Kapitel 1
Ein Erbe für Haus Vel’kim
“Warum kann ich die Schmerzen nicht blockieren?”, zischte Eryn mit zusammengebissenen Zähnen, als sich ihre Eingeweide mit einer weiteren Wehe verkrampften.
Valrad stand in der Klinik neben ihrem Bett und ertrug männlich ihren schraubstockartigen Griff um seine Finger. Die Spitzen muteten anhand der reduzierten Durchblutung bereits leicht bläulich an.
“Das sollst du gar nicht, weil dieser Schmerz nicht blockiert werden darf”, erklärte er geduldig. “Er begleitet dich durch die Geburt, gibt dir Signale.”
“Die Signale können mich gernhaben! Diese Qual soll einfach nur aufhören!”, stöhnte sie und blinzelte, als eine junge Frau das Zimmer betrat. In ihren Händen hielt sie etwas Langes und Goldenes. Einen Gürtel.
“Was genau glaubst du, was du damit anstellen kannst?”, schrie Eryn. “Du wirst mir keinesfalls meine Magie nehmen! Fort mit dir! Hinaus!” Das letzte Wort war ein heftiges Blaffen gewesen, das die junge Heilerin überraschenderweise unbeeindruckt ließ. Recht offensichtlich unbeeindruckt, wenn man von ihrer Miene ausging. Das war eindeutig nicht die erste launische Frau kurz vor einer Geburt, mit der sie es zu tun hatte.
“Valrad”, meinte die Frau sanft, “entweder ich überwältige sie, oder du legst ihn ihr an.”
“Das kannst du gern versuchen, meine Liebe”, erwiderte Eryn mit einem finsteren Blick, “aber sofern du nicht immun gegen Magie oder mir an Stärke überlegen bist, würde ich es nicht empfehlen. Die Chancen stehen gut, dass ich stärker bin als ihr beiden zusammen, also würde ich nicht einmal daran denken!”
“Aber nicht stärker als ich”, kam eine bedächtige Stimme von der Tür her. Ram’an trat ein und stellte die Tasche zur Seite, die er von der Aren Residenz für sie mitgebracht hatte.
“Das würdest du nicht!”, schnauzte sie ihn an.
Er nahm den Gürtel an sich, den ihm die Heilerin widerstandslos überließ und trat neben sie. “Eryn, es gibt einen sehr guten Grund dafür, weshalb die Kräfte einer Magierin beschränkt werden, wenn sie kurz vor der Geburt steht. Und nach dem, was gerade in der Senatshalle geschehen ist, würde ich meinen, dass er recht offensichtlich ist.”
“Ihr nehmt mir meine Kräfte weg, damit ich niemandem Schaden zufügen kann? Das werde ich nicht, ich verspreche es! Ich werde mich benehmen!”, flehte sie.
Er nahm ihre Hand in seine und drückte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. “Es tut mir leid, aber das lässt sich nicht vermeiden. Ich habe keinen Zweifel daran, dass du keinerlei Absicht hegst, jemanden zu verletzen oder etwas zu zerstören, doch die hattest du auch bei der Senatsversammlung nicht, wie ich annehme. Große Belastungen durch Gefühle oder Schmerzempfinden können dazu führen, dass Magier die Kontrolle verlieren. Und in deinem Fall, mein gutes Kind, mag das unversehens dazu führen, dass die gesamte Klinik über uns zusammenbricht”, erklärte er besorgt. “Und diesen Schmerz kannst du ohnehin nicht wegheilen. Deine Magie wäre nutzlos, und zusätzlich dazu würde sie für alle um dich herum eine enorme Gefahr darstellen.”
“Eryn”, beschwor Valrad sie, “sie werden dich nicht hierbehalten oder sich auch nur in deine Nähe wagen, solange du den Gürtel nicht trägst. Du bist stark genug, um sämtliche Heiler und Patienten hier zu gefährden. Und Ram’an hat Recht. Die Magie würde dir nicht einmal nützen. Das ist nicht die Art von Schmerz, die du einfach so fortheilen kannst – im nächsten Moment kehrt er erneut zurück, bis seine Ursache verschwindet. In deinem Fall das Kind.”
Eryns wütendes Starren wurde besorgt, als sie sich die Worte durch den Kopf gehen ließ. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass man sie ihrer Magie berauben würde. Das war eine grauenvolle Überraschung. Die Erinnerung daran, wie man sie in der Vergangenheit ihrer Kräfte beraubt hatte, war keine angenehme; sie hatte sich dabei stets entblößt und verwundbar gefühlt. Und doch waren die Argumente der beiden mehr als berechtigt, besonders, wenn man bedachte, dass sie vor wenig mehr als einer Stunde das Dach der Senatshalle zum Einsturz gebracht hatte…
Sie presste ihren Kopf in das Kissen, als eine weitere Wehe ihr den Atem raubte und sie zitternd und immens erleichtert zurückließ, nachdem die Flut an Schmerzen abgeebbt war.
Erschöpft hob sie den Kopf und bemerkte, dass sich Ram’an die momentane Ablenkung zunutze gemacht und den Gürtel um ihren Brustkorb befestigt hatte. Die innere Leere war gar nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen, dieses hohle Gefühl, das die Blockade ihrer Magie für gewöhnlich zurückließ. Offenbar war dieser Raum nun mit Schmerz gefüllt. Wie praktisch.
“Du!”, blitzte sie ihn an und wollte ihm ihren Ärger mit einem Hieb zu spüren geben, doch er wich aus. “Das war gemein! Du siehst besser zu, dass du in meiner Gegenwart nie hilflos bist, weil ich es verflucht noch einmal auf jeden Fall ausnutzen werde!”
“Du hast keine andere Wahl”, sagte er nur und zuckte mit den Schultern.
“Vielleicht nicht. Aber ich hätte es vorgezogen, selbst in ein oder zwei Minuten zu diesem Schluss zu gelangen”, schnappte sie.
“Machst du den Leuten das Leben schon wieder zur Qual?”, meinte Orrin, als er, Junar und Vern das Zimmer betraten. Hinter ihnen folgte Malhora, die eine friedlich schlafende Téa in ihren Armen hielt.
“Ach, halt einfach nur den Mund”, flüsterte sie ausgelaugt. Ihr blieb nicht einmal mehr genug Energie, um ihrer Frustration gehörig Ausdruck zu verleihen. Das verstimmte sie sogar noch mehr.
“Meine Güte”, ertönte eine weitere Stimme von der Türe her, “das ist aber eine beachtliche Versammlung hier drin.” Ein Heiler etwa in Valrads Alter bahnte sich seinen Weg zum Bett. “Ich grüße dich, Maltheá. Ich werde dir beim Entbinden deines Kindes zur Seite stehen. Ich sehe, dass du deinen Gürtel bereits angelegt hast. Gut.”
Sie blickte in sein viel zu heiteres Gesicht. Aber weshalb sollte er auch nicht guter Laune sein? Er war nicht derjenige, der die Krämpfe zu erdulden hatte, und soweit sie wusste, würde sich die Lage zuerst noch beträchtlich verschlimmern, bevor sie sich verbesserte.
Das Gesicht kam ihr bekannt vor – er war einer der vielen Heiler, die sie in der Mitarbeiterkantine gesehen hatte. Und falls ihre Erinnerung sie nicht trog, hatte dieser Mann eine fürstliche Summe für Verns Gemälde geboten.
“Noril”, nickte Valrad. “Ich wünsche dir einen guten Tag.”
“Und auch dir einen guten Tag, Valrad. Also, hier drin halten sich zu viele Leute auf. Das erhöht nur den Stress für Maltheá…”
“Eryn”, unterbrach sie ihn und warf ihm einen warnenden Blick zu. “Auf dieses für mich wichtige Detail solltest du achten, denn ich bin überzeugt, dass ich auch ohne Magie noch eine Menge Schaden anrichten kann.”
Noril nickte langsam. “Weißt du, ich bezweifle nicht, dass du das könntest. Die Drohung einer Aren zu ignorieren endet für gewöhnlich nicht gut für denjenigen, der sie missachtet. Dann also Eryn…”
“Sehr richtig”, lächelte Malhora, eindeutig zufrieden, dass ihr furchteinflößender Ruf sich scheinbar in alle Ecken erstreckte.
“Zurück zu dem, was vor uns liegt”, beharrte der Heiler. “Wer von euch wird an Stelle ihres Gefährten während der Geburt bei… ah… Eryn bleiben?”
Drei Variationen von “ich” kamen beinahe gleichzeitig von den drei Männern um sie herum.
Noril blinzelte. “Nun, das übersteigt die übliche Anzahl ein wenig”, erwiderte er, bedachtsam im Umgang mit zwei Oberhäuptern von Häusern und einem Krieger, der für seinen Mangel an Kontrolle bekannt war, wenn es um den Schutz seiner Lieben ging.
Sie drehten sich um, als sie ein entnervtes Seufzen vernahmen. Junar setzte ihre Ellbogen ein, um sich an Eryns Seite vorzukämpfen, dann zeigte sie auf Orrin.
“Unangemessen. Du bist der Gefährte einer anderen Frau, und auch wenn ich weiß, dass deine Gefühle für sie mehr väterlicher Natur sind, will ich nicht, dass es zwischen euch derart intim wird. Das ist mein Ernst.” Dann wandte sie sich an Valrad. “Ebenfalls unangemessen. Du bist ihr Vater, und das erst seit ein paar Monaten! Wie kommst du auf den Gedanken, ihr wäre wohl dabei, dich bei dieser Angelegenheit dabei zu haben?” Ihr düsterer Blick landete auf Ram’an.
“Unangemessen?”, wagte er sich vor, noch bevor sie den Mund öffnen konnte.
“Darauf kannst du wetten!”, nickte sie. “Du hast sie schonungslos verfolgt und wolltest sie dazu bringen, dass sie Enric für dich verlässt! Eine Geburt ist etwas sehr Intimes, wobei man sowohl innere als auch äußere Seiten von sich zeigen muss, die man normalerweise nur die Person sehen lässt, die einem am nächsten steht.” Sie sah den Heiler an. “Ich werde bei ihr bleiben. Den Rest kannst du rauswerfen.”
* * *
“Was meinst du damit, sie liegt in den Wehen?”, rief Vran’el aus. Er hatte Enric fort von der Straße unter einen Baum geschleift, wo er sich gegen den Stamm lehnen konnte. “Dafür ist es mehrere Wochen zu früh!”
“Danke, dass du mich auf diese Kleinigkeit hinweist”, keuchte Enric, froh darüber, dass der unmittelbare Schmerz für den Moment nachgelassen hatte.
“Bist du sicher?”
“Vran”, seufzte er und zuckte unter einem weiteren Angriff zusammen, “glaube mir – das sind Wehen. Darüber habe ich gelesen. Die Intervalle werden immer kürzer, der Schmerz ist fast unerträglich und ebbt nach ein paar Sekunden wieder ab, nur um dann ein wenig später wiederzukehren. Das ist recht eindeutig, würde ich meinen.”
“Schon gut, schon gut. Vorher sagtest du, sie war zornig, nicht wahr? Ich frage mich, ob das der Auslöser für die verfrühte Geburt sein könnte.”
Enric atmete schwer, während sich winzige Schweißperlen auf seiner Stirn formten. “Das werde ich herausfinden. Verlass dich darauf.”
“Warum errichtest du nicht einfach einen Schild? Sag mir nicht, dass dieses Teilhaben am Schmerz irgendein sentimentaler Liebesbeweis sein soll, den sie nicht einmal mitbekommt, oder eine romantische Idee, die Geburt gemeinsam mit ihr durchzustehen? Eines darfst du nämlich mir glauben – und zwar, dass dabei zu sein etwas vollkommen anderes ist als einfach nur von Wellen des Schmerzes in die Knie gezwungen zu werden”, bedrängte ihn Vran’el.
“Ich kann mich dagegen nicht abschirmen! Ich konnte nicht einmal ihren Ärger abblocken, als er auf seinem Höhepunkt war. Das ist zu intensiv, das übersteigt bei weitem, was die Barriere zurückhalten kann. Besonders, da sie keinen Schild errichtet hat und ihre Gefühle und Eindrücke mit voller Intensität ausschickt.”
Aufgebracht raufte sich der Jurist mit den Fingern beider Hände die Haare. “Du verdammter Narr! Siehst du nun, was dir dein Kontrollzwang eingebracht hat? Was soll ich denn jetzt mit dir tun?” Dann kam ihm ein Gedanke. “Ich kann dich ausschalten! Dann wirst du das alles verschlafen!”
“Du wirst nichts dergleichen tun”, keuchte Enric von Schmerzen gepeinigt und errichtete einen Schild zwischen ihnen. “Ich muss wissen, ob alles in Ordnung ist.”
“Du wirst das wirklich durchleben?” Hilflos rang Vran’el die Hände. “Idiot! Wirklich! Und ich sitze hier mit dir fest! Verdammt!”, fluchte er. Nach ein paar beruhigenden Atemzügen fügte er etwas entspannter hinzu: “In Ordnung, ich werde es nicht tun. Du kannst den Schild auflösen. Ich verspreche es!”, fügte er gereizt hinzu, als Enric ihm einen zweifelnden Blick zuwarf.
Der Rechtsgelehrte schüttelte den Kopf und beobachtete, wie der andere Mann unter einer weiteren Welle des Schmerzes aufstöhnte. “Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich eines Tages ohne die Anwesenheit einer Frau eine Geburt miterleben würde. Aber es ist auf jeden Fall eine saubere Angelegenheit.”
