„Was wäre wenn“ – Der Orden – Ein Gedankenspiel

„Was wäre wenn“ – Der Orden – Ein Gedankenspiel

Einführung

Ram’an von Haus Arbil runzelte verärgert die Stirn, als es an seiner Schlafzimmertür klopfte. Es kam nicht direkt zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn er und sein Gast hatten die aufregenderen Aktivitäten bereits abgeschlossen und genossen nun das Nachglühen mit einer ungezwungenen Unterhaltung im Bett. Aber eine Nachricht, die nicht einfach auf seinem Schreibtisch hinterlegt wurde, wenn er das nächste Mal sein Arbeitszimmer betrat, versprach, dringend und damit unangenehm zu sein. Das war nicht die Stimmung, in die er sich im Moment versetzen lassen wollte. Trotzdem schwang er seine Beine mit einer entschuldigenden Grimasse aus dem Bett und schritt, ohne sich die Mühe zu machen, sich zu bedecken, zur Tür, um sie einen Spalt zu öffnen. Sein jüngerer Bruder reichte ihm eine versiegelte Mitteilung.

“Malriel. Es scheint wichtig zu sein“, erklärte Ram’kel von Haus Arbil und fügte dann, als er den Gast seines Bruders durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen erspähte, hinzu: “Hallo, Intrea! Verzeih die Störung.“

“Schon gut“, antwortete sie gutmütig.

Ram’an schloss die Tür wieder und brachte die Nachricht, versiegelt mit den vier Symbolen, die das Wappen von Haus Aren bildeten, zurück zum Bett.

Als er sie gerade auf seinen Nachttisch legen wollte, um seiner Bettpartnerin zu signalisieren, dass er nicht vorhatte, sich von einer Nachricht ablenken zu lassen, anstatt sich auf sie zu konzentrieren, zog sie beide Augenbrauen hoch.

“Du willst mir doch nicht sagen, dass du eine Nachricht des mächtigen Oberhaupts von Haus Aren ignorierst, nur weil du mir gegenüber eine fehlgeleitete Vorstellung von Galanterie an den Tag legst?“ Sie deutete mit ihrem Kinn auf das cremefarbene Papier mit dem dunkelroten Siegel. “Mach schon, öffne sie.“

Ram’an lächelte. “Ich bin sicher, es kann warten.“

“Dessen kannst du dir nicht sicher sein, ohne sie zu lesen“, argumentierte sie. “Ram’kel meinte, es sei wichtig.“

“Aber wichtig ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit dringend.“ Er legte den Kopf schief. “Du scheinst viel neugieriger auf diese Nachricht zu sein als ich.“ Er nahm die Botschaft in die Hand und betrachtete sie kurz, bevor er sie ihr überreichte. “Hier. Befriedige deine Neugier, wenn es dir ein Anliegen ist.“ Er hielt sie hoch und außer Reichweite, als sie versuchte, danach zu greifen. “Was hältst du von einer kleinen Wette?“

Intrea grinste. “Du weißt, dass ich einer guten Wette nicht widerstehen kann!“

“Also gut. Wenn diese Nachricht in mir den unmittelbaren Wunsch oder Drang weckt, rasch zu handeln, werde ich das nächste Getränk, das wir auf den Markt bringen, nach dir benennen. So etwas wie Intreas Rache oder was auch immer dir beliebt.“

Sie lachte. “Das würde mir gefallen. Was schulde ich dir, wenn die Nachricht tatsächlich so unspektakulär ist, wie du vermutest?“

Ram’an überlegte einen Moment und schlug dann vor: “In diesem Fall wirst du endlich das Porträt von mir malen, das du mir schon seit drei Jahren verweigerst.“

Ihr Stöhnen wurde von dem Kissen, das sie sich aufs Gesicht drückte, gedämpft. “Nein!“, kam die kaum hörbare Antwort.

“Es tut mir leid, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dich richtig verstanden habe – das war ein Ja, oder?“

Sie schob das Kissen beiseite und rollte mit den Augen. “Gut – wenn du gewinnst, bekommst du das verflixte Porträt, auf das du scheinbar nicht verzichten kannst.“ Schnell, bevor er sie wieder aus ihrer Reichweite bringen konnte, schnappte sie ihm die Nachricht aus der Hand, durchbrach das Siegel und entfaltete das einzelne Blatt des stabilen, teuer anmutenden Papiers.

Ram’an beobachtete, wie ihre Augen mehrere Zeilen überflogen, und runzelte die Stirn, als ihr Gesichtsausdruck mit jeder Sekunde an Verblüffung gewann.

Schließlich blickte sie auf. Ihre Miene war ernst und die entspannte Stimmung von zuvor war zur Gänze verflogen.

“Es geht um Maltheá. Wie es scheint, hat man sie endlich gefunden.“

Kapitel 1

Eryn gähnte und legte den Kopf in den Nacken. Allein in ihrem Haus am Waldrand, nur wenige Minuten vom Dorf entfernt, sparte sie sich die Mühe, sich die Hand vor den Mund zu halten. Der Patient, von dem sie hoffte, dass es der letzte für diesen Tag sein würde, war gerade aufgebrochen. Er hatte ein pflanzliches Heilmittel erhalten, das ihn glauben lassen sollte, der Inhalt des Fläschchens habe ihn geheilt und nicht etwa der heimlich angewandte magische Impuls, den sie mit einer beiläufigen Berührung in seinen Körper gesandt hatte.

Sie verrichtete ihre Arbeit als Heilerin mit Leidenschaft, auch wenn die Notwendigkeit, ihre Magie geheim zu halten, ihre Arbeit schwieriger machte, als sie es unter anderen Umständen wäre. Ihr ganzes Leben lang hatte sie darauf geachtet, ihre Gabe zu verbergen. So wie es ihr Vater ihr immer wieder eingeschärft hatte, bevor er vor zwölf Jahren einen frühen und gewaltsamen Tod erlitt. Ein Tod, bei dem sie selbst eine unrühmliche Rolle gespielt hatte, die sie bis heute verfolgte. Nicht mehr so intensiv wie in der Vergangenheit, aber in unvorbereiteten Momenten kehrten die Erinnerungen zurück und brachten ihr erneut die Taten ins Bewusstsein, mit denen sie gegen die Werte und Anweisungen ihres Vaters verstoßen hatte. Ihre größte Schande. Zumindest hatte niemand außer ihr selbst davon Kenntnis, denn dazu wäre das Wissen um ihre magischen Fähigkeiten notwendig gewesen. Und wenn man bedachte, dass Frauen im Königreich Anyueel angeblich keine Magie besaßen, würde ein solches Wissen wahrscheinlich eine ganze Reihe neuer Probleme für sie mit sich bringen, gegen die womöglich sogar der Tod ihres Vaters verblassen würde.

Eryn erhob sich von ihrem Stuhl und raffte den Sack mit dem Gemüse zusammen, den man ihr für ihre Dienste übergeben hatte. Es würde für ein paar schmackhafte Mahlzeiten in den nächsten Tagen reichen, den Rest würde sie draußen in dem Erdloch lagern, in dem die Feldfrüchte frisch blieben.

Draußen war es bereits dunkel, und nun, wo die Sonne untergegangen war, kälter, als ihr lieb war. Sie fühlte sich zu erschöpft und zu müde, um sich jetzt noch einmal in einen Mantel zu hüllen und ihre warmen Schuhe anzuziehen.

Mit einem weiteren Gähnen streckte sie sich, dann zog sie ihren blonden Zopf, der ihr bis unter die Schulterblätter reichte, über die Schulter nach vorne, um das Band zu lösen und die geflochtenen Strähnen voneinander zu trennen.

Ihr Blick fiel auf das Durcheinander auf dem großzügigen Esstisch. Die Hälfte der Fläche war mit getrockneten und frischen Kräutern in diversen Verarbeitungsstadien bedeckt, dazwischen standen Glasfläschchen in verschiedenen Größen und Formen, eine kleine Waage und drei verschiedene Messer. In der Zeit zwischen den Patientenbesuchen füllte sie ihre medizinischen Vorräte auf, so dass das Aufräumen im Laufe des Tages wenig Sinn machte. Da nicht mehr viel Material übrig war, das sie zu Medizin verarbeiten konnte, plante sie für den nächsten Tag eine Kräutertour. Eine ziemlich ausgedehnte Exkursion, die sie in höher gelegene Gebiete führen würde, wo bestimmte Arten gediehen, die in den umliegenden Wäldern und auf den Wiesen nicht zu finden waren.

Sie wusste, dass sie den Tisch abräumen und alles verstauen sollte, so wie es ihr Vater immer von ihr verlangt hatte. Wenn sie sich jetzt damit begnügte, alles so zu lassen, wie es war, würde sie das nächste Mal, wenn sie arbeiten wollte, nur noch mehr Zeit benötigen und noch weniger Begeisterung verspüren, um Ordnung zu schaffen.

