie auch dazu, gelegentlich mit mir zusammenzuarbeiten. Das ist etwas, woran sie sich gewöhnen muss.” Er grinste boshaft. “Es scheint, als würde ihr ihr neuer Assistent ebenfalls das eine oder andere über Führung beibringen.”

“Warum? Was hast du gehört?”

“Nicht so sehr gehört als gelesen”, sagte Tyront und nahm zwei Briefe von seinem Schreibtisch. “Der junge Rolan ist nicht allzu glücklich darüber, mit ihr arbeiten zu müssen, soviel kann ich dir sagen.”

“Berichte?”

“Nein, besser. Beschwerdebriefe.” Er hielt das erste Blatt hoch und las vor: “Lady Eryn scheint es als angemessen zu erachten, mich wiederholt mit dem beleidigenden Ausdruck ‘Idiot’ zu betiteln. Ich erachte dies nicht als professionelles Verhalten und denke zudem nicht, dass diese Regelung langfristig zur beiderseitigen Zufriedenheit funktionieren kann. Ich wäre somit ewig dankbar, wenn Ihr Euch imstande sehen würdet, eine andere Position für mich zu finden.”

“Oh ja, das klingt in der Tat nach ihr”, bemerkte Enric und seufzte.

“Warte, da ist noch einer. Das ist genau genommen der Erste. Er muss ihn kurz nach ihrem ersten Treffen geschrieben haben”, sagte Tyront und begann erneut vorzulesen: “Lady Eryn hat mich heute mit körperlicher Gewalt bedroht für den Fall, dass ich es versäume, ihre Forderungen zu erfüllen. Ich zitiere: ‘Ich werde deinen jämmerlichen Hintern von hier bis zum Meer treten’ und ‘Wenn ich nichts von dir höre, werde ich kommen und dich finden. Und dich zum Reden bringen.’ Ich bin ernsthaft um meine persönliche Sicherheit besorgt und ersuche Euch dringend darum, Eure Wahl für meine Stelle noch einmal zu überdenken. Sie hat des Weiteren damit gedroht, mich ihre Geringschätzung spüren zu lassen, indem sie mich in der Öffentlichkeit erniedrigende und peinliche Aufgaben durchführen lässt.” Er ließ beide Blätter sinken. “Führungspotential wie es im Buche steht.”

“Was wirst du deswegen unternehmen?”

“Ich?” Tyront schüttelte den Kopf und lächelte breit. “Nicht das Geringste. Und warum sollte ich? Ich freue mich auf seine Nachrichten, sie amüsieren mich. Und er hält mich unabsichtlich auf dem Laufenden darüber, was sie so treibt. Sozusagen ein unbezahlter Agent. Ein sehr nützlicher junger Mann.”

Enric grinste und schüttelte den Kopf. “Du durchtriebener, alter Halunke. Hat dir Eryn ebenfalls irgendwelche Briefe geschickt, um dich dazu zu bewegen, dass du deine Meinung änderst?”

“Nein, überhaupt nichts. Aber ich wäre sehr daran interessiert, was sie zu sagen hat. Ich schätze, ich werde sie um einen Fortschrittsbericht bitten müssen. Wenngleich ich befürchte, dass es einige Zeit in Anspruch nehmen wird, ihn zu lesen. Ihre Handschrift wirkt etwas… ungeduldig, um es milde auszudrücken. Und nachdem ich regelmäßig Orrins Gekritzel entziffern muss, will das etwas heißen. Ich gehe davon aus, dass sie nicht allzu angetan davon ist, Berichte zu schreiben?”

“Nein, nicht wirklich. Wäre ihr Terminplan nicht so voll, würde ich stattdessen regelmäßige Treffen vorschlagen.”

“Ich werde darüber nachdenken. Wir können das besprechen, wenn sie von ihrer Expedition zurückgekehrt ist.” Er sah den jüngeren Mann an. “Hast du dich schon an den Gedanken gewöhnt, dass sie zehn Tage lang mit einem Haufen Fremder durch die Wälder streifen wird? Es sind nur mehr sieben Tage, bis es losgeht, wenn ich mich nicht irre.”

Enric seufzte. “Nein, nicht wirklich. Ich bin noch immer nicht glücklich darüber, aber sie ist fest entschlossen, es zu tun und ich sehe ein, warum. Sie ist jetzt seit einiger Zeit in der Stadt eingesperrt. Nachdem sie auf dem Land aufgewachsen ist, kann ich verstehen, dass sie für eine Weile von hier weg will.”

“Du machst dir keine Sorgen darüber, dass sie nicht zurückkommen könnte, oder?”

“Nein”, sagte er mit gerunzelter Stirn. “Warum? Denkst du, das sollte ich?”