“Ich bin so froh, dass ich dir diesbezüglich entgegenkommen kann”, meinte Enric gequält. “Wie lange hat die Geburt deiner Tochter gedauert?”
“Sechs Stunden. Und das war rasch. Ich habe von Babys gehört, bei denen die Geburt einen ganzen Tag dauerte.”
“Das hilft mir jetzt gerade überhaupt nicht!”, rief der blonde Magier aus, während ihm der Horror ins Gesicht geschrieben stand. “Erzähl mir lieber, wie Intrea damals mit dieser ganzen Sache zurechtgekommen ist.”
“Bewundernswert. Sie ist der gelassene Typ; nichts kann sie aus der Bahn werfen. Sie war ungemein rücksichtsvoll und mehr um mich als um sich selbst besorgt, denke ich. Sie hat die Leute rundherum losgeschickt, um mir Wasser zu bringen, mir immer wieder gesagt, dass alles gut werden würde und dass ich mich wacker schlage.”
Einen Moment lang sahen sie einander an, dann meinte Enric langsam: “So wird Eryn mit den Leuten, die jetzt gerade in ihrer Nähe sind, ganz sicher nicht umgehen.”
Vran’el nickte. “Ich neige dazu, dir hier zuzustimmen.”
Als Enric tapfer die nächste Welle der Agonie ertrug, versuchte er sich vorzustellen, wer jetzt gerade bei ihr war. Er hätte das sein sollen. Er hoffte, Valrad, Junar oder Malhora würden ihr beistehen. Nicht Orrin. Und definitiv nicht Ram’an.
Ram’an mochte akzeptiert haben, dass er sie nicht haben konnte, doch wenn er sie ohne ihren Gefährten in seiner Stadt hatte und ihr durch so etwas Schmerzvolles und Intimes wie eine Geburt half, mochte ihn das auf Ideen bringen. Doch so etwas würden weder Valrad noch Orrin zulassen, hoffte er inständig.
Vran’el verbrachte die nächsten zehn Stunden damit, neben Enric im Gras zu sitzen und ihn mit Geschichten abzulenken – über seine Kindheit mit Pe’tala, die Jahre des Rechtsstudiums, dumme Streiche, die er als Junge gespielt hatte, und über den Tag, an dem er sich entschieden hatte, seiner Familie mitzuteilen, dass er Männer Frauen als Partner vorzog.
Enrics Haut war blass und klamm. Schweiß lief sein Gesicht und den Hals hinab. Vran’el drängte ihn dazu, Wasser zu trinken und vielleicht auch ein paar Bissen zu essen, um bei Kräften zu bleiben. Doch während Enric das Wasser dankbar annahm, lehnte er das Essen ab.
Als die Sonne hinter dem Horizont zu versinken begann, packte der Jurist ihre Habseligkeiten aus und bereitete einen Schlafplatz vor. Ursprünglich hatten sie geplant, diese Nacht bereits in der Stadt Kar zu verbringen, doch in Enrics aktuellem Zustand schafften sie es nicht mehr dorthin. Sie würden ihren Weg in die Stadt fortsetzen, sobald das hier überstanden und beide gut ausgeruht waren.
Gegen Mitternacht stieß Enric einen letzten gepeinigten Schrei aus, dann kippte er langsam nach vorne und zu Boden.
“Enric?”
“Es ist vorbei”, hauchte er, sein Gesicht beseelt von Erleichterung, Euphorie und Erschöpfung. Er konnte nicht einmal sagen, wie viel davon von Eryn ausging und wie viel von ihm selbst.
“Und? Wie fühlt sie sich?”
“Erleichtert. Und Glücklich. Also ist alles in Ordnung.” Damit ergab er sich der friedlichen Dunkelheit, die ihn wie eine warme, betäubende Umarmung umfing.
* * *
Eryn zwang sich, ihre bleiernen Augenlider zu öffnen, als jemand sachte an ihrer Schulter rüttelte. Es war Junar, die ein kleines Bündel in ihren Armen hielt. Es wimmerte leise.
“Dein Sohn ist hungrig”, lächelte sie. “Füttere ihn besser rasch. Bei seinem Duft und den Geräuschen, die er macht, haben meine eigenen Brüste schon auszulaufen begonnen.”
Unbeholfen versuchte sich Eryn das Hemd, das man ihr angelegt hatte, über den Kopf zu ziehen, doch ihre Freundin seufzte und schüttelte den Kopf. “Nein, Eryn, aus diesem Grund haben sie dir etwas zum Anziehen gegeben, das du nur auf einer Seite zu öffnen brauchst. Siehst du? Hier auf der Seite ist ein Knopf, und dann kannst du die Vorderseite aufklappen, ohne dich vollständig auszuziehen.”
Junar wartete geduldig, bis Eryn eine Brust ausgepackt und das Kissen in ihrem Rücken weiter nach oben gezogen hatte, damit sie sitzen konnte. Dann legte sie das Baby vorsichtig in die Arme seiner Mutter.
Eryn war plötzlich hellwach und starrte auf die winzige Kreatur hinab. Ihr Sohn. Nach der Geburt hatte sie ihn ein paar Augenblicke lang gesehen, doch zu diesem Zeitpunkt war er mit Blut und klebrigen Substanzen bedeckt gewesen. Als man ihn gewaschen hatte, war sie schon dabei, in den Schlaf abzudriften. Sie erinnerte sich noch an die letzten Eindrücke, bevor die Erschöpfung sie übermannte: ein warmes Bündel auf ihren Brustkorb und ein überwältigendes Gefühl von Erleichterung, Dankbarkeit und Zufriedenheit.
“Er hat mein dunkles Haar”, murmelte sie und ließ ihren Zeigefinger über die überraschend dichten, flaumigen Strähnen gleiten. Seine Augen waren blau, doch das besagte in den ersten paar Monaten nicht viel.
Sie veränderte ihren Griff, sodass der winzige Kopf in ihrer Armbeuge zum Liegen kam und sich somit in einer idealen Position für den Zugriff zu seiner Nahrungsquelle befand.
“Komm schon, Liebling, die Milchbar ist geöffnet.” Mit ihrer Brustwarze bog sie seine Lippen auf und sah zu, wie sie sich daraufhin um ihre Brustspitze legten. Als er nicht gleich zu saugen begann, runzelte sie die Stirn. “Die bequemen Tage, wo das Essen keinerlei Anstrengung von deiner Seite erfordert hat, sind jetzt vorbei, mein Junge. Mach schon.” Sie sah Junar an. “Und jetzt?”
“Versuch, einen oder zwei Tropfen herauszupressen und in seinen Mund fallen zu lassen. Ihm scheint noch nicht klar zu sein, dass es sich hierbei um sein Mahl und nicht nur um eine nette, bequeme Beruhigungsmethode handelt”, schlug Junar vor.
Eryn befolgte diesen Rat und beobachtete, wie der kleine Mund probierte und schluckte, als die neue Kost den Anforderungen zu genügen schien. Erst dann verspürte sie ein schwaches Saugen, das sich rasch zu etwas Entschlossenerem, Gierigerem wandelte.
Überrascht sah sie auf. “Auf jeden Fall lernt er schnell.” Dann kehrte ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihm zurück, und sie nahm sich Zeit, ihn zum ersten Mal eingehend zu betrachten. Ihn mittels Magie im Inneren ihres Bauches anzusehen war etwas anderes als es wahrhaftig mit ihren Augen zu tun.
Seine Augen waren geschlossen, während er saugte, offenbar zufrieden mit der Welt. Er hatte ihr Haar, doch der Rest von ihm erinnerte eindeutig an seinen Vater.
Sie schluckte bei dem Gedanken an Enric, der davongeeilt war, um Malriel zu retten und dabei seine schwangere Gefährtin auf sich allein gestellt hier zurückgelassen hatte. Komisch, wie begierig er darauf gewesen war, in das große Unbekannte aufzubrechen und sogar ihr Kommitmentband dritten Grades aufzulösen, wo er doch vor kaum mehr als einem Jahr so darauf gedrängt hatte, es mit ihr einzugehen.
Junar drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. “Mach dir seinetwegen keine Sorgen, Eryn. Er wird schon bald wieder zurückkehren. Dessen bin ich mir sicher.”
“Das kümmert mich nicht”, erwiderte die Magierin ruhig. “Ich brauche ihn nicht. Ich habe das ohne ihn durchgestanden, oder etwa nicht? Zuerst die Enthüllung von Sanafs üblen Machenschaften, und dann die Geburt. Und das werde ich auch weiterhin schaffen.”
“Das meinst du nicht wirklich!” Junar schluckte schwer und zog besorgt die Stirn in Falten.
Eryns Augen verweilten bei dem Gesicht an ihrer Haut, der kleinen Faust, die auf ihrer Brust ruhte. “Er hat seine Wahl getroffen. Und sich für Malriel zu entscheiden bedeutete, unseren Sohn aufzugeben. Und mich.”
“Das kannst du nicht so meinen!”, rief die Schneiderin mit weit aufgerissenen Augen aus. “Er hat deine Mutter nicht dir vorgezogen – er versucht einen Krieg zu verhindern!”
“So hat sich das für mich nicht angefühlt, als er das Band zwangsweise entfernte.”
“Ich werde deswegen nicht mit dir streiten, aber ich sage dir, dass du dich absolut unbedacht verhältst. Ich verstehe deinen Ärger darüber, dass er dich auf diese Weise zurückgelassen hat, aber du verkennst seine Motive dahinter vollkommen. Und ich kann mir seine Reaktion vorstellen, wenn du ihm vorwirfst, er verzehre sich nach Malriel. Also wirklich!”
“Zankt ihr beiden etwa bereits?”, kam Orrins Stimme von der Tür. Einen Arm hatte er um Verns Schultern gelegt, den anderen auf das Tuch, mit dem er seine Tochter um seinen Brustkorb geschlungen hatte.
“Sie denkt, dass Enric Malriel nachgereist ist, weil er Gefallen an ihr gefunden hat”, erklärte Junar vorwurfsvoll.
Beide Männer starrten sie an, dann lächelte Orrin, und Vern verdrehte die Augen.
“Das ist wohl das Lächerlichste, was ich jemals gehört habe”, schmunzelte der Krieger. “Ich freue mich schon darauf zu hören, was Enric darauf antworten wird.”
“Genau das habe ich auch gesagt”, schnaubte Junar.
Vern hob einen Zeichenblock samt Stift hoch. “Macht es dir etwas aus, wenn ich das hier zeichne? Immerhin ist es das erste Mal, dass du ihn fütterst.”
Eryn verzog das Gesicht. “Wenn es sein muss. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass ich im Moment kein allzu reizendes Bild abgebe.”
“Eitles Weibervolk”, seufzte der Junge in gespielter Verzweiflung und lehnte den Block gegen einen Stuhl, vor dem er sich dann hinkniete.
Orrin trat näher an das Bett und sah auf das Baby hinab. “Er ist über seinem Frühstück eingeschlafen. Ich schätze, du wirst dir beim nächsten Mal mehr Mühe geben müssen”, scherzte er.
“Ungemein amüsant”, erwiderte sie trocken und hob ihren Sohn hoch, um ihn Junar zu übergeben, damit sie sich wieder bedecken konnte. Ihre Finger berührten den goldenen Gürtel, der noch immer um ihren Oberkörper befestigt war. “Sie haben vergessen, das verflixte Ding zu entfernen. Orrin, sei so gut und nimm ihn mir ab, ja?”
“Ich fürchte, das kann ich nicht tun”, meinte er und verzog das Gesicht. “Mir wurde erklärt, dass du ihn für die nächsten sechs Wochen tragen musst.”
“Was?”, bellte sie ärgerlich und zuckte zusammen, als beide Babys zu weinen begannen.
“Großartig”, stöhnte Junar und rollte mit den Augen. Entschlossen drückte sie den Jungen in die Arme seiner Mutter und hob ihre Tochter aus dem um Orrins Brust geschlungenen Tuch, um sie sanft zu wiegen.
“Welch eine lautstarke Begrüßung”, bemerkte Valrad, als er den Raum betrat und auf sie zuging. “Wie ergeht es meinem Enkel? Abgesehen davon, dass er seine Lungenkapazität zum Einsatz bringt. Hat er schon etwas getrunken?”
“Es geht ihm fabelhaft. Und mir ebenfalls, danke der Nachfrage”, seufzte sie.
“Das weiß ich, mein Kind. Ich habe dich nach der Geburt selbst untersucht.”
“Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass du ohne meine Zustimmung keine Magie mehr bei mir einsetzt, nachdem du mich damals bei meiner ersten Reise hierher mit künstlicher Glückseligkeit überflutet hast? Wir müssen gewisse Grenzen setzen. Wieder einmal.”
Valrad zuckte unbekümmert mit den Schultern, als er das gurgelnde kleine Bündel aus ihrem Arm hob. “Deine Erlaubnis war aus meiner Sicht stillschweigend erteilt. Wenn du nicht untersucht werden möchtest, solltest du wohl besser von nun an nicht mehr in meiner Gegenwart ohnmächtig werden.”
“Was für ein netter Besuch”, grollte sie. “Und jetzt rede. Orrin erklärte mir gerade, ich müsste diesen Gürtel sechs Wochen lang tragen. Sag mir, dass er hier etwas missverstanden hat und dass wir hier eher von sechs Stunden reden?”