“Sich mit einem schmutzigen Arbeitsplatz herumschlagen zu müssen, wenn alle Motivation und Energie darauf gerichtet sind, produktiv zu sein, ist niemals hilfreich“, murmelte sie und zitierte damit die Worte, die sie oft von ihrem Vater gehört hatte, wenn sie versucht hatte, sich vor dem Aufräumen ins Bett zu schleichen.

Sie runzelte die Stirn, als es erneut an der Holztür ihres kleinen, aber gemütlichen Domizils klopfte. Wer nach Einbruch der Dunkelheit auftauchte, brauchte in der Regel dringend Hilfe. Sonst blieben die Leute im Dorf und warteten auf den nächsten Tag, so gebot es die Höflichkeit. Für einen Notfall klang das Klopfen allerdings nicht eindringlich genug.

Der Gedanke, dass es sich um einen Freundschaftsbesuch handeln könnte, wie es unter den Dorfbewohnern üblich war, kam ihr nicht in den Sinn. Sie hatte es immer vermieden, freundschaftliche Beziehungen zu Menschen aufzubauen, die dazu führen konnten, dass ihr jemand nahe genug kam, um das Geheimnis ihrer Magie zu ergründen. Deshalb würde auch niemand auf die Idee kommen, mit einem Kuchen oder einer Flasche Wein vor ihrer Tür aufzutauchen, um einen gemütlichen Abend mit ihr zu verbringen.

Sie überlegte kurz, ob sie das Klopfen ignorieren und vorgeben sollte, sie sei unterwegs, doch durch die Fenster war natürlich das Licht aus dem Haus zu sehen. Es war nicht so, dass sie Angst vor Fremden hatte, die zu ungewöhnlichen Zeiten vor ihrem Haus auftauchten, wie es bei anderen Frauen, die allein an einem abgelegenen Ort lebten, die Regel war. Ihre Magie ermöglichte es ihr, sich gegen alle kriminellen und körperlich stärkeren Elemente durchzusetzen, die sie berauben oder ihr auf andere Weise Schaden zufügen wollten. Ein wenig Magie auf die richtigen Muskeln gerichtet, mehr brauchte es dafür nicht.

Im Moment war sie einfach nur ausgelaugt und ermüdet, und die Aussicht auf einen weiteren Patienten war im Moment nicht besonders erfreulich. Doch ein Mensch in Not durfte niemals abgewiesen werden – niemals. Auch das war eine der eisernen Regeln ihres Vaters.

Mit schweren Schritten wandte sie sich der Tür zu und hoffte, dass die Sache wenigstens schnell erledigt sein würde.

Als sie die Tür öffnete, sah sie einen Mann. Mehr ließ sich auf den ersten Blick nicht über ihren Besucher sagen. Zumindest deuteten seine breiten Schultern und seine Größe darauf hin.

“Ja?“, fragte sie höflich und beobachtete, wie er die Hände hob, um die Kapuze des dunkelgrauen Umhangs zurückzuschieben, der ihn fast vollständig bedeckte.

Sie zuckte zusammen und stolperte zwei Schritte zurück, als ein dunkler Haarschopf über einem gebräunten, markanten Gesicht zum Vorschein kam, das nicht viel älter war als sie selbst.

Dunkles Haar. In einem Land blonder Menschen.

Erinnerungsfetzen von vor über zwanzig Jahren brachen ungeordnet und verwirrend über sie herein: dunkle Haare im Spiegel, der Versuch, sie zu verstecken, das fast vergessene Wissen, dass diese einst ein Teil von ihr gewesen waren.

Der Fremde musterte sie mit einem Blick, als suche er etwas – und hätte es gefunden. Zumindest deutete sein zufriedenes Halblächeln darauf hin.

“Hallo, Maltheá“, erklang eine weiche, angenehme Stimme mit fremdländischem Klang. “Es ist lange her.“

*  *  *

Ram’an blinzelte, als ihm die Tür recht heftig vor der Nase zugeschlagen wurde. Er hatte den offensichtlichen Schock auf ihrem Gesicht bemerkt, also war ihre Reaktion nicht gänzlich überraschend. Aber es verkomplizierte die Dinge. Es wäre wesentlich praktischer gewesen, wenn sie regungslos dagestanden hätte. Dann hätte er die Schwelle überschreiten, die Tür hinter sich schließen und ihr mit ruhiger Stimme und unaufgeregten Gesten versichern können, dass er keine Gefahr für sie darstellte.

Jetzt aber stand er vor ihrem Haus und hatte keine Möglichkeit, ohne Einbruch hineinzukommen. Wenn er sich gewaltsam Zugang zu ihrem Zuhause, ihrem Zufluchtsort, verschaffte, wäre es deutlich schwieriger, sie von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Er malte sich aus, wie er sich hinter dem großen Tisch, den er erspäht hatte, duckte, um den Töpferwaren auszuweichen, die sie in seine Richtung schleuderte.

Doch ihre Tür einzutreten war nicht die einzige Option, die ihm blieb. Zumindest noch nicht. Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, um ihr Zeit zu geben, sich von dem unerwarteten Anblick zu erholen, den er ihr garantiert geboten hatte. Dann hob er erneut die Faust und klopfte, wobei er darauf bedacht war, es so wenig bedrohlich wie möglich klingen zu lassen.

Mehrere Herzschläge lang geschah nichts. Keine Reaktion, kein Laut von innen. Gerade als er erneut klopfen wollte, hörte er ihre Stimme aus dem Haus. Eine Stimme, die der ihrer Mutter glich und doch anders war. Sie klang fremd, wie eine Einheimische.

“Wer bist du? Was willst du?“

Er versuchte zu entscheiden, was er aus diesen zwei kurzen Sätzen herauslesen konnte. Angst? Ja, aber sie war verhalten und keineswegs die vorherrschende Emotion, die er wahrnahm. Sie war nicht als Mitglied von Haus Aren aufgewachsen, zumindest nicht lange, aber dass sie vor unerwarteten und potenziell gefährlichen Situationen nicht zurückschreckte, war definitiv ein Charakterzug, den ihre Mutter gutheißen würde.

In ihren Fragen schwang eine gewisse Aggressivität mit, eine Forderung nach Rechtfertigung. Etwas, zu dem er mehr als bereit war, es sogar mit Eifer tat.

“Mein Name ist Ram’an von Haus Arbil. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden. Ich verspreche, dass ich dir kein Leid zufügen werde.“ Er wartete, ob seine Worte eine Reaktion auslösten.

Das taten sie. Sekunden später wurde die Tür mit derselben Wucht aufgerissen, mit der sie zugeschlagen worden war.

Schwer atmend stand sie da, während sie die ungewohnte Farbe seines Haares und die tiefe Bräune seines Gesichts in sich aufnahm. Er ließ ihr Zeit, seinen Anblick auf sich wirken zu lassen und wartete, bis sie wieder bereit war, mit ihm zu sprechen.

Nach einem kurzen Moment fand ihr Blick den seinen. Braune Augen, stellte sie fest. Genau wie ihre eigenen.

“Ich glaube nicht, dass ich diejenige bin, die du suchst.“ Ihre Worte kamen langsam, während sie immer noch mit einer Hand die Tür umklammerte, als wäre sie jeden Moment bereit, sie zuzuschlagen.

“Nein?“ Er erlaubte sich ein flüchtiges Lächeln und hoffte, dass es auf sie eine ähnliche Wirkung haben würde wie auf andere Mitglieder ihres Geschlechts.

Ihre Augen verengten sich argwöhnisch. So viel zur betörenden Kraft seines Lächelns.

“Du hast mich vorhin mit einem Namen angesprochen. Es war nicht meiner.“

Er nickte und blieb, wo er war, obwohl es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, sich an ihr vorbeizudrängen. Wenn er erst einmal in ihrem Haus war, würde es ihr schwer fallen, wenn nicht sogar unmöglich sein, ein Gespräch mit ihm zu vermeiden.

“Ich gebe zu, dass das aus deiner Sicht fragwürdig sein mag. Ich habe dich mit dem Namen angesprochen, den dir deine Familie gegeben hat, bevor du ins Alte Königreich gekommen bist. Das wäre Maltheá. Maltheá von Haus Aren, um genau zu sein. Aren ist der Name deiner Familie.“

“Mein Name ist Eryn“, beharrte sie, wobei ihre Haltung und ihr Tonfall ihm keinerlei Hoffnung gaben, dass sie ihn in nächster Zeit hereinbitten würde.

“Ich würde mich gerne mit dir zusammensetzen und dir alles erklären, wenn ich darf?“

Noch bevor sie den Mund öffnete, verriet ihm der Ausdruck in ihren Augen, dass seine Bitte zu früh gekommen war.

“Ich glaube, du bist am falschen Ort und solltest jetzt gehen. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“ Mit diesen Worten begann sie, die Tür zu schließen.