Tyront grinste. “Woher soll ich das wissen? In dieser Hinsicht habe ich keinerlei geheime Informationen von meinen Agenten erhalten, wenn es das ist, worauf du hinaus willst. Keine geheimen Pläne zur Flucht aus dem Königreich, die mir zu Ohren gekommen wären. Sie hat übrigens alle ihre Tests erfolgreich abgelegt. Zumindest diejenigen, die sie schon hinter sich hat. Da ist noch immer einer in Politischer Strategie offen, denke ich. Lord Poron will sie in den nächsten Tagen über einen Teil der Bücher testen.”

“Gut. In den letzten Wochen hat sie ihre Bücher sogar mit ins Bett genommen, also ist es gut, dass das nicht vergebens war.” Enric spitzte die Lippen. “Es gibt da etwas, worüber ich nachgedacht habe. Ein paar von Verns Unterrichtsstunden wurden aufgrund seines Heilertrainings verschoben. Ich habe mich gefragt, ob er nicht zwei oder drei seiner Gegenstände gemeinsam mit Eryn anstatt dem Rest der Klasse fortsetzen könnte. Er ist klug genug, um mit einer höheren Lerngeschwindigkeit zurechtzukommen.”

“Und du denkst dabei natürlich überhaupt nicht an deine Gefährtin, sondern nur an die Vorteile für den Jungen?”, fragte Tyront milde.

Enric überlegte genau, bevor er darauf antwortete: “Überhaupt nicht wäre vielleicht nicht ganz korrekt, aber da der Junge erheblich davon profitieren würde, denke ich nicht, dass ich Eryn hier ungebührlich bevorzuge.”

“Ich verstehe”, antwortete Tyront langsam. “Dann achten wir wohl besser darauf, dass wir den Vorteil für den Jungen betonen, wenn wir es seinen Lehrern mitteilen. Es könnte sonst so erscheinen, als ob du versuchtest, den Orden umzukrempeln, um deine Gefährtin glücklich zu machen. Und diesen Eindruck wollen wir doch wohl vermeiden, nicht wahr?”

Enrics Augen verengten sich. “Du denkst, ich bin ein verliebter Narr, oder?”

“Spielt es eine Rolle, was ich denke?”, sagte er mit einem dünnen Lächeln und wurde dann wieder ernst. “Enric, du hast in all den Jahren niemals irgendwelche Forderungen gestellt oder um Gefälligkeiten gebeten, seit du in die Ränge der Macht aufgestiegen bist. Aus meiner Sicht steht dir ein wenig Narrheit durchaus zu. Ich habe lange darauf gewartet, dass du eine Gefährtin findest. Und solange deine Pflichten dadurch nicht vernachlässigt werden, habe ich kein Problem damit, mit dir hin und wieder etwas nachsichtig zu sein.”

Der jüngere Mann nickte langsam und verinnerlichte die Bedeutung von Tyronts Worten. Großzügigkeit verpackt in eine Warnung. Das war typisch für Tyront.

* * *

Eryn seufzte und schüttelte den Kopf über die Nachricht, die sie soeben von den Apothekern erhalten hatte. Es waren nur noch drei Tage bis zum Beginn der Expedition übrig. Offenbar dachten sie, dass dies genau der richtige Zeitpunkt wäre, um einen Lehrplan für das Training, das sie gemäß der Vereinbarung mit dem Orden zu absolvieren hatten, zu verlangen. Sie hatte keinerlei Absicht, noch vor ihrer Abreise einen zu erstellen. Besonders, da das Heilergebäude ohnehin noch nicht fertig war – und das war immerhin der Ort, an dem der Unterricht stattfinden sollte.

Eine Idee ließ ihre Augen schelmisch aufblitzen. Sie würde die Apotheker an Rolan verweisen. Zumindest würde ihn das beschäftigen, bis sie wieder zurück war. Sie waren ziemlich fordernd, und die Gespräche mit ihnen waren nicht eben angenehm. Und es konnte ohnehin nicht schaden, sie für die Zukunft bereits jetzt daran zu gewöhnen, dass sie sich an ihren Assistenten wenden mussten.

Sie blickte zurück zu dem letzten der Bücher, das sie für ihre Prüfung mit Lord Poron morgen noch durchgehen musste. Zehn Tage ohne irgendwelche Bücher über was auch immer der Orden als nützliches Wissen erachtete, keine Tests, nichts. Das erschien ihr nun wie ultimativer Luxus. Sie schüttelte ihren Kopf über ihre umherwandernden Gedanken und erhob sich, um ihr Glas aufzufüllen. Sie hatten es erfolgreich bewerkstelligt, dass einer Frau, die Bücher ihr Leben lang verehrt und sich an ihnen erfreut hatte, nun vor ihnen graute und sie davon träumte, mehrere Tage lang keine einzige Seite lesen zu müssen. Wenn der Orden das als effektive Ausbildungmethode erachtete, würde sie mit ein paar Leuten hier sprechen müssen.

Sie warf einen Blick auf die Kiste voll mit ledernen Hosen, die kurz zuvor geliefert worden waren und entschied, dass sie sich eine Pause von ihrem Buch verdient hatte. Junar war ebenfalls recht fleißig gewesen. Zusätzlich zu ihrer regulären Arbeit hatte sie die Kleidungsstücke für Vern, Plia und Eryn fertiggestellt.