“Ich fürchte, er hat Recht. Das Problem, musst du wissen, liegt darin, dass Magier generell – und Heiler ganz besonders – einer gewissen Versuchung unterliegen, den Heilungsprozess ihres Körpers voranzutreiben, was nicht ratsam ist. Aber es mag auch schon früher vorbei sein. Manche Frauen benötigen nur vier Wochen, ganz wenige sogar nur zwei. Sechs Wochen ist die obere Grenze.”
“Aber dabei geht es doch bloß darum, die offenen inneren Wunden und anfälligen Punkte zu heilen! Ich wage zu behaupten, dass eine Beschleunigung dessen wohl kaum…”
Ihr Vater unterbrach sie. “Du weißt sehr genau, dass magische Heilung unabhängig davon, ob du sie selbst durchführst oder ob das jemand anderer tut, die Ressourcen deines Körpers erheblich rascher abbaut als du sie in deinem gegenwärtigen Zustand wiederaufbauen kannst – selbst wenn du den ganzen Tag mit nichts anderem als schlafen und essen verbrächtest. Was passiert, wenn der menschliche Körper innerhalb kurzer Zeit eine Menge Blut verliert?”
“Schwäche, Schwindel, Kältegefühl und in manchen Fällen sogar Bewusstlosigkeit”, listete Vern hinter seinem Zeichenblock munter auf.
“Warum wollen wir das speziell bei Frauen nach der Geburt vermeiden?”, fuhr Valrad fort.
Vern war erneut bereit. “Weil sie ihre Stärke benötigen, um sich von der Geburt zu erholen. Zusätzlich dazu unterliegt ihr Körper noch der Anstrengung, Milch zu produzieren. Hinzu kommt, dass sie sich aufgrund des Schlafmangels – ausgelöst durch die anfänglichen häufigen Stillzeiten – langsamer erholt. Das bedeutet, dass ihre Fähigkeit, sich um ihr Kind zu kümmern, darunter leiden könnte. Sollte diese Aufgabe daraufhin an eine andere Person übertragen werden, erschwert dies das Formen einer Bindung zwischen Mutter und Kind. Sollte sich die Mutter trotz ihrer verringerten körperlichen Kräfte um das Kind kümmern müssen, könnte dies zu Unfällen führen und somit das Wohlbefinden des Kindes aus medizinischer Sicht gefährden.”
Vier Augenpaare starrten auf ihn hinab. Zuerst bemerkte er es nicht, da er noch immer mit seiner Zeichnung beschäftigt war. Als sich die Stille in die Länge zog, blickte er auf und blinzelte.
“Was?”, fragte er verwirrt. “Das war doch richtig, oder? Wenn ich mich gerade zum Narren gemacht habe, dann gebe ich diesem Buch in der medizinischen Bibliothek die Schuld.”
Valrad, der noch immer seinen Enkel in den Armen wiegte, kam langsam näher, ohne seinen nachdenklichen Blick von Vern zu nehmen.
“Das war eine eindrucksvolle Demonstration von Wissen, besonders während du dich mit deinen Händen auf eine gänzlich andere Aufgabe konzentriert hast”, meinte der Heiler langsam. “Du wärst nicht etwa interessiert daran, hier bei uns zu bleiben und deine Ausbildung in Takhan zu vollenden, oder?”
“Einen Moment mal!”, knurrte Orrin ärgerlich, bevor Vern etwas erwidern konnte. “Er ist noch nicht einmal alt genug, um solch einer Sache zuzustimmen; und selbst wenn er es für eine gute Idee hielte, so tue ich das keineswegs! Du hast kein Recht, ihm so ein Angebot zu unterbreiten. Er ist nicht in der Lage, es anzunehmen, und ich werde es nicht erlauben.”
Eryn entließ einen Stoßseufzer ob des Dramas, das sich vor ihr abspielte. Verns Augen, zuerst groß vor Überraschung, wurden dann schmal vor Ärger und Verbitterung darüber, dass ihm diese Tür geöffnet und einen Moment später wieder vor der Nase zugeschlagen wurde.
“Ich denke”, sagte Junar mit missbilligender Miene und einem tadelnden Blick für beide Männer, “dass ihr diese Diskussion anderswo führen solltet. Das hier ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt oder Ort.”
“Ich entschuldige mich”, sprach Valrad steif. “Es stand mir nicht zu, es anzubieten, du hast Recht. Ich habe mich ein wenig hinreißen lassen. Ich habe vollstes Verständnis für dein Widerstreben, deinen Sohn für so lange Zeit in einem anderen Land zurückzulassen.”
Orrin nickte knapp, blieb aber stumm.
“Ich bin müde. Bitte seid nicht böse, doch ich würde jetzt gerne ein paar Stunden schlafen, wenn es euch nichts ausmacht”, meldete sich Eryn zu Wort. Sie hatte genug von dieser Anspannung und sehnte sich nach ein wenig Ruhe und Frieden.
“Natürlich nicht”, versicherte ihr Junar.
Sie warteten, bis Valrad seiner Tochter das Baby gereicht hatte, dann verabschiedeten sie sich. Orrins verkrampfte Haltung zeugte von seinem schwelenden Ärger, Vern wirkte elend und eingeschnappt, und Valrad erschien ein wenig verdrossen und enttäuscht.
Eryn atmete erleichtert aus, als sie fort waren und ließ sich in ihrem Bett zurücksinken. Das Baby platzierte sie so, dass es zwischen ihrem Arm und ihrem Körper lag. Nun war sie zum ersten Mal allein mit ihrem Sohn.
Ihr Sohn. Damit war sie endgültig und unumkehrbar eine Mutter. Sie hatte einige Monate Zeit gehabt, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, doch erst jetzt, wo sie ihn berühren, riechen und sehen konnte, begann das Verständnis dieser ungeheuren Veränderung auf einer tieferen, elementareren Ebene als der oberflächlichen intellektuellen. Sie hatte ein neues Leben erschaffen. Er würde immer ein Teil von ihr sein, sein ganzes Leben lang. Und er war auf sie angewiesen. Wie er sich entwickelte, würde von den Werten abhängen, die sie ihm vermittelte, von dem Vorbild, das sie ihm war.
Welch eine enorme Verantwortung, eine gigantische Herausforderung. Aber Arens scheuten keine Herausforderung, und das war eines der Dinge, die er von ihr lernen würde.
Vedric von Haus Vel’kim, dachte sie. Willkommen in der anstrengenden Familie, in die du geboren wurdest.
Kapitel 2
Ankunft in Kar
Enric regte sich, als sein Unterbewusstsein auf den Duft von Essen reagierte. Helles Tageslicht fiel ihm in die Augen. Er öffnete sie und erspähte nicht weit entfernt Vran’el, der vor einer improvisierten Feuerstelle hockte.
“Fisch?”, murmelte er angenehm überrascht.
In den letzten beiden Tagen hatten sie ausschließlich von ihrem getrockneten Reiseproviant gelebt. Der mochte nahrhaft sein und sich unkompliziert aufbewahren lassen, doch aus kulinarischer Sicht war er alles andere als zufriedenstellend. Er war zum Überleben gedacht, und Überleben erforderte nicht, dass man sich für die Kost begeisterte, sondern nur das Wissen darum, dass die Alternative ein leerer Magen war.
“Sieh einer an. Willkommen zurück von deiner kleinen Auszeit. Wie fühlst du dich?”
Enric führte eine rasche Bestandsaufnahme durch, so wie Eryn es ihm gezeigt hatte. Der schwache Magieimpuls, den er durch seinen Körper sandte, informierte ihn über alles, was er wissen musste.
“Etwas ausgetrocknet, hungrig, mein Nacken und die Schultern schmerzen, aber abgesehen davon geht es mir gut.”
“Gegen die ersten beiden kann ich Abhilfe schaffen, und die anderen kannst du heilen. Somit gibt es aus meiner Sicht keine großen Probleme”, schmunzelte Vran’el und drehte vorsichtig den Fisch über dem Feuer. “Das Mittagessen ist in ein paar Minuten fertig, also hast du Zeit, dich zu waschen. In der Nähe ist ein Bach. Dort habe ich die Fische gefangen. Nun, wenn ich gefangen sage, dann meine ich, dass ich sie mit Magie betäubt und dann eingesammelt habe.”
Enric schloss die Augen, heilte den Schmerz weg und lächelte dann. “Davon bin ich ausgegangen. Ich würde meinen, das ist effizienter als sie mit einem Speer zu jagen oder ein Netz für einen einzigen Fang zu knüpfen.” Er kam auf die Beine und streckte sich mit einem lauten Gähnen. “Wie lange habe ich geschlafen?”
“Eine ganze Weile. Etwa zwölf Stunden. Aber eine Geburt ist auch eine ungeheure Anstrengung, könnte ich mir denken, selbst wenn man sie auf die Weise miterlebt, wie es bei dir der Fall war. Kein Wunder, dass du Ruhe gebraucht hast.”
Die Geburt seines Sohnes. Enric schluckte und versuchte, irgendetwas durch das Geistesband zu spüren. Aber da war nichts. Was einerseits gut war, da es bedeutete, dass sie nicht unter Schmerzen, Ängsten oder großen Sorgen litt. Und doch erinnerte er sich an seine letzten Eindrücke vor dem Abdriften. Die waren positiv und mächtig gewesen. Er hätte nichts dagegen gehabt, davon noch ein wenig mehr zu empfangen, um das Bedauern darüber fortzuspülen, dass er nicht bei seiner Gefährtin und ihrem neugeborenen Sohn sein konnte.
Doch der Grund für seinen Aufenthalt weit fort in einem anderen Land, rief er sich in Erinnerung, war der, es den nun zwei wichtigsten Menschen in seinem Leben zu ermöglichen, dass sie ihr Leben in Frieden und Freiheit leben konnten.
Enric fand den Bach ohne Probleme. Er war knietief und frei von Sedimenten und Schlamm, sodass er einen ungetrübten Blick auf die Steine im Bachbett und die Fische hatte, die in vorsichtigem Abstand an ihm vorbeiflitzten.
Er nahm sich Zeit zum Waschen und watete ein wenig im kalten Wasser herum. Die niedrigen Temperaturen regten seinen Kreislauf an, und er fühlte, wie seine Energie zurückkehrte.
Als er wieder zu Vran’el stieß, war der Großteil ihrer Habseligkeiten bereits sorgsam verpackt. Ihm wurde ein metallener Reiseteller mit zwei Fischen darauf, die zum rascheren Auskühlen aufgeschnitten waren, in die Hand gedrückt.
“Danke, Vran. Genau das brauche ich jetzt. Das getrocknete Zeug hätte im Moment einfach nicht gereicht.”
“Das dachte ich mir. Iss auf! Wir sollten bald aufbrechen; ich wage zu behaupten, dass du jetzt sogar noch eifriger darauf bedacht bist, diese Angelegenheit zu erledigen und zurückzukehren.” Der Jurist aß die letzten paar Bissen seines eigenen Mahls, dann stellte er den Teller beiseite. “Hast du schon darüber nachgedacht, wie wir die Sache mit Malriel in Angriff nehmen sollen? Ich weiß, dass Malhora denkt, man hat sie hereingelegt, aber sie würde auch kaum schlecht von ihrer eigenen Tochter denken wollen. Die Anschuldigungen könnten sich als gerechtfertigt erweisen.”
Enric schüttelte den Kopf. “Ich kenne Malriel noch nicht so lange wie du, doch sie scheint mir nicht der Typ, der Männer ins Bett zwingen muss. Soweit ich es beurteilen kann, hat sie es einfach nicht nötig. Oder gab es in all diesen Jahren in Takhan jemals irgendwelche Anschuldigungen dieser Art?”
“Nein, niemals”, gab Vran’el zu. “Doch ich bin lieber auf das Schlimmste vorbereitet. Und wenn sie unschuldig ist, hätte ein Lügenfilter das sehr rasch offenbart, würde ich meinen.”
“Das stimmt. Vorausgesetzt, sie wissen, wie man ihn anwendet. Du sagtest, dass Magier bei denen kein besonders hohes Ansehen genießen. Somit mag es sein, dass sie ihn nicht anwenden dürfen, selbst wenn sie wissen, wie es geht. Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Magier die Verhandlungen aufhalten wollen. In diesem Fall wären sie nicht willens, Malriel zu helfen, da die Chance besteht, dass sie diejenigen sind, die sie hereinlegen wollen.”
“Somit wird man uns auch nicht glauben, wenn wir den Filter einsetzen und ihnen sagen, dass sie unschuldig ist. Sie werden uns Befangenheit vorwerfen. Und mit Recht”, fügte der Rechtsgelehrte mit einer Grimasse hinzu. “Worauf wir also grundsätzlich hoffen, ist, dass sie nicht wissen, wie der Filter funktioniert, aber zustimmen, dass wir ihnen zeigen, wie man ihn anwendet. Und natürlich, dass diejenigen, die ihn anwenden können – nämlich die Magier, oder Priester – nicht diejenigen sind, die sie sabotieren.”
“Genau.”
Vran’el runzelte die Stirn. “Was ist, wenn wir es schaffen, dass man sie freilässt? Werden wir sie mit uns zurück nach Takhan nehmen oder sie hierlassen, damit sie versucht, die Verhandlungen fortzusetzen?”