Ihr Puls beschleunigte sich noch weiter, als sie einen Widerstand in Form eines Körpers oder eines Teils davon spürte, der die Bewegung bremste. Sie ließ Magie in ihre Muskeln fließen, drückte mit mehr Kraft gegen die Tür und war überrascht, als sie nach ein paar Sekunden langsam wieder aufgeschoben wurde. Sie pumpte noch mehr Magie in ihre Muskeln, mehr als genug, um den biologischen Vorteil der überlegenen Körperkraft auszugleichen, den Männer im Allgemeinen gegenüber Frauen besaßen.

Nachdem sie es aufgegeben hatte, sich gegen die Bemühungen des Fremden zu wehren, sprang sie zurück und rannte die wenigen Schritte zu ihrem Tisch, um ihn als Barriere zwischen sich und dem dunklen Mann zu benutzen. Ihre Gedanken überschlugen sich, als sie beobachtete, wie er eintrat, seinen Mantel von den Schultern nahm und ihn an den Haken hängte, den er an der Wand neben der Tür entdeckt hatte, ganz so, als wäre er hier zu Hause. Es schien, als wolle er eine Weile bleiben, stellte sie mit wachsendem Unbehagen fest.

Warum war es ihr nicht gelungen, die Tür zu schließen? Wie war das möglich? Sie hatte gespürt, wie ihre Arme und Schultern an Kraft gewannen und sich ihre Beine gegen den Boden stemmten. Sie hatte also alles richtig gemacht.

Er wandte sich von dem Haken an der Wand ab, ging langsam auf den Tisch zu, zog einen Stuhl hervor und setzte sich unaufgefordert.

“Was willst du?“, fragte sie erneut, ihre Stimme war jetzt kaum mehr als ein Flüstern.

Sie hatte versucht, ihn mit Magie abzuwehren, und ihre Reaktion zeigte deutlich ihre Verwirrung und Angst, weil es nicht funktioniert hatte. Er beobachtete sie und war sich einigermaßen sicher, dass sie den Grund dafür noch nicht begriffen hatte – nämlich, dass auch er ein Magier war. Und zwar mächtiger als sie selbst, sodass er mit ihrer Kraft nicht nur mithalten, sondern sie sogar zu übertreffen vermochte. Das war eine Tatsache, die behutsam vermittelt werden musste.

“Ich würde gerne mit dir reden“, wiederholte er seine eigene Antwort von vorhin. Er wusste, dass es besser war, sie nicht zu bitten, sich zu ihm zu setzen. Es würde auch reichen, wenn sie einfach nicht weglief. Was er jedoch unterbinden konnte, falls sie den Versuch unternahm.

Er betrachtete ihr Gesicht, die vertrauten Züge, die er schon sein ganzes Leben lang kannte, wenn auch bei einer anderen Person. Sie ähnelte ihrer Mutter auf verblüffende Weise – bis auf die Haare. Die blonden Haare. Es sah nicht so verkehrt aus, wie es sollte, dachte er und versuchte herauszufinden, warum. Ihre Haut war blass genug, um mit der Haarfarbe zu harmonieren, entschied er nach einer Weile. Das würde sich ändern, sobald sie ein paar Wochen in ihrer Heimat verbrachte. Ihrer wahren Heimat. Dort, wo er sie hinbringen würde. Im Idealfall würde sie freiwillig mitkommen. Doch mitkommen würde sie müssen, auch wenn es ihr nicht gefiel.

“Dann rede“, räumte sie schließlich ein, nachdem ihr klar wurde, dass sie ihm wenig entgegenzusetzen hatte. Ihr Ton war weniger feindselig als fordernd. Offensichtlich hatte sie beschlossen, den Fremden, der sich trotz ihrer Bemühungen, ihn aufzuhalten, Zutritt verschafft hatte, nicht zu provozieren.

“Ich komme aus dem Land jenseits des Meeres, das auch dein Geburtsort ist“, begann er. “Du wurdest von dort entführt, als du erst fünf Jahre alt warst. Von deinem Vater.“ Er überlegte, wie viel er preisgeben sollte. Im Moment war es wahrscheinlich klug, so wenig wie möglich preiszugeben, um sie nicht zu verwirren oder zu erschrecken. Also würde er die Suchtrupps vorerst unerwähnt lassen.

“Wie kommst du darauf, dass ich woanders als hier geboren wurde?“, fragte sie kühl.

Das brachte ihn zum Lächeln. “Du siehst deiner Mutter so ähnlich, dass ich dich unter tausend Gesichtern hätte finden können. Es gibt noch etwas, das ich dir zeigen könnte, aber du müsstest mir erlauben, dich zu berühren, und ich glaube nicht, dass du dazu bereit bist.“

“Das ist sehr scharfsinnig von dir“, knurrte Eryn. “Und zu deiner Information: Meine Mutter ist tot. Sie starb, als ich noch ein Kind war.“

Ram’an schürzte die Lippen. “Hat Ved’al dir das erzählt?“

“Wer?“

Er dachte über ihre Frage nach. Er hatte den Namen seiner Tochter geändert, da war es nur natürlich, dass auch er selbst einen anderen angenommen hatte. Und es ihr nie mitgeteilt hatte.

“Ved’al von Haus Vel’kim, dein Vater. Das war sein richtiger Name. Ich nehme an, er hat hier einen anderen benutzt.“

Eryn schloss die Augen. Das war offensichtlich ein verwirrter und wahrscheinlich gefährlicher Mann. Es stimmte, er sah fremd aus und klang auch so, mit seiner seltsam melodischen Art zu sprechen, dem dunklen Haar und der gebräunten Haut. Was er ihr über seine Herkunft erzählte, war vermutlich die Wahrheit. Aber seine Versuche, ihr diese absurden Dinge über sich selbst einzureden, strapazierten ihre Geduld. Bis jetzt war nichts von dem, was er über sie behauptet hatte, zutreffend gewesen – weder ihr Name, noch der ihres Vaters, noch die Tatsache, dass ihre Mutter tot war.

“Ich will, dass du verschwindest. Und zwar sofort. Das ist mein Haus, und du hast es gegen meinen Willen betreten. Wenn du nicht freiwillig gehst, hole ich jemanden, der mir hilft, dich hinauszuwerfen.“

Sekundenlang starrten sie einander an. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme in einer unmissverständlichen Geste, die deutlich machte, dass er keinerlei Absicht hatte, das Haus zu verlassen.

Sie nickte langsam mit dem Kopf. Nun gut. Er hatte sich also für die harte Variante entschieden.

Dass sie im Dorf keine Freundschaften pflegte, bedeutete nicht, dass sie auf sich allein gestellt war, wenn sie Hilfe benötigte. Ihr Vater hatte einen ausgezeichneten Ruf genossen, und das galt auch für sie, seit sie seine Arbeit übernommen hatte. Wenn sie Hilfe brauchte, würden die Dorfbewohner sie gewähren.

“Wie du willst“, knurrte sie und eilte zur Tür. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und war erleichtert, als er keinerlei Anstalten machte, sie aufzuhalten.

Sie streckte die Hand nach dem Türknauf aus, um ihn zu ergreifen, als ein seltsames, fast schmerzhaftes Gefühl sie plötzlich zusammen zucken ließ. Sie versuchte es erneut und fuhr zurück, als etwas Unsichtbares… sie biss?

“Es ist ein Schild“, erklärte die Stimme des Fremden ruhig von seinem Platz an ihrem Tisch aus. “Ich nehme an, du hast nicht gelernt, wie man so etwas beschwört?“ Anscheinend hatte man ihr auch nicht beigebracht, Magieblitze abzufeuern, um einen Schild zu zerschmettern. Das war nützlich zu wissen. Weniger gefährlich für ihn.

Erst jetzt bemerkte sie das schwache Schimmern in der Luft – direkt vor der Tür. Es versperrte ihr den Ausgang. Ein Schild? Plötzlich fiel ihr das Schlucken von einem Moment auf den anderen schwer. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen solchen Schild errichtete, aber eines war ihr klar: Dazu gehörte Magie. Magie, zu der er fähig war. Für einen Moment schloss sie die Augen. Das war der Grund, warum sie die Tür nicht hatte schließen können – er hatte seine Muskeln auf die gleiche Weise gestärkt wie sie.

“Nimm das weg – und zwar sofort!“, forderte sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.

Er schüttelte den Kopf. “Nein. Ich kann dich jetzt nicht gehen lassen.“ Langsam schob er seinen Stuhl zurück, stand auf und drehte sich zu ihr um. Es war an der Zeit, ihr etwas zu zeigen, das sie nicht einfach so von sich weisen konnte. “Besitzt du einen Spiegel?“

“Was?“ Die Frage war so absurd, dass sie sich fragte, ob er noch bei Trost war.

Ram’an seufzte über ihre Entschlossenheit, selbst bei einer so harmlosen Frage unkooperativ zu bleiben. Er ließ seinen Blick über alle verfügbaren Wände und Oberflächen schweifen und suchte nach einem Spiegel, entweder an der Wand oder in einer kleineren, tragbaren Version. Schließlich entdeckte er einen kleinen Spiegel über einer Waschschüssel aus Keramik.