Rolan hatte sie durch einen Boten wissen lassen, dass sämtliche Vorräte, Koch- und Schlafutensilien, Papierboxen und sonstige Ausrüstung beinahe vollständig und bereit zum Zusammenpacken waren. Alles schien nach Plan zu laufen.

Sie sah nachdenklich zu der Tür, hinter der Enric arbeitete. Je näher der Tag der Abreise rückte, desto rastloser fühlte sie sich. Zuerst hatte sie es der Aufregung zugeschrieben, aber jetzt begann sie den Verdacht zu hegen, dass ein Teil von ihr ihn nur ungern zurückließ.

Was er für sie getan hatte, die Heilerstunden mit Vern, hatte sie berührt. Er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sie sehr gerne mochte, aber das… Es schien, als ob seine Zuneigung zu ihr tiefer ging, als sie erwartet hatte. Vielleicht war es sogar Liebe?

Sie erschauderte bei dem Wort. Ihr Vater hatte sie mehr als einmal davor gewarnt. Er hatte ihre Mutter geliebt, und diese Verbundenheit hatte sich für ihn nicht eben als Segen erwiesen. In ein anderes Land fliehen und all diese Zeit über seine wahre Identität verbergen zu müssen – das hatte es ihm eingebracht. Er hatte ihr gesagt, dass sie, seine Tochter, das einzig Gute war, das aus seiner Liebe entstanden war.

In den Jahren, die sie in ihrem kleinen Dorf verbracht hatte, hatte sie ein paar glückliche Paare gesehen, aber viele waren alles andere als das gewesen. Sie hatte Gewalt, Untreue, schwelende Unzufriedenheit, enttäuschte Hoffnungen und Frustration beobachtet. Und was all diese Gefühle auf lange Sicht aus Menschen machten. Da gab es Paare, die zum Zeitpunkt ihrer Kommitment-Zeremonie Glückseligkeit ausstrahlten und nur wenige Jahre später kaum noch in der Lage oder willens waren, einander in die Augen zu sehen. Es war erstaunlich, wie viel sich zwischen zwei Menschen verändern konnte, die einander ursprünglich mit Leib und Seele zugetan und in, nun ja, Liebe verbunden gewesen waren.

Dass ein Gefährte zurückgelassen wurde, kam auf dem Land nicht häufig vor. Es war wichtig, dass man zeigte, dass man den Lebensbund ehrte. Man nahm keine Rücksicht, wie viel Unzufriedenheit und Verbitterung zwischen den beiden Menschen herrschte. Sie hatten sich mit einem Eid, törichterweise in einer sehr optimistischen Stimmung geschworen, aneinander gefesselt. Ihn aufzulösen wäre wie Betrug. Und diejenigen, die selbst in einer unglücklichen Beziehung gefangen waren, erwiesen sich als die strengsten Tugendwächter, um sicherzugehen, dass die anderen ebenso sehr litten.

Sie war entschlossen gewesen, niemals in diese Falle zu geraten. Es wäre kaum möglich gewesen, ihre magischen Fähigkeiten geheim zu halten, wenn sie einer anderen Person ständig so nahe gewesen wäre. Ganz zu schweigen davon, dass sie die Unglückseligkeit vermeiden wollte, die sie gesehen hatte.

Aber dann waren da der König und Enric mit ihren eigenen Ideen und Plänen gewesen. Enric hatte ihr am Abend ihres Kommitments gesagt, dass er ohnehin geplant hatte, sie um ihre Hand zu bitten, auch ohne die Einmischung des Königs. Er hatte ihr aber mehr Zeit geben wollen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie fragte sich, wie er reagiert hätte, wenn er sie eines Tages gefragt und sie ihn aus Angst vor zukünftigem Elend zurückgewiesen hätte.

Das waren jetzt jedoch unnütze Gedanken. Sie war nun in genau der Falle gefangen, die sie immer vermeiden wollte. Zu ihrer Erleichterung und Überraschung hatte sie sich bislang weniger als Folter, sondern als größeres Vergnügen erwiesen, als sie zu hoffen gewagt hatte.

Aber emotionale Bindungen hatten auch ihre Nachteile. Was, wenn einer von ihnen eines Tages damit begann, den anderen zu verachten oder sich in jemand anderen verliebte? Oder sich in der Partnerschaft einfach nur langweilte?

Sie rieb mit den Händen über ihr Gesicht und schob diese Gedanken weit weg. Es gab keine Garantie, dass dies hier funktionieren würde. Warum also sollte sie es nicht genießen, solange es währte? Genau, dachte sie und seufzte über ihre eigene Torheit. Darum begann sie ihn auch bereits jetzt zu vermissen, noch bevor sie auch nur aufgebrochen war.

»Ende der Leseprobe«

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A.C. Donaubauer

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