Enric hatte eine recht klare Vorstellung, was sein Ziel betraf – nämlich Malriel zurück nach Takhan zu bringen, damit sie ihr Haus wieder übernehmen konnte und es damit ihm und seiner Familie ermöglichte, nach Anyueel zurückzukehren.
Trotz seiner Motivation, seine Gefährtin vor den Zudringlichkeiten des Königs zu beschützen, zog es ihn doch zurück nach Hause und weckte eine gewisse Wehmut in ihm, wenn er an sein Heimatland dachte. Und sollte der Monarch es jemals wieder wagen, sich ihr erneut auf unangemessene Weise zu nähern, würde er nicht wie beim letzten Mal mit ein klein wenig Würgen davonkommen.
“Wir werden sehen”, meinte er unverbindlich. “Das kommt darauf an, ob man ihr nach dieser ganzen Misere hier noch immer genug Vertrauen oder Respekt entgegenbringt, um mit ihr zu verhandeln – selbst wenn sie freigesprochen werden sollte. Oder ob sie noch bleiben würde wollen.” Er stand auf, nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte. “Ich wasche nur rasch unsere Teller, dann können wir los.”
Enric spürte, wie sein ganzer Körper von einem Drang zum Handeln ergriffen wurde. Er wollte aufbrechen, weiterziehen, erledigen, was zur möglichst raschen Auflösung dieser Situation erforderlich war und dann nach Takhan zurückkehren.
Sie folgten der Straße, die zur Stadt führte und nutzten die zwei Stunden, um noch einmal durchzugehen, welche Informationen ihnen vorlagen, auf welches Vorgehen sie sich geeinigt hatten und zu üben, wie sie sich vorstellen würden. Außerdem kamen sie überein, eine Liste all der Leute anzulegen, denen sie begegneten – mit sämtlichen Namen und Titeln. Auf diese Art konnten sie diese am Abend in der Abgeschiedenheit ihrer Zimmer wiederholen. So wollten sie vermeiden, diese Leute, die solch großen Wert darauf zu legen schienen, dass man ihre Wichtigkeit anerkannte, durch eine achtlose inkorrekte Anrede vor den Kopf zu stoßen.
Sie hatten die Brücke beinahe erreicht, die es ihnen ermöglichen würde, den breiten Fluss zu überqueren und die Stadt zu betreten. Die in blaugraue Uniformen gekleideten Wachen – Soldaten oder was auch immer sonst sie waren – die zur Blockade des Weges stramm in einer Reihe standen, waren bereits erkennbar.
Man erwartete sie also. Mit einem bis an die Zähne bewaffneten Empfangskomitee. Wenn das kein Vertrauen erweckte.
* * *
Eryn blickte auf ihren friedlich schlafenden Sohn in seiner Wiege hinab. Er ruhte in dem Zimmer, das sie selbst als Kind bewohnt hatte. Das Tageslicht schwand langsam dahin, und der Raum wurde mit jeder Minute ein wenig dämmriger.
Heute hatte man sie aus der Klinik entlassen, und darüber war sie immens froh. Normalerweise ließ man neue Mütter nicht dermaßen früh nach Hause gehen, doch Valrad hatte ihnen versichert, dass er ihr und ihrem Sohn seine persönliche Betreuung angedeihen lassen würde. Üblicherweise riet man Heilern davon ab, ihre eigenen Familienmitglieder zu behandeln, wenn es sich vermeiden ließ; doch seine Kollegen in der Klinik hatten davon Abstand genommen, diese Tatsache zur Sprache zu bringen. Mit großer Entschiedenheit.
Valrad war zu einflussreich, als dass man sich ihm auf diese Weise entgegenstellte; und zusätzlich dazu war man dort womöglich erleichtert darüber, die anstrengende Aren in ihrer Mitte loszuwerden. Eryn war durchaus bewusst, dass weder Geduld noch das Leiden in Stille und Würde zu ihren Stärken zählten. Doch das kümmerte sie nicht im Mindesten.
Sie drehte sich um, als Malhora in der Tür erschien und ein gefaltetes Stück Papier für sie hochhielt. Es sah so aus, als wäre es Zeit, wieder zu ihrer Funktion als Oberhaupt des Hauses zurückzukehren. Mit einem letzten Blick auf das schlafende Baby wandte sie sich ab und folgte ihrer Großmutter in den Hauptraum.
“Das ist von der Triarchie. Ich schätze, dass man dich womöglich an das Dach erinnern möchte, für das du zahlen sollst”, grinste Malhora.
Eryn nahm die Nachricht entgegen und studierte die alte Frau. “Über diesen Vorfall hast du dich noch nicht geäußert. Aber wenn ich von deinem Lächeln damals und deiner Reaktion gerade eben ausgehe, bist du wohl zufrieden damit.”
“Ich sagte dir schon, dass ich es als nützliche Erinnerung für die Allgemeinheit betrachte, wie wohlverdient unser Ruf ist, wenn wir gelegentlich ein Gebäude einstürzen lassen. Das Dach der Senatshalle war eine interessante Wahl. Ein wenig theatralisch, aber auf jeden Fall effektiv. Darüber werden die Leute noch in Generationen reden. Das kannst du mir glauben.”
“Du weißt, dass ich das nicht vorsätzlich getan habe, um irgendein Familienansehen aufrecht zu erhalten, oder? Ich hatte an diesem Tag nicht die Absicht, irgendjemanden zu beeindrucken. Es ist einfach passiert. Ich habe wirklich die Kontrolle verloren. Und dabei eine Menge Leute in Gefahr gebracht”, schloss sie verdrießlich.
Malhora schnaubte. “Bei dermaßen vielen anwesenden Magiern, die die Leute vor fallenden Dachstücken beschützen konnten? Wohl kaum.”
Die jüngere Frau öffnete das Siegel und zog überrascht beide Augenbrauen nach oben. “So viel kostet die Reparatur dieser verdammten Konstruktion? Das soll wohl ein Scherz sein!”
Ihre Großmutter lehnte sich vor, um einen Blick auf den Betrag zu werfen, dann zuckte sie mit den Schultern. “Das war zu erwarten. Es war eine recht große Kuppel, die du einstürzen hast lassen. Nicht einfach zu reparieren. Und dann müssen auch noch die Malereien wiederhergestellt werden. Aber das ist kein Anlass zur Sorge, Mädchen. Haus Aren kann sich das spielend leisten. Betrachte es als nützliche Investition. Das wird unsere Verhandlungspartner und politischen Gegner gewiss dazu veranlassen, im Umgang mit uns mehr Vorsicht an den Tag zu legen, was bedeutet, dass es dem Haus langfristig gesehen nützt.”
“Dann sollte ich die Nachricht wohl beantworten und mich demütig bereiterklären, die Kosten zu übernehmen, so wie es korrekt und angemessen ist”, meinte Eryn und verzog das Gesicht.
“Keine Demut!”, beharrte Malhora. “Du sollst dich deswegen nicht zerknirscht zeigen, sondern die Begleichung des Schadens als Preis für deinen Stolz akzeptieren. Zeige keinerlei Bedauern; das würde die Wirkung abschwächen. Schreibe ihnen lediglich, dass du ihre Forderung anerkennst und die Rechnungen für sämtliche Reparaturen begleichen wirst.”
Von der Eingangstür kam ein Klopfen.
“Würdest du dich darum kümmern, Großmutter? Dann schreibe ich die Nachricht an die Triarchie.”
“Das wird ein Besucher für dich sein, Kind. Also bleibst du besser hier und kümmerst dich später um die Antwort. Du willst ohnehin nicht den Eindruck besonderer Beflissenheit erwecken.”
Malhora stieg die Treppe zum Eingang hinab und kehrte kurz darauf mit Ram’an zurück.
“Eryn, meine Liebe”, begrüßte er sie und küsste sie auf die Stirn. “Ich war in der Klinik, doch man sagte mir, dass du bereits entlassen wurdest.” Er grinste. “Ich gehe davon aus, dass dein Vater seinen Einfluss geltend gemacht hat.”
“Ja, ich gebe zu, das hat er. Seine Kollegen waren darüber nicht besonders glücklich, fanden es aber klüger, sich ihm nicht zu widersetzen. Und darüber bin ich froh – ich wäre irre geworden, hätte ich den ganzen Tag in diesem Bett herumliegen müssen. Das Einzige, was mir jetzt noch so richtig auf die Nerven geht, ist dieser verfluchte Gürtel. Ich schätze, es besteht keine Chance…?” Mit einem flehenden Gesichtsausdruck sah sie zu ihm auf.
“Nein, meine Liebe, überhaupt keine”, erwiderte er schlicht.
Malhora rollte mit den Augen. “Ständig versucht sie die Leute mit Bestechung oder Drohungen dazu zu bewegen, ihn ihr abzunehmen. Vor ein paar Stunden hat sie Orrin befohlen, es zu tun. Zum Glück ist seine Herangehensweise an Autorität recht vernünftig, und er hat sie einfach ignoriert.”
Eryn warf ihr einen frostigen Blick zu. “Ich wage zu behaupten, dass du es kaum als vernünftige Herangehensweise bezeichnen würdest, wenn die Leute auf deinem Anwesen deine Befehle ignorierten.”
“Nein, selbstverständlich nicht. Aber ich erteile auch keine törichten Befehle, die mir selbst zum Schaden gereichen würden.”
“Ich bin eine Heilerin! Ich würde mir nicht schaden! Ich weiß, was ich tue.”
“Eryn”, seufzte Ram’an und legte seine beiden Hände an ihre Wangen, “ohne Valrads Einverständnis wird dir niemand von uns den Gürtel abnehmen. Also hör auf damit, die Leute zu schikanieren, in Ordnung? Zeig mir lieber deinen Sohn.”
“Er schläft.”
“Dann sollten wir wohl besser leise sein”, lächelte er, offensichtlich nicht willens, auf den Hinweis zu reagieren, dass nun keine gute Zeit war, um sich das Baby anzusehen.
Besiegt seufzte Eryn und drückte Malhora den Brief der Triarchie in die Hand. “Warum bereitest du nicht die Antwort darauf vor? So kannst du zumindest sicherstellen, dass der Ton passt. Ich werde ihn später unterzeichnen.”
Ram’an folgte ihr und betrat das Zimmer nach ihr. Sie traten an die Wiege und sahen hinab.
Sie wandte sich ihm zu, als sie sein bedauerndes Seufzen vernahm. “Was?”, fragte sie leise murmelnd.
“Er sieht aus wie Enric.”
“Warum klingst du deswegen traurig?”
“Weil, Theá, ich daran denken muss, dass er unser Sohn – deiner und meiner – gewesen wäre, hätten sich die Dinge nur ein wenig anders entwickelt.
Sie schluckte und versuchte, sich einen Schritt von ihm zu entfernen, doch sie spürte, wie er seinen Arm um ihre Schultern legte und sie bei sich behielt.
“Nein, bitte. Ich wollte dir kein Unbehagen bereiten. Von nun an werde ich solche Gedanken für mich behalten.”
Nun fühlte sie sich schuldig. “Es tut mir leid, dass dich diese Situation noch immer belastet. Und ich will nicht, dass du deine Gedanken zurückhältst. Auch wenn ich nicht immer glücklich mit ihnen bin.”
Seite an Seite standen sie dort und sahen eine Weile schweigend auf das schlafende Kind hinab.
“Theá, Enric bat mich darum, mich um dich zu kümmern, für den Fall, dass er nicht zurückkehrt.”
Langsam drehte Eryn ihren Kopf und sah ihn an. “Hat er das? Darf ich fragen, was dich um mich kümmern beinhaltet?”, fragte sie kühl und spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Hatte Enric ihn etwa zum Nachfolger in ihrem Lebensbund oder etwas in der Art ernannt?
“Er ersuchte mich darum, seinen Sohn wie meinen eigenen aufzuziehen.”
Mit schmalen Augen starrte sie ihn an. “Und was hat er dir im Bezug auf mich aufgetragen? Dass du mich zu deiner Gefährtin machen sollst?”
“Er sprach die Worte nicht aus, doch ich denke, dass er das meinte, ja”, antwortete er vorsichtig.
Eryn drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer, alles andere als erbaut darüber, dass sich ihr Verdacht bestätigt hatte. Sie hörte, wie Ram’an die Tür leise schloss und ihr dann durch den Hauptraum in den Garten hinaus folgte.
“Warum erzählst du mir das?”, schnappte sie. “Hast du eine Nachricht erhalten, dass er nicht zurückkehren wird? Dass er…”
“Nein!”, unterbrach er sie rasch und nahm sie bei den Schultern. “Nichts dergleichen, das verspreche ich. Damit wollte ich dir nur sagen, dass du niemals allein sein wirst, selbst wenn das Schlimmste eintritt. Ich werde für dich da sein. Du wirkst nicht glücklich, Theá, oder nicht so glücklich, wie du sein solltest. Und natürlich verstehe ich, weshalb. Ich möchte dir zumindest eine Last von den Schultern nehmen.”
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. “Du solltest das nicht tun, Ram’an. Dem hättest du nicht zustimmen dürfen. Was ist, wenn er wer weiß wie lange dort feststeckt? Das könnte dich davon abhalten, das alles hinter dir zu lassen und eine Frau zu finden, mit der du glücklich werden könntest, anstatt auf mich zu warten. Wieder einmal. Es war nicht fair von ihm, dich um so etwas zu bitten.”
Sie spürte, wie sich Ram’ans Arme um sie legten und er sie an sich zog.