“Komm“, forderte er sie sanft auf und nickte mit dem Kopf in Richtung des Spiegels. Als sie sich nicht rührte, trat er auf sie zu und errichtete zwei weitere Schilde auf beiden Seiten. Er war sich absolut sicher, dass sie bei seiner Annäherung die Flucht ergreifen würde, und im Moment hatte er nicht die Absicht, ihr hinterherzulaufen.

Er sah, wie sich ihre Augen weiteten, als sie, nun besser auf den Anblick vorbereitet, das schwache Leuchten zu beiden Seiten von sich wahrnahm.

“Ich will dir nichts Böses“, wiederholte er, was er ihr zuvor gesagt hatte. “Ich möchte dir nur etwas zeigen. Es soll dir die Wahrheit dessen beweisen, was ich sage. Dazu brauche ich einen Spiegel.“

Jetzt war er nah genug und streckte ihr seine Hand mit der Handfläche nach oben als Einladung entgegen. Nach ein paar Sekunden ließ er die Hand sinken, ein wenig enttäuscht, aber nicht allzu überrascht, dass sie nicht darauf einging. Er überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Wenn er sie jetzt berührte, würde es mit Zwang geschehen. Und das wollte er vermeiden. Aber wenn sie ihm nicht erlaubte, ihre wahre Haarfarbe wiederherzustellen, würde sie alles ablehnen, was er ihr zu erklären versuchte. Es war der wirkungsvollste sichtbare Hinweis auf ihre Herkunft, und es schien, als müsste er sie dazu nötigen.

“Maltheá, ich werde deine Hand in meine nehmen und dich zu dem Spiegel führen“, erklärte er und hoffte, dass diese wenig bedrohliche Aussicht sie vom Versuch eines handgreiflichen Widerstands abbringen würde. Und über einen Versuch würde es auch nicht hinausgehen, sobald er erst einmal Körperkontakt mit ihr hergestellt und, falls nötig, ihre Muskeln unter seine Kontrolle gebracht hatte.

Langsam griff er nach einer ihrer zu Fäusten geballten Hände an ihrer Seite. Sie wirkte angespannt – und verzweifelt, bereit, diese Spannung auf die eine oder andere Weise zu entladen.

“Theá“, murmelte er leise und sah ihr dabei in die Augen.

Er war auf den Tritt vorbereitet, als er kam, und fing ihr Knie ab, bevor sie mit dem Fuß auf das anvisierte Ziel treffen konnte.

Von einem Moment auf den anderen spürte sie, wie die Spannung aus ihren Muskeln wich. Panik durchströmte ihr Gehirn, als ihre Glieder plötzlich nicht mehr ihren Befehlen gehorchten und seltsam schwer wurden, als sie versuchte, sie zu bewegen.

Der Fremde war nun viel zu nah. Er hatte seine Hand von ihrem Knie genommen und hielt ihre nun widerstandslos in seiner. Die Nähe zwang sie, den Geruch seiner Haut in sich aufzunehmen, eine Mischung aus seltsam vertrauten und unbekannten Düften.

Eine Hand an ihrem Kinn neigte ihr Gesicht leicht zu ihm empor. Seine warmen braunen Augen musterten ihr Gesicht nun aus nächster Nähe. Er ließ sich Zeit in dem Wissen, dass sie sich nicht länger wehren konnte.

Es gab so viele Dinge, die er ihr sagen wollte. Dinge, die sie vermutlich erschrecken würden. Dass er mit dem Wissen aufgewachsen war, dass sie ihm gehörte, dass er das Recht hatte, als erster Mann einen Eroberungsversuch zu starten, sobald sie beide alt genug waren. Dass diese Wahrheit immer noch in ihm lebte, obwohl sie seit mehr als zwei Jahrzehnten verschwunden war. Dass er es jetzt herausfinden musste, ob er die Kommitment-Vereinbarung erfüllen wollte, die ihre Mütter vor so vielen Jahren eingegangen waren. Und dass ihn schon diese ersten spannungsgeladenen Minuten in ihrer Gegenwart über alle Maßen fasziniert hatten.

“Komm“, murmelte er schließlich und befahl ihren Muskeln, ihm zu folgen, ohne dass ihr Verstand etwas dazu beitrug.

Gemeinsam umrundeten sie mit wenigen Schritten die Treppe, die zu Eryns Kinderbett führte, bis sie direkt vor dem Spiegel standen. Er war gerade breit genug, um ihre beiden Gesichter zu reflektieren. Er stellte sich hinter sie, hob die Hand und berührte leicht ihr Haar, das sich zu Eryns Entsetzen augenblicklich von blond in ein sattes Dunkelbraun verwandelte. Sie starrte auf ihr Bild und bemerkte nicht einmal, dass ihre Muskeln nicht mehr von dem Fremden kontrolliert wurden.

Der Anblick ihres eigenen Gesichts, umrahmt von dieser Farbe, weckte Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, als hätten sie nur darauf gewartet, wieder an die Oberfläche zu kommen. Eryn als Kind, als sie in den Spiegel blickte und sich zum ersten Mal mit blondem Haar sah. Ihr Vater, den sie als Treban kannte, war besorgt, weil sich die Farbe jedes Mal, wenn sie einschlief, wieder in Braun verwandelte.

Mit beiden Händen ihr Gesicht bedeckend, stand sie da, atmete und kämpfte gegen die Tränen an, die aus irgendeinem Grund darum bettelten, freigelassen zu werden. Erst dann bemerkte sie, dass ihr Besucher nicht mehr hinter ihr stand. Oder irgendwo in ihrer Nähe. Sie sah, dass er zum Tisch zurückgekehrt war und genau an der Stelle auf sie wartete, an der er bei seinem ersten Eintreten Platz genommen hatte.

Sie näherte sich ihm langsam und setzte sich ihm gegenüber, ohne ein Wort zu verlieren.

Er betrachtete sie schweigend mit verständnisvollem Blick.

Sie spürte, wie ihre Angst vor ihm, ihr Widerwille, mit ihm zu sprechen oder ihm auch nur zuzuhören, etwas Neuem wich: dem Verlangen, mehr zu lernen, der Verzweiflung über die enormen Lücken in ihrem Wissen über sich selbst.

“Ich habe einige Fragen“, flüsterte sie schließlich.

Der Fremde, der sich Ram’an nannte, nickte einmal, offensichtlich erleichtert über ihren Sinneswandel. “Dann wollen wir uns darum kümmern.“

*  *  *

Eryn öffnete die Augen und starrte auf eine Holzdecke, die viel zu nah war. Zumindest in diesen Tagen. Als Kind und auch als junge Frau war das der Anblick gewesen, mit dem sie jeden Morgen erwacht war. Bis sie im Alter von siebzehn Jahren in das Bett ihres Vaters im Erdgeschoss umgezogen war. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie sich zwei Jahre lang gewehrt und lieber in einer provisorischen Kammer auf Stelzen geschlafen, die jedes Mal knarrte, wenn sie hinaufkletterte, weil sie ursprünglich für ein Kind gebaut worden war.

Sie schloss die Augen und atmete aus. Sie erinnerte sich genau daran, warum sie die Nacht hier oben verbracht hatte, zehn Jahre nachdem sie widerwillig begonnen hatte, das Bett ihres Vaters zu benutzen. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass dieser seltsame Abend und ein guter Teil der Nacht, in der sie sich mit dem Eindringling unterhalten hatte, ein Traum gewesen sein mochten. Ram’an, dachte sie. Es fühlte sich nicht mehr richtig an, ihn einen Eindringling zu nennen. Nicht nach allem, was sie miteinander besprochen hatten.

In ihrem Kopf drehte sich immer noch alles, was er ihr erzählt hatte. Über ihre Mutter, die, anders als Eryn ihr Leben lang geglaubt hatte, nicht tot war, sondern quicklebendig. Und die darauf brannte, ihr einziges Kind nach mehr als zwei Jahrzehnten wiederzusehen. Und über ihren Vater, der aus seiner Heimat geflohen war, um der Strafe für Taten zu entgehen, die sie nicht wahrhaben wollte. Ram’an hatte ihr angeboten, sich einem sogenannten Lügenfilter zu unterziehen, einer magischen Methode, mit der sich feststellen ließ, ob jemand die Wahrheit sprach, aber sie hatte nie gelernt, wie man sie anwendete. Seine Bereitschaft, sich einem solchen Test zu unterziehen, hatte ihr jedoch ein mulmiges Gefühl bereitet.