“Auch wenn er mich nicht darum gebeten hätte, hätte ich dich nicht dir selbst überlassen.”
Kopfschüttelnd sah Eryn zu ihm auf. “Du würdest mich zu deiner Gefährtin nehmen und meinen Sohn mit mir aufziehen, trotz der Tatsache, dass ich einen anderen Mann dir vorgezogen habe? Und dass ich womöglich nur aus Angst vor dem Alleinsein zustimmen würde?”
“Ja, das würde ich.” Dann lächelte er. “Und ich würde dich bald schon zu der Einsicht bekehren, dass ich ohnehin die bessere Wahl bin. Meine Fertigkeiten im Kochen sind Enrics weit überlegen, und auch mein Wein ist besser als seiner.”
Sie lachte, erleichtert, dass dank seines Scherzes die Anspannung fort war. “Es fällt mir schwer, nicht beleidigt zu sein, weil du denkst, ich ließe mich dermaßen einfach herumkriegen.”
“Man sagte mir, dass Selbstvertrauen immer nützlich ist, wenn man es mit einer Aren zu tun hat.” Dann entließ er sie aus seiner Umarmung und ergriff stattdessen ihre Hand, um sie mit sich zu einer niedrigen Steinbank zu ziehen. “Bezüglich deiner kleinen… Demonstration von Ärger vor zwei Tagen im Senat.”
“Ja?” Sie zog eine Grimasse und fragte sich erst jetzt, wie das wohl ihre Pläne für die Eröffnung eines Waisenhauses beeinträchtigten mochte. Der Senat war wohl eher nicht geneigt, sie dabei zu unterstützen, nachdem sie das Dach über ihnen zum Einsturz gebracht hatte.
“Es hat auf jeden Fall einen Eindruck hinterlassen. Golir kam auf mich zu und bat mich, dir bei der Erstellung eines detaillierten Vorschlags mit einer Kostenschätzung, rechtlichen Erwägungen und einem Zeitplan für dein Projekt behilflich zu sein. Er meinte, er hätte keinerlei Zweifel, dass die Idee mit der Steuererleichterung, die du erwähntest, von mir käme, also ging er davon aus, dass ich der ganzen Sache wohlwollend gegenüberstehe.”
Eryn ließ den Atem entweichen. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte. “Was ist mit den anderen Senatoren?”
“Ein paar sind verärgert und vielleicht auch ein wenig eingeschüchtert, aber die meisten haben den Wunsch geäußert, dein Vorhaben zu unterstützen. Vielleicht aus Angst davor, dass andernfalls ihre Residenzen über ihnen zusammenfallen könnten”, fügte er trocken hinzu.
“Diese letzte Bemerkung würde ich dir sehr gerne übelnehmen, aber ich habe keine Ahnung, ob es ein Scherz war oder nicht.”
Ram’an schürzte die Lippen. “Sagen wir, es war eine Übertreibung, aber sicher nicht allzu weit hergeholt.”
“Dann wirst du wirklich mit mir daran arbeiten?” Gerührt ergriff sie seine Hand und drückte sie. “Immer wieder gibst du mir das Gefühl, dass ich dich gar nicht verdiene. Wie kann ich mich jemals revanchieren?”
Er lächelte. “Wir werden einen Weg finden. Zum Beispiel in Form von Unterstützung im Senat und Kooperation mit Arbil-Unternehmen bei der Errichtung und beim Betrieb des Waisenhauses.”
Eryn lachte. “Es ist gut zu sehen, dass du nicht in einem Ausmaß Selbstaufopferung betreibst, die an Dummheit grenzt. Können wir morgen damit beginnen? Ich bin immer noch recht erschöpft von der Geburt, und sitzen ist nicht besonders angenehm. Außer, du wärst bereit, mir bei dieser Kleinigkeit zu helfen…”
Er seufzte, stand auf und zog sie ebenfalls auf die Beine. “Nein, ich werde deinen Gürtel nicht entfernen.” Er lauschte für einen Augenblick, dann nickte er zur Terrassentür. “Ich denke, dein Sohn ist soeben erwacht und möchte gestillt werden. Geh schon!”
Sie ging hinein und sah, wie Malhora mit Vedric auf dem Arm auf sie zukam.
Eryn zog die Stirn in Falten, als sie sah, wie Ram’an auf den Sitzkissen Platz nahm. “Du willst bleiben? Ich meine, das ist eher…” Ihre Worte verklangen, nicht wissend, wie sie fortfahren sollte. Sie hatte es schon zuvor getan, während andere zugesehen hatten; erst gestern, als Orrin, Valrad, Junar und Vern im gleichen Zimmer gewesen waren. Aber ihre Brüste vor Ram’an zu entblößen schien irgendwie… falsch. Seltsam. Unangemessen.
“Schüchtern, Theá?”, grinste er und klopfte auf den Platz neben sich. “Ich versichere dir, dass dazu kein Anlass besteht. Eine Mutter beim Stillen ihres Kindes zu beobachten ist ein sehr ansprechendes Bild, doch kaum eines, das unangemessene Gefühle in einem Mann erweckt. Tatsächlich ist es sogar umgekehrt. Es erinnert uns daran, dass eure Brüste sich ursprünglich nicht zu unserem Vergnügen entwickelten, sondern zur Versorgung unseres Nachwuchses gedacht sind.”
Eryn biss sich auf die Lippe, noch immer unsicher, ob sie darauf bestehen sollte, dass er ging oder nicht. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass Enric etwas Ähnliches von sich gab, als er vor einigen Wochen Junar beim Stillen ihrer Tochter zugesehen hatte. Dennoch…
“Setz dich, Eryn”, befahl Malhora. “Er hat Recht. Mit der Zeit wirst du ruhige Orte zum Stillen deines Kindes schätzen lernen, wenn du unterwegs bist. Den Luxus vollkommener Ungestörtheit wirst du dabei nicht allzu oft haben.”
Mit einem tiefen Atemzug nahm sie Platz. “Also gut, dann tun wir es.” Vor den Augen ihres ehemaligen Verehrers, der ihr gerade erklärt hatte, er würde sie zu seiner Gefährtin machen, falls Enric nicht wiederkehrte.
Vern spazierte herein und lächelte, als er sie sah. Er nahm seinen Zeichenblock und Stift, dieser Tage stets einsatzbereit, zur Hand und ließ sich ihr gegenüber nieder.
“Hast du so eine Szene nicht gestern schon gemalt? Wie viele davon brauchst du denn?” Sie kniff die Augen zusammen. “Die wirst du doch wohl nicht verkaufen? Wenn ich irgendwo eingeladen bin und mich dann dort halbnackt an einer Wand wiederfinde, werde ich dir den Kopf abreißen.”
Vern lachte nur und fuhr mit dem Zeichnen fort, zuversichtlich in dem Wissen, dass er in den nächsten Wochen der stärkere Magier war, solange sie den Gürtel trug.
* * *
Enric stieg ab. Nur noch ein paar Schritte trennten ihn von den Wachen. Er ging auf sie zu, in seiner Hand die Nachricht an die Triarchie, mit der sie eingeladen wurden, einen Repräsentanten zu schicken, der Malriel beistand.
Da stand eine Person, eine Frau in ihren späten Dreißigern, gekleidet in etwas, das entweder ein kurzes Kleid oder eine lange Tunika war und das ihr bis zu den Knien reichte, mit hellbraunem Haar, das sie in ihrem Nacken zu einem Knoten gedreht trug.
“Wir grüßen euch”, ergriff sie als Erste das Wort. Sie zeigte ebenfalls die Tendenz, Worte weitgehend mit ihren Zähnen und der Zungenspitze zu formen. Beim Reden schien sie den Mund kaum zu öffnen. “Mein Name ist Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten.”
Sie sah Enric an, den sie offensichtlich als höherrangig identifiziert hatte.
“Und auch wir grüßen dich, Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten. Mein Name ist Lord Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden und Senator in Takhan. Das hier”, er zeigte auf den anderen Mann, “ist Lam Vran’el, Reig von Haus Vel’kim, Jurist und Senator in Takhan.”
“Seid beide willkommen”, erwiderte Lam Ceiga höflich. “Es gibt ein paar Formalitäten, die es zu erledigen gilt, bevor wir euch Zugang zu der Gefangenen Malriel, Holm von Haus Aren, Senatorin in Takhan gewähren können. Wir werden eure Pferde in den Stallungen unterbringen, und eure Habe wird zu eurer Unterkunft gebracht. Wenn ihr mir nun folgen wollt.”
Sie drehte sich um und ging davon, ohne auf irgendeine Zustimmung zu warten. Rasch griffen sie nach den Taschen, in denen sie Dokumente und Gold aufbewahrten, übergaben die Zügel zwei uniformierten Männern, die vorgetreten waren, und eilten dann der Frau hinterher, die sich kein einziges Mal umgedreht hatte um zu sehen, ob die Männer Schritt hielten.
“Das ist nicht gerade ein recht herzlicher Empfang”, flüsterte Vran’el.
“Nicht wirklich, aber in Anbetracht der Umstände hätte ich auch keinen besonderen Enthusiasmus erwartet.”
Sie nahmen die großen, ungewöhnlich gleichmäßigen Pflastersteine auf den Straßen in sich auf, die Häuser mit ihren steil geneigten Dächern und farbenfrohen Fassaden, die sich aus Holz und Verputz zusammensetzten. Vor einigen Fenstern waren Kisten angebracht, in denen Blumen wie in einem winzigen Garten wuchsen. Die farbenfrohen Blüten verstärkten die seltsam heitere Wirkung von bunter Nüchternheit.
Die Leute auf den Straßen jedoch waren weit davon entfernt, solch einen Überfluss an Farben in ihrer Kleidung zur Schau zu stellen. Deren Schattierungen reichten von gebrochenem Weiß zu Braun und hellem Grau zu Schwarz. Nur gelegentliche Schals oder kleine Verzierungen wie Gürtel oder Hüte in fröhlichen Tönen lockerten den Gesamteindruck auf.
Vran’els Aufmachung zog einige Blicke auf sich, einige neugierig, andere kühl und sogar feindselig. Enric selbst war froh über seine eigene Vorliebe für Schwarz.
Interessanterweise schienen Haarfarben und Hauttöne hier ein breites Spektrum abzudecken, das sowohl Enrics blasseres Hautbild und blondes Haar, als auch Vran’els gebräunte Haut und dunkles Haar miteinschloss.
Es gab rothaarige Leute mit Sommersprossen, schwarzhaarige sowohl mit heller als auch dunkler Haut, blondes und braunes Haar in allen möglichen Schattierungen.
Im Allgemeinen schienen hier sowohl Männer als auch Frauen eine Tendenz zum Tragen von Hüten, Kappen oder Schals zu zeigen.
Enric störte es nicht besonders hervorzustechen; das war nun schon seit einigen Monaten Teil seines Alltags. Nach Vran’els angespannter Haltung und verkrampftem Kiefer zu urteilen, war er es allerdings nicht gewohnt, andersartig zu erscheinen.
Nach kaum mehr als ein paar Minuten hielt ihre Führerin vor einem hohen Haus mit mindestens vier Stockwerken. Ein breites steinernes Schild war an der Wand neben der ausladenden Eingangstür angebracht.
Enric betrachtete die Buchstaben, die nur teilweise vertraut erschienen. Er konnte ihre Bedeutung nicht entziffern. Dies mochte ebenso gut ein freundlich wirkendes Gefängnis als auch ein eher trist wirkendes Gästehaus sein. Alles war möglich.
“Hier werden wir eure Daten zwecks Registrierung und Archivierung aufnehmen. Hernach werde ich euch zu eurer Unterkunft geleiten. Sie ist nicht weit von hier, nur ein paar Minuten in Richtung des Stadtzentrums”, erklärte sie, ohne auch nur einen Anflug einer Emotion zu zeigen.
“Wann ist es uns möglich, Malriel, Holm von Haus Aren, Senatorin in Takhan zu besuchen?”, erkundigte sich Enric höflich.
“Sobald eure Pässe ausgestellt wurden. Das wird geschehen, sobald eure Informationen bezüglich Vollständigkeit überprüft und von den zuständigen Beamten genehmigt wurden.”
“Wie lange dauert das in der Regel?”
“Es kann bis zu einer Woche dauern, doch uns ist klar, dass in eurem Fall eine besonders rasche Durchführung angeraten ist”, gestand Lam Ceiga großzügig zu, bevor sie das Gebäude betrat, ohne vorher irgendeinen Hinweis dahingehend anzubieten, wie lange solch eine besonders rasche Handhabung dauern würde.
Enric wechselte einen unbehaglichen Blick mit Vran’el, dann folgte er der Frau durch die Doppeltür.
Kapitel 3
Besuch bei Malriel
Eryns Grinsen wuchs in die Breite, als Kilan den Aren Hauptraum betrat. “Ich traue meinen Augen kaum! Sieh an, wer es schließlich doch noch geschafft hat, mich nach all der Zeit zu besuchen! Und alles, was nötig war, um dich zu mir zu locken, war ein Baby zu bekommen!”
Er schmunzelte. “Ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich dich besuchte. Es endete damit, dass ich mich um deine Korrespondenz kümmern musste. Mir hat schlicht vor dem gegraut, was du mir sonst noch aufbürden könntest. Somit hielt ich es für weise, einen Sicherheitsabstand zu dir zu wahren.”
“Feigling”, lachte sie und massierte weiterhin Vedrics Bauch.
“Was machst du da?”