Dann hatte er sie über ihr Leben hier in dem, was er das Alte Königreich nannte, befragt, ihr zugehört, Fragen gestellt und ihr ermöglicht, zum ersten Mal seit zwölf Jahren offen über das große Geheimnis ihrer Magie zu sprechen, und zum ersten Mal überhaupt mit jemand anderem als ihrem Vater. Es war ein bis dahin unbekanntes Gefühl der Freiheit, das er ihr verschaffte, das kostbare Geschenk, sich mehrere Stunden lang nicht verstecken zu müssen, nicht jedes Wort kontrollieren zu müssen, aus Angst, versehentlich das preiszugeben, was sie so sehr von allen anderen um sie herum unterschied.

Sie hatten bis zum Morgengrauen geredet, und Eryn hatte dem Mann, den sie nun als ihren Gast betrachtete, angeboten, die Nacht im Bett ihres Vaters zu verbringen. Die Angst, die sie empfunden hatte, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, und die Panik, als er in ihr Haus eingedrungen war, waren verflogen. Innerhalb weniger Stunden war daraus ein Widerwille geworden, ihn gehen zu lassen, wieder mit sich allein zu sein, ohne jemanden, mit dem sie reden konnte. Er hatte dankbar angenommen.

Sie hatte nicht daran gedacht, dass es gefährlich sein könnte, einem Fremden diese Art von Gastfreundschaft zu gewähren. Als sie wach auf dem Rücken lag und immer noch die schiefe Decke über sich anstarrte, fragte sie sich, warum sie so unvorsichtig und vertrauensselig gewesen war, wo man ihr doch beigebracht hatte, so etwas um jeden Preis zu vermeiden.

Vielleicht lag es an der Art, wie er sie behandelt hatte, wie er es geschafft hatte, sie glauben zu lassen, sie sei der interessanteste Mensch der Welt, und wie er an jedem Wort gehangen hatte, das ihr über die Lippen kam. Irgendwann hatte er ihr angeboten, ihr zu zeigen, wie sie ihre Haarfarbe ändern könne, und sie gefragt, ob er ihre Hand berühren dürfe. Sie hatte es erlaubt. Es war sogar … angenehm gewesen. Seine warmen, gebräunten Finger, die sich geschmeidig anfühlten, hatten sich um ihre gelegt und sie sanft gehalten, während er warme Magie in ihre Haut strömen ließ und ihr zeigte, wie man einen bestimmten, präzise geformten Schild errichtete, um den Weg abzulenken, den das Licht normalerweise nahm, wenn es von ihrem Haar reflektiert wurde. Es dauerte eine Weile, bis sie die Technik erlernt hatte, denn sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Schild erzeugt. Er hielt ihre Hand die ganze Zeit in seiner und ließ sie erst mit sichtlichem Widerwillen los, als sie es endlich vollbracht hatte.

“Maltheá?“, hörte sie seine Stimme leise von unten rufen, als wolle er sie nur ungern wecken, falls sie noch schliefe, aber gleichzeitig eine Antwort erhalten, falls nicht.

“Ja?“, antwortete sie nach ein paar Sekunden und fühlte sich seltsam unvorbereitet, die Leiter hinunterzuklettern und wieder mit ihm zu sprechen. Sie hatten über viele Dinge geredet, aber nicht über seine Pläne, jetzt, da er sie gefunden hatte.

Vielleicht war es an der Zeit, die in Erfahrung zu bringen.

“Ich hätte dir gerne Frühstück zubereitet“, begann er, als sie neben ihm stand. “Aber ich weiß nicht genau, was ich mit dem Gemüse anstellen soll, das ich gefunden habe. Zumindest nehme ich an, dass es sich dabei um Gemüse handelt.“

Obwohl sie sich in Nachthemd und Hose neben ihm zerknittert fühlte, während er sich offensichtlich schon gewaschen hatte, musste sie lächeln. Die Vorstellung, dass ein Mann ihr Frühstück servierte, war seltsam, ja geradezu absurd. Ihr Vater war der einzige Mann, der jemals morgens für sie gekocht hatte. Sie wusste, dass manche Männer ihre Partnerin nach einer leidenschaftlichen Nacht gerne verwöhnten, aber dafür war sie nie lange genug geblieben. Neben jemandem einzuschlafen, erhöhte das Risiko, entdeckt zu werden. Es war das erste Mal, dass sie theoretisch eine Nacht mit einem Mann verbracht hatte. Nun, es gab keine Wände zwischen ihnen, also war es im Grunde derselbe Raum.

Ihre Kehle schnürte sich zu, als er sie anlächelte. Seine Lippen enthüllten gleichmäßig weiße, gesund aussehende Zähne, seine dunklen Augen waren sanft und doch eindringlich, mit einem Funken Humor, der in den braunen Pupillen tanzte.

“Ich mache uns Frühstück“, bot sie an, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.

Ohne sich umzudrehen, bemerkte sie, dass er ihr knapp einen Schritt hinter ihr in die Küche folgte.

“Kann ich dir behilflich sein?“, fragte er und hielt inne, als sie sich langsam umdrehte und ihn anstarrte. Was für eine sonderbare Bitte.

“Warum?“

Auf ihre Frage legte er verwirrt die Stirn in Falten. “Wäre es dir lieber, wenn ich mich nicht an der Zubereitung unseres Essens beteiligen würde?“

Sie blinzelte mehrmals kurz angesichts der irrwitzigen Situation und öffnete und schloss zweimal den Mund, bevor sie schließlich antwortete: “Nun… ich meine … das ist ein ungewöhnliches Angebot. Du bist mein Gast, und dich für mich kochen zu lassen, ist nicht gerade meine Vorstellung von Gastfreundschaft.“

Fasziniert beobachtete sie, wie sich seine Gesichtszüge entspannten und seine Verwunderung in Belustigung umschlug. “Ich verstehe. Wir haben es hier wohl mit einem Unterschied zu tun, der auf unseren kulturellen Hintergrund zurückzuführen ist. In meiner Heimat gilt es als Privileg, gemeinsam mit dem Gastgeber das Essen zubereiten zu dürfen.“ Einen Moment später wurde seine Miene ernst. “Aber es liegt mir fern, mich aufzudrängen und dieses Privileg ungefragt für mich in Anspruch zu nehmen.“

“Nein, nein“, beeilte sie sich ihm zu versichern, “ich wollte nicht andeuten, dass deine Hilfe unwillkommen wäre. Hier würde es als seltsam, ja sogar als unhöflich angesehen werden, von seinen Gästen zu erwarten, dass sie einen Teil der Arbeit übernehmen, anstatt sich zurückzulehnen und bewirten zu lassen.“

Er lächelte wieder, und seine Wangen bildeten Grübchen, als er die Ärmel seines Leinenhemdes hochkrempelte. “Dann zeig mir, wie man diese seltsam aussehenden Dinge zubereitet, die ihr hier zu essen scheint. Wo ich herkomme, besteht unsere Morgenmahlzeit aus einer Schale kleingeschnittener Früchte.“

*  *  *

Eryn stellte einen Teller mit gebratenem Gemüse vor Ram’an und setzte sich, nicht zu nah, aber auch nicht zu weit von ihm entfernt.

Mit ihm zu kochen war… angenehm gewesen. Und seltsam erfrischend. Er hatte so viel Neugier für Dinge gezeigt, die für sie alltäglich waren, dass ihr langweiliges, alltägliches Gemüse plötzlich exotisch erschien.

Und immer wieder hatte er sie berührt. Kleine, beiläufige Berührungen, vielleicht unbeabsichtigt oder zumindest zufällig. Jedes Mal, wenn er ein Stück Gemüse oder ein Küchengerät von ihr entgegennahm, streifte er ihre Finger mit seinen.

Sie war sich ziemlich sicher, dass er mit ihr flirtete, und obwohl sie sich nicht ganz im klaren darüber war, ob ihr das in ihrer momentanen Situation behagte, wusste sie, dass es ihr schmeichelte und sie Gefallen daran fand. Das war gefährlich, denn sie war sich nicht vollkommen schlüssig, ob man ihm trauen konnte. Da war immer noch die Frage nach seinen Absichten.

“Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie und beobachtete, wie er ein Stück gelbe Wurzel in Kräuteröl probierte. “Du hast gesagt, du hast mich gesucht. Was passiert jetzt, wo du mich gefunden hast?“

Der zurückhaltende Blick in seinen Augen verriet ihr, dass seine Antwort sie vermutlich nicht allzu sehr erfreuen würde. Die Tatsache, dass er seine Gabel beiseite legte, um ihr seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, war ein weiterer Hinweis.

“Maltheá“, begann er und schien einen Moment lang versucht, nach ihrer Hand zu greifen, besann sich dann aber eines Besseren. “Ich werde dich nicht anlügen. Ich habe den Auftrag erhalten, dich nach Hause zu bringen. Von deiner Mutter.“

Eryn starrte mit klopfendem Herzen auf den Tisch. Das warme Gefühl, das seine Aufmerksamkeit noch vor wenigen Minuten in ihr ausgelöst hatte, war verschwunden. Plötzlich war er zu einer Bedrohung geworden. “Und wenn ich nicht aus meiner Heimat in ein fremdes Land und zu Menschen verfrachtet werden will, die ich nicht kenne?“

Schweigen folgte. Sie blickte auf, als eine warme Hand nach der ihren griff und sie festhielt, als sie sie wegziehen wollte.