“Seinen Bauch zu reiben ist eine gute Stimulation für seine inneren Organe und soll ihm bei der Verdauung seiner Mahlzeiten helfen”, erklärte sie. “Übrigens trafen heute Morgen einige Kuriervögel aus Anyueel mit Gratulationen ein. Darunter auch vom König. Er schrieb etwas darüber, dass ich bei der Formulierung meiner Ablehnung etwas respektvoller vorgehen soll. Ich schätze, du solltest dich besser für das entschuldigen, von dem er denkt, ich hätte es beim letzten Mal geschrieben. Sieh bloß zu, dass du mir keinen Ärger einhandelst, hörst du?”
Kilan atmete aus und schloss die Augen. “Eryn, ich habe ihm nichts dergleichen in deinem Namen geschrieben. Zu keiner Zeit.”
Sie fluchte. “Das bedeutet, er hat herausgefunden, dass ich nicht diejenige bin, die diese verdammten Nachrichten schreibt.” Sie warf Kilan einen missbilligenden Blick zu. “Das bedeutet dann wohl, dass du viel zu freundlich, höflich und entgegenkommend warst. Womöglich hatte er keine andere Wahl, als entweder die Herkunft der Nachrichten oder meine Geistesverfassung anzuzweifeln.”
“Gut für dich, dass er sich für Ersteres entschieden hat, eh? Jetzt gib mir das Kind, ja? Ich muss sehen, wem er ähnlich sieht.” Er nahm Platz und ließ sich von Eryn sanft das Baby in die Arme legen. “Das ist Enrics Gesicht, daran lässt sich nicht rütteln. Sollten jemals Zweifel daran bestehen, wer seine Eltern sind, wird er wahrscheinlich nach seiner Mutter suchen. Wer sein Vater ist, steht bei dieser Ähnlichkeit außer Frage.”
“Sehr nett”, knurrte Eryn. “Genau das will eine Frau hören, nachdem sie ein menschliches Wesen aus sich herausgepresst hat: wie wenig ähnlich ihr das Kind sieht.”
“Seine Haarfarbe ist die gleiche wie deine, also sind da auch Spuren von dir vorhanden”, räumte er großmütig ein.
“Weißt du was? Ich beginne mich zu fragen, warum ich betrübt darüber war, dass ich dich nicht öfter sehe. Ich habe versäumt, es als den Segen zu betrachten, der es eigentlich ist”, schnaubte sie.
Er grinste und untersuchte eine winzige Hand. “Stets zu Diensten.”
* * *
Enric sah aus dem Fenster in Vran’els Zimmer und beobachtete die Pferdewägen auf der überfüllten Straße und die Menschen, die sich scheinbar ohne jegliche Sorge um ihre eigene Sicherheit zwischen den Gefährten hindurchdrängten.
Die Zimmer, die ihnen vor zwei Tagen kurz nach ihrer Ankunft zugewiesen worden waren, reichten nicht einmal annähernd an die Unterkünfte heran, die man ihm in Takhan bei seiner ersten Reise als Botschafter zur Verfügung stellte. Und zuhause in Anyueel hätte man niemals gewagt, Gäste mit dermaßen bescheidenen Quartiere zu beleidigen. Es war womöglich ein alles andere als subtiler Hinweis darauf, dass sie hier nicht gerade willkommen waren. Oder aber es spiegelte eine Kultur wider, die an einen etwas genügsameren Lebensstil gewohnt war.
Aber zumindest war die Unterkunft sauber und warm, wenn auch nicht besonders bequem. Oder geräumig. Oder hell.
Die letzten beiden Tage hatten sie mehr oder weniger wartend verbracht. Mit dem Warten darauf, dass ihre Dokumente und Informationen genehmigt, an eine Person weiter oben auf der Leiter der Macht zur weiteren Genehmigung übergeben und dann erneut weitergereicht wurden. Lam Ceiga hatte sie angewiesen, im Haus zu bleiben und nicht durch die Stadt zu wandern, da die Papiere, die ihnen diese Erlaubnis gewährten, noch nicht ausgestellt waren. Aber heute waren ihnen die Pässe zugestellt worden, die das Ende ihres rastlosen Hausarrests bedeuteten.
Enric wandte sich vom Fenster ab und sah Vran’el zu, der damit beschäftigt war, all die unterschiedlichen Papiere zusammenzusuchen, die sie benötigen würden, um Zutritt zu dem Gefängnis zu erhalten, in dem Malriel weilte. Dort würden sie sie nun zum ersten Mal sehen.
Sie mussten eine Anzahl an unterschiedlichen Formularen für weiß welchen Zweck ausfüllen und erhielten einen Tag darauf eine Notiz, die auf Verlangen vorgezeigt werden musste. Darauf waren Identität, Zweck der Anwesenheit in der Stadt, die Erlaubnis für den Aufenthalt in der Stadt und die Bereiche vermerkt, in denen es ihnen gestattet war, sich zu bewegen.
Vran’el war von der Menge an Papierkram genervt und hatte dieses ermüdende und seiner Ansicht nach lächerliche Maß an Bürokratie wiederholt verflucht. Doch Enric hatte die Formulare studiert und bewunderte den Grad an Organisation.
Zumindest, bis er bemerkte, dass er die gleiche Information in vier verschiedene Formulare eintrug. Das war nicht organisiert, sondern einfach nur überflüssig und eine Zeitverschwendung. Andererseits war es nicht so, als hätten sie außer zu warten sonst noch etwas zu tun.
Dann endlich, nach zwei Tagen des Herumschiebens von Papier und Wartens, wurde ihnen die Erlaubnis erteilt, Malriel zu besuchen und mit ihr zu reden.
Sobald Vran’el alle nötigen Papiere beisammen hatte, richtete er sich auf.
“In Ordnung – ich bin soweit. Lass uns gehen und Malriel in ihrem Gefängnis besuchen. Ich muss zusehen, dass ich mir jedes Detail einpräge. Es wird Eryn aufheitern, wenn ich ihr davon erzähle”, meinte der Jurist und lächelte. “Ich frage mich, ob wir sie mit dem Titel ansprechen sollen, den Eryn für sie verwendet? Königin der Dunkelheit klingt immerhin recht eindrucksvoll. Vielleicht findet man hier Gefallen daran?”
Enric verdrehte die Augen. “Ich hätte von Anfang an erkennen müssen, dass ihr beiden unmöglich nur Cousins sein könnt. Der gleiche verstörende Sinn für Humor, der so viel tiefer reicht als das, was bloße Erziehung verschulden könnte. Komm. Es wird Zeit, mit unserer Arbeit zu beginnen.”
* * *
Intrea grinste, als Eryn ihr das Baby in die Arme legte. “Sieh dir das an! Er sieht aus wie sein Vater!”
Eryn rollte mit den Augen. “Ja, vielen Dank für diese Anmerkung.”
Die andere Frau ignorierte sie und bedeutete ihrer Tochter näherzukommen. “Obal, ich darf dir deinen Cousin Vedric von Haus Vel’kim vorstellen.”
Das Mädchen kam näher, allerdings vorsichtig, als würde es irgendeine widerliche Attacke befürchten.
“Er beißt nicht, weißt du”, meinte Eryn sanft und fügte hinzu, “Noch nicht.”
Obal warf ihr einen dieser genervten Blicke zu, die ein fünfjähriges Mädchen noch nicht perfektioniert haben sollte, und inspizierte das Kind in den Armen ihrer Mutter eingehend.
“Er ist sehr klein. Mein anderer Cousin war größer”, bemerkte sie sachlich.
“Ja, er wurde um einiges zu früh geboren”, nickte Eryn.
Daraufhin wurde sie mit einem weiteren vernichtenden Blick bedacht.
“Es ist nicht so, als hätte ich das mit Absicht getan”, verteidigte sich Eryn und fragte sie, warum ihr dieses Kind dermaßen an die Nieren ging.
Obal erwiderte nichts darauf und starrte den Jungen noch eine weitere Minute lang an.
“Er macht überhaupt nichts. Langweilig. Wo ist Urban?”
“Im Garten”, informierte Eryn sie rasch, froh über die Aussicht, das Mädchen für eine Weile loszuwerden.
Intrea lächelte wissend. “Sie hat diese Wirkung auf Leute. Ich hoffe, dass sie diese generelle Geringschätzung für ihre Umwelt irgendwann hinter sich lassen wird. Bei den anderen Kindern ihres Alters macht sie sich damit nicht besonders beliebt. Und ebenso wenig bei den Erwachsenen. Mein Vater meint, ich wäre als Kind genauso gewesen, also gibt es noch immer Hoffnung. Das kleine Paket auf dem Tisch ist übrigens für dich. Es ist ein Badeöl, das seine Haut vor der trockenen Hitze schützt. Du kannst es auch verwenden, wenn du auf deiner Haut irgendwelche trockenen Stellen hast.”
Eryn bedankte sich und öffnete die Verpackung aus dünnem Stoff, bevor sie den Korken aus der Glasflasche zog und daran schnupperte. Die klare, gelbe Flüssigkeit roch nach irgendwelchen Blumen und Gewürzen.
Intrea lehnte sich vor um nachzusehen, wohin ihre Tochter entschwunden war und sah dann die frischgebackene Mutter an.
“Wie geht es dir, meine Liebe? Es tut mir leid, dass du die Geburt ohne Enric durchstehen musstest. Aber deine Freundin Junar war bei dir, wie ich hörte. Ich schätze, da sie selbst erst vor wenigen Monaten ein Kind zur Welt brachte, war sie dir eine große Hilfe.”
Eryn zwang sich zu einem Lächeln. “Mir geht es gut. Und ja, Junar war großartig. Obwohl ihre Hand hinterher geheilt werden musste. Es scheint, als hätte ich auch ohne Magie einen recht beachtlichen Griff.”
Intrea lachte. “Ich muss sagen, dass es jedenfalls von Nerven aus Stahl zeugt, einer Aren freiwillig bei einer Geburt beizustehen.” Sie wurde wieder ernst und sah auf das Baby in ihrem Arm hinab. “Ich bin sicher, dass es keinen Grund gibt, sich um die beiden zu sorgen, weißt du”, meinte sie leise. “Vran mag sorglos, immer zu Scherzen aufgelegt und leichtlebig wirken, doch er ist ein sehr guter Jurist. Seine scheinbar mühelose Wandlung hin zu seinem professionellen Selbst fand ich schon immer befremdlich, als wäre er eine gänzlich andere Person. Plötzlich ist er so ernst, fordernd und analytisch. Und Enric ist so eindrucksvoll, sowohl in seiner Erscheinung als auch in Bezug auf seinen Verstand. Wie könnten diese beiden nicht erfolgreich sein?”
Eryn antwortete nicht darauf, sondern fragte sich nur im Stillen, weshalb Intrea so besorgt klang, wenn es doch so wenig Grund dafür gab.
“Allerdings muss ich dir sagen, dass Neval recht beunruhigt ist”, fuhr sie mit einem Lächeln fort. “Er sagte mir, er sei keineswegs glücklich darüber, dass sein Liebhaber so lange Zeit mit einem Mann wie Enric allein verbringt. Offensichtlich befürchtet er, Vran könnte eine Vorliebe für den blonden, exotischen Typ entwickeln, wenn man kein Auge auf ihn hat.”
Die beiden Frauen sahen einander einen Moment lang an, dann begannen sie zu kichern, froh darüber, dass Obal zu weit weg war, um ihre Augen auf diese abschätzige Weise zu verdrehen, die so typisch für sie war.
* * *
Die beiden Männer folgten der breiten Straße, die sie von ihren Fenstern aus überblicken konnten, sorgsam darauf bedacht, Zusammenstöße mit sich bewegenden Pferdewägen zu vermeiden.
“Ich fühle mich in meiner Aufmachung hier etwas fehl am Platz”, murmelte Vran’el und ließ seinen Blick über die einfärbigen, schnörkellosen Kleidungsstücke der Leute um sie herum wandern.
“Ich hoffe, dass wir nicht lange genug hier sind, damit sich der Besuch eines Schneiders für uns lohnt”, bemerkte Enric und sah sich um. “Siehst du, wie sauber hier alles ist?”
Der Jurist nickte. “Das ist mir aufgefallen, ja. Ich frage mich, wie oft die Straßen hier gekehrt werden. Wahrscheinlich jede Nacht.”
Enric beobachtete die Menschen, die an ihnen vorbeigingen und staunte einmal mehr darüber, dass weder sein eigenes helles, noch Vran’els dunkles Haar hier einzigartig waren. Weder sein derzeitiger Hautton, der aufgrund der allgegenwärtigen Sonne in den Westlichen Territorien dunkler war als sonst, noch sein üblicher blasser Teint fielen hier auf.
Er dachte an Orrins Tochter und deren braunes Haar. Würde Anyueel in ein paar Jahrzehnten so ähnlich aussehen, sobald die Rückkehr der Magie bei Frauen zu mehr Abwechslung im Erscheinungsbild der Leute führte?
“Wie lautete der Name dieser anmutslosen Frau doch gleich noch einmal?”, fragte Vran’el.
Enric zog sein kleines Notizbuch aus einer Innentasche und öffnete die erste Seite. “Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, las er vor.
Sie würden die Frau gleich vor dem Gefängnis treffen, das laut der Erklärung, die man ihnen gegeben hatte, am Ende dieser Straße lag. Es konnte freilich nicht schaden, wenn sie es möglichst vermieden, die einzige Person, der sie bislang offiziell vorgestellt worden waren, mit einer gedankenlosen Anrede zu verärgern.
Ihr Weg führte sie an Geschäften mit großflächigen Schaufenstern vorbei, in denen Waren präsentiert wurden. Die Schilder der Geschäfte konnten sie nicht verstehen, doch wenn man die ausgestellten Güter betrachtete, musste es sich um unterschiedliche Arten von Handwerksleuten handeln. Schneider, Schmuckhändler, Glashersteller, Töpfer, Papierhersteller und so fort.
Enric hielt vor einem Fenster und starrte auf das kleine Spielzeug hinab, das irgendeinem vierbeinigen Tier nachempfunden war und sich aus eigenem Antrieb fortzubewegen schien.
“Wie ist das möglich?”, murmelte er, während er die ruckartigen Bewegungen des bunt bemalten Holzgegenstandes beobachtete.
“Magie?”, schlug Vran’el gleichermaßen fasziniert vor.
“Das bezweifle ich doch sehr, wenn die Informationen darüber, wie gering Magie hier geachtet wird, zutreffen.” Er fragte sich, ob die Möglichkeit bestand, dieses Stück zu erwerben. Würden sie ihm, dem Ausländer aus einem Land, mit dem man vielleicht bald im Krieg lag, etwas verkaufen? Würde man seine Goldstreifen hier überhaupt annehmen?
Ein Mann trat durch die Tür des Geschäfts nach draußen und brachte damit eine kleine Glocke über ihm zum Klingeln, als die Tür daran streifte. In seinem Gesicht prangte ein enormer, gekrümmter Schnurrbart, dessen helles Braun von gelegentlichem Grau durchsetzt war, genau wie seine Schläfen. Um seine recht imposante Leibesmitte trug er eine Schürze mit zwei großen Taschen, und die aufgerollten Ärmel seines Hemds entblößten stämmige, haarige Unterarme.
Ein unverständlicher Strom der einheimischen Sprache mit ihren vielen Zischlauten wurde auf sie losgelassen. Es klang nicht unfreundlich, doch bei dieser Sprache und den betont ausdruckslosen Mienen, die die Leute hier in der Öffentlichkeit aufsetzten, ließ sich das schwer einschätzen.
“Ich fürchte, wir verstehen dich nicht”, sagte Enric langsam.
Der Mann schürzte die Lippen und kniff die Augen zusammen, eindeutig unsicher, wie er mit ihnen verfahren sollte.
Enric wartete geduldig und hegte die Hoffnung, dass ihre unmittelbare Zukunft nicht davon geprägt war, dass der Mann sie davonjagte, sondern sie stattdessen in sein Geschäft einlud.
“Kommt”, forderte er sie schließlich auf, als würde er ihnen ein Privileg gewähren, und führte sie hinein.
Enric fügte sich mit Freude, neugierig darauf, mehr zu sehen. Vran’el war weniger angetan davon, einem Fremden, der nicht allzu enthusiastisch auf ihre Anwesenheit reagiert hatte, in ein Gebäude zu folgen.
Der Mann nahm ein weiteres Spielzeug von der gleichen Machart, das jedoch einem anderen Tier nachempfunden war, von einem Regal und drehte mit einem seltsamen metallischen Schnurren ein kleines Rad, das aus dem hinteren Teil herausragte. Als er das Rädchen losließ und das Spielzeug auf seinem hölzernen Tresen abstellte, begann es sich mit den gleichen abgehackten Bewegungen wie sein Gegenpart im Schaufenster zu bewegen.
Enric betrachtete die fremdartige Vorrichtung wie gebannt. Er verspürte das Verlangen, sie aufzuheben, herumzudrehen und ihre Geheimnisse aufzudecken.
“Wie viel?”
Der Mann deutete auf eine kleine Schiefertafel auf dem Regal, die offenbar den Preis anzeigte. Enric konnte sie nicht lesen und hob fragend eine Braue.
Seufzend hob der Mann drei Finger.
“Hilf mir, Vran”, murmelte Enric. “Wie viele eurer Goldstreifen ergeben eine Einheit der lokalen Währung hier?”
“Etwa zweieinhalb.”
Das bedeutete ungefähr siebeneinhalb Goldstreifen oder beinahe vier Goldstücke aus Anyueel. Das erschien ihm recht kostspielig. Andererseits hatte er keine Ahnung, wie teuer oder aufwändig die Herstellung dieses Spielzeugs war. Er zog in Betracht, einen niedrigeren Preis auszuhandeln, entschied sich dann aber dagegen. Das mochte ihnen mehr schaden als nutzen. Stattdessen griff er in seinen Beutel und zog acht Goldstreifen hervor, die er dem Mann zeigte.
Das löste nicht die Reaktion aus, auf die er gehofft hatte. Mit einem verächtlichen Blick, als würde er etwas ungemein Ekelerregendes betrachten, begann der Ladenbesitzer mit seinen Händen zu wedeln, womit er ihnen signalisierte, dass sie sich entfernen sollten.
Wieder draußen auf der Straße, schüttelte Vran’el verwundert den Kopf. “Meine Güte, das war aber eine recht heftige Reaktion.”
“Soweit ich das gesehen habe, ist man hier sehr auf Regeln bedacht. Nach allem, was wir wissen, könnte es ihm Ärger einbringen, wenn er Geld annimmt, das nicht zugelassen ist. Wir sollten herausfinden, wie wir unser Geld in die hiesige Währung umtauschen können”, sinnierte Enric.
Sie setzten ihren Weg fort in Richtung des mächtigen, grauen Gebäudes am Ende der Straße, das sehr wahrscheinlich ihr Ziel war.
“Du hast noch nicht einmal versucht zu feilschen”, meinte Vran’el mit einem missbilligenden Kopfschütteln.
“Das liegt daran, dass wir nicht wissen, wie man hier auf so etwas reagieren würde. Wenn du den veranschlagten Preis nicht bezahlen willst, solltest du nach Ansicht meiner eigenen Landsleute besser den Leuten aus dem Weg gehen, die dazu bereit sind”, erklärte Enric. “Mich daran anzupassen war zu Beginn eine beträchtliche Herausforderung für mich. Ich kann hier gewisse Parallelen zu meinem Land erkennen. Nun, bis zu einem gewissen Grad. Wir mögen unsere Listen und Berichte ebenfalls recht gern, doch hier hat man das offensichtlich zu einer Kunstform erhoben. Auch, was das Essen betrifft. Es ist weniger stark gewürzt, besteht aber aus mehr Fleisch und Gemüsesorten, die einen für längere Zeit sättigen und warm halten.”
“Also gut, kein Feilschen hier”, seufzte Vran’el.
“Genau. Es ist besser, wenn man uns für ein wenig naiv und leicht auszutricksen hält als dass wir gierig und verschlagen erscheinen. Das verleitet die Leute dazu, uns zu unterschätzen.”
Mittlerweile waren sie nahe genug, um eine vertraute Gestalt zu erkennen. Der Knoten im Nacken war der gleiche, ebenso wie auch der Stil ihrer Aufmachung.
“Grüße, Lord Enric, Reig von Haus Aren, Stellvertreter im Orden und Senator in Takhan, und Lam Vran’el, Reig von Haus Vel’kim, Jurist und Senator in Takhan”, sprach sie und ließ dabei den Buchstaben S wie ein Zischen und jedes T wie einen rasanten Hammerschlag klingen.
“Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten”, rezitierten Enric und Vran’el gemeinsam und wechselten einen erleichterten Blick, als die Frau zufrieden nickte und sich dann umdrehte um vorauszugehen. Es war, als wären sie vor einer besonders strengen Lehrerin zum Appell angetreten.
Ihr Weg führte sie durch hohe Korridore mit einer Anzahl an großen, halbkreisförmigen Fenstern, die einen Blick über die Straße gewährten, von der sie gerade gekommen waren.
Sie näherten sich einer Doppeltür, die von vier Männern in dunkelgrauen Uniformen bewacht wurde.
Mit einem Nicken nahmen sie wortlos den Ausweis der Frau entgegen, lasen ihn gewissenhaft durch und reichten ihn wieder zurück. Dann hielten sie den beiden Männern in ihrer Begleitung die Hände entgegen.
Vran’el übergab ihre Dokumente, die daraufhin eingehend geprüft, gegen das Licht gehalten und schließlich nach mehreren Minuten wieder freigegeben wurden. Die Wachen waren in der Tat gründlich.
Man winkte sie durch die Tür, und sie setzten ihren Weg fort, nur um nach kaum einer Minute wieder aufgehalten zu werden. Vier weitere Wachen, die gleiche Vorgangsweise.
Im Weitergehen unterdrückte Enric ein Seufzen. Vor sich erblickte er noch eine Tür mit vier Männern in Dunkelgrau. Er fragte sich, wie viele Türen dieser Art sie noch zu passieren hatten und ob sie Malriel wohl noch vor dem Sonnenuntergang in ein paar Stunden zu Gesicht bekommen würden. Vran’els Miene verriet ihm, dass er ebenso wenig angetan war von dem Ausmaß an Sicherheit, das man hier für erforderlich hielt.
Nachdem man sie schließlich durch die vierte entsprechende Tür treten hatte lassen, wurden sie in einen weiteren Gang geführt, von dem vier wesentlich kleinere Türen ausgingen. Die wirkten massiv und hatten kleine, vergitterte Fenster in Augenhöhe. Es schien sich dabei um die Gefängniszellen zu handeln. Verglichen mit den Kerkern und Gefängnissen in Anyueel wirkte die Umgebung hier wesentlich freundlicher, heller und sauberer.
Eine der Wachen ging an ihnen vorbei, um eine der Türen aufzusperren und nickte daraufhin Lam Ceiga zu, die wiederum den zwei Besuchern bedeutete, sie sollten vorangehen.
Enric betrat etwas, das nach einem kleinen, jedoch sehr ordentlich und keineswegs spärlich eingerichteten Zimmer aussah. Eine Ecke war für persönliche Hygiene gedacht, dann gab es ein Bett mit zwei Decken und zwei Kissen darauf, einen großen Ohrensessel und einen kleinen Tisch mit vier hölzernen Stühlen.
“Enric!”, rief eine vertraute weibliche Stimme überrascht aus. Einen Moment später fand er sich in einer ungestümen Umarmung, noch bevor er Gelegenheit hatte, einen näheren Blick auf Malriel zu werfen. “Ich kann dir nicht sagen, wie immens gut es tut, dich zu sehen! Sie sagten mir, dass jemand eingetroffen wäre, teilten mir aber keine Namen mit.”
Es musste eine volle Minute vergangen sein, in der sie sich an Enric klammerte, bevor sie ihn wieder freigab und dann Vran’el an sich zog, um seine Wangen zu küssen.
“Vran, mein Lieber”, lachte sie, und Enric sah, wie ihre Augenwinkel einen Hauch von Feuchtigkeit zeigten, “mit euch beiden auf meiner Seite weiß ich, dass dieser Fehler bald aufgeklärt sein wird.”
“Ich werde euch nun vorerst allein lassen. Klopft an die Tür, wenn ihr aufzubrechen wünscht”, verkündete Lam Ceiga vom Türrahmen aus, wo sie stehengeblieben war und das herzliche Willkommen ausdruckslos beobachtete.
Enric nickte. “Ich danke dir, Lam Ceiga, Reig der Moraugns, Ministerin für Äußere Angelegenheiten.”
Dann ließ er seinen Blick an Malriel hinauf und hinunter wandern, nahm ihr Erscheinungsbild und generell ihren Zustand in sich auf. Sie hatte sich an den hiesigen Kleidungsstil angepasst, und das Fehlen von kräftigen Farben fand er besonders deprimierend, ebenso wie ihr Haar, das sie nicht länger in dunklen, welligen Kaskaden ihren Rücken hinabhängen ließ, sondern zu einem Knoten gebunden hatte. Sie wirkte weder abgezehrt noch ausgelaugt, dennoch vermisste er ein gewisses Strahlen an ihr. Das war nicht ganz unerwartet, wenn man bedachte, dass sie hier im Gefängnis festsaß. Sie wirkte gesund, wenn auch nach den Monaten ohne Wüstensonne etwas blasser als gewohnt.
Sie ergriff die Hände beider Männer und zog sie mit sich zu dem kleinen Tisch, damit sie sich hinsetzen konnten. Sie unterbrach den Kontakt auch nicht, nachdem sie sich so bequem niedergelassen hatten, wie es die harten Holzstühle erlaubten.
“Bevor wir in diese ganze Misere hier eintauchen, möchte ich wissen, wie es meiner Tochter geht”, verlangte sie.
“Es fiel ihr recht schwer, Valrad als ihren Vater zu akzeptieren, doch nach einer Weile hat sie es fertiggebracht. In der Zwischenzeit hat sie ihr Abzeichen erlangt und ist nun eine voll ausgebildete und anerkannte Heilerin”, erklärte Enric in so wenigen Sätzen, wie er es vermochte. Es ließ sich nicht sagen, wie viel Zeit man ihnen hier drin zugestehen würde.
“Was ist mit ihrer Schwangerschaft, verläuft soweit alles gut?”
“Unser Sohn kam gestern zur Welt.”
Malriel blinzelte, dann schüttelte sie den Kopf. “Aber… das ist zu früh!” Sie hielt kurz inne, offensichtlich, um kurz im Kopf nachzurechnen. “Es hätte erst in sechs oder sieben Wochen soweit sein sollen!”