“Ich verstehe dich vollkommen“, versicherte er ihr mit seiner sanften Stimme, während seine dunkelbraunen Augen die ihren trafen und ihren Blick festhielten. “Das hier ist alles, was du seit so vielen Jahren kennst, womit du vertraut bist. Du hast dir hier ein Leben aufgebaut und leistest den Menschen wertvolle Dienste, die sonst niemand hier erbringen kann. Der Gedanke, dass Menschen, die du noch nie getroffen hast und von denen du nicht einmal sicher sein kannst, ob du sie überhaupt magst, von dir erwarten, dass du alles aufgibst und ihren Wunsch nach Rückkehr erfüllst, muss beängstigend für dich sein.“

Langsam nickend beendete Eryn ihre Versuche, ihre Hand zu befreien, und erlaubte sich, seine Berührung und das warme Kribbeln, das sie in ihr auslöste, zu genießen.

“Sollen wir eine Abmachung treffen, du und ich?“, fragte Ram’an und wartete auf ein Zeichen von ihr, dass sie bereit war zuzuhören. Ihre neugierig und doch vorsichtig gehobenen Augenbrauen ermutigten ihn, fortzufahren. “Gib mir Zeit bis morgen Abend. Wenn es mir nicht gelingt, dich zu überzeugen, gemeinsam mit mir die Rückreise anzutreten, werde ich ohne weitere Überredungsversuche abreisen.“

Sie atmete aus und merkte erst jetzt, dass sie sekundenlang den Atem angehalten hatte. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. “Das klingt nach einem vernünftigen Vorschlag.“ Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: “Was wird meine Mutter tun, wenn du mit leeren Händen zurückkommst?“

Auch er verzog die Lippen zu einem Lächeln. “Werden dich blutige Geschichten über die unmenschlichen Qualen, die sie mir in einem solchen Fall bereiten würde, dazu bewegen, mit mir zu kommen?“

Sie schüttelte glucksend den Kopf und begann endlich zu essen. “Natürlich nicht. Die Aussicht, zu einer so schrecklichen Person gebracht zu werden, würde mich eher dazu bewegen, die Begegnung mit ihr zu vermeiden.“

Ram’an betrachtete sie und bedauerte, dass er sie auf diese Weise täuschen musste. Er war ein ausgebildeter Jurist und daher in der Kunst geübt, das zu formulieren, was technisch gesehen die Wahrheit war, in Wirklichkeit aber dazu diente, sie zu verschleiern. Wenn sie sich weigerte, mit ihm zurückzukehren, würde er keine Zeit mit dem Versuch verschwenden, sie umzustimmen. Er würde sie zwingen, mit ihm zu kommen.

Zurück in Takhan würde sie ihn dafür wahrscheinlich verachten. Was es zu einer beträchtlichen Herausforderung machen würde, ihre Hand zu gewinnen. Er lächelte in sich hinein. Es schien, als hätte er sich entschieden, ob er die Erfüllung der Kommitment-Vereinbarung zwischen ihrer und seiner Familie anstreben wollte oder nicht.

Kapitel 2

Lord Enric, stellvertretender Kommandant des Ordens der Magier, wischte sich mit dem Rücken seiner linken Hand über die feuchte Stirn, um zu verhindern, dass Schweißperlen seine Sicht während des Kampfes behinderten. In der rechten Hand hielt er den Griff seines Schwertes. Bisher hatte sein lederner Brustpanzer in dieser Trainingseinheit noch keinen einzigen Treffer abbekommen. Aber er gab sich nicht der Illusion hin, dass dies allein seinem Können zu verdanken war.

Sein Trainingspartner, Lord Orrin, war etwa fünfzehn Jahre älter als Enric, aber das war kein Nachteil, wenn es um Körperkraft und Ausdauer ging. Seine Schwertführung war unübertroffen. Das Einzige, was ihn daran hinderte, seinen jüngeren Gegner zu besiegen, war die Tatsache, dass seine magische Kraft zwar beträchtlich war, aber nicht mit der seines jüngeren Trainingspartners mithalten konnte. Sobald der Kräfteunterschied ein gewisses Maß überschritt, konnte er kaum noch durch überlegene Fähigkeiten ausgeglichen werden.

Enric wollte gerade eine vermutlich absichtlich ungeschützte Flanke angreifen und war zuversichtlich, dass ihm ein kleiner magischer Schub zur Erhöhung seiner Geschwindigkeit den nötigen Vorsprung verschaffen würde, als er einen Boten entdeckte, der auf die niedrige Steinmauer zulief, die den Trainingsbereich der Magier von seiner Umgebung trennte. Er hob eine Hand, um Lord Orrin zu signalisieren, dass eine kurze Unterbrechung nötig sei. Der Ältere ließ sofort seine Waffe sinken und drehte sich in die Richtung, in die sein Vorgesetzter blickte.

Beide Männer warteten geduldig, bis der Bote sie erreicht hatte und ihnen einen groben Umschlag überreichte, der mit einem derb geschnitzten Wachsemblem versiegelt war. Enric betrachtete es einen Moment, ohne es wiederzuerkennen. Mit einer schnellen Bewegung seines Zeigefingers riss er den Umschlag auf und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Er begann, die wenigen Zeilen zu lesen, runzelte die Stirn und reichte den Brief an den anderen Lord weiter als Aufforderung, ebenfalls einen Blick darauf zu werfen.

“Was denkt Ihr?“, fragte er nach einigen Sekunden.

Lord Orrin blickte besorgt auf. “Vielleicht ist es nichts.“

“Und wenn nicht?“

Der ältere Magier seufzte. “Dann stecken wir in gewaltigen Schwierigkeiten, weil wir es nicht überprüft haben.“

*  *  *

“Wie hättest du den Tag verbracht, wenn ich deine ländliche Idylle nicht so unsanft gestört hätte?“, fragte Ram’an und lehnte sich an den Rahmen eines offenen Fensters, durch das er sie dabei beobachtete, wie sie etwas pflückte, das aussah wie dunkelbraune Beeren von einem der vielen Büsche vor ihrem Haus, inmitten einer Vielzahl von Pflanzen.

Bevor sie das Haus verließ, hatte sie ihr Haar wieder maskiert. Nun, da er es in seiner ursprünglichen dunklen Farbe gesehen hatte, war er von dem Anblick etwas konsterniert, akzeptierte aber, dass sie die Illusion aufrechterhalten musste, falls ein zufälliger Besucher oder Patient ohne Vorwarnung auftauchte. Trotzdem.

Ihre Bewegungen kamen für einen Moment zum Stillstand, als sie sich ihrer ursprünglichen Pläne für diesen Tag entsann. “Ich wollte eine kleine Wanderung nach Norden zum Kräutersammeln unternehmen. Meine Vorräte gehen langsam zur Neige, und wenn ich bis zur letzten Minute warte, muss ich jedem Wetter trotzen, um sie rechtzeitig aufzufüllen.“

“Warum pflanzt du deine Kräuter nicht hier? Wäre es nicht viel einfacher, einen ständigen Vorrat direkt vor der Haustür zu haben, als lange Ausflüge in die Wildnis zu unternehmen?“

Darüber musste sie lächeln. “Wenn es nur so einfach wäre. Die gängigen Arten kann ich auf den nahe gelegenen Wiesen sammeln, aber ich brauche die seltenen, die in höheren Lagen wachsen. Und jetzt ist die richtige Jahreszeit, um sie zu sammeln und zu verarbeiten.“

Er legte den Kopf schief und sah ihr eine Weile zu, wie sie mit der Ernte fortfuhr. Der Korb in ihrer Hand war schon halb voll. “Dein Vater hat dich zur Heilerin ausgebildet. Glaubst du, du hättest diesen Beruf auch gewählt, wenn er nicht der einzige gewesen wäre, der dir zur Verfügung gestanden hätte?“

Eryns verwirrter Blick bei dieser Frage erinnerte ihn daran, dass sie keine Ahnung davon hatte, dass es in ihrer Heimat eine eher ungewöhnliche Kombination war, der Familie Aren anzugehören und gleichzeitig Heilerin zu sein.

“Das ist schwer zu beantworten. Es gibt nicht viele Berufe, die für Frauen zugänglich sind. Und meine Ambitionen gingen nie dahin, zu kellnern oder Kleider zu nähen. Aber darüber musste ich nie wirklich nachdenken. Es war immer klar, dass ich in die Fußstapfen meines Vaters treten würde. Es war die logischste Option, und ich habe sie nur zu gerne ergriffen.“

Ram’an unterdrückte ein Seufzen. Natürlich. Die Heilkunst zu erlernen war zumindest eine intellektuelle Herausforderung – im Gegensatz zu den anderen Berufen, die sie gerade erwähnt hatte. Dieses rückständige Land hatte eine ausgesprochen antiquierte Einstellung zu den Rollen, die seine weiblichen Bewohner einnehmen durften. Er war neugierig, wie sie auf die Begegnung mit Malriel von Haus Aren reagieren würde, ihrer Mutter und einer beeindruckenden, respektierten und manchmal gefürchteten Anführerin.