Enric drückte ihre Hand. “Ja. Aber soweit ich das sagen kann, scheint alles in Ordnung zu sein.”
Einen Augenblick lang sah Malriel ihn mit gerunzelter Stirn an, dann wurden ihre Augen groß. “Das Geistesband! Sag mir nicht, dass du das Kommitmentband intakt gelassen hast, obwohl du Maltheá für so lange Zeit allein lässt?” Aufgebracht stand sie auf und starrte wütend auf ihn hinab. “Wie konntest du sie dem aussetzen? Sie wird unter deiner Abwesenheit wesentlich stärker leiden, als es nötig wäre, und jetzt muss sie sich auch noch um ein Kind kümmern! Solch eine Rücksichtslosigkeit hätte ich nicht von dir erwartet!”
“Beruhige dich, Malriel. Ich habe nur meine Seite des Bandes intakt gelassen. Eryns Band wurde entfernt.”
Malriel atmete erleichtert aus und sank wieder auf ihren Stuhl. “Oh, ich verstehe. Verzeih mir. Ich hätte wissen sollen, dass du sie keiner unnötigen Qual aussetzen würdest. Allerdings scheint es, als würdest du dir selbst nicht die gleiche Rücksichtnahme angedeihen lassen.” Sie schnappte nach Luft, als ihr ein Gedanke kam. “Bedeutet das etwa, dass du den Schmerz der Geburt miterlebt hast?”
“Ja, das habe ich”, bestätigte er gelassen, während die Erinnerung daran ihn innerlich erschaudern ließ.
“Somit hast du also deine schwangere Gefährtin zurückgelassen, um herzukommen und mir aus meinen Schwierigkeiten herauszuhelfen, weshalb du nun auch noch die Geburt deines Sohnes versäumt hast”, seufzte sie und schloss einen Moment lang die Augen. “Ich weiß nicht, wie ich dir das jemals vergelten kann, Enric.” Dann kam ihr noch ein Gedanke. “Wem untersteht Haus Aren derzeit?”
“Eryn ist momentan das Oberhaupt von Haus Aren.”
Malriel sog den Atem ein und wirkte besorgt. “Maltheá trägt die Verantwortung für Haus Aren?”
“Damit wird sie bestimmt fertig. Malhora ist bei ihr und wird ihr bei der Erfüllung dieser Pflicht unter die Arme greifen.”
Erleichtert ließ sie die Anspannung von sich abfallen. “Meine Mutter ist in der Stadt?”
“Ja, Malhora ist in Takhan. Allerdings weigerte sie sich, das Haus in meiner Abwesenheit zu übernehmen und zieht es vor, eine beratende anstatt einer aktiven Rolle auszuüben.”
“Ich war nicht sicher, ob sie kommen würde”, murmelte Malriel. “Es ist die Pflicht einer Mutter, ihrer Tochter beizustehen, wenn sie ihre Kinder bekommt, und nachdem sie einander unter solch ungünstigen Umständen kennenlernten, wusste ich nicht, ob meine Mutter für mich einspringen würde.” Sie atmete zittrig aus. “Ich bin so erleichtert. Und dankbar. Euch allen.”
Interessiert betrachtete Enric seine Adoptivmutter. Das war nicht die starke, unbesiegbare, gnadenlose Malriel, sondern eine Frau, die einige Zeit allein in einem fremden Land verbracht und in ihrer Einsamkeit begonnen hatte, gütige Taten zu schätzen. Ihre Hände lagen noch immer auf seiner eigenen und Vran’els, um den Körperkontakt mit Menschen aufrechtzuhalten, die sie kannte und mit denen sie vertraut war. Die ersten Menschen, die sie nach längerer Zeit traf, bei denen sie sich nicht darum zu sorgen brauchte, was ihre Absichten waren, sondern denen sie bedingungslos vertrauen konnte.
“Vran, wie ergeht es Valrad? Hatte er es sehr schwer damit, Maltheá dazu zu bewegen, dass sie ihn als ihren Vater annimmt?”
Lächelnd nickte er. “Ja, durchaus. Mit dem starrköpfigen Trotz einer wahren Aren ist sie jedem seiner Versuche mit Widerstand begegnet und hat ihn dazu gezwungen, all seinen Einfallsreichtum und seine Geduld aufzuwenden, derer er fähig ist.” Er drückte ihre Hand. “Doch er war unnachgiebig, und sie hatte niemals wirklich eine realistische Chance gegen ihn. Nicht solange sie als Heilerin an einem Ort arbeiten wollte, den die Leute noch immer als seine Klinik betrachten.”
“Und deine eigene Tochter, wie geht es der kleinen Obal?”
“Sie wächst wie Unkraut und hat, wie so viele Kinder, einen unbeirrbaren Instinkt dafür, genau das falsche Wort auszuwählen, um es dann in Situationen zu wiederholen, die ihren armen Eltern ein möglichst großes Maß an Peinlichkeit bescheren.”
Enric lächelte, als Malriel lachte. Es klang ein wenig eingerostet, als hätte sie es schon seit einer Weile nicht mehr benutzt.
Liebend gerne hätte er sie noch weiter aufgeheitert, doch das konnte er sich nicht leisten. Sie wussten nicht, wie lange man ihnen zu bleiben gestattete oder wann man ihnen einen weiteren Besuch ermöglichte.
Er griff in sein Hemd und zog sein Notizbuch hervor. “Malriel, wir müssen dich hier rasch herausholen. Also gehen wir nun besser durch, was genau bisher vorgefallen ist.”
“Ich weiß. Und ich danke euch, dass ihr mir für eine kurze Weile Nachsicht gezeigt habt. Das hat Wunder für meine Seele bewirkt, soviel dürft ihr mir glauben.” Sie straffte ihre Schultern und ließ die Hände der beiden Männer los, bevor sie mit ihrem Bericht begann.
* * *
Eine halbe Stunde später spitzte Vran’el die Lippen und sah auf das kleine Buch hinab, das er Enric vor einer Weile weggenommen hatte, um darin seine eigenen Notizen und Anmerkungen für später festzuhalten.
“Gut, Malriel – nun lass mich das in meinen eigenen Worten wiederholen, damit wir sehen, ob ich alles richtig verstanden habe.” Er räusperte sich. “In Ordnung. Kurz nachdem du es geschafft hast, dass sie mit Gesprächen über vorteilhaftere Handelsvereinbarungen im Austausch für eine Verzichtserklärung für einen Großteil der Schürfrechte beginnen, hast du auf einem dieser gesellschaftlichen Anlässe, zu dem du eingeladen warst, einen jungen Mann kennengelernt. Im Laufe der darauffolgenden zwei Wochen bist du mehrmals mit ihm zusammengetroffen, scheinbar zufällig. Zum Beispiel, als du in ein Restaurant gingst, um dort zu essen, bei anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen oder sogar, als du einfach nur durch die Straßen spaziertest. Habe ich das soweit korrekt wiedergegeben?”
“Ja”, bestätigte sie und wartete darauf, dass er fortfuhr.
“Sein Name ist…” Vran’el blätterte eine Seite um und überflog sie, bevor er fortsetzte, “…Geloin Urnen, Legen der Nords, Aspirant dritter Ebene des Inneren Zirkels. Geloin ist der niedrigere der beiden religiösen Titel, die es hier gibt, und der Innere Zirkel ist die mächtigste der fünf existierenden religiösen Vereinigungen oder Glaubensgruppen. Bei jeder Gelegenheit hat er sich zu dir gesellt und nach und nach Informationen mit dir geteilt. Er erzählte dir von der Diskriminierung, die Magier hier zu erdulden hätten, und wie sehr er dich um die Freiheit beneidete, alles tun zu können, was du willst und sogar eine Position ziviler Macht auszuüben.” Er sah zu Malriel hin, damit sie seine Ausführungen bestätigte. “Noch immer richtig?”
“Ja, Vran”, seufzte sie. “Sprich einfach weiter, und ich unterbreche dich, falls du etwas falsch verstanden hast.”
“Wie du wünschst.” Er blätterte eine Seite um und sprach weiter. “Nach einer weiteren geselligen Zusammenkunft, zu der ihr beide geladen wart, unternahm er einen Spaziergang mit dir und bot dann an, dir den Ausblick über die Stadt von der Spitze des Tempels zu zeigen, in dem er lebte. Du hast ihm gestattet, dich dort hinzubringen. Nachdem du dich von ihm auf der Plattform hast küssen lassen, erklärtest du dich dazu bereit, die Nacht mit ihm in seinem Zimmer im Tempel zu verbringen. Du nahmst ein Getränk zu dir, woraufhin laut deiner Aussage deine Erinnerung verschwimmt. Du erinnerst dich daran, dass du seine Hand genommen und zu seinem Bett gegangen bist. Dann hast du dich hingelegt und kannst dich von da an kaum noch an etwas erinnern. Als du deine Augen wieder aufschlugst, schrie jemand. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um deinen jungen Mann handelte. Er war mit goldenen Ketten an das Bettgestell gefesselt worden und rief um Hilfe. Später behauptete er, dass er von dir ins Bett gezwungen wurde und du über ihn hergefallen wärst, was dazu führte, dass du der Vergewaltigung angeklagt wurdest.”
Sie nickte.
“Du vermutest, dass er dir etwas in das Getränk mischte, dass er dir gab, damit du das Bewusstsein verlierst, wenn ich das richtig verstanden habe. Und des Weiteren folgerst du, dass es sich dabei um einen Versuch handelt, der den erfolgreichen Abschluss der Handelsgespräche verhindern sollte. Du denkst, dass es eine Gruppierung geben mag, die einen Krieg zwischen unserem Land und Pirinkar ausbrechen sehen oder zumindest den derzeitigen Annäherungsprozess aufhalten möchte.”
“Wie weit ist der Prozess bislang fortgeschritten?”, erkundigte sich Enric, nachdem sie die grundlegenden Fakten im Zusammenhang mit der Anschuldigung dargelegt hatten.
“Sie hörten sich seine Vorwürfe an, schrieben sie nieder und präsentierten Leute, die seinen guten Charakter und sein beispielhaftes Gebaren bei der Ausübung seiner Tempelpflichten bezeugten”, schnaubte sie verärgert. “Dann befragten sie mich. Bedauerlicherweise hatte ich keine ernst wirkenden, aufrechten, grauhaarigen Mitglieder der Gesellschaft zur Verfügung, die darauf schworen, dass mein untadeliger Charakter solch eine Tat vollkommen unmöglich macht.”
Die Andeutung eines Lächelns umspielte Enrics Lippen, als er dachte, dass es wohl weniger ihr untadeliger Charakter war, der ihr solch eine Tat unmöglich machte, sondern eher ihr immenser Stolz.
“Nun zu einer sehr wichtigen Frage, Malriel.” Er beugte sich vor. “Ist man hier mit dem Konzept eines Lügenfilters vertraut?”
“Nein. Ich habe versucht, es ihnen zu zeigen, doch sie weigerten sich schlichtweg aus Angst, ich könnte irgendeinen fremdländischen Gedankenkontrollzauber oder was auch immer auf sie anwenden, um sie dahingehend zu beeinflussen, dass sie mich gehen lassen.” Sie verdrehte die Augen. “Idioten. Wollte ich von hier fort, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen, hätte ich das schon vor mehr als einer Woche getan.” Sie nickte zu dem vergitterten Fenster. “Das ist ein Witz. Jeder Magier könnte hier problemlos hinausspazieren.”
“Was ihnen entweder nicht klar ist”, warf Vran’el ein, “oder sie hoffen, dass du darauf zurückgreifst und ihnen damit sozusagen ein Schuldeingeständnis lieferst.”
“Ich weiß. Aus diesem Grund habe ich mehr oder weniger geduldig auf die Verstärkung gewartet, von der ich wusste, dass die Triarchie sie schicken würde.” Sie lehnte sich vor und legte jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter. “Und wen sie mir schickten übertraf meine kühnsten Erwartungen.”
Enric ergriff ihre Hand und hielt sie zwischen seinen beiden. “Malriel, da gibt es noch etwas, das ich tun muss und das dir womöglich überhaupt nicht gefallen wird.”
Sie lächelte verständnisvoll. “Mach nur, Enric. Selbstverständlich musst du sichergehen. Ich bin bereit, wenn du es bist.”
Er drückte ihre Hand, dann ließ er Magie von seiner Hand in ihre fließen.
“Malriel von Haus Aren, hast du einen Priester gezwungen, mit dir ins Bett zu gehen?”
“Nein, das habe ich nicht.”
“Hast du ihm auf irgendeine andere Weise deinen Willen aufgezwungen?”
“Nein.”
“Gibt es irgendeinen Aspekt dieser Geschichte, die du uns erzählt hast, der sich nicht so zugetragen hat, wie du behauptet hast?”
“Nein.”
Er nickte und gab ihre Hand frei. Ein anderes Ergebnis hatte er nicht wirklich erwartet, doch es war wichtig, es ohne jeden Zweifel bestätigt zu haben.
Sie sahen auf, als die Tür geöffnet wurde und sich Lam Ceiga demonstrativ räusperte.
Malriel erhob sich mit den zwei Männern und umarmte beide. Mit einem Gesichtsausdruck, der unschwer erkennen ließ, wie ungern sie sich von ihnen trennte, der aber auch von vorsichtigem Optimismus zeugte, sah sie ihnen nach.
»Ende der Leseprobe«
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