Als sie ihren Korb zu ihrer Zufriedenheit gefüllt hatte, kehrte sie ins Haus zurück, blieb vor ihm stehen und nahm eine dunkle, kugelförmige Frucht heraus, die sie ihm zum Probieren reichte.

“Hier, versuch das. Du hast gesagt, wo du herkommst, ist es deutlich wärmer und trockener, also gibt es solche Früchte bei euch wahrscheinlich nicht. Sie brauchen regelmäßigen Regen, und die Samen müssen über den Winter gefrieren, damit sie im Frühjahr zu neuen Setzlingen heranwachsen.“

Er betrachtete ihr Angebot einen Moment, dann nahm er es nicht aus ihrer Hand, sondern sah ihr in die Augen, führte ihre Finger an seinen Mund und berührte ihre Spitzen mit seinen Lippen. Interessiert beobachtete er, wie sie bei der Berührung kurz den Atem anhielt. Zu seiner Freude zog sie ihre Hand nicht zurück, während er kaute.

“Und?“ Ihre Stimme klang ein wenig angespannt, als wäre sie nervös.

Er betrachtete sie und kaute, während er die ungewohnten, aber keineswegs unangenehmen Empfindungen würziger Säure an seinen Geschmacksknospen vorbeiziehen ließ.

“Eine interessante Geschmackskombination“, kommentierte er nachdem er geschluckt hatte. “Wird das unser Mittagessen?“

“Ja, das wird es. Es ist schnell zubereitet, nahrhaft und mit der richtigen Kräutermischung wird es auch den verwöhntesten Gaumen nicht enttäuschen.“ Sie zog langsam ihre Hand zurück und lächelte. “Du kannst helfen, wenn du willst.“

“Es wäre mir eine Ehre“, antwortete er galant und folgte ihr in die Küche.

Nachdem sie ihm ein Schneidebrett und ein Messer zum Zerkleinern der Kräuter gereicht hatte, zögerte sie einen Moment und fragte dann: “Kannst du mir später noch ein wenig Magie zeigen? Meine Ausbildung endete vor vielen Jahren mit dem Tod meines Vaters. Und das Wenige, was er mir beigebracht hat, war hauptsächlich auf das Heilen bezogen. Jede auffällige Art von Magie wäre einfach gefährlich gewesen, weil sie das Risiko erhöht hätte, entdeckt zu werden.“

Ram’an lächelte und nickte. “Natürlich.“

Ihr Gesichtsausdruck war erleichtert und sie war froh, dass er ihre Bitte nicht für unverschämt hielt. “Gut. Das ist wohl für eine ganze Weile meine letzte Chance, etwas über Magie zu lernen.“

Er hörte auf zu hacken, legte das Messer beiseite und sah sie an. “Du hast dich also bereits entschieden, hier zu bleiben? Mir wäre es lieber, wenn du vorerst noch keine Entscheidung triffst. Ich habe noch mehr als einen Tag, um dich zu bewegen, mit mir zu kommen.“

Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete aus. Es wäre nicht fair von ihr, ihn glauben zu lassen, er hätte eine reelle Aussicht auf Erfolg in dieser Sache. Natürlich hatte sie mit dem Gedanken gespielt, sich mit ihm auf dieses verrückte Abenteuer einzulassen, einfach ihre Sachen zu packen und ins große Unbekannte aufzubrechen, um all die wunderbaren Dinge zu entdecken, die er erwähnt hatte, und etwas über Heilung und Magie zu lernen. Aber allein der Gedanke, ihr Leben hinter sich zu lassen, die Menschen, die sie regelmäßig um Hilfe baten, die keine Alternative zu ihren Diensten hatten, im Stich zu lassen, ließ sie trotz des warmen Wetters frösteln. Irgendwann vielleicht. Aber nicht jetzt.

“Ram’an, ich…“

Sein Zeigefinger auf ihren Lippen brachte sie zum Schweigen und hinderte sie daran, die Gedanken zu äußern, die sie so offensichtlich in Worte fassen wollte. Sein fesselnder Blick ließ ihr Herz bis zum Hals klopfen.

Er hatte eine klare Vorstellung von der Art von Magie, die er ihr zeigen wollte, aber wenn er versuchte, sie zu verführen und dabei scheiterte, würde er den wahrscheinlich letzten friedlichen Tag vergeuden, den sie für lange Zeit miteinander verbringen würden. Die Alternative war, gegen sein wachsendes Verlangen anzukämpfen, ihr näher zu kommen, sie zu schmecken, während sie so bequem in Reichweite war. Das mochte eine größere Herausforderung an seine Willenskraft sein, als er zu dieser Zeit und an diesem Ort zu bewältigen in der Lage war.

Langsam näherte sich sein Gesicht dem ihren, und er setzte langsam dazu an, seinen Finger durch seine Lippen zu ersetzen, um ihr die Möglichkeit zu geben, zurückzuweichen oder auf andere Weise ihren Unwillen zu zeigen. Ihre Pupillen weiteten sich, aber sie blieb, wo sie war, atemlos in Erwartung seiner Berührung, und zitterte kurz, als er die verbleibende Distanz überbrückte.

Sein warmer Mund presste sich auf ihren, zuerst sanft, um ihr Zeit zu geben, sich an seine Berührung zu gewöhnen, dann immer entschiedener. Seine Zunge glitt zwischen ihre Lippen und entlockte ihr ein leises Stöhnen.

Ihre Arme schlossen sich zögernd um seinen Oberkörper, als sein köstlicher Geschmack und seine subtile Geschicklichkeit ihr jedes Zeitgefühl raubten.

Entschlossen schob sie alle Zweifel beiseite, die ihr Vergnügen zu trüben drohten. Bald würde er fort sein. Und es war ihr nicht fremd, zwanglose, flüchtige Nähe zu genießen, wo echte Intimität nicht möglich war. Es gab also keinen Grund, sich dieses Vergnügen zu versagen, anstatt es in vollen Zügen zu genießen. Und die Art, wie seine Finger ihre Haut kneteten und streichelten, wie seine Lippen der Linie ihres Kiefers bis hinunter zu ihrem Hals folgten, und das Kribbeln, das sie hinterließen, verhießen beträchtliches Vergnügen.

*  *  *

Enric runzelte die Stirn, als seine Augen auch nach wiederholtem Absuchen der Küstenlinie nicht entdecken konnten, worauf die Nachricht so eindringlich bestand. Sein Pferd hinter ihm, ein hellbraunes Geschöpf von ruhiger Natur, stark und robust genug, um sein Gewicht lange Zeit ohne Ermüdung zu tragen, rieb zufrieden seinen Hals am Stamm des Baumes, an dem es festgebunden war.

“Irgendetwas zu sehen?“, rief er in Richtung Lord Orrin, der noch immer im Sattel saß und mit einem Fernrohr die felsigen Ränder absuchte, wo das Land auf das Meer traf.

“Nein“, kam die knappe Antwort. Er erkundete noch ein paar Minuten weiter, dann senkte er sein Instrument und schüttelte den Kopf. “Sind wir überhaupt sicher, dass dies der richtige Ort ist?“

Enric überflog noch einmal die Nachricht, die er vor drei Tagen erhalten hatte. “Es ist das richtige Dorf, und es gibt nicht viele Orte, an denen man ein Schiff verstecken kann, geschweige denn ein…“ Er blickte wieder auf den Zettel, um den Autor richtig zu zitieren. “…ein bedrohlich fremdländisch aussehendes Schiff.“

Der ältere Krieger in seiner braunen Robe verdrehte bei dieser Formulierung die Augen. “Wir hätten wissen müssen, dass jemand, der so etwas schreibt, zu Übertreibungen oder gar Wahnvorstellungen neigt. Wahrscheinlich hat er betrunken ein Fischerboot gesehen.“

Der hochgewachsene Magier zuckte mit den Schultern. “Trotzdem können wir die Meldung nicht ungeprüft als Geschwätz eines Betrunkenen abtun. Da eine Durchsuchung der gesamten Küste in diesem Gebiet mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als uns beiden lieb ist, schlage ich vor, dass wir den Absender aufsuchen und ihn freundlich bitten, uns zu dem fraglichen Ort zu führen. Wir haben seinen Namen, und das Dorf ist klein genug, dass die Einwohner uns den Weg zeigen können, wenn wir sie darum bitten.“

Er zweifelte nicht daran, dass jeder bereit und sogar begierig sein würde, ihnen zu helfen. Auch wenn die Leute nicht wussten, dass Enrics blaue Robe seinen Rang als zweitmächtigster Magier des Königreichs kennzeichnete, war dieses Kleidungsstück doch ein deutliches Zeichen dafür, dass er ein einflussreicher Magier war und daher Anspruch auf bevorzugte Behandlung hatte. Dazu gehörte Kooperation in jeder Form.

Lord Orrin nickte missmutig. Er hatte gehofft, den Kontakt mit den Einheimischen vermeiden zu können. Im Gegensatz zu den Stadtbewohnern waren sie es nicht gewohnt, Magier um sich zu haben. Entweder fürchteten sie sich vor ihnen, oder sie machten sich einen Spaß daraus, sie respektlos zu behandeln, um sich selbst und allen Zuschauern zu beweisen, dass sie Manns genug waren, den Zorn eines Magiers zu ertragen. Weder das eine noch das andere war von Vorteil. Der Schlüssel lag darin, jemanden zu finden, der weder besondere Verehrung noch Ehrfurcht vor Magiern hegte, aber mehr als bereit war, ihnen zu helfen, damit sie so rasch wie möglich wieder von der Bildfläche verschwanden.

“Also los“, murmelte er mit einer Stimme bar jeder Begeisterung.

*  *  *

Eryn stieß einen leisen Seufzer aus, um den Mann neben sich nicht zu stören, der nach mehr als einer Stunde wahrhaft beglückender körperlicher Intimität im Begriff war, in den Schlaf zu gleiten. Sie starrte an die Decke über dem ehemaligen Bett ihres Vaters und versuchte, das Gefühl des Bedauerns darüber zu unterdrücken, dass sie nach seiner Abreise nicht mehr in den Genuss seiner beträchtlichen Fähigkeiten und seines unbestreitbaren Geschicks auf diesem Gebiet kommen würde. Auf jeden Fall hatte er die Messlatte für ihre zukünftigen Bettpartner deutlich höher gelegt. Wahrscheinlich höher, als ihr lieb war, denn nun sah sie sich in der Gefahr, jeden einzelnen von ihnen mit ihm zu vergleichen.

Mit einer Grimasse unterdrückte sie einen weiteren Seufzer. Sie hatte noch nie mehr als ein paar Begegnungen mit einem einzigen Mann genossen, weil sie stets darauf bedacht war, jede Art von Bindung zu vermeiden, die zur Aufdeckung von Geheimnissen führen konnte, die sie zu ihrer eigenen Sicherheit hüten musste. Bei Ram’an würde es nicht anders sein, das wusste sie, schon allein deshalb, weil er am nächsten Tag das Land verlassen würde. Doch schon jetzt gab es einige Dinge, die die Erfahrung mit ihm einzigartig machten – abgesehen davon, dass seine Berührungen ihre Haut und alles darunter in Flammen setzten. Noch nie zuvor hatte sie mit einem Mann in ihrem eigenen Haus geschlafen. Das war zu persönlich, zu privat – und damit zu gefährlich. Und er wusste, dass sie eine Magierin war, jemand, den die Leute hier wegen ihres Geburtsortes als Fremde betrachten würden, obwohl sie diese Ansicht keineswegs teilte. Sie erinnerte sich kaum an ihre frühe Kindheit, abgesehen von vagen Eindrücken von Gerüchen und verschwommenen Gesichtern. Aber in diesem Fall kam es nicht auf ihre Wahrnehmung an, sondern auf die aller anderen um sie herum. Das konnte ihr großen Ärger einbringen, wenn sie dem König oder dem Orden, seinen magischen Vollstreckern, gemeldet wurde.

Langsam drehte sie den Kopf, um zu sehen, ob Ram’an eingeschlafen war. Als sie sah, dass seine Augen geschlossen waren und er gleichmäßig atmete, setzte sie sich vorsichtig auf, stellte ihre nackten Füße auf den Holzboden und erhob sich so leise wie möglich. Mit einem letzten anerkennenden Blick auf seine gebräunte, wohlgeformte Gestalt wandte sie sich ab und begab sich in die Küche. Sie vermied es, auf die wenigen Stellen zu treten, von denen sie wusste, dass sie ein leises Knarren verursachen würden. Als sie an dem bequemen Ohrensessel ihres Vaters vor dem Kamin vorbeikam, griff sie nach der dunkelbraunen Wolldecke, die für kühlere Abende über der Rückenlehne drapiert war, und wickelte sich darin ein.

Es gab eine Sache, die sie auf keinen Fall ändern wollte, egal wie einzigartig jede ihrer Interaktionen mit ihm gewesen war: Sie würde nicht mit ihm in einem Bett schlafen. Die Frage, ob sie die Nacht mit ihren Liebhabern verbringen würde, wenn ihre amourösen Aktivitäten beendet waren, hatte sich noch nie gestellt. Auch jetzt nicht, nur weil ihr letztes Abenteuer in ihrem eigenen Bett stattgefunden hatte. Er konnte das Bett haben, genau wie in der Nacht zuvor, während sie in ihre Kinderecke klettern und sich dort ausruhen würde, ohne diese höchst persönliche Situation zu teilen, in der sie absolut wehrlos war.

Im schwindenden Licht des Himmels, der sich inzwischen von Orange zu Dunkelblau verfärbt hatte, nahm sie einen irdenen Becher zur Hand und füllte ihn bis zum Rand mit Wasser aus einem Krug, den sie vor einigen Stunden aus dem Brunnen hinter dem Haus gefüllt hatte.

Als sie sich von der Küchentheke abwandte, schnappte sie nach Luft und spürte, wie ihre Finger den Becher losließen, als sie sich ohne Vorwarnung Ram’an gegenübersah. Seine Hand schnellte hervor und fing den Becher im Fallen auf, ohne mehr als ein paar Tropfen zu verschütten.

Mit einem zittrigen Lachen nahm sie den Becher wieder an sich und zog mit der anderen Hand verlegen das Plaid um ihre Schultern, das sie bis zu den Knien bedeckte. Er war völlig nackt und fühlte sich sichtlich durchaus wohl damit.

“Du bewegst dich ziemlich leise“, bemerkte sie. Mit ihrer Annahme, er sei eingeschlafen, hatte sie sich wohl getäuscht. “Der Schock eben hat mich bestimmt fünf Jahre meines Lebens gekostet“, scherzte sie.

Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht zu der Decke, in die sie sich gehüllt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass er sich daran störte.

“Trink aus“, befahl er sanft, ohne auf ihre Worte einzugehen. “Dann komm wieder zu mir ins Bett.“

Sie trank einen kleinen Schluck und wollte ablehnen, was für sie eher wie eine Anweisung als eine Bitte klang. In ihrem eigenen Haus nahm sie keine Befehle entgegen. Schon gar nicht solche, die gegen ihre Prinzipien verstießen.

“Das geht nicht. Ich schlafe nicht mit meinen Bettgenossen ein. Ich fürchte, es wird kein seliges Einschlafen mit mir in deinen Armen geben.“ Ihr Ton war gelassen, und sie wartete auf seine Reaktion, wobei sie sich mit Unbehagen daran erinnerte, dass er am Vortag beim Kräftemessen an der Haustür die Oberhand behalten hatte, was bedeutete, dass er stärker war als sie. Würde er sie zwingen, wenn er entschied, dass seine Wünsche wichtiger waren als ihre? Er wirkte so zuvorkommend und rücksichtsvoll, aber das konnte genauso gut eine Rolle sein, die er spielte, um sie zu sich ins Bett zu locken.

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als er ihr den Becher aus der Hand nahm und hinter ihr auf den Tresen stellte, bevor er an dem Stoff zog, bis ihr Brustansatz zu sehen war, ohne sie ganz zu entblößen. Er beugte sich vor und strich mit seinen warmen Lippen gemächlich über ihre Haut.

Eryn schloss die Augen und spürte, wie seine Hände kühner wurden, als sie sich nicht mehr gegen seine Berührung wehrte und er ihr die Decke vollständig vom Leib zog. Ram’an richtete sich auf und presste ihren nackten Körper mit seinem gegen die Theke.

“Ich hatte noch nicht die Absicht zu schlafen“, murmelte er an ihrem Ohr und legte eine Hand in ihren Nacken, um ihren Kopf leicht zu drehen, damit er ihren Mund erreichen konnte.

“Bist du sicher, dass du schon wieder bereit bist?“ Alle Befürchtungen, er könne ihr seine Zuneigung aufzwingen, waren vergessen. Plötzlich war sie mehr als entschlossen, das Beste aus der verbleibenden Zeit zu machen.

Sie spürte sein leises Lachen auf ihrer Haut mehr als sie es hörte. Er griff nach ihrer Hand und legte sie auf eine voll funktionsfähige Erektion, deren Ausmaße sie vor nicht allzu langer Zeit schon einmal genossen hatte. “Nicht nur bereit, sondern begierig und ungeduldig. Du würdest einen Toten in Wallung bringen, Theá.“ Damit hob er sie in seine Arme und ließ die Decke zerknüllt auf dem Küchenboden zurück.

»Ende der Leseprobe«

A.C. Donaubauer

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